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Emma kann nicht schlafen

 

Emma hatte sich bereits ihren neuen Schlafanzug angezogen und sich in ihr Bett gelegt. Sie war fünf Jahre alt und liebte Einhörner über alles. Deshalb besaß sie unzählige Einhorn Bücher und war jedes Mal wie verzaubert, wenn sie eines sah. Warum das so war, wusste sie auch nicht. Doch jetzt war sie müde. Heute war ein anstrengender Tag gewesen. Ihre Mutter kam leise in ihr Zimmer und setzte sich auf ihre Bettkante.

„Ich erzähle dir jetzt noch eine Gute – Nacht – Geschichte und dann schläfst du ein!“, sagte die Mutter und wollte gerade beginnen. Da fiel es Emma auf.

 

„Wo ist mein Hörnchen?“ Hörnchen war ein kleines rosa Plüscheinhorn, Emmas ständiger Begleiter und Tröster in der Not. Sie hatte das Stofftier von ihrer Patentante Maria aus Madrid zur Taufe bekommen. Hörnchen konnte sogar sprechen: Wenn man auf den weißen Knopf unter dem Bauch drückte, sagte es „Arriba, arriba, hasta la libertad!“ Emma wusste zwar nicht, was das heißt, aber es klang so wundervoll, wie ein Zauberspruch.

 

 

Die Mutter bückte sich und sah unter seinem Bett nach. Kein Hörnchen.

„Wo hast du denn das letzte Mal mit ihm gespielt?“, fragte sie.

„Keine Ahnung!“, antwortete Emma. „Es ist schon lange her!“ Da fiel es ihr ein. Heute war Kuscheltiertag im Kindergarten und sie hatte Hörnchen mitgenommen. Stolz hatte sie ihr Einhorn herumgezeigt und die anderen Kinder waren auch ganz begeistert von seinem weichen Fell gewesen. Dann hatte sie mit Hörnchen in der Bauecke gespielt. Sie hatte gemeinsam mit Tobias ein Haus für Hörnchen gebaut. Dann hatte es Mittagessen gegeben und anschließend waren sie nach draußen gegangen. Irgendwann hatte Mama sie abgeholt. Hörnchen hatten sie in der Eile ganz vergessen.

Emma stieß einen Entsetzensschrei aus. „Hörnchen ist noch im Kindergarten!“ Die Mutter schrak zusammen. Sie hatte tatsächlich Hörnchen vergessen.

„Dann schläfst du heute ohne Hörnchen ein, morgen triffst du es gleich wieder!“, versuchte sie ihre Tochter zu trösten.

„Ich gebe dir heute Wummi mit ins Bett!“, schlug die Mutter fröhlich vor. Doch Emma schüttelte den Kopf. Wummi war viel zu groß und viel zu kratzig.

„Wie wäre es mit Trine?“, fragte die Mutter und drückte ihr die gelbe Ente in die Arme. Aber Trine war nicht kuschelig genug und außerdem roch sie immer noch so neu. Hörnchen roch herrlich nach einer Mischung aus Vanille, Erdbeeren und Schokolade. Hörnchen roch eben nach Hörnchen.  

Alles war umsonst. Ohne Hörnchen konnte Emma einfach nicht einschlafen. Kein anderes Stofftier war ihr gut genug. Sie heulte und heulte und war gar nicht mehr zu beruhigen.

„Bitte, Mama, geh doch noch mal in den Kindergarten und hole ihn aus der Bauecke!“, flehte sie verzweifelt. Emma hatte nämlich noch nie eine Nacht ohne Hörnchen verbracht. Die Mutter schüttelte traurig den Kopf.

„Das geht nicht, der Kindergarten hat schon lange zu. Ich komme da nicht mehr rein!“, erklärte sie ihrer Tochter.

„Aber Hörnchen!“, fing Emma wieder an.

„...erlebt jetzt jede Menge Abenteuer, die er dir morgen alle erzählen kann!“ , fuhr die Mutter fort.

„Was denn für Abenteuer?“, fragte Emma neugierig nach.

 

„Stell` dir vor: Hörnchen sitzt im Kindergarten zwischen allen Kuscheltieren und schlägt ein großes Märchenbuch auf. Dort entdeckt es einen Zauberwald mit riesigen Bäumen.

 

 

Hörnchen besitzt die besondere Fähigkeit, sich in ein Bild hineinzuträumen und dann die fantastischsten Dinge zu erleben. Und so beginnt das Abenteuer:

Es dauerte nicht lange, und Hörnchen galoppierte über samtweichen Waldboden. Die Sonne schien nur an einigen Stellen durch das dichte Blätterdach, es war ziemlich dunkel. Da hörte Hörnchen plötzlich eine Stimme. Ein Mädchen weinte ganz leise vor sich hin. „Ich muss ihm helfen!“, dachte Hörnchen und ging immer dem Geräusch nach. Das Wimmern wurde lauter und lauter. Hinter einer alten Eiche saß ein blondes Mädchen.

