Die 14 – jährige Melinda stand am Grab ihrer Großtante und starrte in das dunkele Loch, was sich vor ihr auftat. Es war ein grauer Novembernachmittag, das Wetter passte zu einer Beerdigung.
Melindas schwarzen Haare flatterten im Wind und sie musste sie immer wieder zurückstreichen. Ihre neuen hochhackigen Schuhe drückten und sie hatte eisige Füße. Aber was tat man nicht alles, um gut auszusehen!
Traurig war Melinda eigentlich nicht. Sie war nur genervt. Ihre Freundinnen hatten sich bereits schon vor drei Stunden zu dem Übernachtungswochenende bei Jana getroffen und sie musste erst noch zu dieser langweiligen Beerdigung.
Melinda hatte ihre Großtante Ursula nie gemocht. Sie war eine schrullige alte Frau gewesen, die immer nur herumgenörgelt hatte.
Tante Ursula hatte keine Familie und war die Schwester von Melindas geliebter Oma gewesen, die vor einigen Jahren verstorben war. In den letzten Jahren hatte sich Melindas Mutter um sie gekümmert. Sie hatte sie einmal in der Woche angerufen und Einkäufe für sie erledigt. Melinda musste ihrer Großtante Weihnachtskarten schreiben und sie am Geburtstag anrufen. Das waren schreckliche Momente für Melinda gewesen und sie hatte sich vorgenommen, ihre eigenen Kinder später nie zu solchen Anrufen zu zwingen.
Manchmal hatte sie ihre Mutter ins Altersheim begleiten müssen, damit Tante Ursula eine Freude hatte. Melinda hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht und sich ihrer Mutter zuliebe bereit erklärt, freundlich zu der schrulligen Tante zu sein. Sie hatte ihr von der Schule erzählt und von Lehrern, die sie immer ungerecht behandelt hatten. Vielleicht hatte sie deshalb den grünen Ring von Tante Ursula geerbt. Der Ring war wirklich etwas ganz Besonderes. Er hatte einen grünen Stein, der in allen Farben leuchten konnte, wenn die Sonne darauf schien. Sie hatte den Ring persönlich von Tante Ursula bei einem ihrer letzten Besuche vor einigen Monaten überreicht bekommen.
Es war an dem Nachmittag gewesen, als ihre Mutter noch Einkäufe zu erledigen hatte und Melinda im Altersheim abgesetzt hatte.
Erst hatte sich Melinda furchtbar aufgeregt. „Was? Du lässt mich allein mit der Alten?“, hatte sie entsetzt gerufen, als sie den Plan erfahren hatte. „Nenn sie nicht Alte. Sie heißt Tante Ursula. Und ja, ich lasse dich eine Stunde mit ihr allein. Das ist wohl nicht zuviel verlangt!“, hatte die Mutter schroff geantwortet in einem Ton, der keine Diskussion zugelassen hatte. So hatte Melinda sich widerwillig in ihr Schicksal gefügt und den schönen Frühlingstag in dem düsteren Zimmer ihrer Großtante verbracht. Sie hatten Kekse gegessen und Pfefferminztee getrunken. Melinda hatte etwas von der Schule erzählt. Die Zeit war zum Glück schon fast herum, da war Tante Ursula aufgestanden und hatte angefangen, in ihrer einzigen Schublade herumzukramen. Sie hatte eine geheimnisvolle Schachtel herausgezogen und gesagt: „ Dieser Ring ist für dich. Mach etwas aus deinem Leben und denke an mich, wenn du ihn trägst. Es ist ein ganz besonderer Ring, weißt du? Ich habe ihn von meiner Mutter geerbt und mein ganzes Leben lang getragen. Meine Mutter hatte den Ring vor vielen, vielen Jahren von einer Wahrsagerin geschenkt bekommen, weil sie ihr einen großen Gefallen getan hatte.
