Die Erdmanns waren eine lustige Erdmännchenfamilie. Insgesamt waren sie acht Personen: sechs Kinder und die Eltern. Doch langsam wurde es zu eng in der Erdmännchenhöhle und das gemütliche Beisammensein wurde zunehmend lauter und die Kinder stritten sich immer häufiger.
„Geh mir aus dem Weg, Emma!“, motzte Egon. Emma fing an zu heulen. Die Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen, Erika hatte etwas umgeschmissen und Ewald hatte sich den Fuß eingeklemmt. Tagein und tagaus gab es mehr Stress.
Da setzten sich die Eltern eines Abends zusammen und redeten.
„So geht das nicht mehr weiter mit uns. Bald haben wir noch mehr Kinder und es wird immer enger!“, jammerte die Mutter.
„Ja, das kommt daher, weil die großen Kinder nicht ausziehen. Sie sollten sich schon lange eine andere Höhle suchen!“, stimmte der Erdmännchenvater der Mutter zu.
Die Eltern sahen sich an. Es war schon sehr spät und die Kinder lagen schon in den Betten. Die Ruhe tat richtig gut in den Ohren.
„Ich habe die Lösung. Wir müssen Egon sagen, dass er ausziehen soll!“, sagte der Vater.
Die Mutter nickte. „Er ist der Älteste, er muss langsam auf eigenen Füßen stehen!“
„Ich werde es ihm morgen sagen!“, entschied der Vater und dann legten sich die erschöpften Eltern ins Bett.
Was sie nicht wussten war, dass Egon das Gespräch mit gehört hatte, weil er nicht einschlafen konnte. Er sollte also ausziehen! Das war ein furchtbarer Gedanke! Er fand es in der Höhle sehr gemütlich. Klar, es war ein bisschen eng geworden, doch es gab immer leckeres Essen und es war sehr schön warm. Jetzt wurde es bald Winter, die Herbststürme fegten schon über das Land und es regnete oft. Der Gedanke, ganz alleine in eine Höhle zu ziehen, machte ihm Angst. Da fasste er einen Plan.
„Ich werde ab morgen ganz, ganz lieb zu allen sein. Vielleicht muss ich dann nicht ausziehen!“
Und so kam es, dass Egon am nächsten Morgen schon vor allen anderen aufstand und das Frühstück vorbereitete. Dann kümmerte er sich um die kleinen Geschwister und wenn Zank und Streit aufkam, gab er sich die größte Mühe, die erhitzten Gemüter zu beruhigen und alle wieder zu besänftigen. Als der Vater dann am späten Morgen fragte, ob er mit ihm alleine sprechen konnte, bot Egon schnell seine Hilfe beim Einkaufen an, was er sonst nie getan hatte.
„Vielleicht können wir heute Abend sprechen, ich helfe jetzt der Mutter beim Tragen!“, rief er und war schon aus der Höhle verschwunden.
Verwundert blickte ihm der Vater hinterher. Sowieso war heute alles viel ruhiger gewesen als sonst.
Nach dem Mittagessen schnappte sich Egon den Besen und fegte die Höhle, dass es nur so staubte.
„Egon, was ist denn in dich gefahren?“, fragte die Mutter nervös. „Jetzt kommt doch der Herbst und wir fegen doch nur im Frühling!“
Egon lächelte, nahm seine Mutter in Arme und gab ihr einen dicken Schmatzer auf die Nase. Die Mutter war begeistert und streichelte über sein Fell.
Egon half nach dem Abendbrot, die Geschwister ins Bett zu bringen und sang das kleine Baby in den Schlaf. Die Erdmännchenkinder strahlten ihn an. War das schön!
Der Vater zog die Mutter in die Küche.
„Ich kann es ihm nicht sagen, mach du es!“
Die Mutter schüttelte entsetzt den Kopf.
„Ich kann es auch nicht sagen. Er war heute so unglaublich hilfsbereit und nett! Er hat mir sogar einen Kuss gegeben!“
„Vielleicht war er immer schon so nett, nur wir haben es nicht bemerkt!“, überlegte der Vater.
„Und heute haben wir ihn mit ganz anderen Augen gesehen!“, flüsterte die Mutter.
„Wir sind wirklich schlechte Eltern!“, seufzte der Vater.
„Ich glaube nicht, denn wir haben einen sehr netten Sohn großgezogen!“, sagte die Erdmännchenmutter.
Und so kam es, dass Egon sich keine neue Höhle suchen musste. Im Dezember wurden die Zwillinge geboren und Egon nahm der Mutter sehr viel Arbeit ab. Ab und zu lauschte er abends den Gesprächen seiner Eltern und nie mehr hörte er, dass sie darüber sprachen, dass er ausziehen sollte.
Doch das ständige Nettsein und Helfen war bald sehr anstrengend. Er konnte all die Arbeit nicht mehr alleine stemmen. Die Zwillinge mussten versorgt werden, er musste beim Einkaufen helfen, Streit schlichten, die Höhle fegen und, und, und.
Da hatte er eines Abends eine Idee. Er weckte Erik, Emma und Emil.
„He!“, flüsterte er. „Ich habe gehört, dass unsere Eltern sich überlegt haben, dass ihr ausziehen sollt.“
„Was?“, rief Erik entsetzt aus.
„In eine eigene Höhle?“, schrie Emma.
„Ja, hier ist es doch viel zu eng ...!“, erklärte Egon.
„Aber wir wollen gar nicht ausziehen. Wieso haben sie nicht dich gefragt? Du bist doch der Älteste!“, wunderte sich Emil.
„Ich mache hier die ganze Arbeit, die Eltern brauchen mich!“, entgegnete Egon. Die Geschwister sahen sich an.
„Ich kann dir die Arbeit mit den Zwillingen abnehmen!“, schlug Emma vor.
„Ich fege jeden Tag!“, sagte Erik.
„Ich kaufe mit ein!“, meinte Emil.
Egon nickte und sagte: „Das wird sicher helfen. Dann könnt ihr bleiben!“
Und so kam es, dass die drei Erdmännchen sich jetzt sehr viel Mühe gaben. Egon konnte wieder länger schlafen und hatte mehr Freizeit. Keinem fiel auf, dass er jetzt gar nichts mehr machte.
Den Eltern war es egal. Sie hatten eine gemütliche Höhle, in der es nie zu Zank und Streit kam und in der das Essen immer pünktlich auf dem sauberen Tisch stand. Alle freuten sich schon auf den Frühling, denn ein neues Baby hatte sich angekündigt.
Texte: Dörte Müller
Bildmaterialien: Dörte Müller
Cover: Dörte Müller
Tag der Veröffentlichung: 20.06.2020
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