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Inhaltsverzeichnis

 1. Die kleine Eule und der Fuchs

 

 2. Die verrückte Eule

 

 3. Die kleine Eule kann nicht warten

 

 4. Eusebia und die Eulen

 

 5. Im Regenbogenland

 

 6. Ein kleiner Zeichenkurs

 

Bilder und Texte: © 2018/ Dörte Müller/ Bonn

Die kleine Eule und der Fuchs

  


 

 

 

Im Wald war es Nacht geworden. Manche Tiere schliefen jetzt schon. Das Eichhörnchen hatte sich schon hingelegt, denn es war kaputt von dem langen Arbeitstag. Alles war ganz ruhig und still. Nur ab und zu hörte man ein Knacken und ein Rascheln. Ein leichter Windhauch wehte und es war angenehm kühl.

 

 

Die kleine Eule Erika saß wie immer auf ihrem Zweig und dachte über das Leben nach. Sie wusste sehr viel und kannte sich gut aus, da sie eine Menge beobachtete. Eule Erika gehörte zu den nachtaktiven Tieren. Diese Tiere suchen in der Dunkelheit Schutz vor ihren Feinden oder hoffen, bei der Jagd nicht so schnell entdeckt zu werden.

 

 

 

Eule Erika wusste genau, dass kurz vor Mitternacht der Hirsch aus dem Dickicht hervortreten würde. Sie konnte in der Dunkelheit sehr gut sehen und sogar ganz kleine Tiere auf dem Waldboden erkennen. Es knackte. Ah, jetzt kam der Hirsch. Er war eine Minute später dran als sonst.

 

 

Außerdem wusste die schlaue Eule, dass die kleine Maus um zwei Uhr nachts aus ihrem Loch heraus krabbelte, um nach dem Rechten zu sehen.

 

 

Die kleine Eule hatte sich gemerkt, dass der Maulwurf um drei Uhr morgens aus seinem Erdhaufen herauslugte.

 

 

Dann machte er einen Spaziergang und traf seinen Freund den Haseun unter der Linde.

 

 

Die Eule wusste, dass der Fuchs um vier Uhr morgens leise durch den Wald streifte und nach Mäusen Ausschau hielt. Der Fuchs ist wie der Luchs ein Anschleichjäger und immer auf der Suche nach Beute. Der Fuchs machte sich oft über die Eule lustig.

 

 

„Du sitzt wieder auf deinem Zweig und beobachtest uns alle. Hast du kein eigenes Leben?“, verspottete er sie. Die Eule schwieg. Sie wusste, dass es manchmal besser war, einfach gar nichts zu sagen. Der Fuchs war ein guter Redner und sie wusste, dass sie gegen ihn keine Chance hatte.

So lief das jeden Abend ab. Die Eule hockte auf dem Zweig und starrte in den Wald. Sie fand, dass sich hier genug abspielte und hatte keine Lust, etwas anderes zu erleben.

 

 

Plötzlich tauchten kleine leuchtende Punkte vor ihr auf. Die Eule freute sich und flüsterte: "Die Glühwürmchen sind wieder da!" Fasziniert beobachtete sie die verrückten Tänze, die die Männchen aufführten.

Ob sie wohl ein Weibchen finden würden?

Es gab so viel, worüber die Eule nachdenken musste.

 

 

Gerade beschäftigte sie die Frage nach dem Glück. Waren die Tiere im Wald glücklich? Viele von ihnen sahen immer sehr verkniffen aus und hetzten durch den Tag. Sie setzten sich nicht einmal eine Minute hin. Die kleine Eule wunderte sich, woher sie die Kraft nahmen.

„Ich habe keine Zeit mich auszuruhen, ich muss Vorräte für den Winter heranschaffen!“, hatte das Eichhörnchen der Eule erklärt.

 

 

Die Eule hatte das eingesehen.

„Aber du kannst doch trotzdem mal eine Pause einlegen!“, hatte sie dem Eichhörnchen vorgeschlagen.

„Eine Pause? Wozu?“, hatte das Eichhörnchen verwundert gefragt.

Die Eule war zu dem Schluss gekommen, dass jedes Tier anders ist.

Manche hatten Angewohnheiten, die die Eule gar nicht verstehen konnte. Aber vielleicht war es auch gut, dass jedes Tier anders war.

„Wenn wir alle Eulen wären, würde gar nichts mehr passieren und wir würden auf dem Zweig sitzen und in die Nacht starren!“, dachte die Eule. „Irgendwann würde der Zweig abbrechen und wir würden auf der Erde landen!“

Bei dem Gedanken musste die Eule lachen.

