1. Mein Gespensterfreund
2. Die Kreuzkette
3. Die alte Frau Wanzmann
4. Die weiße Frau
5. Onkel Will
6. Das Mondmännchen
7. Wenn der Werwolf kommt
8. Wenn es dunkel wird
9. Die Autorin
Sorgen sind wie Gespenster: Wer sich nicht vor ihnen fürchtet, dem können sie nichts anhaben.
(Lebensweisheit)
Knasper saß gelangweilt auf der Kellertreppe. Er seufzte laut und schlug einmal mit dem Stock gegen das Heizungsrohr. Gespenstisch hallte das unheimliche Geräusch durch das leere Haus. Seit die alte Frau Tengs gestorben war, fühlte er sich als Hausgespenst völlig überflüssig. Und ihm war immer so langweilig.
Tagsüber flog er durch die leeren Räume, schaute hier und da einmal aus dem Fenster, flog dann auf den Dachboden und spukte dort ein bisschen herum. Aber es interessierte keinen. Dann, wenn es langsam dunkel wurde, flog er in den Keller und spukte ein bisschen in den alten, dunklen Vorratskammern. Aber außer ein paar Mäusen erschreckte er niemanden.
So vergingen die Jahre.
Jetzt wurde es langsam Winter, die Tage wurden kürzer und der Herbstwind fegte um das Haus. Die alte Regenrinne klapperte im Wind. Eigentlich die beste Zeit, um zu spuken. Doch für wen und wozu?
Knasper saß am Fenster und starrte hinaus. Die alte Buche vor dem Haus hatte schon fast all ihre Blätter verloren. Sie lagen auf dem Rasen. Niemand harkte sie weg, nur der Wind spielte mit ihnen und wirbelte sie durch die Luft. Knasper beobachtete einen Regentropfen, der langsam an der Scheibe herunterlief.
Langweilig.
Plötzlich sah er einen großen LKW die Straße entlang fahren. Und das Beste war: Der LKW hielt genau vor seinem Haus! Knasper musste sich die Augen reiben. Das war ja super. Endlich passierte einmal etwas nach all den Jahren. Er sah, wie zwei Männer die Klappe des LKWs öffneten und Möbel herausschleppten. Dann hielt noch ein Auto vor dem Haus und eine Familie stieg aus. Ein zehnjähriger Junge lief vor seinen Eltern her und jubelte. „Unser Haus, unser neues Haus!“
Knasper dachte, er würde träumen. Er versteckte sich hinter dem alten Kronleuchter, obwohl er sich sicher war, dass die Menschen ihn nicht sehen konnten. Ihn hatte noch nie jemand gesehen! Sogar die alte Frau Tengs nicht, für die er jahrelang gespukt hatte. Aber die alte Frau war so schwerhörig gewesen, dass sie sich nie erschreckt hatte. Nur einmal war sie ihm auf den Fersen gewesen, weil sie dachte, er wäre ein hartnäckiges Spinnennetz. Sie hatte mit dem Besen auf ihm herumgeschrubbt und schließlich aufgegeben.
Knasper beobachtete den ganzen Tag den Einzug der Familie. Er rieb sich die Hände. Endlich würden Abenteuer auf ihn zukommen. Er konnte es gar nicht abwarten.
An diesem Abend legte sich die Familie ins Wohnzimmer auf ein Matratzenlager zum Schlafen, denn die Betten waren noch nicht aufgebaut.
Als es Mitternacht war, legte Knasper los. Er schlug mit dem Stock gegen das Ofenrohr und machte seine unheimlichen Geräusche.
Der Junge wachte auf. „Mama, hast du das Jaulen gehört?“, fragte er angstvoll.
„Das ist der Wind, schlaf weiter!“, sagte die Mutter im Halbschlaf und drehte sich auf die andere Seite. Doch Ben konnte seinen Schlaf nicht mehr finden. Er griff nach seiner Taschenlampe, die er unter dem Kopfkissen versteckt hatte. Dann machte er sich auf den Weg zur Toilette und leuchtete dabei den langen Hausflur ab. Jetzt in der Dunkelheit sah alles sehr unheimlich aus. Ben zitterte am ganzen Körper und er bereute schon, dass er sich überhaupt auf den Weg gemacht hatte. Kurz vor der Badezimmertür sah er plötzlich im Schein seiner Taschenlampe an der Decke etwas kleben, das so aussah, wie Zuckerwatte. Zuckerwatte mit Augen und Mund. Ben stutze. „Wer bist du?“, fragte er das Wesen. Knasper erschrak. Ben konnte ihn sehen? Wie war das möglich?
„Wieso kannst du mich sehen?“, fragte Knasper.
„Keine Ahnung. Ich kann es einfach. Ich bin Ben!“, antwortete Ben. Bens Augen strahlten vor Freude. Er war hellwach, seine blonden Haare standen lustig nach allen Seiten ab und er spürte, dass er keine Angst vor der Zuckerwatte zu haben brauchte.