Ich spüre, dass meine Zeit auf dieser Erde zu Ende geht. Es ist für mich ein schönes Gefühl zu wissen, dass du gut auf den Ring aufpassen wirst!“
Tante Ursula hatte Melinda mit ihrer knochigen Hand im Gesicht berührt. Das war schrecklich für Melinda gewesen und eine Gänsehaut war ihr über den Rücken gelaufen. Wieso musste Tante Ursula sie immer auf irgendeine Weise anfassen? Doch sie hatte tapfer gelächelt und den Ring entgegen genommen. Er passte wie angegossen, als wäre er für sie gemacht.
„Von einer Wahrsagerin hat deine Mutter den Ring bekommen? Das ist ja interessant. Was für einen Gefallen hat sie ihr denn getan?“, fragte Melinda nach. Doch in Wirklichkeit interessierte es sie überhaupt nicht. Sie drehte den Ring hin und her und freute sich über das Funkeln. Tante Ursula schloss für einen Moment die Augen. Ihr Gesichtszüge entspannten sich. Sie atmete tief ein und aus und fing an zu erzählen: „ Durch das Dorf meiner Mutter zog einst ein Wanderzirkus. Meine Mutter war fasziniert von den Artisten und Zauberern. Sie besuchte gemeinsam mit ihrer Freundin viele Vorstellungen und lief dabei dieser Wahrsagerin über den Weg. Ihr Name war Alexa. Meine Mutter und ihre Freundin ließen sich die Zukunft voraussagen. Was Alexa den Frauen gesagt hat, weiß ich nicht. Auf jeden Fall freundete sich meine Mutter mit Alexa an. Der Zirkus musste bald weiterziehen und Alexa hatte ein großes Problem. Sie war schwanger und brachte am letzten Abend in ihrem Zelt eine gesunde Tochter zur Welt. Weil sie sehr arm war und selber kaum über die Runden kam, bat sie meine Mutter, sich um das Kind zu kümmern.“
Melinda lächelte vor sich hin. Dieser Ring war einfach unbeschreiblich schön. Sie fühlte sich wie verzaubert und hörte der Geschichte ihrer Großtante nur mit halbem Ohr zu.
„Meine Mutter hat das Kind der Wahrsagerin sehr geliebt. Vielleicht lag es daran, weil ihr jüngstes Kind kurz zuvor verstorben war. Jetzt hatte sie zwei eigene Kinder und das fremde Baby durchzufüttern. Doch meine Mutter war zäh, irgendwie schaffte sie es.
Viele Jahre später, als Alexa wieder auf der Durchreise in dem Dorf vorbei kam, wollte sie ihre Tochter, die jetzt 10 Jahre alt war, mitnehmen. Doch meine Mutter wollte das hübsche Mädchen nicht mehr hergeben, denn sie fühlte sich so stark mit ihm verbunden, als wäre es ihr eigenes Kind. Sie war mit der Tochter Hals über Kopf geflüchtet und hatte sich in einer Höhle im Wald versteckt. Dort hatte sie so lange gewartet, bis Alexa wieder verschwunden war. Sie wäre fast verhungert, weil sie zu wenig Essen mitgenommen hatte!“
„Ja, ja an Essen sollte man immer denken!“, antwortete Melinda geistesabwesend. Diese alten Geschichten waren so etwas von langweilig!
„Meine Mutter hat seitdem kein Glück mehr in ihrem Leben gehabt. Sie schob es immer auf den Fluch der Wahrsagerin, die zornig war, weil sie ihr Kind nicht abholen durfte!“, fuhr Tante Ursula unbeirrt fort. Ihre Augen starrten ins Leere und hatten einen seltsamen Glanz. Den Glanz von Traurigkeit.
Melinda schaute ungeduldig auf ihre Uhr. Die Stunde war längst herum. Ob ihre Mutter sie vergessen hatte? Sie wollte endlich aufstehen und so schnell wie möglich nach draußen gehen, die Sonne auf ihrer Haut spüren, die Vögel zwitschern hören und den blauen Himmel über sich sehen. Sie hasste die Besuche im Altenheim, wo das Leben schon fast zu Ende zu sein schien. Der Geruch nach Tod und Verwesung lag in der Luft und die Leute, die einem auf dem Flur begegneten, waren nur noch Schatten ihrer selbst.
