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Katzenseele

 

 

Ich war so froh, dass ich ein neues Zuhause gefunden hatte. Endlich konnte ich wieder auf dem Land leben und meinem treuen Labrador Max genügend Auslauf bieten. Das kleine Häuschen musste allerdings noch renoviert werden und es lag eine Menge Arbeit vor mir. Doch ich hatte beschlossen, mir Zeit zu nehmen und alles nach und nach zu reparieren.

Ich mochte das Haus auf Anhieb. Es lag am Rande eines kleinen Dorfes, gegenüber grasten Pferde auf einer Weide und rechts und links erstreckten sich endlose Maisfelder.

Ich hatte mich gewundert, dass das Haus so leicht zu bekommen war. Der Makler hatte mir allerdings erklärt, dass ich einfach Glück gehabt hatte, zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen zu sein. Er hatte gesagt, dass alles in Ordnung sei mit dem Haus und dass ich auf das Geschwätz der Nachbarn sowieso nicht hören sollte.

„Was für ein Geschwätz?“, hatte ich neugierig nachgefragt. „Na ja, die Nachbarn erzählen immer eigenartige Geschichten von Häusern. Von diesem Haus erzählt man sich, dass hier die alte Frau Tengs verstorben ist. Sie war fast hundert Jahre alt und wollte einfach nicht sterben. Angeblich lebt ihr Geist in einer schwarzen Katze weiter und diese Katze stromert hier immer noch in der Gegend herum und treibt ihr Unwesen!“ Der Makler musste lachen und ich ebenso. Was für ein Quatsch! Doch plötzlich, während ich eine Lachträne aus meinem rechten Augenwinkel wischte, sah ich, wie dem Makler zwei Katzenohren mitten auf seinem Glatzkopf wuchsen. Es war nur eine winzige Sekunde, doch die Ohren waren deutlich zu erkennen. Mir blieb das Lachen im Halse stecken und ich fing an zu husten. Der Makler klopfte mir hilfsbereit auf den Rücken. Ich schämte mich für diesen absurden Gedanken. Wahrscheinlich war es nur eine optische Täuschung und die untergehende Sonne hatte sich in der Glatze des Maklers gespiegelt. Ich sagte natürlich nichts von meiner Beobachtung und trank anstatt dessen ein Glas Sekt mit dem netten Herrn, der mir so unerwartet zu meinem Glück verholfen hatte.

Max und ich wohnten nun bereits drei Wochen in unserm neuen Heim, ich ging tagsüber meiner Arbeit als Altenpflegerin nach, besuchte meine Patienten und joggte abends mit Max durch die angrenzende Feldmark.

 

 

Endlich lief in meinem Leben einmal wieder alles glatt. Nach der Scheidung im letzten Jahr hatte ich etwas Ruhe bitter nötig. Es ist schon hart, wenn man nach 15 Ehejahren kurz nach dem 50. Geburtstag verlassen wird. Kinder hatten wir keine, dafür aber Max. Den durfte ich zum Glück behalten, aber wahrscheinlich nur, weil Michaels Neue eine Hundehaarallergie hatte.

Doch eines Nachmittags stürzte meine kleine heile Welt ein wie ein Kartenhäuschen. Ich joggte wie immer durch die Feldmark und Max trottete neben mir her. Er war glücklich hier, das konnte ich ihm anmerken. Michael schien er überhaupt nicht zu vermissen. Doch dann passierte das schreckliche Unglück. Max und ich sahen eine schwarze Katze, die vor uns über den Feldweg huschte. Sie lauerte im Maisfeld. Ihre Augen leuchteten gelblich und ich bemerkte deutlich, wie die Katze mich beobachtete. Max wurde unruhig, doch ich machte mir keine Sorgen, da Max sich nie etwas aus Katzen gemacht hatte. Sie waren ihm so egal wie die Fliegen an der Wand.

