Hase Harry freute sich wie jedes Jahr auf das Osterfest, das kurz bevor stand. Sorgfältig packte er seinen Rucksack am Abend vorher, damit er am nächsten Morgen pünktlich um fünf Uhr anfangen konnte, die Eier zu verteilen.
Das Wetter war herrlich. Genauso sollte es Ostern immer sein. Harry stellte sich seinen Wecker und schlief glücklich ein.
Er fand es nicht schlimm, so früh aufzustehen, denn das Ostereierverteilen machte ihm immer sehr viel Spaß.
Heute Morgen fing er bei dem Haus der kleinen Jule an. Sonst waren sie und ihr Bruder Felix immer die Letzten gewesen, dieses Jahr sollte es einmal anders herum sein.
Jule und Felix wohnten in einem sehr schönen Haus vor dem Waldrand.
Sie hatten eine Schaukel und eine Sandkiste im Garten. Das fand Harry toll. Besonders die Schaukel hatte es ihm angetan. Sie leuchtete rot in der Morgensonne. Harry hatte seine Eier schon verteilt. Ob er es wagen konnte, eine Runde zu schaukeln? Es war noch so früh, da konnte Harry eigentlich sicher sein, dass niemand wach war. Die Gardinen waren noch zugezogen. Harry schaute auf die Uhr. Ach, er wollte es einfach versuchen. Fünf Minuten schaukeln mussten einfach möglich sein. Schnell sprang Harry auf die Schaukel und legte los. Es war einfach herrlich. Der warme Frühlingswind sauste ihm um die Ohren und er spürte ein Kribbeln im Bauch, so als würden tausend Schmetterlinge einen verrückten Tanz aufführen.
Er hätte ewig so weiterschaukeln können. Doch er musste weiter, die Arbeit rief. Gerade wollte er von der Schaukel abspringen, da sah er plötzlich alles wie durch ein Netz. Was war das? Er verhedderte sich und fiel von der Schaukel. Eine Stimme rief: „Ich habe ihn! Ich habe tatsächlich den Osterhasen gefangen!“
Harry drehte sich um. Sein Bein schmerzte. Da erkannte er Felix, den großen Bruder von Jule. Das durfte nicht wahr sein! Wieso war Felix überhaupt schon auf?
„Ich hätte nie gedacht, dass es dich wirklich gibt. Jetzt habe ich zwar meine Wette verloren, aber ich bin trotzdem froh, dass ich dich gefangen habe!“, sagte Felix und strahlte vor Glück.
„Felix, bitte lass mich laufen! Du darfst keinem erzählen, dass du mich gefangen hast!“, bat Harry. Er zitterte vor Angst.
„Natürlich lasse ich dich laufen. Aber wieso darf ich denn keinem erzählen, dass es dich gibt?“, fragte Felix verwundert. „Dann ist der Osterhasenzauber gebrochen! Gerade weil es so ein Geheimnis ist und man nicht genau weiß, ob es mich jetzt wirklich gibt oder nicht, ist es doch so schön!“, versuchte Harry dem Jungen zu erklären.
„Aber ich möchte es so gerne erzählen! Ich habe extra meinen Wecker auf fünf Uhr gestellt, damit ich dich fangen kann. Jetzt soll alles umsonst gewesen sein?“, fragte Felix. Er weinte fast.
„Nein, es war nicht umsonst. Du weißt jetzt, dass es mich gibt und es ist dein großes Geheimnis!“, erklärte Harry. Felix nickte. „Okay, wenn es dein Wunsch ist, dann machen wir es so!“, sagte er schließlich. „Außerdem wäre dann nächstes Jahr das ganze Dorf hier und würde auf mich warten. Dann käme ich in die Zeitung und ins Fernsehen und eure Ruhe wäre gestört!“, sagte Harry und stand auf. Noch immer tat sein linker Fuß weh.
„Aber ist es möglich, dass ich dich nächstes Jahr hier wieder treffe?“, fragte Felix zaghaft.
„Ja, das geht. Aber nur du alleine!“, sagte Harry. Felix winkte Harry noch lange hinterher und packte sein Netz wieder ein. Dann ging er zurück in sein Kinderzimmer und legte sich noch einmal in sein Bett.
„Die Geschichte hätte mir sowieso keiner geglaubt! Aber ich bin so froh, dass ich den Osterhasen persönlich getroffen habe!“, dachte er und schlief zufrieden ein.
Harry hoppelte so gut es ging weiter. Er war froh, dass Felix so einsichtig gewesen war. Trotzdem hatte er wertvolle Zeit verloren, die er jetzt wieder herausarbeiten musste. Vor ihm lag das Haus der alten Frau Tengs. Auch sie bekam immer ihre Ostereier. Schnell versteckte Harry die bunten Eier hinter einem Busch.
