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Schwarz

Inhaltsverzeichnis

 

 

1. Schwarz

 

2. Tote leben länger

 

3. War es Mord?

 

4. Kellergedanken

 

5. Kurz vor Engelshoven

 

6. Kurz vor Schluss

 

7. Melindas Ring

 

 

 

 

 

Die Nacht war schwarz. So schwarz, dass Nuria es mit der Angst bekam. Sie war aufgewacht, spürte, wie ihr Herz raste. Wie spät war es? Musste sie aufstehen? Wann musste sie aufstehen? Wohin musste sie gehen? Dann der Schreck: Sie wusste nichts mehr. Alles war weg. Jede Erinnerung, jeder Gedanke. Wie ausgelöscht. Es war entsetzlich.

 

Hatte sie schlecht geträumt? Sie versuchte sich an den Traum zu erinnern. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, er fiel ihr nicht mehr ein. Nur vereinzelte Gedankensplitter aus dem Traum blitzten kurz in ihrem Gedächtnis auf. Ihre Mutter war aufgetaucht. Sie hatte ihr etwas zugerufen, aus einem Mund, der kein Mund mehr war. Auch ihr Vater hatte etwas zu ihr gesagt. Die Eltern hatten keine richtigen Gesichter gehabt, sondern nur seltsame Masken. Sie hatten Nuria an Schaufensterpuppen erinnert. Es war gruselig gewesen. Die Eltern wollten ihr irgendetwas Wichtiges mitteilen. Nuria erinnerte sich, dass es keine gute Nachricht war. Im Gegenteil: Es war eine entsetzliche Nachricht gewesen. Die Eltern wollten Nuria vor etwas warnen. Eine Gänsehaut kroch ihr über den Rücken. Vor was wollten die Eltern sie warnen?

 

Nuria schluckte. Ihr Hals tat weh. Wo war sie? Was war das für ein Bett, in dem sie lag? War sie allein? Fragen über Fragen schwirrten durch ihren Kopf. Unwillkürlich berührte sie ihre Stirn, tastete ihren Körper nach Wunden ab. Alles schien in Ordnung zu sein. Da war nur dieses kleine Pflaster am Oberarm. Doch das hatte sicher keine bestimmte Bedeutung. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Hatte sie lange Haare oder kurze? Sie fühlte lange, glatte Haare. Leider hatte sie keine Ahnung, welche Farbe sie hatten. Gleich, gleich würde jemand sie wecken und dann würde ihr wieder alles einfallen. Gemeinsam würden sie dann lachen über diese Schrecksekunden, die jeder einmal durchlebt. Vielleicht war sie auf einer Party gewesen und hatte zu viel getrunken. So fühlte sich also dieser Filmriss an, von dem alle immer erzählten ... Doch müsste er nicht schon längst vorbei sein? Wo war diese Person, die sie wecken und dann mit ihr lachen sollte? Nuria zählte bis zehn, dann bis fünfzig, dann bis hundert. Keiner weckte sie. Nuria konnte sich auch an keine Party erinnern. Bei wem sollte diese Party gewesen sein?

Aufgeregt tastete sie nach allen Seiten. Das Bett neben ihr war leer, doch es war noch warm. Hatte bis vor Kurzem hier jemand gelegen? War es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Warum hatte diese Person sie nicht geweckt? War es ihr ähnlich ergangen? Wo war dieser Mensch jetzt? Hielt er sich irgendwo versteckt?  

Dann überkam es sie. Sie stieß einen fürchterlichen Schrei aus, schrie sich ihre Angst aus der Seele. Der Schrei schien endlos zu dauern, eine halbe Ewigkeit, bis sie nicht mehr konnte und der Hals brannte wie Feuer. Dann wieder Stille.

