Meine Oma Anna fing 1989, an ihrem 75. Geburtstag, an, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Sie schrieb über mehrere Jahre in ein dickes Buch, das ich ihr damals zum Geburtstag geschenkt hatte. Je mehr sie schrieb, desto mehr Freude hatte sie daran.
Die folgenden Geschichten sind ein Auszug daraus.
Inhaltsverzeichnis
Der Handwerksbursche im Kleiderschrank
Die Notlandung
Eine Spukgeschichte
Von der Mühle und dem Mionkel
Der Antrittsbesuch
Ich wurde 1914 in Stroit, einem kleinen Dörfchen in der Nähe von Einbeck, geboren. Meine Kinderjahre waren sehr schöne und glückliche Jahre, denn meine zwei Geschwister und ich hatten sehr liebe Eltern und Großeltern. Wir lebten von der Landwirtschaft und hatten drei Kühe im Stall.
Schweine, Hühner und Gänse gehörten natürlich auch mit dazu. (...)
Einmal erlebten wir eine unheimliche Geschichte mit einem Handwerksburschen.
Meine Eltern und Großeltern waren auf dem Felde und rodeten Kartoffeln. Ich sollte im Garten die Bohnen pflücken und hatte noch etwas Zeit, um mit meiner Freundin zu spielen.
Als ich die Haustür aufschließen wollte, begann mein Herz plötzlich zu rasen.
Was war das?
Die Tür war offen! „Bei euch ist eingebrochen worden!“, schrie Alma aufgeregt und starrte mich mit ihren großen Augen an.
„Du musst mit ins Haus kommen, alleine gehe ich da nicht hinein!“, flüsterte ich mit bebender Stimme, denn ich hatte wahnsinnige Angst, dass der Einbrecher sich irgendwo versteckt haben könnte.
Ich hatte von meinen Eltern den Auftrag bekommen, aus dem Keller Kartoffeln zu holen, um das Essen vorzubereiten. Alma nahm meine Hand, stieß die Tür auf und rief plötzlich ganz mutig so laut sie konnte: „Handwerksbursche, wo sitzt du? Auf dem Boden oder im Keller?“
Gespannt lauschten wir in die Stille. Keiner meldete sich und alles wirkte ganz friedlich. Ich sah Alma bewundernd an.
Wie mutig sie gewesen war!
Erleichtert gingen wir die Kellertreppe hinunter und holten die Kartoffeln. Trotzdem war mir irgendwie unheimlich zu Mute und ich war froh, dass Alma noch ein wenig bei mir blieb und mir half, die Kartoffeln zu schälen.
Alma fing plötzlich fröhlich an zu singen: „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach ...!“
Gerade, als ich bei „Klipp klapp“ mit einstimmen wollte, hörten wir ein lautes Rumpeln. Ich schrie auf und schnitt mir vor Schreck in den Daumen.
„Der Handwerksbursche!“, wisperte Alma. „Er ist noch im Haus ...!“
Wir ließen alles stehen und liegen und rannten davon.
Als meine Eltern und Großeltern am Abend nach Hause kamen, hatte ich aus lauter Angst vor Ärger kein Wort von der offenen Haustür gesagt.
Meine Mutter schimpfte ein wenig, weil das Essen noch nicht fertig war.
Nachdem wir unser Abendbrot verzehrt hatten, ging meine Oma in ihr Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank, um Opas Anzug zu holen. Der Opa musste nämlich an diesem Abend noch auf eine Versammlung. Kaum war sie oben, da hörten wir auch schon ihren Schrei.
Der Schrank war leer und unten drin lagen eine zerrissene Wolldecke und ein dicker Knüppel. Nun fing ich an zu heulen und berichtete alles. Ich bekam keine Schimpfe, denn meine Eltern waren froh, dass ich nicht mit dem Knüppel einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte. Von Opas Anzügen und von der Wäsche ist nie etwas gefunden worden.
1920 wurde ich eingeschult. Ich bin gerne zur Schule gegangen. Unsere Oma sorgte dafür, dass ich sauber und pünktlich zu Schule kam, denn meine Mutter hatte keine Zeit für uns Kinder. Sie hat von früh bis spät gearbeitet.
Im Winter saß sie viel an der Nähmaschine und hat für uns alle Kleider selbst genäht.
Wir Kinder hatten ebenso unsere Aufgabe. Im Sommer mussten wir die Kühe auf den Wiesen hüten, was uns sehr viel Spaß gemacht hat. Dabei war ich immer mit meinem Bruder und seinen Freunden zusammen.
