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Valerie und der Eisbär

 

Valerie war zehn Jahre alt und ging in die vierte Klasse. Sie war eine fleißige Schülerin und schrieb immer gute Noten. Eigentlich hätte sie sehr glücklich sein können, doch sie hatte keine Freunde. Sie wusste nicht, woran es lag. Mochten sie die anderen Kinder nicht, weil sie kein Handy hatte? Ihre Eltern waren sehr streng und fanden, dass ein Handy nicht gut für Valerie war. So war sie in keiner Gruppe und die Kinder lachten sie aus.

Oft wurde sie Amish Girl genannt, weil sie in Sachkunde einmal die Amishen durchgenommen hatten, die in Amerika lebten und auf dem Feld arbeiteten. Die Amishen verschlossen sich gegen die neue Entwicklung und hatten natürlich auch kein Handy.

Aber das mit dem Handy war es nicht nur. Vielleicht waren auch viele Kinder neidisch auf die guten Zensuren. Valerie schrieb immer die besten Aufsätze. Nur manchmal schrieb sie extra ein bisschen schlechter, damit die Kinder sie in Ruhe ließen.

Valerie wurde oft geärgert und getreten. Einfach so gingen die Mitschüler an ihr vorbei und zwickten sie. Manchmal versteckten sie ihren Ranzen oder taten Kaugummi in ihre Manteltasche. Einmal hatte sich Valerie auf eine Reiszwecke gesetzt. Das hatte so weh getan, doch sie hatte die Zähne zusammengebissen und keinen Laut von sich gegeben.

Früher hatte sie der Lehrerin erzählt, wenn die anderen gemein waren. Doch das hatte eigentlich alles nur noch schlimmer gemacht. Sie wurde als Petze bezeichnet und wurde noch mehr ins Abseits gestellt. Zu Hause erzählte sie auch nichts, denn was sollten ihre Eltern auch schon machen?

Immer, wenn die Mutter fragte: „Wie war es heute in der Schule?“, antwortete Valerie: „Och, ganz gut!“ Dann schämte sie sich, weil sie gelogen hatte. Eigentlich wollte sie immer ehrlich sein, doch in diesem Fall schaffte sie es einfach nicht.

Es war Dezember und schon bitterkalt. Valerie hatte eine Stunde früher Schluss und musste auf den Bus warten. Wie viele andere Kinder auch ging sie in die Fußgängerzone der kleinen Stadt und sah sich die Schaufenster der Geschäfte an. Besonders gerne blieb sie vor dem Spielzeugladen stehen. Dort waren besonders jetzt zur Weihnachtszeit so schöne Sachen ausgestellt. Ein großer Bauernhof mit vielen Tieren und sogar das Barbiehaus, was sie sich immer so sehr gewünscht hatte. Doch ihre Eltern waren gegen Barbies und so hatte sie noch nicht einmal eine Barbiepuppe.

Einige ihrer Mitschüler hatten sich Pommes geholt. Der freche Alex lief an ihr vorbei und gab ihr einen heftigen Tritt, so dass sie fast gegen die Schaufensterscheibe geflogen wäre. Gerade so konnte sie sich noch halten. Doch während des Taumelns nach vorne war ihr Blick auf einen kleinen Eisbären gefallen. Er hatte eine Mütze auf und lächelte sie an. Hatte er eben mit den Augen gezwinkert? Das konnte doch nicht sein, er war ja nur eine Figur! Trotzdem ging Valerie in den Laden. Sie humpelte ein weinig, weil der Tritt von Alex noch so weh tat. Der alte Verkäufer hatte alles beobachtet.

„Armes Mädchen, hat dich der böse Junge getreten!“, murmelte er. Er hatte weiße Haare und eine Nickelbrille. Valerie hatte den Verkäufer noch nie zuvor gesehen, obwohl sie schon oft in diesem Laden gewesen war. Ein bisschen erinnerte er sie an Albert Einstein.