„Was hast du?“, fragte Hörnchen vorsichtig. Das Mädchen hörte kurz auf zu weinen und blickte das Einhorn verwundert an.

„Ich habe mich verlaufen! Meine Eltern und ich waren Pilze sammeln und dann waren meine Eltern plötzlich verschwunden. Ich verstehe gar nicht, wie das passieren konnte. Wie vom Erdboden verschluckt“, flüstert es.

„Steig auf meinen Rücken, wir finden den richtigen Weg zu deinen Eltern!“, sagte Hörnchen und das Mädchen sprang auf seinen weichen Rücken.

„Woher weißt du, wo ich hin muss und wo meine Eltern sind?“, fragte das Mädchen verwundert.

„Ich weiß es nicht, ich werde einfach losgaloppieren und vielleicht erkennst du eine Stelle wieder!“

Das Mädchen nickte zuversichtlich. Es wusste, dass es Hörnchen vertrauen konnte. Sie waren noch nicht weit geritten, da tauchte ein kleiner Zwerg vor ihnen auf. Er versperrte ihnen den Weg.

 

 

„Wo wollt ihr hin? Dies ist mein Wald!“, sagte er schroff und blickte Hörnchen und das Mädchen böse an.

„Das Mädchen hat sich verlaufen und hat ihre Eltern verloren, wir suchen den richtigen Weg!“

Der Zwerg grinste böse und murmelte etwas Unverständliches. Dann tat sich der Boden auf und Hörnchen und das Mädchen rutschten in die Tiefe. Das grässliche Lachen des Zwerges begleitete sie. Die beiden landeten auf etwas Weichem. Erst langsam gewöhnten sich die Augen an die Dunkelheit. Da schrie das Mädchen plötzlich auf: „Mama, Papa, was macht ihr hier?“

„Mia, bist du es? Der grässliche Zwerg hat uns gefangen genommen!“, sagte die Mutter und umarmte ihre Tochter herzlich. Auch der Vater kam herbei und schloss seine Familie in die Arme. Gemeinsam mit Hörnchen überlegten sie, wie sie aus der Falle herauskommen könnten.

„Ich habe eine Idee!“, sagte Hörnchen und die Familie kletterte auf seinen Rücken.

„Mia, du musst mir einen Gefallen tun. Unter meinem Bauch ist ein weißer Knopf, den musst du drücken!“, sagte Hörnchen. Mia krabbelte sofort unter den Bauch des Einhorns und fand auch gleich den Knopf. Den drückte sie schnell und kletterte dann ebenfalls auf den Rücken des schönen Zauberwesens. Kurz darauf ertönte der Zauberspruch auf Spanisch: „Arriba, arriba hasta la libertad!“

Augenblicklich flog das Einhorn mit der Familie hinauf in die Freiheit. Schnell galoppierte es aus dem gefährlichen Waldstück heraus. Dabei rieselten unzählige Tannennadeln auf Hörnchen herab. Nach vielen Kilometern konnte die Familie endlich absteigen.

„Von hier aus wissen wir den Weg!“, sagte der Vater und die Familie bedankte sich herzlich bei Hörnchen. Zufrieden blickte Hörnchen den Menschen hinterher. Mia drehte sich noch einmal um und winkte.

„Ich muss aus dem Buch hinaus, es ist Zeit!“, sagte sich Hörnchen und schloss die Augen, sagte seinen Spruch und befand sich augenblicklich wieder im Kindergarten neben dem aufgeschlagenen Buch. Die anderen Stofftiere staunten. Sie hatten das Abenteuer wie im Fernsehen miterlebt.

Die Stoffgiraffe sah Hörnchen voller Bewunderung an.

 

 

Die Mutter wollte noch weiter erzählen, doch da sah sie, dass Emmas Augen zugefallen waren. Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht. Heute Nacht war sie das erste Mal ohne Hörnchen eingeschlafen.

„Sie wird erwachsen!“, dachte die Mutter und knipste das Licht aus.

 

 

Am nächsten Morgen wachte Emma ganz früh auf. Sie wollte so schnell wie möglich in den Kindergarten und beeilte sich mit dem Anziehen. Schließlich waren sie vor der Kindergartentür angelangt. Sie war noch verschlossen, denn es war noch nicht einmal halbacht.

 

Endlich gingen drinnen die Lichter an und Frau Meier, die junge Erzieherin, öffnete die Tür.

„Du bist heute aber früh dran!“, sagte sie erstaunt.Emma sah es sofort: Hörnchen saß in der Bauecke und lächelte sie wie immer fröhlich an. Doch was war das? Auf seinem Kopf fand Emma vier Tannennadeln.

 

Impressum

Texte: Dörte Müller
Bildmaterialien: Dörte Müller
Tag der Veröffentlichung: 19.08.2017

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