Melinda sprang auf. Sie wollte gehen und nicht noch länger auf ihre Mutter warten. Tante Ursula hatte ihre Unruhe gespürt.
„Willst du gar nicht wissen, wer das Baby war?“, fragte sie Melinda mit zitternder Stimme. Große Enttäuschung spiegelte sich in ihren trüben Augen.
„Ach, Tante Ursula, ich kann mir deine Geschichten und die vielen Namen nicht alle merken! Tatsache ist, das Baby wurde gerettet und musste nicht verarmt und heruntergekommen durch die Welt tingeln. Ist doch egal, wer das Baby war! Ich muss noch so viel für die Schule lernen heute Abend!“, log sie ohne rot zu werden. Dabei wollte sie eine Staffel „Vampire Diaries“ gucken und unbedingt Jana vorher noch schnell den Ring zeigen.
„Und noch etwas!“, fügte Tante Ursula hinzu. Sie hielt Melinda am Arm fest und sah ihr tief in die Augen. „Sei ein gutes Mädchen und lass dich nicht zu schlimmen Taten verleiten! Überall lauert das Böse, es ist eine schreckliche Welt da draußen. Sei ehrlich und gut und immer hilfsbereit!“ Melinda versuchte sich aus der festen Umklammerung ihrer Tante freizukämpfen. Wie sie diese Litanei hasste! Man merkte zu deutlich, dass Tante Ursula einmal Lehrerin gewesen war. Immer musste sie einem Lebensweisheiten mit auf den Weg geben. Melinda fand, dass sie alt genug war und selber Entscheidungen treffen konnte. Dazu brauchte sie nicht ihre alte, schrullige Tante. Das Einzige, was sie brauchte, war dieser Ring! Endlich ließ Tante Ursula Melinda los. Sie blickte sie an, als könnte sie ihre Gedanken lesen.
Beim Abschied wie auch bei der Ankunft forderte die alte Tante einen Kuss. Wie Melinda diese Angewohnheit hasste! Die alte Frau zog Melinda zu sich und drückte ihr einen feuchten Kuss direkt auf die Lippen. Melinda spürte die alten, dünnen Lippen, die immer ein wenig zitterten. Ihr wurde fast übel und sie ekelte sich sehr. „Wieso musst du mich immer auf den Mund küssen? Wieso? Ich wünschte, du würdest auf der Stelle tot umkippen!“, schoss es dem Mädchen durch den Kopf. Sie hatte sie ein schlechtes Gewissen, das aber gleich wieder verflogen war, als sie aus der Eingangstür hinausgestürmt war. Die Sonne schien ihr ins Gesicht und es duftete nach Flieder. Eine Biene summte. Schnell wischte sie sich mit einer hastigen Handbewegung über den Mund. Doch irgendwie hatte sie das unheimliche Gefühl, dass sie den Kuss ihrer Tante nicht loswurde. Er klebte an ihr wie ein Permanentkleber.
Eigentlich hätte sie mit Tante Ursula im Park spazieren gehen können oder sich beim Seerosenteich auf eine Bank setzten können. Warum mussten sie immer oben in dem dunklen Zimmer hocken und Pfefferminztee schlürfen? Ach, egal! Hauptsache, sie, Melinda, war wieder im Freien und konnte den einbrechenden Frühling genießen. Und mit einem schönen Ring an dem Finger war das alles natürlich noch besser! Verträumt drehte sie das Schmuckstück hin und her und stieß dabei mit einer alten Frau zusammen, die mit einem Rollator spazieren ging. Die Frau starrte Melinda an. „Entschuldigung!“, brachte Melinda hervor. „Ich habe Sie nicht gesehen!“ Die Alte war nicht böse, ein Lächeln huschte über ihr runzliges Gesicht. „Einen schönen Ring hast du da!“, bemerkte sie. „Deine Großtante ist froh, dass du sie ab und zu besuchen kommst! Ich habe niemanden! Du bist so jung und hübsch in deinem Sommerkleid!“
Melinda wunderte sich, dass die alte Frau so gut Bescheid wusste. Sie hielt für einen Moment inne und wollte fragen, woher sie wusste, dass Tante Ursula ihre Großtante war, doch dann entschied sie sich dagegen. Sie wollte nur so schnell wie möglich weg von diesem Heim und seinen Bewohnern.