Einmal hat sich jeder auf eine Kuh gesetzt und ist den Koligsberg hinuntergeritten. Die Jungen waren mir beim Aufsteigen behilflich. Wie hielten uns am Hals der Kuh fest, dann ging es los.
Ich dachte, dass ich jeden Moment abgeworfen werden würde und sah mich schon auf der Wiese liegen. Doch irgendwie schaffte ich es, heil am Ziel anzukommen.
In jedem Sommer fanden Jugendspiele mit unseren Nachbardörfern Naensen und Ammensen statt. Im Werfen, Springen und Laufen war ich immer gut. Sehr viel Spaß hat mir auch das Handballspielen gemacht, wir waren meistens Sieger.
Ich kann mich noch gut an die Geburtstagsfeier von einem Freund meines Bruders erinnern. Wir saßen auf einer Scheunendiele und hatten Brause getrunken und getanzt. Ein Junge saß oben auf der Leiter und spielte Mundharmonika.
Doch was war das?
Plötzlich hörten wir ein leises Brummen, das immer lauter wurde.
„Seid alle still!“, rief mein Bruder aufgeregt und Wilhelm ließ seine Mundharmonika fallen.
Tatsächlich! Da war ein Brummen. Es wurde lauter und lauter. Aufgeregt liefen wir vor die Scheune und dann sahen wir es: Da war ein Flugzeug! Ein richtiges Flugzeug! Es kreiste in der Luft hin und her und flog dabei immer niedriger.
Früher war es ein Erlebnis, wenn man mal ein Flugzeug sah! Nun aber nichts wie hin! Wir waren zehn Kinder und eines rannte schneller als das andere.
Jeder wollte zuerst an Ort und Stelle sein. Es war so aufregend. Durch Wiesen und Felder rannten wir, immer hinter dem Flugzeug her. Da es etwas regnete und wir durch Kornfelder hindurchrannten, wurde unsere Kleidung ganz grün gefärbt.
Auf Weddehagen angekommen, waren wir sehr enttäuscht. Es handelte sich nur um eine kleine Sportmaschine, die sich beim Landen einen Flügel abgebrochen hatte. Sie musste dann mit der Bahn abtransportiert werden. Die schöne Geburtstagsfeier war nun aus.
Erst jetzt fiel uns auf, wie wir aussahen. Grün von oben bis unten. Wir trauten uns kaum nach Hause. Da gab es dann auch mächtig Schimpfe wegen der verdreckten Kleider.
Wären wir doch bloß in der Scheune geblieben ...
Früher gab es viele Spukgeschichten, die wir Kinder immer gerne gehört haben. Was davon wahr war, wusste man nie so genau, da jeder immer noch seinen Teil dazu dichtete. Doch die folgende Geschichte ist meinem Uropa wirklich passiert.
Mein Uropa ist einmal um Mitternacht aus dem Wirtshaus gekommen. Es war dunkel, Wolkenfetzen jagten über den pechschwarzen Himmel und irgendwo schrie ein Käuzchen.
Da es bereits Anfang Oktober war, war es bitterkalt und mein Uropa zog sich seine Mütze weit ins Gesicht. Er wollte so schnell wie möglich nach Hause. Doch plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen.
Was war das?
Eine weiße Gestalt lief um die Kirche herum und war plötzlich wieder verschwunden.
Dann tauchte sie wieder auf. Dieses Mal sprühten Funken um sie herum. Es wurde immer geheimnisvoller. Mein Urgroßvater zögerte nicht lange. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und lief mit schnellen Schritten auf die Gestalt zu. Doch er konnte sie nicht packen, schon war sie wieder verschwunden.
Hinter ihm knackte es. Da war sie wieder! Doch dieses Mal war er schneller. Er griff nach dem unheimlichen Wesen und zog an ihm, so doll er konnte. Die Gestalt schrie auf. Eine Pfeife flog im hohen Bogen durch die Luft und mein Urgroßvater hielt ein weißes Bettlaken in der Hand. Dann blickte er in das verschmitzte Gesicht des Schusterbeckers, der für Spuk bekannt war und gerne die Leute im Dorf erschreckte.
Es gab zu der Zeit auch Spinnstuben, dort gingen die Frauen mit ihren Spinnrädern abends die Wolle spinnen. Sie zogen von Haus zu Haus und arbeiteten hier und dort.