 

 

 

Während die Eule über alles nachdachte, beobachtete sie wie immer die nächtlichen Aktivitäten der Waldbewohner.

 

 

Hirsch, Maulwurf, Maus – alle waren schon da gewesen. Doch wo blieb heute der Fuchs? Die Eule war nervös. Der Fuchs war doch sonst immer so pünktlich! Jetzt war es schon vier Minuten nach vier Uhr. Kein Fuchs war in Sichtweite. Unruhig tippelte die Eule von einem Bein auf das andere.

Was sollte sie tun? Als der Fuchs zehn Minuten später immer noch nicht da war, hielt sie es nicht mehr aus. Ganz gegen ihre Gewohnheit verließ sie ihren Ast und flog davon, um Hilfe zu holen. Sie traf einen Hasen.

„Hase, der Fuchs ist nicht zur gewohnten Zeit erschienen, du musst mir helfen, ihn zu suchen!“, sagte die Eule und schaute den Hasen eindringlich an. Der Hase schüttelte den Kopf.

„Der Fuchs wird mich fressen, ich kann dir nicht helfen, ihn zu suchen. Ich würde mir nicht so viele Sorgen machen, es gibt bestimmt eine ganz harmlose Erklärung, warum er heute nicht erschienen ist!“

 

 

Die Eule flog weiter. Sie hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Das kam selten vor und wenn es vorkam, war oft etwas Schlimmes passiert.

Plötzlich hörte die Eule Schritte. Zweige knackten laut. Jemand schlich durch den Wald. Es war der Jäger mit seinem Hund. Die Eule war ganz aufgeregt. Jetzt ahnte sie, dass dem Fuchs vielleicht etwas passiert war. Einen Schuss hatte sie zum Glück nicht gehört!

Der Jäger ging sehr schnell und der große Jagdhund lief vorweg. Er sah eigentlich ganz freundlich aus, doch er musste das tun, was der Jäger ihm sagte.

„Such! Such!“, befahl der Jägersmann dem Hund. Die Nase des Hundes war so sehr auf den Waldboden gepresst, dass die Eule das Gefühl hatte, der Hund würde die Fichtennadeln aufsaugen.

 

 

Eule Erika hatte plötzlich furchtbare Angst. Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben und es war ganz dunkel geworden. Da hörte die Eule plötzlich ein Wimmern. Es war eindeutig der Fuchs. Er war in eine Schlinge geraten! Ein Windstoß fegte die Wolke weg und es wurde wieder heller, so dass die Eule gut sehen konnte. Schnell flog sie hinab zum Fuchs und versuchte, mit ihrem Schnabel die Schlinge zu entknoten.

„Liebe Eule, hilf mir, der Jäger ist mir auf den Fersen!“, jammerte der Fuchs. Er war plötzlich ganz kleinlaut, so kannte die Eule ihn gar nicht. Endlich hatte sie ihn befreit und er sprang mit großen Sätzen davon. Gerade noch rechtzeitig, denn fast hätte der Jagdhund ihn geschnappt.

 

Erleichtert flog die Eule auf ihren Ast zurück. Das war eindeutig zu viel Stress gewesen! Aber sie war glücklich, dass sie den Fuchs gerettet hatte.

 

Am nächsten Abend kam der Fuchs früher vorbei als sonst.

„Was ist los?“, fragte die Eule. „Was machst du um Mitternacht unter meinem Baum?“

„Ich wollte mich bei dir bedanken! Du hast mir das Leben gerettet! Entschuldigung, dass ich dich immer verspottet habe! Es ist gut, dass du da sitzt und auf uns alle aufpasst!“

Die Eule wurde ganz rot vor Verlegenheit. Das konnte der Fuchs zum Glück nicht sehen, weil es dunkel war.

Sie schwieg, denn sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.

Der Fuchs war verunsichert. Hatte die Eule seine Entschuldigung angenommen? Er setzte sich unter den Baum und schwieg ebenfalls.

 

 

Da fiel ihm plötzlich auf, wie schön es war, einfach nur dazusitzen und zu beobachten. Er beobachtete den großen Hirsch. Sein Geweih glänzte im Mondlicht. Majestätisch schritt er auf und ab. Die kleine Maus huschte eilig über den Waldboden. Die Tannenzweige knisterten. Dann kam er Maulwurf, der eifrig buddelte und dabei niedlich schnaufte. Dann kam der Hase und umarmte den Maulwurf. Der Fuchs hatte nicht gewusst, dass Maulwurf und Hase so gute Freunde waren.