Ihr Herz raste noch immer. Sie konnte sich nicht erklären, wo sie war und was eigentlich passiert war. Das Einzige, das sie wusste, war ihr Name. Nuria. Es war ein spanischer Name. War sie Spanierin? Spielte das jetzt eine Rolle? Sie hatte das Gefühl, dass alles eine Rolle spielte, was mit ihr zu tun hatte. Alles, was ihr helfen würde, sich zu orientieren. Nuria richtete sich auf. Um sie herum: noch immer vollkommene Dunkelheit und Stille. Das konnte und durfte alles nicht wahr sein! Hatte man sie entführt? Hatte man ihr Medikamente gegeben? Hatte das kleine Pflaster doch eine größere Bedeutung als sie eigentlich gedacht hatte? Langsam stand sie auf. Ein warmes Daunenbettdeck hatte sie eingehüllt. Ohne die Decke war ihr kalt. Sie stand in einem Zimmer. Vorsichtig ging sie einige Schritte nach vorn. Ihr wurde schwindelig. Wie lange hatte sie wohl in diesem Bett gelegen? Ein paar Stunden? Ein paar Tage?

Ein entsetzlicher Gedanke durchfuhr sie. Nuria zuckte zusammen. War sie blind geworden? Wenn sie doch bloß ein wenig Grau erkennen könnte! Doch alles, was sie sah, war schwarz. Nuria ging langsam durch den Raum. Sie wollte um Hilfe rufen, doch eine innere Stimme sagte ihr, dass sie lieber schweigen sollte. Instinktiv spürte sie, dass Gefahren um sie herum lauerten. Sie fühlte sich beobachtet, als wenn tausend Augen sie verfolgten. Nuria wusste, dass sie in einer ausweglosen Situation war. Wohin sollte sie gehen? Woher kam sie?

Nuria fror. Sie trug eine dünne Bluse und eine Jeans. Schuhe hatte sie keine. Als sie eine Weile gegangen war, blieb sie stehen und lauschte. Kein Laut war zu hören, kein Regen, kein Wind. Plötzlich wurde ihr klar, dass dieser Raum keine Fenster hatte. In diesem riesigen Raum befand sich nur ein Bett und sonst nichts. Der Raum war endlos. Er war so groß wie eine Halle. Oder sogar noch größer? Nichts regte sich. War die Welt ausgelöscht worden und sie war die Einzige, die überlebt hatte?

Der Boden fühlte sich seltsam an. Fast wie eine Pappe. Und dann dieser seltsame Geruch! Irgendwie nach schlechtem Käse. Nuria spürte plötzlich ein Hungergefühl in sich aufsteigen, ihre Beine fühlten sich an wie Pudding. Wie lange hatte sie nichts mehr gegessen oder getrunken? Sie wusste es nicht. Sie dachte an Käse und alle möglichen Käsesorten erschienen vor ihrem inneren Auge. Dann ein Gedankensplitter: Sie sah sich an einem Käsestand. Sie verkaufte Käse auf einem Marktplatz. Der Platz war voll mit Menschen und Leben. Und sie, Nuria, war mittendrin in diesem pulsierenden Leben voller Farben und Freude. Sie sah sich selber, wie sie einem kleinen Mädchen ein Stück Käse zum Probieren gab. „Lass es dir schmecken, Kleine!“ Dann erlosch der Gedanke, so schnell er gekommen war. Nuria wollte ihn festhalten, ihn weiterträumen, doch er verlor sich in der entsetzlichen Dunkelheit. Wie eine Sternschnuppe am Himmel, wie ein Glühwürmchen, das verglühte.

Sie hatte wieder das Gefühl, dass unzählige Augen auf sie gerichtet waren. „Verrückt. Einfach verrückt!“, dachte sie. Wer soll mich denn hier schon beobachten?  

Wann würde sie endlich wieder etwas erkennen können? Sie fing an zu rennen. Immer tiefer in die Dunkelheit hinein. Irgendwo musste es doch einen Ausgang geben, eine Tür, ein Tor, ein Gatter! Sie rannte, bis ihr der Schweiß auf der Stirn stand und bis sie Seitenstechen bekam. Dann verlangsamte sie ihr Tempo, blieb schließlich stehen.

Da hörte sie die Schritte zum ersten Mal. Die Schritte kamen näher und näher. Jemand atmete und rang nach Luft. War es eine Frau? War es ein Mann? War diese Person hinter ihr her? Nuria stand da wie gelähmt.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Dörte Müller
Bildmaterialien: Dörte Müller
Cover: Dörte Müller
Tag der Veröffentlichung: 02.04.2016
ISBN: 978-3-7396-4884-2

Alle Rechte vorbehalten

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