In den nächsten Tagen in der Schule hatte Melinda viel mit dem Ring angeben können. Alle ihre Freundinnen waren neidisch auf diesen Ring und wollten ihn unbedingt aufsetzten und ihn einmal ausleihen. Doch Melinda war stur geblieben und hatte den Ring nicht von ihrem Finger gezogen. Sogar im Sportunterricht hatte sie ihn getragen, als sie sich am Seil hochgezogen hatte. Verzückt hatte sie ihre Hand hin und her gedreht und das Farbenspiel bewundert. Nicht einen Gedanken hatte sie dabei an ihre einsame Tante verschwendet.
Mehrere Wochen vergingen und auf den herrlichen Frühling folgte ein heißer Sommer, den Melinda zum größten Teil im Freibad verbrachte. Dorthin nahm sie den Ring nicht mit, denn das war ihr doch zu riskant.
Als die Schule wieder anfing und der Herbst nahte, schlief Tante Ursula friedlich ein und wachte nicht mehr auf. Melinda fand, dass sich die Großtante die perfekte Jahreszeit zum Sterben ausgesucht hatte.
Jetzt stand sie hier am Grab und fror, weil sie viel zu dünn angezogen war. Hoffentlich war das alles bald zu Ende und sie könnte zu der Party! Beim letzten Mal hatten die Freundinnen um Mitternacht Spaghetti gekocht und verrückte Selfies gemacht. Das war ein Spaß gewesen! Natürlich hatten sie auch über Jungs gequatscht und den neusten Tratsch und Klatsch aus der Schule besprochen. Übernachtungspartys waren immer spannend, besonders, wenn die Eltern außer Haus waren.
Melinda hoffte, dass sie nicht schon zu viel verpasst hätte. Sie wollte durch ihr Zuspätkommen keine Außenseiterin sein. Außerdem hatte sie Angst, dass die Mädchen über sie lästern würden. Es wurde immer viel über diejenige geredet, die nicht dabei war. Melinda selber war oft die Wortführerin, wenn es darum ging, andere schlecht zu machen oder ein dunkles Geheimnis auszugraben.
Jetzt war sie an der Reihe, ihre Blume ins Grab zu werfen. Ein kalter Windhauch streifte sie und fühlte sich an wie ein kalter Kuss auf ihrer Wange.
„Brate in der Hölle!“, dachte Melinda im Stillen und warf die Blume in das schwarze Loch. In diesem Moment passierte etwas Schreckliches: Der Ring rutschte ihr vom Finger und fiel mit der Blume auf den Sarg. Laut klirrte es.
„Der Ring!“, schrie Melinda entsetzt auf. Ihre Mutter blickte sie strafend an und machte ihr Zeichen, dass sie schweigen sollte.
„Der Ring!“, wieder holte Melinda. Das Entsetzen stand ihr in den Augen geschrieben.
Der Friedhofsgärtner hatte die Szene mitbekommen. Er holte eine große Müllzange und Melinda hoffte, dass er den Ring finden würde. Er war inzwischen unter vielen Blumen begraben.
Lautlos stand die kleine Menschenmenge am Grab und betete. Bleigraue Wolken zogen über den Himmel, es fing an zu nieseln. Melinda konnte es kaum abwarten, bis der Friedhofsgärtner sich auf die Suche machen konnte. Wieso dauerte das alles so lange? Eine andere Frage beschäftigte Melinda ebenso: Wieso war der Ring überhaupt abgefallen? Er hatte doch so gut gepasst! Der Ringfinger, auf dem sie das kostbare Schmuckstück getragen hatte, fing plötzlich an zu jucken. Fast so, als wollte er sich beschwerden, dass der Ring nicht mehr da war. Melinda betrachtete ihren Finger und bemerkte einen weißen Rand, den der Ring hinterlassen hatte. Ein unheimliches Gefühl beschlich sie und sie konnte sich nicht erklären, woher es so plötzlich kam.