"Wie blind bin ich gewesen!", dachte er und schaute hinauf zur Eule. Sie lächelte still vor sich hin und der Fuchs ahnte, dass sie seine Gedanken lesen konnte.

 

 

Der Fuchs musste ebenfalls lächeln und er nahm sich vor, jeden Abend ein Weilchen unter dem Baum zu sitzen. Vielleicht würde er dann auch so weise werden wie die Eule.

 

Die Eule hatte wieder Vieles, worüber sie nachdenken konnte und sie war froh, dass sie nicht mehr alleine war.

 

  

Die verrückte Eule

 

Es war einmal

eine verrückte Eule

Sie machte immer

viel Geheule

Wusste alles

ganz genau

fühlte sich so

superschlau

Drehte sich so gern

vorm Spiegel

Nervte Fuchs und Katz

und Igel!

 

Bis sie dann

alleine stand

keinen sie zum Spielen fand

Traurig blickte sie sich um:

„Alle finden mich so dumm!“

 

 

Eine Maus beriet sie gut:

„Gib nicht so an mit deinem Hut!

Du musst einfach netter sein,

dann lädt dich jeder wieder ein!“

 

 

 

Die kleine Eule kann nicht warten

 

Die kleine Schneeeule hatte beobachtet, wie ihre Mama ein Weihnachtsgeschenk für sie versteckt hatte. Sie wusste, dass es strengstens verboten war, die Weihnachtsgeschenke vorher auszupacken und doch musste sie immer daran denken. Das Paket war sehr groß gewesen.

 

 

In der kommenden Nacht konnte die kleine Eule nicht schlafen. Sie musste immer an das Geschenk denken und wälzte sich hin und her. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und schlich zur Abstellkammer. Dort sah sie das große Paket. Ihr Herz klopfte.

„Jetzt oder nie!“, dachte die kleine Eule und riss ruckzuck die Schleife auf.

Aber was musste sie da sehen? Es war ein Staubsauger! Wieso schenkte ihr die Mama einen Staubsauger? Schnell und sehr enttäuscht wickelte sie das Geschenk wieder ein. Ihre kleinen Flügel zitterten. Das schlechte Gewissen plagte sie und die Weihnachtsfreude war verdorben.

Es waren nur noch zehn Tage bis Weihnachten und die kleine Eule wurde von Tag zu Tag trauriger. Der Mutter fiel das auf.

„Kleine Eule, was ist los?“, fragte sie. „Bald ist Weihnachten und du freust dich gar nicht?“

Die Eule schluckte. Tränen kullerten ihr aus den großen Eulenaugen.

„Mami, ich habe etwas Schreckliches getan!“, schluchzte sie.

„Was denn?“, fragte die Eulenmutter angstvoll.

„Ich habe in der Abstellkammer nach dem großen Geschenk geguckt. Ich weiß, das hätte ich nicht tun sollen!“, heulte die kleine Eule.

Die Mutter blickte die kleine Eule streng an. Die kleine Eule zitterte heftig und bekam vor Angst einen Schluckauf.

Dann fing die Mutter an zu lachen.

„Kleine Eule, dann weißt du jetzt ja, was ich deinem Vater schenke!“

Da mussten Mutter und Tochter herzlich lachen. Sie lachten so laut, dass der Schnee von den Bäumen rieselte.

Die kleine Eule erlebte einen wunderschönen Weihnachtsabend und freute sich über die kleine Stoffeule, die sie sich so sehr gewünscht hatte. Seit jenem Weihnachten hat sie nie mehr in der Abstellkammer nach Geschenken gesucht.

 

 

 

 

Eusebia und die Eulen

 

 

Es war einmal ein altes Mütterchen. Ihr Name war Eusebia. Eusebia lebte mitten im Wald mit ihren vielen Eulen. Die Eulen waren wie Kinder für sie und sie sorgte sehr gut für sie. Eusebia redete mit ihren Eulen, sie pflegte sie, wenn sie krank waren und sie erzählte ihnen Märchen oder sang ihnen Lieder vor.

Es war ein glückliches Leben und Eusebia fühlte sich nicht einsam. Jahrelang schon hatte sie keinen Menschen mehr gesehen, denn die Leute aus dem Dorf hatten Angst vor ihr und erzählten sich unheimliche Geschichten.