Einmal waren sie auch beim Schusterbecker. Unter der Schusterstube befand sich ein Keller. Durch eine Klappe konnte man von der Stube in den Keller gelangen, das war damals bei vielen Häusern so.
(Im Herbst wurden die geernteten Kartoffeln dort hinunter geschüttet.)
An dieser Klappe hatte der Schuster seine Riemen festgemacht.
Als nun die Frauen zum Spinnen dort waren, hat er die Kellerklappe hin und her gerüttelt und den Frauen gesagt, dass es einen bösen Geist im Keller gäbe.
Die Frauen liefen kreischend auseinander. Wahrscheinlich haben sie sich dann nie wieder beim Schusterbecker getroffen.
Oben auf dem Rotenberg steht eine Windmühle, das Wahrzeichen von Stroit. Diese Mühle, die heute unter Denkmalschutz steht, hat ihre ganz eigene Geschichte, die heute kaum noch jemand kennt.
Der Müller wohnte nur ein paar hundert Meter entfernt von der Mühle in seinem eigenen Haus. Er ging jeden Morgen in die Mühle und hatte dort viel zu tun. Alle Bauern ließen für das Vieh Korn schroten und holten sich anschließend das Mehl dort ab.
Als die Frau des Müllers ihrem Mann an einem Morgen im März 1905 das Frühstück bringen wollte, sah sie bereits von Weitem, dass etwas in den Flügeln der Mühle hing. „Was ist das bloß?“, wunderte sie sich und ging langsam auf die Mühle zu.
Mit Entsetzen erkannte sie ihren eigenen Mann, der sich in den Flügeln der Mühle verfangen hatte und immer hin und her geschleudert wurde. Die arme Frau hatte keine Ahnung, wie man die Mühle abstellen konnte und so rannte sie schnell ins Dorf, um Hilfe zu holen. Doch für den Müller war es zu spät.
Im Dorf wurde zunächst gemunkelt, dass der Starrmickel den Müller in die Flügel geschubst hätte.
(Der Starrmickel war ein Handwerksbursche. Die Handwerksburschen zogen von Dorf zu Dorf und erbettelten sich etwas zu essen. In der Nacht schliefen sie in Reiseställen.)
Es stellte sich aber später heraus, dass der Müller die Flügel reparieren wollte und dass das Unglück dabei geschehen war.
Nach diesem tragischen Unglück verkaufte die Frau des Müllers die Mühle. Der Neffe des Müllers wohnte jetzt in dem Haus neben der Mühle. Wir Kinder besuchten diesen netten Onkel oft und fanden es herrlich, an der Mühle herumzuklettern.
Die Mühle stand nun für einige Zeit still und die Bauern mussten ihr Korn zu der Mühle nach Volldachsen oder Kuventahl bringen.
Eines Tages war meine Mutter mit dem Handwagen unterwegs zur Mühle nach Volldachsen.
Es wurde bereits Abend und sie war immer noch nicht zu Hause. Wir Kinder standen voller Sorge im Dunkeln am Fenster (mit Licht musste gespart werden) und erwarteten sehnsüchtig ihre Ankunft.
Zu allem Überfluss hatte unser Opa uns Bange gemacht und gesagt: „Eurer Mutter sitzt der Mionkel auf dem Rücken!“
Dabei hatte er uns mit weit aufgerissenen Augen angeschaut, so dass mir eine Gänsehaut über den Rücken kroch.
„Wer ist der Mionkel?“, hatte meine kleine Schwester ängstlich gefragt. Unser Großvater sah sich um und bückte sich zu uns herunter.
Dann flüsterte er geheimnisvoll: „ Der Mionkel ist ein Geist. Er setzt sich allen Leuten, die bei Dunkelheit von Brunsen kommen, auf den Rücken, damit sie noch mehr zu schleppen haben. Vor der Brücke springt die Gestalt wieder ab!“
Meine Schwester und ich schrien auf. Hoffentlich war unserer Mutter nichts passiert!
Endlos lange standen wir am Fenster und spähten hinaus in die Dunkelheit.
„Mama, komm doch endlich nach Hause!“, flüsterten wir leise vor uns hin.
Endlich hörten wir das Rollen des Handwagens unserer Mutter. Ich glaube, ich war noch nie so erleichtert und froh wie in diesem Moment. Wir rannten aus dem Haus und umarmten sie stürmisch.
„Was ist nur mit euch los? Ist etwas passiert?“, fragte sie verwundert.
„Wir dachten, der Mionkel hat sich auf deinen Rücken gesetzt!“, heulte meine Schwester, die immer noch vor Angst zitterte.
