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Das Lied der Meermädchen

 

 

Eben kam der Anruf. In einer halben Stunde würde es endlich soweit sein und jemand würde das alte Klavier abholen, das ich schon jahrelang nicht mehr benutzt hatte und das verstaubt in der hintersten Ecke meines Wohnzimmers herumstand. Es war vollgestellt mit Büchern und Pflanzen, man sah es kaum noch. Ich hatte mir schon überlegt, was ich mit dem neugewonnenen Platz anstellen würde, aber ich hatte noch keine richtige Idee. Ein Aquarium oder eine neue Lampe?

 

Vielleicht war es gut, das alte Ding noch schnell abzustauben. Kurz entschlossen holte ich mir ein Staubtuch aus dem Schrank und räumte alle Pflanzen und Bücher zur Seite. Dann machte ich mich an die Arbeit. Ich war schon fast fertig, da bekam ich plötzlich Lust, den Deckel aufzuklappen und auszuprobieren, ob ich überhaupt noch spielen konnte. Eine leichte Gänsehaut überfiel mich, als ich die glänzenden Tasten betrachtete. Seltsam! Mein Herz fing an zu klopfen. Ich fühlte mich plötzlich wie damals mit zehn, als ich auf der kleinen Bühne unserer Dorfgaststätte „Das Lied der Meermädchen“ vorspielen musste. Im Publikum hatte damals meine Oma gesessen und mir aufmunternd zugenickt. Ich war so glücklich gewesen, als alles ohne Fehler geklappt hatte. Meine Hände hatten vor Aufregung gezittert und mein Herz hatte so schnell geschlagen wie nach einem Marathonlauf.

Langsam, wie in Zeitlupe, versuchte ich die richtigen Tasten zu finden und tatsächlich – es war fast wie ein kleines Wunder - das Lied kam zurück. Die Finger fanden ihren Weg automatisch, fast wie ferngesteuert. Etwas zittrig hallten die Klänge durch meine Wohnung und brachten meine Kindheit zurück. Ich schoss die Augen und spielte weiter, immer weiter. Ich spürte die Nähe meiner längst verstorbenen Oma und mir wurde seltsam warm ums Herz.

Ein Klingeln durchbrach meinen Traum. Benommen stand ich auf und ging zur Tür. Mein Entschluss stand fest: Ich wollte das Klavier jetzt auf jeden Fall behalten. Vor der Tür standen zwei Männer, einer von ihnen war vermutlich der Käufer. Verzweifelt blickte ich von einem zum anderen, denn ich wusste, sie hatten extra einen Lieferwagen organisiert und viel Zeit und Mühe geopfert. Trotzdem platzten die Worte aus mir heraus:„Es tut mir leid, ich kann das Klavier doch nicht verkaufen! Wissen Sie, es ist wegen der Erinnerung ...“ Mir fehlten die Worte. Hilflos blickte ich die Männer an. „Möchten Sie vielleicht einen Kaffee? Ich kann Ihnen das Benzingeld geben!“ Aufgeregt stotterte ich hin und her. Das war mir alles so peinlich. Die Männer blickten mich fragend an. Keiner sagte etwas, ein peinliches Schweigen war entstanden.

Gerade wollte ich in die Küche laufen und Kaffee kochen, da tauchte hinter den Männern plötzlich ein kleines, blondes Mädchen auf. Es hatte dünne geflochtene Zöpfe und ganz viele Sommersprossen auf der Stupsnase. Die Augen leuchteten wie zwei Sterne.

„Papi, darf ich gleich spielen, wenn ihr das Klavier heruntergetragen habt?“ Zum zweiten Mal an diesem merkwürdigen Tag bekam ich weiche Beine. „Du darfst jetzt schon spielen, wenn du magst!“, hörte ich mich sagen und blickte der Kleinen nach, wie sie aufgeregt in meine Wohnung zu meinem Klavier hopste und anfing zu spielen. Einer der Männer lächelte mich an. „Vielen Dank!“, sagte er leise.

Kurze Zeit später trugen die Männer das Klavier die Treppe hinunter. Ich blickte aus dem Fenster und sah, wie sie es in den Lieferwagen hievten. Dabei spürte ich, wie mir eine Träne die Wange herunterlief. Das kleine Mädchen klatschte aufgeregt in die Hände. Plötzlich blickte es zu mir nach oben und winkte mir zu.

Jetzt wusste ich, dass ich auf jeden Fall die richtige Entscheidung getroffen hatte.Das alte Klavier hatte mir meine Erinnerungen zurückgebracht, die ich von nun an immer in meinem Herzen tragen wollte. „Ich hab dich lieb, Oma!“, flüsterte ich leise und von irgendwo her spürte ich ihr „Ich dich auch!“.

 

Impressum

Texte: Dörte Müller
Bildmaterialien: Dörte Müller
Tag der Veröffentlichung: 23.03.2016

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