„Die alte Eusebia tickt nicht richtig, sie redet nur mit ihren Eulen!“, sagten die Menschen.

 

 

Der Dorfarzt machte sich Sorgen, denn er wusste, dass Eusebia schon weit über achtzig Jahre sein musste. Was, wenn sie sich nicht mehr versorgen könnte? Er war ein guter Mann und so machte er sich eines Tages auf den langen Weg in den dunklen Wald, um einfach mal nach dem Rechten zu sehen.

 

 

Er wusste nur ungefähr, wo die Alte wohnte. So tief ging er normalerweise nie in den Wald. Je näher er der Hütte kam, desto mehr Eulen fielen ihm auf, die stumm in den Bäumen hockten und ihn anstarrten.

„Ich tue euch nichts, ich will nur nach Eusebia gucken!“, murmelte er vor sich hin, um sich selber ein wenig zu beruhigen. Er hatte Angst und die Angst wurde immer größer.

„Wäre ich doch bloß heute Morgen schon losgewandert!“, dachte er bei sich, denn es wurde dunkel und der Mond ging auf. Doch am Morgen war er noch sehr beschäftigt gewesen: Die Bäuerin hatte Zwillinge zur Welt gebracht und er hatte alle Hände voll zu tun. Die beiden Babys waren gesund, alles war gut gegangen.

Ein kalter Wind wehte ihm fast die Mütze vom Kopf.

„Wenn ich doch endlich da wäre!“, dachte er bei sich. Endlich sah er in der Ferne ein Haus mit erleuchteten Fenstern.

 

 

„Das muss es sein!“, rief er aus und beschleunigte seinen Schritt. Kurz darauf stand er vor der Eingangstür und klopfte an.

 

Tock, tock, tock.

 

Eusebia bekam einen Schreck. Sie hatte ganz vergessen wie es sich anhörte, wenn jemand an die Tür klopfte.

„Ich komme, ich komme!“, rief sie und schlurfte mit ihren viel zu großen Pantoffeln zur Haustür. Die Eulen beobachteten alles mit großer Spannung. Sie saßen auf den Schränken, auf dem Herd, auf dem Tisch oder in den Regalen. Tausend Augen betrachteten den Dorfarzt, als er eintrat.

„Ich bin Hans, der Dorfarzt und wollte nach dem Rechten sehen. Geht es Ihnen gut?“, fragte er höflich und setzte seinen Hut ab. Ein etwas merkwürdiger Geruch schlug ihm entgegen. Die Alte sah ihn verwundert an. Fast so, als würde sie seine Sprache nicht verstehen. Der Arzt sah sich um. Er bekam einen Schreck. Er wusste zwar, dass Eusebia mit vielen Eulen zusammenlebte, doch diese Anzahl überwältigte ihn.

Eusebia räusperte sich und fand ihre Sprache wieder.

„Möchten Sie einen Tee?“, fragte sie. Ihre Stimme klang ganz heiser. Der Arzt nickte und folgte der alten in das Haus. Er wusste nicht, wo er sich hinsetzen sollte, denn überall saßen Eulen. Am liebsten wäre er wieder gegangen, denn er fühlte sich sehr unwohl. Schließlich rückte eine kleine Eule etwas zur Seite, so dass der Art sich hinsetzen konnte.

Die Alte stellte einen dampfenden Tee vor ihn hin, den er nicht anrühren mochte. Da fiel ihm eine große Decke auf, die die Alte häkelte. Sie sah wunderschön aus, wie das glänzende Gefieder einer Eule.

„Die Decke ist unglaublich schön!“, brachte Hans hervor und sah sie voller Bewunderung an.

„Ja, ich arbeite daran schon einige Jahre!“, gestand die alte Frau und man konnte ihr ansehen, dass sie sehr stolz darauf war. Eine Schweigeminute entstand.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte der Arzt schließlich. Die Alte lachte. Dem Arzt fiel auf, dass sie keine Zähne mehr im Mund hatte.

„Ich komme sehr gut klar. Außerdem bin ich nicht allein!“, sagte sie und deutete auf die gefiederten Freunde. Die Stimme der alten Frau hatte gezittert. Oder hatte Hans sich alles nur eingebildet?

„Aber Sie sind schon so alt und die Eulen machen bestimmt viel Arbeit!“, stammelte der Arzt, der am liebsten auf der Stelle nach Hause gelaufen wäre. Doch draußen hatte sich ein Gewitter zusammengebraut und es donnerte und blitzte. Die Eulen zeigten sich völlig unbeeindruckt von dem Unwetter. Wie versteinert saßen sie da.