 

 

„Bei Fuß!“, zischte ich ihm zu und normalerweise gehorchte er aufs Wort. Aber plötzlich drehte er völlig durch. Er stürzte sich mit einem Satz auf die Katze, die aber gerade noch rechtzeitig fliehen konnte. Max nahm die Verfolgung auf und war bald im Maisfeld verschwunden. „Max!“, rief ich wütend. „Max, komm sofort zurück!“ Ich war stehen geblieben und spähte über das gelbbraune Maisfeld. Keine Spur von Max. Ich rief und pfiff. Langsam bekam ich Panik. Jetzt, Ende Oktober, wurde es auch schon so früh dunkel. Nach einer Stunde gab ich auf. Ich lief nach Hause und holte eine alte Decke. Die legte ich an die Stelle, an der ich Max verloren hatten und hoffte, ihn dort morgen zu finden. Vielleicht fand er ja auch den Weg zu unserem Häuschen, er war schließlich ein kluger Hund.

Doch alles Hoffen und Warten war vergebens. Max war verschwunden und tauchte nicht mehr auf. Ich war verzweifelt. Überall hängte ich Suchanzeigen aus, versprach eine hohe Belohnung, doch niemand meldete sich darauf. Auch meine Nachbarn hatten Max nicht gesehen.

„Eines kann ich Ihnen nur raten!“, hatte die alte Frau Meier gesagt. „Dieses Haus ist verflucht. Der Geist der verstorbenen Frau Tengs hat damit etwas zu tun! Ich rate Ihnen nur Eines: Ziehen Sie aus so schnell Sie können!“ Ihr Blick hatte etwas Unheimliches gehabt.

„Aber so etwas gibt es doch gar nicht!“, hatte ich geantwortet. Und doch war ein merkwürdiges Gefühl zurück geblieben.

Der November kam und ich fiel in eine tiefe Depression.

 

 

 

Ich hatte Max verloren, da war ich mir sicher. Manchmal wachte ich nachts schweißgebadet auf und dachte, ich hätte sein Jaulen gehört, doch es war nur der Wind, der durch die Regenrinne pfiff. Ohne Max kam mir das Haus einsam und verlassen vor. Ich vermisste ihn unendlich.

 

 

Meine Patientinnen litten mit mir. Sie luden mich zum Tee oder Kaffe ein und versorgten mich mit selbst gebackenen Keksen.

Irgendwann in diesem grauen Herbst kam ich von der Arbeit nach Hause. Es war schon dunkel und ich kramte in der Manteltasche nach meinem Haustürschlüssel, da sah ich sie.

Die schwarze Katze war wieder aufgetaucht. Sie saß vor meiner Haustür und sah mich mit ihren gelben Augen herausfordernd an. Ich musste sofort wieder an Max denken und hoffte, dass er vielleicht auch irgendwo hier sitzen würde, was natürlich völlig absurd war. „Max!“, rief ich und sah mich um. „Max!“ Doch von ihm war nichts zu sehen. Mit zitternden Händen schloss ich die Haustür auf. Die Katze schlüpfte mit ins Haus und sah mich herausfordernd an. Irgendwie mochte ich sie nicht und doch hatte ich Mitleid. „Weißt du, wo Max abgeblieben ist?“, fragte ich sie stellte ihr ein Schälchen mit Milch vor die Füße. Gierig trank sie alles aus. Dabei gab sie grunzende Geräusche von sich, die gar nicht zu einer Katze passten. Vielmehr passten sie zu einem Schwein. Dann sah sie mich wieder an und fauchte. Es war ein grässliches Fauchen, das mir durch Mark und Bein ging. Ich beschloss, die Katze wieder ins Freie zu lassen. Irgendetwas stimmte mit diesem Tier nicht. Vielleicht hatte die Katze sogar Tollwut. Schnell schnappte ich mir einen Besen und versuchte, das Biest Richtung Tür zu treiben. Doch die Katze war so flink und wendig, dass sie an mir vorbei die Treppe hoch stürmte. Ich flitzte hinter ihr her. „Ich kriege dich, du altes Mistvieh!“, rief ich wütend. Es wäre doch gelacht, wenn ich nicht mit einer harmlosen Katze fertig werden würde. Alles war still. So still, dass ich das Blut in meinen Ohren pulsieren hörte. Doch ich wusste genau, die Katze lauerte irgendwo und beobachtete mich. Es war ein schreckliches Gefühl, das mir fast den Atem nahm. Ich suchte überall nach ihr, doch sie blieb in ihrem Versteck. Ständig spürte ich ihre Blicke. Ich hörte merkwürdige Geräusche: ein Knistern, ein Fauchen und ein Jammern. Ja, es war dieses schreckliche Jammern, das sich so menschlich anhörte. Wie ein Baby, das nachts vor sich hin weinte. Still, verzagt und oft ungehört. Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafe, kein Auge bekam ich zu. Ich sprang auf, stellte das Radio an, sang laut vor mich hin, nur um diese Geräusche nicht hören zu müssen. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus.