„Was Opa erzählt, das dürft ihr gar nicht glauben!“, schimpfte meine Mutter, die wohl ahnte, dass der Großvater wieder eine seiner Geschichten erzählt hatte.
Es war im Winter 1933. Zu der Zeit arbeitete ich bei einem Bauern im Dorf und bekam einen Monatslohn von 30 DM. Vier Jahre sollte ich bei ihm arbeiten. Es war trotz der vielen Arbeit eine schöne Zeit für mich, denn gleich hinter dem Bauernhof wohnte mein Freund August. Natürlich war unsere Freundschaft geheim und keiner durfte davon wissen.
August war der Bruder meiner besten Freundin Alma. Er hatte neben der Landwirtschaft noch ein Frisörgeschäft im Dorf aufgemacht. Ich hatte einen Bubikopf, der alle vier Wochen geschnitten werden musste. Das kam mir ganz gelegen, denn dann konnte ich August immer besuchen. Er arbeitete meistens abends und sonntags. Ich ging immer spät zum Haareschneiden, so dass ich als Letzte an die Reihe kam.
August war der Erste im Dorf, der ein Radio hatte. Das war schon etwas. Oft hörten wir schöne Musik und tranken dazu eine Tasse Brühe.
Langsam war die Zeit gekommen, dass August sich bei meinen Eltern vorstellen sollte. Wir hatten Heiligabend dazu auserwählt.
August war sehr aufgeregt.
„Was soll ich mitbringen? Was soll ich erzählen?“ Ich war auch ein bisschen nervös.
„Schenk ihnen doch ein Kaffeeservice!“, schlug ich vor, denn ich wusste, dass meine Eltern so etwas gut gebrauchen konnten.
„Aber ist das nicht irgendwie langweilig?“, fragte August nachdenklich und ich konnte ihm ansehen, dass er sich nicht ganz wohl bei dem Gedanken fühlte.
Endlich war der 24. Dezember gekommen. Die ganze Familie war versammelt: meine Geschwister, die Großeltern und meine Eltern. Der Baum war geschmückt und alle hatten sich festlich angezogen. Es schneite und ein kalter Wind fegte um das Haus.
Würde August den langen Weg aus dem Dorf bis zu uns auf den Heukenberg bei diesem Wetter überhaupt schaffen?
Was, wenn er es sich anders überlegt hatte?
Ich war sehr aufgeregt und sang kaum die Weihnachtslieder mit, die meine Oma angestimmt hatte.
Plötzlich klingelte es an der Tür.
„Wer kann das sein?“, fragte meine kleine Schwester und war aufgesprungen. Auch die anderen Familienmitglieder starrten sich verwundert an.
Ich lief zur Tür. Da stand August mit einem großen Paket unter dem Arm. Es schneite heftig und eine Windböe wirbelte ein wahres Schneegestöber in den Hausflur. Ich strahlte ihn an und zog ihn schnell hinter mir her in die warme Stube.
„August, warum kommst du uns besuchen?“, fragte mein Bruder unvermittelt.
Aber August sah meinen Vater an und sagte mit fester Stimme:„Ich wollte um die Hand Ihrer Tochter anhalten!“
Keiner sagte etwas, es war mucksmäuschenstill. Dann überreichte August meinem Vater das Paket. Das war ein sehr feierlicher Moment.
Doch warum sagte keiner etwas? Alle schauten verlegen zur Seite.
Mein Vater machte das Paket gleich auf.
Die Familie staunte. Meine Mutter fand als Erste die Sprache wieder.
„Ein Kaffeeservice!“, rief sie fröhlich aus und klatschte dabei in die Hände. Aber das war noch nicht alles.
„Jetzt macht mal die Kanne auf!“, forderte August meine Eltern auf. In der Aufregung hatte er anscheinend das Siezen ganz vergessen, doch keiner schien es ihm übel zu nehmen. Ich sah ihn erstaunt an.
Was kam jetzt noch?
Mein Vater öffnete den Deckel und hervor kam eine Armbanduhr.
Endlich war das Eis gebrochen. Alle jubelten und mein Vater schüttelte August lange die Hand. Mein Freund wurde herzlich in unsere Familie aufgenommen und jetzt war ich verlobt!
Ich werde dieses Weihnachtsfest nie vergessen.
Texte: Anna Müller
Bildmaterialien: Dörte Müller
Cover: Dörte Müller
Tag der Veröffentlichung: 05.08.2016
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