„Ob die Alte eine Hexe ist?“, ging es dem Arzt durch den Kopf. Doch die alte Frau sah ihn freundlich an und stellte ihm ein wenig Brot hin.

„Das kann ich Ihnen anbieten und ein Nachtlager. Bei dem Unwetter können Sie nicht zurück!“ Der Arzt nickte beklommen, aß sein Brot und wurde dann in eine Kammer geführt. Hier waren natürlich auch unzählige Eulen und die Alte musste zunächst einige aus dem Bett verscheuen, damit der Arzt Platz hatte.

Ohne eine weitere Unterhaltung legte sich der Arzt in das Gästebett und zog sich die Decke so weit nach oben wie es ging. Dann schloss er die Augen und versuchte einzuschlafen. Am nächsten Morgen wollte er gleich ganz früh aufstehen und zurück nach Hause laufen.

Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Immer wieder tauchten die Eulen vor seinen Augen auf.

 

 

Der Regen prasselte gegen das Fenster und drückte fast die Scheibe ein. Die Blitze zuckten und der Donner grollte.

Da hörte er plötzlich, wie die Alte anfing, ein Märchen zu erzählen. Die Eulen hatten sich alle um sie gescharrt und hörten aufmerksam zu.

 

 

„Meine lieben Eulen, heute Abend erzähle ich euch das Märchen von der unheimlichen Alten, die keiner besuchen wollte. Sie wurde einst aus dem Dorf vertrieben, als sie noch ein ganz junges Mädchen war. Man hatte gesehen, dass sie eine Eule gepflegt hatte und einige Leute glaubten, dass sie eine Hexe sei. Das Mädchen floh in den Wald und fand in einer Hütte Zuflucht. Hier baute sie einen Kräutergarten an und pflegte die kranken Tiere des Waldes gesund. Die Tiere dankten es ihr und blieben bei ihr wohnen, um sie zu beschützen. Ab und zu kamen freche Kinder aus dem Dorf und riefen Spottverse. Doch das störte das junge Mädchen nicht. Sie hatte ihren Sinn im Leben gefunden und war sehr glücklich mit den Tieren. Bald kamen keine Menschen mehr. Besonders gern mochte das Mädchen die Eulen und es wurden immer mehr. Sie konnte sich mit den Eulen unterhalten und die Eulen verstanden jedes Wort, denn sie waren sehr klug. Das Mädchen lernte viel von ihnen. So ging es viele Jahre. Doch leider war das Mädchen inzwischen sehr alt geworden. Es machte sich große Sorgen um die Eulen. Was würde mit ihnen passieren, wenn sie nicht mehr da wäre?“

 

Die Alte machte eine Pause und die Eulen fingen an zu heulen.

 

„Huhuhuhu!“

 

„Ich wollte euch nicht aufregen, ich lebe sicher noch viele Jahre!“, sagte die Alte schnell. Der Arzt war aufgestanden und sah das Mütterchen voller Mitleid an.

„Kommen Sie mit mir ins Dorf! Wir haben ein Haus, da leben alte Leute und ich kümmere mich um Sie!“

„Ich habe kein Geld, ich kann so etwas nicht bezahlen!“, stotterte die Alte verlegen.

„Sie brauchen kein Geld. Sie können wunderbar Märchen erzählen! Die Kinder im Dorf würden sich sehr freuen und die alten Menschen natürlich auch!“, erklärte Hans zuversichtlich. Die alte Frau sah ihn an.

„Und meine Eulen?“, fragte sie schließlich angstvoll.

„Die lassen wir frei. Sie können draußen leben!“, rief der Arzt voll Begeisterung. Er wollte dieser alten Frau auf der Stelle helfen.

„Also gut, morgen, wenn der Tag anbricht, machen wir uns gleich auf den Weg!“ , sagte Eusebia. Dann legten sich alle schlafen. Nur zwei Eichhörnchen waren noch wach und genossen die Stille des Waldes unterm Sternenhimmel.

 

 

 

Als es wieder hell wurde, nahmen Eusebia und Hans ein kleines Frühstück zu sich und ließen anschließend die Eulen frei. Nur eine kleine weiße Eule nahm Eusebia mit. Der Abschied fiel ihr schwer, doch als sie sah, wie fröhlich die Eulen davon flogen, war sie glücklich und zufrieden.