„Ach, da ist ja mein Osterhäschen!“, hörte er plötzlich eine Stimme. Es war die alte Frau Tengs, die an diesem Morgen etwas früher als gewohnt durch ihren Garten ging.
Harry war verzweifelt. Schon wieder hatte ihn jemand entdeckt! Wie konnte das alles passieren?
„Mein ganzes Leben habe ich schon auf den Osterhasen gewartet, doch nie hatte ich so ein Glück wie heute! Ich kann mich noch gut an das verregnete Osterfest von 1942 erinnern. Ich hatte mir den Wecker auf fünf Uhr morgens gestellt, damit ich den Osterhasen sehe. Ich wurde ganz nass, weil es wie aus Kübeln goss. Das Osterhäschen ist nicht erschienen und ich war unendlich traurig. Da habe ich bitterlich geweint. Meine Mutter schimpfte mich aus, weil ich so nass geworden war und steckte mich gleich ins Bett. Mein Häschen, ich bin dir so dankbar, dass du dich heute gezeigt hast!“, sagte die alte Frau und strahlte. Da sah sie gleich zehn Jahre jünger aus.
„Darf ich ein Foto von dir machen für meine Enkelin?“, fragte sie hoffnungsvoll.
„Das geht leider nicht, denn eigentlich darf mich gar keiner sehen. Wenn Sie das Foto machen und alles Ihrer Enkelin erzählen, ist der Osterhasenzauber gebrochen!“, erklärte Harry. Die alte Frau war traurig, aber sie konnte Harry verstehen.
„Aber dann darf ich dich doch wenigstens ein bisschen auf den Schoß nehmen?“, fragte sie. Harry sah auf die Uhr. Eigentlich war er sehr spät dran, aber er wollte der alten Frau eine Freude machen. Also sprang er auf ihren Schoß und ließ sich einige Minuten streicheln.
„Vielen Dank! Das war mein schönster Tag!“, sagte Frau Tengs. Harry verabschiedete sich und hoppelte weiter. Jetzt musste er zu der strengen Lehrerin Frau Rösler. Er wusste, dass die Kinder sie nicht mochten, doch im Osterhasenhandbuch stand, dass alle Menschen Ostereier bekommen sollten.
Harry legte ihr schnell einige Eier hinter den Baum und wollte gerade weghoppeln, da fiel ein großer Schatten auf ihn.
„Es gibt ihn also doch!“, hörte er eine strenge Stimme. Er blickte auf und erkannte das wütende Gesicht von Frau Rösler. Er konnte verstehen, dass die Kinder sehr viel Angst vor ihr hatten.
Er selber hatte in diesem Moment ganz weiche Beine und zitterte vor Aufregung. Jetzt war er zum dritten Mal entdeckt worden. Es war wie in einem Albtraum.
Die Lehrerin fing plötzlich an zu weinen. Das strenge Gesicht wurde augenblicklich ganz weich.
„Wieso weinen Sie denn?“, fragte Harry zaghaft. „Ich hätte Grund zu weinen, denn Sie haben mich entdeckt. Bitte erzählen Sie es nicht weiter, denn sonst ist der Osterhasenzauber gebrochen!“
„Ach, du liebes Häschen! Ich habe nie richtig an dich geglaubt und habe den Kindern immer erzählt, dass es dich nicht gibt. Gestern habe ich noch die kleine Jule ausgeschimpft, als sie immer wieder mit dem Märchen vom Osterhasen anfing. Ihren Aufsatz habe ich schlecht benotet, weil sie nur vom Osterhasen schrieb! Ich habe alles falsch gemacht! Ich war viel zu streng“, heulte die Lehrerin.
„Sie können doch nach den Osterferien nett sein. Dann wird alles wieder gut!“, schlug Harry vor. Frau Rösler tat ihm richtig leid. Sie war überhaupt nicht mehr streng und angsteinflößend. Die Lehrerin wischte sich die Tränen ab. „Meinst du wirklich“, fragte sie zaghaft. Harry nickte. „Man kann sich immer ändern. Es gibt jeden Tag eine neue Chance!“, sagte er. Frau Rösler war ein wenig getröstet und winkte dem niedlichen Hasen noch lange nach.
„Diese Begegnung werde ich nie vergessen!“, dachte sie. „Und nach den Ferien werde ich mich ganz bestimmt ändern!“
Harry war ganz erschöpft. Bisher hatte ihn noch nie jemand entdeckt und heute passierte eine Panne nach der anderen.
Doch irgendwie waren es auch schöne Begegnungen gewesen.
Er war jetzt sehr unter Zeitdruck. Daher beschloss er, die Abkürzung durch den Wald zu nehmen.