Endlich gingen die Leute. Schweigend und mit gesenkten Köpfen bewegte sich die Menge Richtung Ausgang des Friedhofes. Erleichtert atmete Melinda auf und kniete sich über das Grab. Sie hatte Tränen in den Augen und versuchte verzweifelt, in der Dunkelheit des Grabes den Ring zu finden. Ein verlorenes Blatt wehte von einem Baum herab und fiel in spiralförmigen Schwingungen langsam und lautlos in das dunkele Grab. Es roch nach Erde und Moder. Melinda dachte für eine winzige Sekunde an den Tod und an die Endlichkeit des Lebens. Sie dachte daran, dass auch sie einmal in einem Grab liegen würde und Leute eine Handvoll Erde auf sie schmeißen würden. Dann würden die Würmer kommen und sie nach und nach auffressen. Nichts mehr würde von ihr übrig bleiben. Melinda wurde übel, alles drehte sich. Doch dann hatte sie sich wieder gefangen und konzentrierte sich auf die Suche nach dem kostbaren Ring.
„Ich glaube, der ist weg. Ich kann nicht alles durchwühlen!“, brummte der Gärtner verärgert. Man merkte ihm deutlich an, dass er längst schon nach Hause wollte und die Suche nach dem Ring ihn sehr nervte. Doch da sah Melinda plötzlich etwas Grünes aufblitzen. Der Gärtner hatte es wohl auch gesehen und konnte den kostbaren Ring tatsächlich mit der Zange greifen. Schnell beförderte er ihn nach oben.
„Tausend Dank!“, jubelte Melinda und steckte sich den Ring sofort wieder an den Finger.
„Du hast deine Tante wohl sehr lieb gehabt!“, bemerkte eine alte Frau, die Melinda noch nie vorher gesehen hatte. Oder doch? Irgendwie kam ihr die Frau bekannt vor. Wahrscheinlich war es eine Freundin aus dem Altersheim. Melinda nickte. Wieso war die Frau nicht mit den anderen weggegangen?
„Wie gut, dass man meine Gedanken nicht lesen kann!“, dachte Melinda und lief schnell zum Auto ihrer Mutter, die bereits auf sie wartete, um sie zur Party zu fahren.
Schweigend fuhren sie die Landstraße entlang. Melindas Mutter weinte leise vor sich hin und schnäuzte sich in ein aufgeweichtes Taschentuch.„Schade, dass sie nicht noch ein paar Jahre gehabt hat. Sie hatte es doch so gut in dem Heim und fing gerade an, sich einzuleben!“ „Ich fand es immer schrecklich in dem Heim. Sie kann froh sein, dass sie es geschafft hat!“, bemerkte Melinda trocken.
Der Weg war nicht weit, es waren nur vier Kilometer bis zum Dorf, wo Jana wohnte. Der Himmel war noch ein bisschen grauer als vor einigen Stunden und die kahlen Äste der Bäume ragten in den Himmel wie knochige Finger. Melinda musste unwillkürlich an Tante Ursulas Hand denken, die beim Abschied ihr Gesicht berührt hatte. Dann kam die Erinnerung an den feuchten Kuss zurück und sie wischte sich unwillkürlich über die Lippen. Dabei verschmierte sie ihren roten Lippenstift, den sie extra für die Party aufgetragen hatte. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Warum konnte sie nicht einfach abschalten und sich auf die Party freuen? Wieso kreisten ihre Gedanken immer um die tote, verhasste Tante?
Melinda schluckte. Sie wollte positiv denken und hoffte, dass durch den Tod jetzt alles aufhören würde. Keine schrecklichen Besuche mehr im Altersheim, keine blödsinnigen Geburtstagsanrufe und keine ekligen Küsse mehr. Ihr Leben würde nur noch besser werden, davon war sie überzeugt.
