Der achtjährige Ben mochte es nicht, wenn er mit seinen Eltern essen gehen musste. So saß er auch dieses Mal gelangweilt am Tisch und zappelte ungeduldig mit den Beinen.
„Zappele nicht so herum!“, mahnte seine Mutter. Sie sah genervt und angespannt aus. Ben hasste es, ausgerechnet Chinesisch essen zu gehen. Auf der Speisekarte konnte er nichts Leckeres entdecken. Hier hatten sie noch nicht einmal Pommes! Es war entsetzlich.
„Was soll ich bloß essen?“, jammerte er verzweifelt.
„Natürlich deine Frühlingsrolle, wie immer!“, schlug der Vater vor und lächelte ihm aufmunternd zu.
„Ich mag aber nur das Äußere!“, schmollte Ben. „Innen sind so komische Fäden!“
„Das ist das Beste, das ist das Gemüse!“, erklärte die Mutter.
Aus den Lautsprechern klang chinesische Musik, ein Springbrunnen plätscherte lustig vor sich hin. Er stand genau in der Mitte des Restaurants. Von der Decke hingen merkwürdige Pappmache Drachen.
„Ist das alles doof hier!“, dachte Ben. „Es ist noch schlimmer als im Kunstraum!“
Endlich kam der Kellner. Er hielt der Familie ein Tablett mit Glückskeksen hin. Ben schnappte sich einen. Das war das Beste an diesem Restaurant: der Glückskeks. Schnell machte er seinen auf und schob sich anschließend die Krümel in den Mund. Lecker.
„Du wirst bald einen Freund finden!“ Das stand als Botschaft auf seinem Zettel. Ben zerknüllte enttäuscht die Botschaft. Wo sollte er einen Freund finden? Die Familie lebte abseits der Stadt in einer großen Villa. Ben war Einzelkind und hatte außer Dienstmädchen und Gärtnern selten Menschen um sich herum.
Die Eltern bestellten das Essen.
„Ich muss zur Toilette!“, murmelte Ben und schlenderte gelangweilt durch das Restaurant.
„Beeil dich, deine Frühlingsrolle kommt gleich!“, rief die Mutter ihm hinterher. Heute war in dem Restaurant nicht viel los. Es war Donnerstagmittag und draußen braute sich ein Gewitter zusammen. Für September war es noch sehr heiß. Ben war froh, dass er heute nicht mit dem Bus nach Hause fahren musste. Seine Eltern hatten ihn gleich von der Schule abgeholt und waren zum Restaurant gefahren. Anschließend wollten sie ihre Bankgeschäfte erledigen. Das versprach wieder einmal ein langweiliger Nachmittag zu werden.
Ben war inzwischen bei den Toiletten angekommen. Da sah er, dass eine Tür offen stand. Die Tür führte nach draußen auf die Terrasse. Hier war er noch nie gewesen. Ben sah exotische Pflanzen und ein großes Terrarium. Neugierig trat er ins Freie. Da sah er sie. Eine kleine Schildkröte, die ihn durch ihren Glaskäfig anstarrte. Ben hockte sich zu ihr herunter. Vergessen war, dass er auf Toilette musste. Die Schildkröte war wichtiger.
„Ben, du musst mich retten, heute wollen sie mich kochen. Es soll Schildkrötensuppe geben!“, hörte er eine Stimme. Wer hatte da zu ihm gesprochen? Bens Herz schlug heftig. War das die Schildkröte gewesen? Das konnte doch gar nicht möglich sein!
„Ben, du hast richtig gehört. Du kannst mich verstehen. Ich bin in Not, rette mich!“
Die Schildkröte ließ nicht locker.
„Was soll ich machen?“, fragte Ben hilflos. Doch im selben Moment hatte er eine Idee. Er packte die Schildkröte und stopfte sie in seine Kapuze. Dann ging er zurück zu seinen Eltern.
„Wo warst du solange?“, fragte die Mutter vorwurfsvoll.
„Deine Frühlingsrolle ist schon ganz kalt!“ Ben zuckte mit den Achseln und stopfte die Frühlingsrolle in sich hinein. Die Eltern freuten sich. Zum ersten Mal hatte er das Innere gegessen.
Endlich waren alle fertig. Ben saß wie auf heißen Kohlen. Hoffentlich würde es ihm gelingen, seinen neuen Freund unbemerkt aus dem Restaurant zu schmuggeln. Hoffentlich.
Aber alles klappte ohne Probleme. Am Ausgang standen zwei Kellner und bedankten sich bei ihnen mit einer tiefen Verbeugung. Ben kam sich vor wie ein Dieb, aber das war ihm egal. Er hatte es für eine gute Sache getan, wie Robbin Hood.