Schnell hoppelte er über eine Lichtung und sprang dann über einen Bach. Rechts neben sich sah er das Jagdhaus und die großen Fichten. Ein Hirsch winkte ihm zu und rief: „Harry, schön dich einmal wiederzusehen! Viel Spaß beim Verteilen der Eier!“
Harry bedankte sich und winkte zurück. Er mochte alle Tiere im Wald und war mit jedem Tier befreundet. Nur vor dem Fuchs hatte er Angst, denn er lauerte ihm oft auf und wollte ihn am liebsten verspeisen.
Plötzlich hörte er einen lauten Knall. Was war das? Der Hirsch, dem er eben noch fröhlich zugewinkt hatte, lief aufgeregt an ihm vorbei.
„Harry, bring dich in Sicherheit, ein Jäger ist unterwegs!“, rief er Harry zu. Doch es war zu spät. Der Jäger stand vor ihm und zielte mit seinem Gewehr genau auf seinen Bauch.
„Nicht schießen!“, rief Harry. „Es ist Ostern!“
Dem Jäger fiel vor Schreck das Gewehr aus der Hand.
„Du bist ein Osterhase!“, rief er fassungslos. „Ich dachte immer, es gibt dich nicht!“
„Beinahe hätten Sie mich erschossen. Dann wären Sie nicht mehr froh geworden!“, erklärte Harry, dem der Schreck noch in den Gliedern steckte. Der Jäger war ganz weiß geworden. Beinahe hätte er den Osterhasen erlegt. Das war ein schrecklicher Gedanke, der ihm den Atem nahm.
„Wieso gehen Sie überhaupt Ostern auf die Jagd?“, fragte Harry wütend.
„Ich bin so einsam, ich wusste nicht, was ich machen sollte ...!“, antwortete der Jäger kläglich.
Harry wollte gerade davon hoppeln, da rief der Jäger ihm hinterher: „Osterhase, es tut mir alles so leid. Ich höre ganz mit dem Jagen auf. Als Beweis schmeiße ich mein Gewehr in den Bach!“ Harry traute seinen Augen nicht. Der Jäger warf im hohen Bogen sein Gewehr ins Wasser. Es platschte laut. Dann ging der Jäger davon.
Der Hirsch und viele anderen Tiere hatten alles auf dem Dickicht beobachtet.
Jetzt traten sie hervor und bedankten sich bei Harry. Auch zwei verwandte Häschen hatten alles mitbekommen.
"Wir haben jeden Tag Angst vor dem Jäger gehabt. Jetzt ist er nicht mehr da und wir brauchen nicht mehr zu zittern!", freuten sie sich.
„Dieses Osterfest hat sich für uns auf alle Fälle gelohnt!“, riefen alle Tiere. Harry wurde ganz warm ums Herz. Er spürte ihre Dankbarkeit und ihre große Erleichterung.
Doch ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er jetzt schon viel zu viel Zeit verloren hatte. Er konnte jetzt auf gar keinen Fall mehr die Ostereier rechtzeitig verteilen. Viele Kinder würden leer ausgehen. Es war eine Katastrophe.
„Wenn wir einmal etwas für dich tun können, Harry, sag es einfach!“, unterbrach der Hirsch Harrys traurige Gedanken.
„Ja, ich brauche Hilfe beim Ostereierverteilen, denn ich habe zu viel Zeit vertrödelt!“, gestand Harry. Die Tiere waren sofort zur Stelle und jeder bekam ein paar Eier. In Windeseile machten sich die Tiere davon. Harry war wieder ein glücklicher Osterhase.
"Wie gut, dass man Freunde hat!", dachte er.
Die kleine Lotte war an diesem Morgen sehr aufgeregt. Ob der Osterhase wohl schon da war? Sie guckte überall, doch sie konnte keine Eier finden. Traurig wollte sie schon zurück ins Haus gehen. Da sah sie plötzlich ein kleines Eichhörnchen, das den Baum herunterkletterte und flink vier Eier hinter einem Busch versteckte. Lotte traute ihren Augen nicht. Aufgeregt lief sie zu ihrer Mutter.
„Mama, du hast immer gesagt, der Osterhase bringt die Eier. Das stimmt gar nicht. Es ist das Eichhörnchen!“
Die Mutter strich ihrer Tochter liebevoll über den Kopf.
„Ach, Lotte! Was hast du nur für Flausen im Kopf!“
Harry kam gegen Abend in seiner kleinen Hütte an. Er holte sein Tagebuch hervor und schrieb alles auf, was er erlebt hatte. Es war so viel, dass seine Pfote schon richtig weh tat. Als er mit seinem Aufsatz fertig war, war es schon fast dunkel. Gleich war es Zeit für ihn, ins Bett zu gehen und sich auszuruhen.
Zufrieden schrieb er den letzten Satz:
„Alle haben ihre Ostereier noch rechtzeitig bekommen. Und das ist schließlich das Wichtigste!“
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Texte: Dörte Müller
Bildmaterialien: Dörte Müller
Tag der Veröffentlichung: 25.03.2018
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