Endlich war Melinda angekommen. Sie winkte ihrer Mutter zum Abschied und hörte bereits den Krach und das Gekicher, als sie vor der Haustür stand und klingelte. Es dauerte ewig. Warum machte niemand auf? Missmutig klingelte Melinda noch einmal. „Kommt doch endlich!“, dachte sie im Stillen. Ihre Füße taten höllisch weh in den viel zu engen Stiefeln. Sie hatte bestimmt blaue Zehen oder Blasen. Es war entsetzlich! Melinda sah sich um und klingelte zum dritten Mal. Janas Hund bellte und dann hörte sie, wie die Freundinnen angelaufen kamen. Jana riss die Tür auf.
„Endlich, da bist du ja!“, rief sie und umarmte Melinda stürmisch.
„Wir machen etwas ganz Tolles, wir rufen Geister herbei und reden mit ihnen! Leider hat es noch nicht ganz geklappt, aber jetzt bist du ja da!“
Melinda sah Jana verwundert an.
„Ich dachte, wir wollten einen Film gucken! Wir haben doch noch nie Geister gerufen!“
„Weil du auf einer Beerdigung warst, sind wir auf die Idee gekommen. Toll, oder? Den Film gucken wir natürlich auch noch, nachher, wenn meine Eltern wieder da sind! Du kommst doch gerade von einer Beerdigung, vielleicht klappt es ja, wenn du dabei bist. Du hast den besonderen Draht!“
Jana führte Melinda in das Wohnzimmer. Alles war dunkel und Melinda erkannte kaum ihre anderen Freundinnen, die um eine Kerze herumsaßen. Die Kerze stand auf einem runden Tisch, über dem eine große Tischdecke ausgebreitet war.
„Ich wollte Kontakt mit meiner Oma aufnehmen, doch sie scheint nicht da zu sein!“, flüsterte Viola. Die anderen nickten stumm.
„Wen nehmen wir als Nächstes?“, fragte Jana aufgeregt. Melinda hatte sich auf den freien Stuhl neben Kessy gesetzt und ihre Jacke ausgezogen. Sie fror, obwohl es im Zimmer angenehm warm war.
„Ich möchte es einmal versuchen!“, rief Kessy aufgeregt. „Ich möchte gerne meinen toten Hund rufen und herausfinden, ob es ihm gut geht! Sein Name war Foxy!“
Die Mädchen nickten stumm. Jana starrte in die Kerze. Dann holte sie tief Luft und sagte verschwörerisch: „Foxy, wenn du uns jetzt hörst und in diesem Raum bist, gib uns ein Zeichen!“
Es war totenstill, die Kerze flackerte und die Mädchen warteten voller Anspannung. Ihre Wangen glühten. Melinda fand das alles ziemlich albern, trotzdem konnte sie der Situation einen gewissen Zauber nicht absprechen. Ihre Füße taten inzwischen so weh, dass sie es kaum noch aushielt. Mit einem Ruck streifte sie ihre schwarzen Schuhe ab. Es polterte laut und die Mädchen fuhren zusammen.
„Das Zeichen! Das war das Zeichen!“, flüsterte Kessy. Sie war ganz blass geworden.
„Nein, das waren nur meine Schuhe! Ihr seid solche Angsthasen!“, lachte Melinda. Die Mädchen waren einerseits erleichtert, doch andererseits waren sie auch ein wenig enttäuscht. Alle hatten insgeheim auf ein Zeichen von dem verstorbenen Hund gehofft. Ein leises Bellen oder das Rücken eines Stuhles.
„Glaubt ihr an ein Leben nach dem Tod?“, fragte Jana plötzlich in die Stille.
„Ich schon!“, antwortete Viola. „Und ich glaube auch, dass die Toten uns beobachten und uns Botschaften schicken. Ich habe einmal in der Form einer Wolke meine tote Katze gesehen!“
„Ich glaube nicht daran!“, gestand Melinda. „Es ist alles nur Spinnerei. Wenn man tot ist, ist man weg und basta!“
„Das stimmt nicht. Ich träume so oft von meinem Hund und ich weiß, dass er in bestimmten Situationen bei mir ist. Jana, ruf doch bitte noch einmal meinen Foxy! Vielleicht klappt es ja jetzt“, bat Kessy. Jana räusperte sich und atmete tief ein. Dann wartete sie einige Minuten.