Die Eltern fuhren zur Bank und Ben sollte so lange auf dem Spielplatz warten.
„Wir holen dich in einer halben Stunde wieder ab. Spiel ein bisschen!“, sagte der Vater. Normalerweise hätte sich Ben nicht gefreut. Was sollte er hier spielen? Er kannte kein anderes Kind und alleine wollte er nicht rutschen oder schaukeln. Da er sehr schüchtern war, traute er sich auch nicht, andere Kinder anzusprechen. Aber heute war das etwas anderes. Er hatte die Schildkröte bei sich und die brauchte bestimmt ein schattiges Plätzchen und ein bisschen Gras und Wasser. Er winkte seinen Eltern glücklich zu und wartete, bis sie weg fuhren.
Dann setzte er sich unter einen Baum und ließ die Schildkröte krabbeln.
„Danke, dass du mich gerettet hast!“, schien sie ihm zu sagen, obwohl sie nicht ihren Mund bewegte. „Keine Ursache!“, murmelte Ben. Er konnte sein Glück gar nicht fassen.
„Ich bin Tock und lebe schon viele Jahre in dem Restaurant. Eigentlich waren es ganz gute Jahre, doch jetzt wollen sie mich in die Suppe schneiden!“, erzählte die Schildkröte. Ben wurde ganz schlecht.
„Wie können sie so etwas machen? Das ist ja total grausam!“, rief er.
„Sie wissen es nicht besser, sie können meine Sprache nicht. Nur wenige Menschen können sie. Du bist einer von ihnen!“, sagte Tock. Ben bekam eine Gänsehaut.
„Das wusste ich noch gar nicht!“, sagte er mit zitternder Stimme.
„Manchmal entdeckt man seine Fähigkeiten erst später!“, sagte Tock weise. Die Schildkröte schien sehr viel Lebenserfahrung zu haben. In ihren Augen spiegelte sich Weisheit.
„Du bist unglücklich, stimmt`s?“, fragte Tock.
„Ja, du weißt wohl alles!“, sagte Ben. „Ich habe nie jemanden zum Spielen. In der Klasse sitze ich alleine, ich habe keine Freunde!“
„Das verstehe ich gar nicht, du bist so ein netter Junge! Vielleicht solltest du auf die anderen Kinder zugehen und ihnen zeigen, wie nett du bist!“, schlug Tock vor.
„Ja, aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Alle denken, dass ich ein Eigenbrödler bin!“, antwortete Ben. Eine Träne trat in sein Auge. Schnell wischte er sie weg. War das eine seltsame Situation. Hier saß er im Gras und besprach mit einer Schildkröte seine Probleme. Drehte er jetzt völlig durch?
„Vielleicht kann ich dir helfen. Du hast mir geholfen, also werde ich dir auch helfen!“, flüsterte die Schildkröte. Ben kratze sich am Kopf. Wie sollte eine kleine Schildkröte ihm helfen?
Plötzlich stand jemand neben ihm. Es war ein anderer Junge, der ungefähr in Bens Alter war.
„Cool, du hast eine Schildkröte!“, sagte er. Ben schrak zusammen. Er konnte jetzt wirklich kein anderes Kind gebrauchen.
„Ja!“, antwortete er einsilbig.
„Darf ich sie mal streicheln? Ich bin Simon!“
„Meinetwegen. Aber sein vorsichtig!“
„Ich habe zu Hause auch eine Schildkröte. Wenn du willst, kannst du mich mit deiner Schildkröte mal besuchen!“
Simon schien wirklich nett zu sein. Ben nickte unmerklich. Da sah er plötzlich seine Mutter, die auf ihn zugelaufen kam. Sie rief: „Ben, wir sind schon fertig, komm mit nach Hause!“ Ben spürte Verzweifelung in sich aufsteigen. Was sollte er mit Tock machen? Er wusste, dass seine Mutter ausflippen würde.
„Simon, du musst mir helfen! Die Schildkröte gehört mir gar nicht, sie ist aus dem Restaurant. Man wollte sie kochen! Nimm sie mit!“, flüsterte er verzweifelt. Simon verstand sofort.
„Komm mich besuchen, ich wohne in dem blauen Haus da hinten!“
Ben nickte. Seine Mutter stand neben ihm. „Oh, eine Schildkröte!“, sagte sie fröhlich. Dann zog sie Ben mit sich fort. Simon winkte ihnen hinterher.
„Ich komme morgen!“, rief Ben. Da fiel ihm der chinesische Glückskeks wieder ein. Irgendwie war die Botschaft doch in Erfüllung gegangen ...
Texte: Dörte Müller
Bildmaterialien: Dörte Müller
Tag der Veröffentlichung: 07.10.2016
Alle Rechte vorbehalten