Sie lag am Strand und starrte aufs Meer. Die Wellen berührten sie leicht, spritzten ihr Salzwasser ins Gesicht. Das Meer tobte und schäumte wie ein wildes Tier, das man frei gelassen hatte. Doch sie spürte keine Angst. Im Gegenteil. Sie liebte das Meer und alles, was dazu gehörte.
Das war schon immer so gewesen, schon als sie noch ganz klein war. Beschützt von ihrer Mutter, die stets ein wachsames Auge über sie hatte. Wie lange war das schon her? Einige Jahre? Wochen? Monate? Sie wusste es nicht genau, sie kümmerte sich nicht um die Zeit. Die Zeit war ihr egal. Darum war sie auch nie gehetzt oder getrieben. Sie vertraute einfach auf ihre innere Uhr, die ihr sagte, was sie wann und wo zu tun hatte.
Besonders an Tagen wie diesen fühlte sie sich dem Meer zugehörig, fand so etwas wie die innere Ruhe, war ganz bei sich selbst, dachte an nichts und niemanden.
Der Stand war menschenleer und niemand störte sie. Er gehörte ihr ganz allein. Das war ein berauschendes Gefühl.
Keine bunten Drachen flatterten am Himmel, keine Touristen drängten sich am Strand und keine Surfer sprangen mit ihren Brettern über die schäumende Gischt.
Die Einsamkeit war ihr Freund und schien sie mit einem warmen Mantel zuzudecken, der ihr zuzuflüstern schien: „Du gehörst zu mir!“
Sie wollte lächeln, doch es war ihr nicht möglich. Ihre Gesichtszüge blieben unverändert.
Da, der Wind pustete eine dicke Wolke weg und für einen klitzekleinen Augenblick kitzelte ein Sonnenstrahl frech ihre Nase. Herrlich! Sie genoss den Augenblick, spürte die Wärme und das Licht. Wie ein Scheinwerfer, der plötzlich auf sie gerichtet war oder fast so, als hätte jemand in dunkeler Nacht einen Lichtschalter angemacht.
Einige Sekunden später schob sich die nächste dicke Wolke vor die Sonne und sie lag wieder vollkommen im Schatten. Aber das war OK. Vollkommen OK. Es gehörte dazu.
Erinnerungen stiegen plötzlich in ihr auf. Sie wollte sie in Worte fassen, doch sie konnte es nicht. In ihren Augen spiegelte sich eine unbeschreibliche Sehnsucht. Wonach wusste sie selber nicht so genau.
Stumm blickte sie in die Ferne und rührte sich nicht. Sie saß wie versteinert. Himmel und Meer gingen ineinander über, verschmolzen zu einem Farbton. Als hätte sich ein Maler besondere Mühe gemacht, einen Farbverlauf von dunkelgrau zu hellgrau zu mischen.
Wolkenfetzen jagten über den Himmel, der Schrei einer Möwe hallte an ihr Ohr. Der Wind streifte ihr Gesicht. Sie fühlte sich als ein kleiner Teil des großen Ganzen und das tat ihr unendlich gut.
In der Ferne tauchte ein großes Schiff auf, das sich leicht blau vom Horizont abhob und lautlos an ihr vorüber zog.
Wohin die Reise ging, wusste sie nicht.
Es fing an zu regnen, doch das störte sie nicht. Sie schloss ihre müden Augen, hatte genug gesehen und wahrgenommen. Das reichte für einen schönen Traum, für einen unendlich langen Traum, auf den sie sich freute.
Irgendwann wusste sie, dass es Zeit war zu gehen. Ihr Magen knurrte, sie hatte Hunger.
„Fisch!“, dachte sie. „Heute esse ich Fisch!“ Der Gedanke heiterte sie auf, machte sie froh.
Plötzlich spürte sie etwas. Sie war sich bewusst, dass sich etwas verändert hatte. Der Strand hatte sich verändert. Sie hörte ein Rufen, ein Lachen. Ruckartig öffnete sie die Augen. Gelbe Gummistiefel und ein roter Regenmantel. Farbtupfer im grauen Sand.
Ihr Herz raste und alles in ihr schien zu schreien: „Flieh!“
„Mama, schau, ...!“
„Schnell, mach ein Foto!“
Sie stürzte sich ins Wasser ohne nachzudenken, spürte die kalten Wellen, die sich über ihr brachen, wurde erfasst von dem unendlichen Strudel, der sie mitriss und fortschwemmte wie ein großes Stück Treibholz. Immer weiter und tiefer hinaus, immer schneller. Es gurgelte und brauste um sie herum.
„Oh, nein! Jetzt ist sie weg!“
„Einfach so, untergetaucht!“
„Wo ist sie jetzt?“
„Schau, da ganz hinten im Meer!“
„Nein, das ist sie nicht, das ist nur ein Zweig!“
„Doch, das ist sie! Hier, nimm mein Fernglas!“
„Tatsächlich!
Oh, wie süß! Eine Robbe, eine echte Robbe ...!"
Texte: Dörte Müller
Bildmaterialien: Dörte Müller
Cover: Dörte Müller
Tag der Veröffentlichung: 15.01.2021
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