„Geist von Foxy, wenn du hier bist, gib uns ein Zeichen!“, rief Jana erneut. Die Kerze flackerte, doch das Zeichen blieb aus.
„Das ist langweilig, lasst uns etwas anderes machen!“, nölte Melinda schließlich. Doch die Mädchen schüttelten die Köpfe.
„Ich glaube, es klappt nicht, weil du kein Halsband oder irgendetwas anderes von Foxy auf den Tisch gelegt hast!“, vermutete Viola. „Wie soll er da die Verbindung herstellen?“ Kessy nickte.
„Du hast recht, das nächste Mal bringe ich seine alte Decke mit!“
„Das nächste Mal?“, fragte Melinda entsetzt. „Das heißt, wir machen so etwas jetzt öfter?“
Die anderen ignorierten ihre Bemerkung.
„Melinda, wie wäre es, wenn du zu deiner Tante Kontakt aufnimmst? Du hast doch diesen wertvollen Ring!“, schlug Jana vor. Die anderen nickten.
„Eine tolle Idee!“, wisperte Viola aufgeregt. Melinda fühlte sich sehr unwohl. Sie hatte genug von Toten, Beerdigungen und Geistern. Doch die anderen bedrängten sie immer heftiger.
„Leg deinen Ring in die Mitte des Tisches. Dann rufen wir deine Tante! Vielleicht ist sie noch nicht ganz weg und schwebt noch irgendwo über dem Friedhof“, vermutete Jana.
„Das ist die Gelegenheit!“, rief auch Viola. „Sie wird doch bestimmt noch einmal schnell vorbeikommen, bevor sie hinauffährt!“
„Wer weiß denn, ob sie hinauffährt?“, warft Melinda ein. „Sie war eine boshafte alte Frau. Sie wird hinunterfahren!“
„Du mochtest sie nicht wirklich, oder?“, fragte Kessy zaghaft und blickte Melinda fragend an.
„Immer hat sie so besserwisserisch getan und ständig hat sie mich herumkommandiert! Und dann diese langweiligen Geschichten aus ihrer Jugend! Wer wem ein Baby gestohlen hat, blablabla ...“, brach es aus Melinda heraus.
„Aber sie hat dir den Ring gegeben!“, gab Jana zu bedenken. „Ich würde ihn nicht tragen, wenn ich so einen Hass auf die Person hätte, die ihn mir gegeben hat!“, sagte Kessy nachdenklich. Die anderen nickten stumm.
„Lasst uns keine Zeit vertrödeln. Ob sie nach oben fährt oder nach unten, Hauptsache, sie ist noch irgendwo in der Nähe!“, sagte Jana bestimmend.
Melinda seufzte. Widerwillig zog sie den Ring ab.
„Er ist mir eben ins Grab gefallen!“, erzählte sie mit leiser Stimme. Die anderen schrien auf.
„Der Gärtner hat ihn mit einer Zange wieder herausgeholt! Fast hätte er es nicht geschafft und der Ring wäre mit begraben worden!“ Die Freundinnen starrten sie mit weit aufgerissenen Augen an.
Melinda liebte es, im Mittelpunkt zu stehen und fand die Idee plötzlich doch ganz gut. Was sollte auch schon passieren? Es gab keine Geister, das war doch klar. Das hier war alles nur ein großer Spaß. Gleich würde sie den Ring wieder aufsetzen, dann würden sie Selfies machen und Spaghetti kochen.
Der Ring lag in der Mitte des Tisches, die Kerze flackerte und die Vorstellung begann.
Keiner ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass etwas passieren würde, was das Leben aller dramatisch verändern würde. Keiner spürte die Gefahr und das Böse, was bereit war, sich zu rächen.
„Geist von Melindas Tante, wenn du hier im Raum bist, bewege den Ring!“, säuselte Jana mit tiefer Stimme. Die Mädchen hielten den Atem an.
Die Stille war unglaublich. Alle starrten gebannt auf den kostbaren Ring, der grünlich schimmerte. Nichts rührte sich. Melinda spürte ein aufregendes Kribbeln. Was für ein tolles Spiel, jetzt gefiel es ihr doch.
