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Gustav und Adele

Es war einmal ein altes Ehepaar, das lebte in einer kleinen Hütte am Waldrand glücklich und zufrieden. Der Mann hieß Gustav und die Frau hieß Adele.

Ihre drei Kinder waren schon längst von zu Hause ausgezogen und lebten in fernen Ländern. Gustav und Adele waren sehr glücklich. Sie waren immer noch so verliebt wie am ersten Tag und genossen jeden Augenblick miteinander.

Oft saßen sie abends bei Sonnenuntergang auf ihrer kleinen Bank vor der Hütte und hielten sich an den Händen. Dann sahen sie, wie die Sonne die Berge am Horizont in ein glühendes Rot verwandelte und sie fingen an zu träumen von ihrer Jugend und der schönen Zeit, die sie zusammen verbracht hatten. Sie waren fast neunzig Jahre alt und hatten Angst, dass sie bald sterben mussten.

„Adele, am schlimmsten wäre es, wenn du vor mir gehst!“, sagte Gustav oft und drückte Adeles Hand ganz fest.

„Am schlimmsten wäre es, wenn du vor mir gehst!“, entgegnete Adele und sah ihren Mann mit ihren großen, blauen Augen an. In ihnen lag etwas Trauriges, Sehnsuchtsvolles.

„Wir müssen dankbar sein für die vielen schönen Jahre, die wir zusammen hatten!“, sagte Gustav. „Auf keinen Fall dürfen wir undankbar und traurig sein!“

Adele und Gustav lebten von dem kleinen Gemüsegarten, den sie sich vor ihrem Haus angelegt hatten. Sie brauchten sehr wenig zum Leben. Das Wasser holen sie aus einem Brunnen hinter der Hütte.

Sie standen mit dem ersten Sonnenstrahl auf und legten sich mit dem letzten ins Bett. Dann erzählen sie sich noch lange, denn es gab immer etwas zu berichten. Meistens erzählten sie sich Geschichten von früher, vom Kennenlernen und vom ersten gemeinsamen Ausflug.

„Weißt du noch, Adele, als wir uns kennen gelernt haben?“

„Ja, das werde ich nie in meinem Leben vergessen. Wir waren auf der Tanzveranstaltung und du wolltest nicht tanzen. Ich bin zu dir gegangen und habe dich bei der Hand genommen!“

„Erst wollte ich nicht, denn ich war mir nicht ganz sicher, was passieren würde!“

„Doch dann bist du mitgekommen und alles wurde wunderbar!“

„Gute Nacht, Gustav!“

„Gute Nacht, Adele!“

 

Das war alles schon so lange her und doch schien es ihnen oft so, als wäre es gestern gewesen.

Oft dachten sie vorm Einschlafen auch an ihre Kinder, von denen sie lange nichts mehr gehört hatten. Sie vermissten sie, doch sie wussten auch, dass sie ihr eigenes Leben führen mussten.

„Wenn wir doch nur für immer so weiterleben könnten!“, wünschte sich Adele und Gustav nickte. „Doch niemand kann ewig leben, wir alle müssen einmal gehen!“

Eines Morgens konnte Adele plötzlich nicht mehr aufstehen. Sie musste stark husten und der Kopf tat ihr weh. Ihre Stirn war ganz heiß. Gustav war sehr besorgt und machte sich auf den langen Weg ins Dorf. Dort wollte er den Arzt holen.

„Ich bin so schnell wie möglich wieder bei dir!“, sagte er und stellte ihr einen Becher mit kaltem Wasser neben ihr Bett. Dann lief er los. Die Sonne war gerade aufgegangen und es schien ein wunderschöner Frühlingstag zu werden. Doch Gustav sah die schönen Blumen am Wegesrand nicht. Er bemerkte nicht die vielen Schmetterlinge und die unzähligen Vogelstimmen. In Gedanken war er nur bei seiner kranken Frau und hoffte, dass sie schnell wieder gesund werden würde.

Adele war schon sechzig Jahre nicht mehr krank gewesen. Das letzte Mal hatte sie Magenschmerzen gehabt, da war sie gerade dreißig geworden. Doch die waren auch schnell wieder weggegangen, als sie einen Kräutertee getrunken hatte.

Gustav fing an zu beten. Er betete regelmäßig abends, aber morgens hatte er noch nie an den Lieben Gott gedacht. Er betete ein Stoßgebet nach dem anderen und lief so schnell er konnte. Dabei übersah er einen etwas größeren Stein. Sein linker Fuß blieb daran hängen und er schlug der Länge nach hin. Seine alten Hände konnten ihn nicht mehr abstützen, er spürte den Schmerz am ganzen Körper.

„Ich bin verloren!“, dachte er verzweifelt. Da sah er aus der Ferne eine Frau, die auf ihn zukam. Sie war jung und hübsch und erinnerte ihn an jemanden. Die Frau kam näher und näher, die Schmerzen in Gustavs Körper wurden schlimmer und schlimmer. Wahrscheinlich hatte er sich ein paar Rippen und das Handgelenk gebrochen. Da erkannte er die Frau: Es war seine Adele!

„Wie kommst du so schnell hierher und warum bist du plötzlich wieder jung?“, rief er aufgeregt.

Adele lächelte ihn an und reichte ihm ihre Hand.

„Gustav, komm, steh auf! Ich habe eine gute Neuigkeit! Ich habe es geschafft und du wirst es auch gleich geschafft haben.“

Verwirrt blickte er sie an. Ihre blauen Augen strahlten, ihre schwarzen Haare fielen ihr in leichten Wellen um die Stirn und rahmten ihr Gesicht auf wundervolle Weise ein.

„Wir können zusammen gehen!“, sagte Adele mit Nachdruck.

„Gehen? Wohin? Ich muss doch schnell zum Arzt ins Dorf!“, antwortete Gustav verwirrt.

„Das brauchst du jetzt nicht mehr. Komm mit! Die Zeit drängt!“

Gustav nahm ihre Hand. Dann richtete er sich auf. Er fühlte sich plötzlich ganz leicht und schwerelos.

„Wo gehen wir hin?“, fragte Gustav.

„Das ist nicht wichtig!“, antwortete Adele sanft und dann gingen sie Hand in Hand einen wunderschönen Weg entlang. Am Wegesrand standen unzählige Zypressen, die ihnen Schatten spendeten und sie vor der Sonne schützen. Gustav spürte, dass alles gut war und ein einzigartiges Gefühl von Frieden breitete sich in ihm aus.

Impressum

Texte: Dörte Müller
Bildmaterialien: Maunela Schauten
Tag der Veröffentlichung: 17.04.2018

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