„Was willst du von mir?“, schrie ich. „Komm, zeig dich, du Feigling! Hast wohl Angst!“ Meine Stimme klang schrill und gespenstisch. „Komm heraus! Na komm schon!“

Ich hatte einen Besen in der Hand und schritt den Flur auf und ab. Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn. Doch die Katze zeigte sich nicht. Irgendwann schlief ich dann völlig übermüdet vor meinem Fernseher ein. Geweckt wurde ich durch das Morgenmagazin, den Besen hielt ich immer noch fest umklammert in der linken Hand.

So konnte es auf keinen Fall weitergehen. Ich war fix und fertig und rief den Kammerjäger an. Er hatte erst am Abend Zeit. „Hochsaison für Ungeziefer?’“, versuchte ich zu scherzen. Doch er lachte nicht. Nachdem ich eine Vertretung für meine Patienten organisiert hatte, legte ich mich erschöpft ins Bett.

Kurz vor acht war es dann endlich soweit. Der Kammerjäger war gekommen und hatte alle Räume gründlich abgesucht. Ich war so unendlich dankbar, dass er da war und freute mich auf eine ruhige Nacht mit viel Schlaf.

„Wie viel muss ich bezahlen?“, fragte ich, als ich ihn nach einer Stunde im Hausflur traf. Er hatte einen Sack in der Hand, bestimmt mit meiner Katze. „Ich habe keine Katze gefunden, sie ist wahrscheinlich irgendwie aus dem Fenster gesprungen!“, antwortete er. Ich erstarrte. „Aber die Fenster waren alle verschlossen!“, brachte ich hervor. In diesem Moment wurde mir klar, dass die Katze immer noch im Haus war und dass selbst ein Kammerjäger nicht mit ihr fertig geworden war. Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken. „Bitte kommen Sie morgen noch einmal und bringen Verstärkung mit!“, bat ich ihn verzweifelt. Doch er lehnte ab. „Verlassen Sie sich drauf, die Katze ist weg!“

„Und was ist da in ihrem Sack?“, wollte ich wissen. „Nur ein paar Utensilien, die mir bei der Jagd geholfen haben!“, entgegnete der Mann mürrisch. Er wollte nach Hause, das sah ich ihm an.

„Vielleicht hat er recht und ich bin viel zu hysterisch!“, versuchte ich mir einzureden. Ich schüttelte ihm die Hand zum Abschied. Doch was war das? Ich schrie auf. Die Hand war klein und samtweich. Ich spürte scharfe Krallen. Was ging hier vor? War das etwa eine Katzenpfote, die ich schüttelte? Entsetzt ließ ich die Pfote los, ich hatte einen Kratzer abbekommen. „Haben Sie sich geschnitten?“, fragte der Kammerjäger besorgt und blickte auf meine blutende Schramme. „Nein, das waren Sie. Sie haben mich mit ihren Krallen gekratzt!“, brachte ich aufgebracht hervor. Der Kammerjäger sah mich verstört an. „Ich habe Krallen? Sie spinnen wohl!“, brummte er und verließ ohne ein weiteres Wort mein Haus. Es war klar, dass ich diesen Kammerjäger nicht mehr anrufen würde.