„Geist von Melindas Tante, bewege den Ring!“, wiederholte Jana eindringlicher. Wieder nichts. Melinda atmete auf. „Wusste ich es doch!“, flüsterte sie. „Tante Ursula ist nicht da. Sie brät bereits in der Hölle!“ Es sollte ein Witz sein, doch niemand lachte. Melinda biss sich auf die Lippe und wollte gerade „Entschuldigung!“ murmeln, da geschah das Unfassbare: Der Ring wackelte und fing an zu tanzen. Erst ganz leicht und dann immer mehr. Die Mädchen kreischten auf und Melindas Herz raste wie nach einem Marathonlauf.
Sie wurde kreidebleich. Das konnte doch nicht möglich sein?
„Jana, hör sofort damit auf!“, rief sie aufgebracht.
„Ich kann nicht aufhören. Das bin ich nicht!“, schrie Jana voller Entsetzen. Melinda starrte ihre Freundin fassungslos an. Der Ring lag wieder ganz still, so als wäre nichts passiert.
„Geist von Melindas Tante, willst du uns etwas sagen?“, fragte Jana. Ihre Stimme war tonlos und klang wie aus einer Maschine. Die Spannung im Raum war kaum auszuhalten. Die Kerze flackerte unermüdlich. Da bewegte sich der Ring erneut.
„Hör auf damit! Ich halte das nicht mehr aus!“, schrie Melinda. Noch nie in ihrem Leben hatte sie soviel Angst gespürt. Doch Jana ignorierte ihre Freundin. Sie wirkte wie ferngesteuert von einer fremden unheimlichen Macht.
„Wem in diesem Raum willst du etwas sagen ?“, fragte sie eindringlich. Starr vor Schreck beobachteten die Mädchen, wie sich der Ring langsam auf Melinda zu bewegte. Melinda stand unter Schock. Ihr Herz raste und sie zitterte am ganzen Körper. Sie spürte plötzlich die unheimlichen Mächte in diesem Raum, die Anwesenheit eines anderen Wesens. In der flackernden Flamme der Kerze glaubte sie plötzlich das Gesicht ihrer Tante zu erkennen. Sie hörte das verzweifelte Schreien eines neugeborenen Babys. Das war ganz sicher die Rache für ihre schlechten Gedanken. Sie sprang auf, ihr Stuhl knallte mit voller Wucht nach hinten.
„Ich, ich ... es tut mir leid, Tante Ursula, ich habe die ganze Zeit gelogent. In Wirklichkeit mochte ich dich nie. Doch kannst du mir verzeihen? Ich werde mich bessern, ich pflege dein Grab und ich ...!“ Melinda stockte. Sie bekam keine Luft mehr vor Aufregung. Dann brach sie zusammen und sank bewusstlos zu Boden.
Die Freundinnen erstarrten. Jana knipste schnell das Licht an.
„Melinda, Melinda, wach auf!“, schrie Viola, die sich neben Melinda gehockt hatte.
„Wir sind zu weit gegangen!“, rief Kessy bestürzt. Unter dem Tisch krabbelte Janas kleiner Bruder hervor.
„Was ist passiert?“, fragte er verwirrt. „Ihr wolltet mir doch einen Magneten geben!“
Jana erschrak. Ihr Blick fiel auf die Kühlschranktür. Der Magnet prangte groß und breit in der Mitte.
Melinda erwachte. Es war furchtbar heiß und grell. Wo waren die Freundinnen? Da bemerkte sie es: Feuer, überall war Feuer!
„Hilfe! Hilfe!“, rief sie verzweifelt. „Helft mir! Ich ersticke!“ Beißender Rauch machte ihr das Atmen kaum möglich. Verzweifelt rang sie nach Luft.
Da sah sie aus den Flammen eine knochige Hand auf sich zukommen. Ein grüner Ring glänzte an einem Finger.
Texte: Dörte Müller
Bildmaterialien: Dörte Müller
Tag der Veröffentlichung: 05.07.2018
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