„Weißt du was? Ich schenke dir diesen kleinen Eisbären. Trag ihn immer in deiner Tasche, er wird dir helfen, wenn die Kinder gemein zu dir sind!“, sagte der Alte und holte den Bären aus dem Schaufenster. "Der Bär errät deinen großen Wunsch!", fuhr der Verkäufer fort. Valerie errötete. Sie hatte nur den einen Wunsch: Die Kinder sollten sie endlich in Ruhe lassen! Valerie stammelte „Dankeschön“ und steckte den Eisbären in ihre Tasche.

Schnell verließ sie den Laden, denn bald musste sie zum Bus.

Leichte Schneeflocken fielen vom Himmel. Valerie konnte es nicht fassen, sie war so glücklich, dass der alte Mann ihr diesen kleinen Bären geschenkt hatte. Sie glaubte zwar nicht, dass er ihr helfen konnte, doch sie mochte den Bären sehr gerne.

Als sie die Bushaltestelle erreicht hatte, waren schon einige Kinder aus ihrer Klasse dort. Sie zeigten auf Valerie und riefen: „Amish Girl! Was bekommst du zu Weihnachten? Etwa einen neuen Trachtenrock? Musst du dann wieder auf dem Feld arbeiten?“

Während die Jungen das riefen, umklammerte Valerie ganz fest ihren Eisbären. Der Bus kam angefahren und brauste durch eine große Pfütze. Die vier Jungen waren von oben bis unten voller Matsch. Valeries Herz schlug schneller. Sie musste lachen und alle Umstehenden ebenso. Was war da eben passiert? Hatte der Eisbär ihr geholfen?

Valerie stieg in den Bus. Die frechen Jungen saßen hinten in der letzten Reihe und mussten erst mal mit dem Schreck und der Blamage fertig werden.

Dann nahmen sie ihren Streit wieder auf.

„Amish Girl! Wirst du gleich von deiner Pferdekutsche abgeholt? Bekommst du gleich deine Pferdeäpfel zu essen?“

Valerie wurde rot vor Zorn. Tränen schossen ihr in die Augen. Am schlimmsten fand sie Keno. Er war der Wortführer der Gruppe.

Valerie drehte sich um. Fest hielt sie den Eisbären in der Hand.

„Ja, Keno, und dich würde ich gerne einladen. Ich bin so verliebt in dich!“

Valerie wusste selber nicht, warum sie das sagte. Die anderen Jungen lachten lauthals und Keno wurde über und über rot.

„Ui, ein Liebespaar! Das wussten wir ja noch gar nicht!“, rief Alex.

„Hör auf, mich zu ärgern!“, schimpfte Keno. Doch Alex ließ nicht locker.

„Liebespaar, Liebespaar!“, rief er immer wieder und die anderen stimmten fröhlich ein. Keno hielt es nicht mehr aus. Er sprang auf und prügelte auf Alex ein. Die anderen Jungen kamen Alex zur Hilfe. Plötzlich hielt der Bus an. Ein wütender Busfahrer stapfte nach hinten.

„Alle raus! Ich glaube es nicht! Ihr bekommt Busfahrverbot, ich werde mich an eure Eltern wenden. Dann könnt ihr ab jetzt mit dem Fahrrad zur Schule fahren!“

Draußen hatte es heftig angefangen zu schneien. Valerie konnte ihr Glück nicht fassen. Da standen sie alle wie begossene Pudel im Schnee. Bevor der Bus wieder abfuhr, lächelte sie die Jungen an. Keno formte noch schnell einen Schneeball, doch der prallte am Busfenster ab und lief als Schneematsch an der Scheibe herunter.

Als Valerie zu Hause ankam, strahlte sie wie schon lange nicht mehr.

„Hast du einen schönen Tag gehabt?“, fragte die Mutter.

„Und wie!“, antwortete Valerie und dieses Mal war es nicht gelogen.  

 

Impressum

Texte: Dörte Müller
Bildmaterialien: Dörte Müller
Cover: Dörte Müller
Tag der Veröffentlichung: 29.10.2017

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