Ich wusste mir keinen Rat, verzweifelt setzte ich mich vor den Fernseher und versuchte mich abzulenken. Doch ich konnte mich auf keine Sendung konzentrieren, alles flimmerte bunt und wirr. Was sah ich dort überhaupt? Ich beschloss, in den Keller zu gehen und mir eine Flasche Bier hoch zu holen. Vielleicht würde mich das beruhigen.

Ich schaltete das Licht an und ging die steile Kellertreppe hinunter. Alles war still. Im Hauptkeller angekommen, suchte ich nach der Bierkiste. Wo hatte ich sie hingestellt? Plötzlich sah ich hinter dem Kartoffelsack zwei spitze Ohren. Ich hatte sie entdeckt, meine Erzfeindin! Schnell schloss ich die Tür hinter mir. Jetzt konnte sie nicht mehr entkommen. Wir beide waren im Keller! Doch wie sollte sich sie fangen? Im Keller hatte ich unzählige Kisten und Kartons gestapelt. Wo war die Katze jetzt? Hinter dem Kartoffelsack war sie nicht mehr. Mein Herz schlug mir fast bis zum Hals. Ich schnappte mir den Putzeimer und den Wischmopp. Wäre doch gelacht, wenn ich sie nicht kriegen würde ... Plötzlich sprang mir etwas mit aller Wucht in den Nacken. Ich schrie auf, schüttelte mich und versuchte das Ungetüm von mir zu reißen. Die Katze miaute grauenvoll und ich hatte das Gefühl, dass sie mich erwürgen wollte. Ich fiel zu Boden. Wie auf Knopfdruck ließ sie von mir ab und verschwand wieder. Da verstand ich: Sie wollte mich nicht töten. Sie wollte mit mir ihr grausames Spiel spielen.

Mit taumeligen Schritten machte ich mich auf den Weg nach oben, schloss blitzartig die Tür hinter mir.

Hatte ich mir alles nur eingebildet? War ich auf dem sicheren Weg, meinen Verstand zu verlieren?

Ich rannte ins Badezimmer und blickte in den Spiegel. Mein Gesicht war völlig zerkratzt. Ich blutete. Schon hörte ich wieder das Fauchen, es verfolgte mich und ließ mich fast durchdrehen. Die Katze war doch im Keller eingesperrt, wieso hörte ich im Badezimmer das Fauchen? Ich konnte so nicht mehr weiterleben. Was sollte ich tun?

Die Antwort lag klar auf der Hand. Ich musste weg aus diesem Haus. Die Alte Frau Meier hatte doch recht gehabt. Also nahm ich mir zwei Wochen Urlaub und flog auf die Kanaren. So lange würde es die Katze in dem Haus nicht aushalten. Sie würde elendig verhungern und wenn ich zurück war, läge sie tot in meinem Flur. Dann wäre der Spuk endlich vorbei.

Auf Gomera war es angenehm warm. Der Himmel war knallblau, die Palmen wiegten sich sanft im Wind. Ich wohnte in einer kleinen Pension im Valle Gran Rey mit Blick auf die kleine Bucht.

 

 

Ich hatte viele Bücher dabei und wollte einfach abschalten und den Stress vergessen.

Doch kaum lag ich auf meinem Badehandtuch und hatte die ersten Seiten von meinem Roman aufgeschlagen, da fühlte ich mich irgendwie beobachtet. Eine schwarze Katze saß neben mir im Sand und blickte mich unverfroren an. Ich schrie und sprang auf. Dann schmiss ich mein schweres Buch nach ihr. Ich verfehlte sie nur knapp. Eilig packte ich meine Sachen zusammen und lief zurück zu meiner Pension. Doch die Katze hatte sich an meine Fersen geheftet und verfolgte mich. Und nicht nur sie. Von allen Seiten kamen plötzlich unzählige abgemagerte Katzen angelaufen. Es war wie eine Plage. Ich schrie und schrie, die Katzen miauten und fauchten. Was hatte ich ihnen bloß getan?

Plötzlich saß ich senkrecht in meinem Bett. Mein Herz raste wie wild. Das Mondlicht schien genau in mein Fenster. Ich war gar nicht auf Gomera, ich war immer noch in meinem Haus. Es war nur wieder einer dieser Katzenalbträume gewesen, die ich in letzter Zeit so oft hatte.