„Ihr lieben Eulen, ich werde euch nie vergessen!“, rief Eusebia ihnen hinterher und sie hatte das Gefühl, dass die Eulen zum Abschied winkten. Auch sie hatten Tränen in ihren großen Eulenaugen.

 

 

„Sie werden ihr Leben in Freiheit genießen!“, sagte sie tapfer und Hans nickte.

„Es war genau die richtige Entscheidung!“, stellte er fest und dann wanderten sie los. Die Alte warf einen letzten Blick auf ihre kleine Hütte und wischte sich schnell einige Tränen ab.

 

Nachdem sie eine halbe Stunde gewandert waren, musste Eusebia feststellen, dass sie Schmerzen in den Knien hatte und ihre Knöchel waren stark angeschwollen. Sie setzte sich erschöpft auf einen Baumstamm. Die kleine weiße Eule sah traurig aus und schmiegte ihr weiches Köpfchen an Eusebias Schulter.

„Ich kann nicht mehr weiter. Ich schaffe den Weg bis zum Dorf nicht mehr!“, sagte sie kläglich. Der Arzt tastete ihre Knöchel ab und nickte. „Ich weiß mir im Moment auch keinen Rat. Wie können wir nur ins Dorf kommen? Ich müsste Sie tragen und das schaffe ich nicht!“

Da flog plötzlich die kleine weiße Eule davon. Sie hatte alles verstanden und führte etwas im Schilde.

„Wohin fliegt die weiße Eule? Was hat sie vor?“, fragte der Arzt verwirrt.

„Ich kann es im Moment auch nicht sagen!“, gestand die Alte, die sonst immer die Zeichen der Eulen sehr gut zu deuten wusste.

Während sie noch überlegten, wie sie ins Dorf kommen konnten, fiel plötzlich ein Schatten auf sie. Hans dachte für einen Augenblick, eine Wolke hätte sich vor die Sonne geschoben, doch dann blickte er in den Himmel und sah es: Die große Decke, die die alte Frau gehäkelt hatte, schwebte wie ein Dach über ihnen. Unzählige Eulen trugen sie und ließen sie langsam auf die Erde nieder. Eusebia traten die Tränen in die Augen und Hans war einfach nur sprachlos. Die kleine Eule hatte alle Freunde mobilisiert und die rettende Idee gehabt. Vorsichtig beförderte Hans Eusebia in die Decke und dann halfen unzählige Eulen, mit ihren Schnäbeln die Decke vorsichtig zu tragen.

Es war wie ein Wunder, ein letztes Geschenk der Eulen für Eusebia.

 

 

Die alte Frau gelangte sicher ins Dorf und die Dorfbewohner staunten, als sie das merkwürdige Gespann sahen. Hans erklärte ihnen alles und ein Zimmer im Haus der alten Leute wurde schnell für Eusebia hergerichtet.

Und so kam es, dass die alte Frau jeden Morgen in die Dorfschule ging und den Kindern schöne Geschichten erzählte. Von Eulen, vom Wald und davon, dass Wunder geschehen können, wenn man nur an sie glaubt.

 

 

 

 

 

Im Regenbogenland

 

Es war einmal ein kleines Mädchen namens Rosalie. Rosalie hatte lange blonde Haare und wohnte in einer kleinen Holzhütte in einem tiefen Wald. Rosalies Mutter war bei ihrer Geburt gestorben und ihr Vater verdiente seinen Lebensunterhalt als Holzfäller. Das Mädchen kochte und wusch für den Vater. Ihre besondere Eigenschaft war das Geschichtenerzählen. Ihr fiel jeden Tag so viel ein, dass sie bestimmt schon hundert Bücher füllen konnte. Da sie aber für sich allein war und keine Zeit hatte, all diese Geschichten aufzuschreiben, erzählte sie sie ihrem Hund. Der war ein guter Zuhörer.

 

 

Rosalie und ihr Vater führten ein glückliches, bescheidenes Leben und alles hätte auch gut so weiter gehen können, wenn nicht eines Tages etwas Schreckliches passiert wäre.

Ein starker Sturm war aufgekommen, die Tannen wiegten sich ächzend im Wind. Am Morgen, als der Vater losgegangen war, war alles noch ganz friedlich gewesen.