„Ich bin Knasper, der Hausgeist!“, stellte sich Knasper vor. Er war immer noch wie vom Donner gerührt, dass der Junge ihn sehen konnte.
„Und was machst du so als Hausgeist?“, fragte Ben nach, der inzwischen ganz vergessen hatte, dass er eigentlich auf die Toilette musste. Das hier war viel spannender.
„Ich spuke durch die Räume und mache den Leuten Angst!“, erklärte Knasper. „Aber bei dir scheint das nicht zu wirken!“
„Doch, bevor ich dich gesehen habe, hatte ich Angst. Die unheimlichen Geräusche, die waren doch von dir, oder?“, fragte Ben nach. Knasper nickte erfreut. Dann hatte er seine Aufgabe also doch erfüllt.
„Bist du morgen auch noch hier?“, fragte Ben. Er merkte, dass er langsam müde wurde und morgen lag ein langer Tag vor ihm.
„Natürlich, ich werde immer hier sein!“, sagte Knasper.
„Wenn ich aus der Schule zurück bin, dann können wir etwas zusammen spielen!“, schlug Ben vor und ging zurück ins Wohnzimmer, wo er kurz darauf in seinem Schlafsack in einen traumlosen Schlaf fiel.
Am nächsten Morgen dachte er, er hätte alles nur geträumt. Er wurde von seiner Mutter zum Schulbus bebracht und hatte dann einen aufregenden Morgen zu überstehen. Er war der Neue, der alles kennen lernen musste. Sein Banknachbar hieß Hans und war auch erst vor einer Woche dazu gekommen. Mit ihm verstand sich Ben sehr gut. Hans erklärte ihm alles und zeigte ihm die Schule. Dann war da noch dieses wunderschöne Mädchen.
Sie hieß Kassandra und war die Klassensprecherin. Sie hatte lange, dunkelblonde Haare und stahlblaue Augen. Um den Hals trug sie eine geheimnisvolle Kette, doch es waren diese außergewöhnlichen Augen, die Ben am meisten faszinierten.
Kassandra gab Ben die Hand und stellte sich vor.
„Ich bin die Klassensprecherin, wenn du ein Problem hast, kannst du gerne zu mir kommen, ich helfe dir dann!“
Ben konnte gar nichts sagen vor Aufregung und er wünschte sich in diesem Moment, dass er bald ein riesiges Problem haben würde, bei dem ihm das Mädchen helfen konnte.
„Wie war dein erster Schultag?“, fragte die Mutter beim Mittagessen.
„Ganz gut!“, antwortete Ben und machte sich hungrig über die Spaghetti her. Das Haus sah inzwischen wohnlicher aus, denn die Eltern hatten den ganzen Morgen geräumt und Möbel aufgebaut.
„Ben, du kannst gleich dein neues Zimmer ansehen!“, sagte die Mutter fröhlich und kaum hatte Ben seinen Teller aufgegessen, lief er schnell die große Treppe nach oben und bestaunte sein neues Reich.
„Wow, ist das toll!“, rief er begeistert. Da sah er oben an der Decke wieder die Zuckerwatte kleben. „Knasper, dich hatte ich ja ganz vergessen!“, rief er aus und die Mutter sah ihn verwundert an.
„Wen hast du ganz vergessen?“
„Ach, ich habe ganz vergessen, dass ich noch schnell die Hausaufgaben machen muss!“, rief Ben und rannte wieder in den Flur, um seine Schultasche zu holen. Die Mutter machte sich wieder an die Arbeit und half ihrem Mann, Regalbretter zu halten und zusammenzustecken.
Ben hatte endlich Zeit, sich in Ruhe im Knasper zu unterhalten. Er erzählte ihm alles von seinem ersten Schultag und von dem schönen Mädchen. Knasper wurde ganz neidisch.
„Irgendwie wäre ich auch gerne ein Mensch. Ihr erlebt so viel. Ich habe den ganzen Morgen auf dich gewartet und deinen Eltern ein bisschen beim Aufbauen zugesehen!“, seufzte Knasper.
„Hast du wenigstens ein bisschen gespukt und ihnen Angst gemacht?“, fragte Ben neugierig.
„Nein, mir war nicht danach. Ich will sie doch nicht erschrecken!“, gestand Knasper.
Es war wirklich so. Jetzt, wo er Ben kannte, wollte er der Familie keinen Schrecken mehr einjagen.
Während die Eltern noch mit dem Einzug beschäftigt waren, spielten Ben und Knasper Kniffel. Knasper kannte das Spiel noch nicht, doch er fand es sehr einfach und hatte sehr viel Spaß.
„Das war ein schöner Tag heute!“, sagte er am Abend zu Ben. Das fand Ben auch. Er war froh, dass er einen Hausgeist hatte, denn sonst wäre es hier auf dem Land ziemlich einsam.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Dörte Müller
Bildmaterialien: Dörte Müller
Cover: Dörte Müller
Tag der Veröffentlichung: 21.04.2016
ISBN: 978-3-7396-8609-7
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle Hausgespenster und ihre Freunde