Ich nahm eine Baldriantablette und schlief wieder ein.

Am nächsten Morgen sagte ich alle Termine ab. Ich wollte selber mein Haus durchsuchen und diese verdammte Katze finden. Mein Leben sollte nicht von einer Katze ruiniert werden.

Doch ich fand sie nicht. Langsam musste ich mir eingestehen, dass ich den Kampf verloren hatte. Sie war einfach schlauer als ich. Sollte ich lernen, mit ihr zu leben? Existierte das Fauchen wirklich oder war es nur Einbildung? Ich wusste es nicht und meldete mich bei einem Psychiater an.

Dr. Wegener wirkte sehr freundlich und kompetent. Ich erzählte ihm, wie alles angefangen hatte. Er nickte und machte sich eifrig Notizen.

„Sie sind keine Ausnahme. Letzte Woche hatte ich eine Patientin, die sah überall Spinnen!“, erklärte er mir fröhlich. „Und konnten Sie sie heilen?“, fragte ich aufgeregt nach. „Leider nein, sie hat die Behandlung abgebrochen. Es ist wichtig, dass Sie mitarbeiten und sich nicht aufgeben. Nur gemeinsam kriegen wir das in den Griff. Legen Sie sich auf die Couch und erzählen Sie mir Ihre Katzenträume!“, forderte er mich auf. Er nahm seine Brille ab. Seine tiefblauen Augen hatten etwas Magisches, man konnte sich in ihnen leicht verlieren und ich beneidete seine Frau. Dann schloss ich die Augen und fing an, ihm von meinem Gomera Traum zu berichten. Er schwieg und unterbrach mich nicht.

„Die Zeit ist um!“, bemerkte er schließlich. Ich fühlte mich das erste Mal seit langem wieder erleichtert. So, als hätte ich eine schwere Last von mir geworfen. „Und, was raten Sie mir?“, fragte ich ihn hoffnungsvoll, immer noch mit geschlossenen Augen.

Doch statt einer Antwort hörte ich dieses entsetzliche Fauchen. Kam es aus seinem Mund? Aus seinem Magen? Hatte er es auch gehört? Ich schlug die Augen auf und blickte in die gelben Augen einer schwarzen Katze, wurde in einen tiefen Strudel gezogen und landete unsanft auf einem harten Boden.

Es war kalt und windig. Die Glocken läuteten.

„Schrecklich, was mit der armen Frau passiert ist!“, seufzte eine alte, schwarz gekleidete Alte. „Sie war doch noch so jung! Viel zu jung!“

„Ein Herzinfarkt auf der Psychiatercouch! Wo hat man denn das schon einmal gehört?“, entgegnete eine andere und schnäuzte in ihr Taschentuch.

Plötzlich wusste ich, wo ich war. Bei uns im Dorf, auf dem Friedhof. Doch was war passiert? Wieso war ich auf einer Beerdigung? War das wieder einer meiner verrückten Träume? Ich zitterte am ganzen Körper. Hatte mich der Psychiater in einen Trancezustand versetzt?

 

 

„Schau, eine schwarze Katze!“, rief plötzlich ein kleines Mädchen. Mein Herz schlug schneller und ich wollte etwas sagen. Doch alles, was ich hervorbringen konnte, war „Miau!“

 

 

 

 

Die Heldin

 

Ashley lief durch die dunklen Gassen. Sie kannte jede Ecke, jeden Winkel. Ihr Herz schlug schneller. „Endlich: New York, ich komme!“ Lange hatte sie auf diesen Moment gewartet. Viel zu lange. Die Lichter der Stadt blinkten ihr zu, als wollten sie sie grüßen. Gelbe Taxis fuhren achtlos an ihr vorbei. Eine laue Sommerabendbrise streifte ihr erwartungsvolles Gesicht mit den leuchtenden grünen Augen. Sie war eine wahre Schönheit, diese Nacht gehörte ihr. Tausend Geschichten, tausend Gesichter. Jäger und Gejagte. Und über ihr ein Sternenhimmel und ein voller Mond, der wie gemalt aussah und hinter einer winzigen Wolke hervorlugte. Eine Fledermaus zog ihre Kreise. Die Nacht hatte ihren Einzug gehalten.