Als Rosalie wie jeden Abend am Fenster saß und auf ihren Vater wartete, hatte sie plötzlich ein merkwürdiges Gefühl. Sie streichelte ihren Hund Perrito und sagte: „Hoffentlich kommt Vater bald nach Hause! Ich mache mir große Sorgen um ihn.“ Der treue Hund blickte sie mit seinen großen braunen Hundeaugen an.

 

Als es dunkel war, war der Vater immer noch nicht heimgekehrt. Was sollte Rosalie tun? Sie wusste, dass sie nicht allein in den Wald gehen durfte. Überall lauerten Gefahren und der Vater hatte ihr gesagt: „Wenn ich einmal nicht heimkommen sollte, weil ich einen Unfall hatte, suche mich nicht. Es ist zu gefährlich in dem tiefen Wald. Rufe am nächsten Tag die weise Rieseneule um Rat. Sie wird dir helfen!“

 

 

Rosalie hatte ihren Vater angstvoll angestarrt. „Aber Vater, versprich mir, dass du nie einen Unfall haben wirst!“ „Ich verspreche es!“, hatte der Holzfäller geantwortet, doch er hatte hinter seinem Rücken drei Finger gekreuzt, damit der Schwur aufgehoben wurde. Die Arbeit eines Holzfällers war sehr schwer und gefährlich. Es grenzte an ein Wunder, dass bisher noch nichts passiert war.

„Und wie soll ich die weise Rieseneule rufen?“, hatte Rosalie gefragt. „Du musst im Morgengrauen vor die Hütte treten, nach Norden blicken und dreimal pfeifen!“, hatte ihr der Vater erklärt. Der Vater stellte sich in die richtige Position und pfiff dreimal. Rosalie hatte genau zugesehen und sich alles so gut es ging gemerkt.

Rosalie konnte in der folgenden Nacht kaum ein Auge zumachen. Sie dachte an ihren lieben Vater, der wahrscheinlich einen Ast von dem Sturm abbekommen hatte. Vielleicht lag er irgendwo verletzt unter einem Baumstamm und rief um Hilfe?

Kaum graute der Morgen, trat sie vor die Hütte und sah sich nach der Eule um. Leider konnte sie sie nicht entdecken. Also pfiff sie dreimal, genauso, wie der Vater es ihr gezeigt hatte.

Es dauerte nicht lange, da kam eine große Eule angeflogen. Sie sah wunderschön aus und setzte sich auf einen Ast. So eine große Eule hatte Rosalie noch nie gesehen.

 

 

„Du hast mich gerufen, Rosalie. Ist etwas passiert?“, fragte die Eule. Rosalie erschrak. Sie hatte nicht gewusste, dass die Eule sprechen konnte. „Mein Vater ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Ich mache mir Sorgen, dass etwas Schlimmes passiert ist!“ Die Eule nickte. „Ich werde dir helfen. Doch zunächst muss ich dich mitnehmen Wir fliegen ins Regenbogenland und dort musst du eine wichtige Aufgaben lösen!“ Rosalie erschrak. Sie hatte noch nie etwas von diesem Land gehört.

Der Flug war einfach phantastisch. Der frische Fahrtwind brauste Rosalie um die Ohren und ihr wurde fast schwindelig. Unter ihr waren unzählige Tannen, die sich im Wind wiegten.

 

 

Rosalie hielt sich an der großen Eule fest, so gut es ging. Langsam ließ der Wind nach, sie flogen über große Felder, Seen und in der Ferne glitzerte das Meer.

„Ist es noch weit?“, fragte Rosalie die Eule.

„Nein, wir sind gleich da! Dort hinten siehst du schon die Berge und den Regenbogen!“

 

Das Regenbogenland war wunderschön. Es kam Rosalie vor wie ein kleines Paradies. Wenn sie doch nur ihren Vater retten könnte ...!

 

 

Endlich landete die Eule auf einem Zweig. Rosalie stieg von ihrem Rücken herunter und setzte sich neben sie.

„Siehst du die Ameisen dort unten?“, fragte die Eule. Rosalie nickte. „Diese Ameisen sind unermüdlich. Sie schleppen jeden Tag große Erdklumpen in ihr Reich, um eine Stadt zu bauen. Leider wollen sie das Regenbogenland zerstören und die Phantasie vernichten. Ich muss sie stoppen, doch ich weiß nicht, wie. Wenn du es schaffst, die Ameisen zu stoppen und sie davon zu überzeugen, dass sie damit aufhören sollen, dann werde ich genug Kräfte haben, um deinen Vater zu finden!“ Rosalie schluckte. Wie sollte sie die Ameisen davon überzeugen? Sie war doch nur ein kleines Mädchen!