Ashley fühlte sich so großartig wie schon lange nicht mehr. Als hätte sie Flügel, leicht und sorglos schwebte sie dahin. Sie wusste, dass ihre Kinder versorgt waren und sie sich nicht um sie kümmern musste. Morgen würde sie wieder viel Zeit mit ihnen verbringen. Sie würden einen langen Ausflug machen und dabei würde sie ihnen zeigen, was sie fürs Leben wissen müssten. Ashley war eine gute Mutter, ihr ganzes Herz gehörte ihren Kindern. Sie liebte sie über alles in der Welt und konnte sich schon gar nicht mehr vorstellen, wie das Leben ohne sie gewesen war. Es war auf jeden Fall leichter gewesen. Sie konnte einfach in den Tag hinein leben und tun und lassen, was sie wollte. Nun hatte sie eine große Verantwortung und es war nicht immer ganz leicht, allen gerecht zu werden. Manchmal brauchte sie ein bisschen Zeit ganz für sich allein.

 

Doch was war das? Eine Vorahnung, ein komisches Gefühl in der Magengegend ... Ashley hatte schon immer den 7. Sinn gehabt. Die Luft vibrierte. Etwas stimmte hier nicht. Etwas war geschehen oder würde gleich geschehen. Ein Erdbeben? Eine Explosion? Ashley spürte jetzt ganz deutlich, dass etwas Schreckliches geschehen war, noch bevor sie es mit eigenen Augen gesehen hatte. Sie drehte augenblicklich um und rannte die vier Blocks zu ihrem Haus zurück. Tausend Gedanken jagten ihr durch den Kopf, es war entsetzlich. „Wäre ich doch bloß heute Abend zu Hause geblieben!“, schoss es ihr durch den Kopf. Doch nun war es zu spät. Da sah sie es auch schon: Ihr Haus stand in Flammen! Es brannte lichterloh! Ashley lief so schnell sie konnte. Nur ein einziger Gedanke durchzucke sie von Kopf bis Fuß: „Meine Kinder!“

Sie warf sich in das Flammenmeer, ohne nachzudenken. Sie spürte die Hitze des Feuers und die heißen Zungen, die unermüdlich nach ihr leckten. Doch sie musste sie retten, ihre Babys. Ein Baby hatte sie blitzschnell gepackt, den Flammen entrissen. Sie lief wieder ins Freie, legte das Baby ins nasse Gras. Dann stürzte sie sich wieder in das grelle Flammenmeer. Sie bekam kaum Luft, ihre Augen brannten. Schon hatte sie ein weiteres Baby gerettet und in Sicherheit gebracht. Immer wieder tauchte sie ein in das lodernde Höllenfeuer. Sirenen ertönten, Menschen rannten an ihr vorbei, sie hörte Hilfeschreie, Balken krachten, das Feuer schluckte alles, was ihm in den Weg kam. Aber sie kämpfte weiter, bis zum Schluss. Unermüdlich und voller Tapferkeit.

Dann war es geschafft. Es war wie ein Wunder. Erschöpft lag sie im Gras, schnappte nach Luft. Die Luft roch nach beißendem Qualm, die Gefahr war vorbei. Der Sternenhimmel, verdeckt durch dichte Rauchwolken, zeigte seinen Glanz nicht mehr. Nichts stand mehr da von dem Haus. Alles lag in Schutt und Asche.

 

 

Ein Feuerwehrmann blickte Ashley voller Bewunderung an. „Alle gerettet, du bist eine wahre Heldin, gute Mutter!“ Dann holte er eine große Decke und breitete sie liebevoll über den erschöpften Katzen aus.  

 

 

 

Impressum

Texte: Dörte Müller
Bildmaterialien: Dörte Müller
Tag der Veröffentlichung: 03.06.2017

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