Rosalie kletterte den Baum hinunter und beobachtete die Riesenameisen. Sie schleppten und schleppten unermüdlich große Brocken Erde mit sich herum. Dann verschwanden sie in einem Loch. Die Stadt musste schon gigantisch groß sein. Rosalie bekam es mit der Angst zu tun. Sie musste schnell handeln.

Rosalie sprach eine der Ameisen an. „Ich will zu eurer Königin, ich muss etwas mit ihr besprechen!“ Die Ameise blickte kurz auf und deutete auf eine andere Ameise, die prächtige Flügel hatte und gerade aus dem Loch herauskrabbelte. Rosalie lief auf die Königin zu.

„Ihr dürft die Phantasie nicht zerstören, ihr müsst aufhören damit!“, rief sie aufgebracht. Die Königin blickte Rosalie verwundert an. „Aber Kind, Phantasie ist vollkommen unnötig. Wir müssen uns an die Realität halten, nur das bringt uns weiter!“ „Aber das wunderschöne Regenbogenland, wenn es nicht mehr existiert, ist auch die Phantasie verloren!“ „Dann sage mir einen Grund, warum die Phantasie leben sollte!“, forderte die Ameisenkönigin. Rosalie überlegte fieberhaft. In ihrer Not fing sie an, sich eine Geschichte auszudenken und sie der Ameise zu erzählen. Die Geschichte spielte im Regenbogenland und handelte von Ameisen, die traumhafte Städte bauten anstatt die Phantasie zu zerstören. Immer mehr Ameisen waren stehen geblieben und lauschten der Geschichte, die immer schöner und spannender wurde.

Als Rosalie zu Ende erzählt hatte, bekam sie von allen Seiten Applaus.

 

 

Die Ameisenkönigin wischte sich einige Tränen aus den Augen.

„Siehst du, Königin, wenn die Phantasie stirb, kann ich nichts mehr erzählen!“ Die Königin schwieg einige Sekunden. Dann sah sie Rosalie an: „Du hast mich überzeugt. Aber eine Bedingung muss ich stellen: Du besuchst uns jeden Tag und erzählst uns eine von deinen Geschichten!“ „Ich verspreche es!“, jubelte Rosalie.

 

Die Rieseneule hatte von ihrem Ast aus zugehört. Sie nickte froh, nahm Rosalie auf den Rücken und flog mit ihr in den tiefen Wald zurück. Kurze Zeit später fanden sie den Vater. Er war unter einem umgekippten Baum eingeklemmt. Rosalie konnte ihn schnell befreien. Überglücklich nahm er sie in die Arme und sie stütze ihn, weil sein Bein verstaucht war. Irgendwann am späten Abend kamen sie zu Hause an. Alles war gut.

 

 

 

So kam es, dass Rosalie jeden Abend von der Rieseneule abgeholt wurde, um den Ameisen eine Geschichte zu erzählen. Und diese bauten mit vereinten Kräften eine wunderschöne Phantasiestadt.

 

 

 

Ein kleiner Zeichenkurs

 

 

 

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Weitere Bücher der Autorin:

 

 

 

Der grüne Vogel lebte im Regenbogenland. Er hatte eine wunderschöne Stimme und sang jeden Tag, wenn die Sonne aufging, seine schönsten Lieder. Alle Tiere im Wald liebten ihn.

Doch eines Tages wurde er krank und konnte nicht mehr singen. Traurig saß er auf seinem Ast und wusste nicht mehr, was er machen sollte. Die anderen Tiere verloren bald das Interesse an ihm, denn ohne Gesang war er für sie langweilig geworden.

So wurde er immer einsamer und einsamer. Bald hatten alle Tiere vergessen, dass er einst so schön gesungen hatte...

 

Viel Spaß beim Lesen der Geschichten und Gedichte!

 

 

Nessie führt ein einsames Leben in Schottland. Das Monster hat schon viel erlebt und erzählt von seiner Vergangenheit. Dann paddeln eines Tages Kinder in einem selbst gebauten Floß auf dem tiefen See ...

 

Diese und viele andere Geschichten kannst du hier lesen. Außerdem sind viele bunte Bilder in dem Buch enthalten.

 

Viel Spaß!

Impressum

Texte: Dörte Müller
Bildmaterialien: Dörte Müller
Cover: Dörte Müller
Tag der Veröffentlichung: 23.05.2018

Alle Rechte vorbehalten

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