Eintönig summten die Motoren des Flugzeugs, das Essen hatte ich kaum herunter bekommen, so nervös war ich. Meine Hände zitterten, als ich der Stewardess mein halb leeres Tablett überreichte. Ich, Sarah Neumann, 19 Jahre alt, war auf dem Weg nach New York, um einen Au – pair Job anzutreten.
Wahnsinn!
Ich schloss die Augen und dachte über mein bisheriges Leben nach. Alles war in geregelten Bahnen verlaufen – Kindergarten, Grundschule, Gymnasium und schließlich das Abi. Und jetzt stand ich da. Ich wusste einfach nicht, was ich nach dem Schulabschluss machen sollte. Alle anderen schienen irgendeinen Plan zu haben. Nur ich nicht. Mir fielen lediglich tausend Sachen ein, die ich nicht machen wollte. Dazu zählten langweilige Bürojobs und alles, was mit Zahlen zu tun hatte. In Mathe war ich nämlich eine Niete. Und ich wollte auf keinen Fall Tierärztin werden, denn das Praktikum damals in der 10. Klasse hatte mir gereicht. Der Berufsberater, der regelmäßig in unsere Schule kam, konnte mir auch nicht weiter helfen. Ich sei ein schwerer Fall, bemerkte er jedes Mal und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
In der letzten Schulwoche wurde die Abizeitung verteilt. Da bekam ich den ersten Schock: Ich war zur langweiligsten Person des Jahrgangs gewählt worden! Wieso war das ausgerechnet mir passiert? Meine beste Freundin Annika versuchte mich zu trösten und meinte, das sei doch alles nicht so entscheidend und später würde kein Mensch mehr diese Zeitung anrühren. Sie hatte gut reden, ich fragte mich, was sie gemacht hätte, wenn sie die langweiligste Person des Jahrgangs gewesen wäre.
Dann war der Tag des schicksalhaften Abiballs gekommen. Ich hatte extra ein neues Kleid bekommen und mir eine Hochsteckfrisur gemacht. Gemeinsam mit Annika trank ich einen Apfelschnaps nach dem anderen. Das gehörte einfach dazu. Außerdem wollte ich mir Mut antrinken, um Simon Stegmann, den coolsten Jungen aus dem ganzen Jahrgang, zum Tanzen aufzufordern.
Kurz vor Mitternacht fühlte ich mich dann endlich mutig genug dafür. Ich konnte zwar kaum noch gehen und sprechen, doch ich war unglaublich gut drauf und fand alles ungeheuer witzig. Kichernd torkelte ich ein letztes Mal mit Annika auf die Toilette und fiel plötzlich aus allen Wolken: Simon Stegmann knutschte in der Kabine neben mir mit der Oberschlampe Vanessa Rosenberg herum. Das durfte einfach nicht wahr sein! Ich hielt mich an Annika fest, denn vor Schreck taumelte ich ein paar Schritte nach hinten. Meine gute Laune war mit einem Schlag vorbei. Dann übergab ich mich und die Überreste vom Buffet landeten schwungvoll in der Kloschüssel. Mir ging es so schlecht wie noch nie. Doch auf einmal hatte ich eine Art Erleuchtung. Ich wusste plötzlich, was ich wollte: kurze Haare und ein neues Leben beginnen. Am besten gleich ganz weit weg. Und zwar so schnell wie möglich.
Das war alles vor acht Wochen gewesen. Und nun saß ich hier an Bord der Lufthansa und fühlte tausend Schmetterlinge in meinem Bauch. Langweilig war ich jetzt bestimmt nicht mehr.
Das Flugzeug flog uns sicher durch die Nacht. Ich blickte aus dem Fenster und sah einige Sterne. Weit unter uns,unendlich groß und weit: der Atlantik. Genauso hatte ich mir alles vorgestellt. Alles war perfekt. Zu perfekt, um wahr zu sein.
Ein junger Mann neben mir schnarchte leise vor sich hin. Es war ein angenehmes Schnarchen. Nicht zu laut, nicht zu leise. Sehr regelmäßig und fast ein wenig melodisch.Wohin er wohl wollte? Blieb er in New York oder würde er umsteigen? War er ein Deutscher oder ein Amerikaner?
Plötzlich kam mir ein Ohrwurm aus den 70 ziger Jahren von Henry Valentino in den Sinn, den mein Vater immer gerne sang: Im Wagen vor mir fährt ein junges Mädchen. Aus Langeweile dichtete ich den Text um:
Im Sitz neben mir schläft ein netter Junge – er sieht gut aus und er scheint klug zu sein. Ist er Amerikaner und steigt in New York aus – ich wünscht er käme mit zu mir nach Haus.
Rattan, rattan, radadadatan. Rattan, rattan, radadadatan.
Ich sang das Lied in Gedanken vor mich hin und musste plötzlich laut lachen, weil ich es so witzig fand. Erschrocken hielt ich mir die Hand vor den Mund. Ich wollte den Mann nicht unnötig aufwecken. Doch er schlief weiter und schien nichts bemerkt zu haben. Er sah ziemlich gut aus. Je länger ich ihn betrachtete, desto besser fand ich ihn. Sehr jungenhaftes Gesicht – dichte, rotblonde, verwuschelte Locken. Ein bisschen wie Sebastian Vettel. Süß! War er vielleicht sogar Sebastian Vettel? Mein Herz begann schneller zu schlagen. War er es, oder war er es nicht? Nein, bestimmt nicht. Sebastian Vettel würde sicher in der 1. Klasse fliegen, oder? Wenn er es aber doch war? Sicherheitshalber holte ich meinen Fotoapparat aus dem Handgepäck und machte für den Fall der Fälle einige Beweisfotos. Das wäre ja eine Neuigkeit für meine Freundinnen zu Hause: Sie würden platzen vor Neid, wenn sie erfahren würden, dass ich neben Sebastian Vettel im Flugzeug gesessen hätte! Mit diesen Fotos würde ich glatt Annika ausstechen, die immer damit angab, die abgerissene Hälfte von dem durchgeschwitzten T – Shirt des Extrabreitdrummers bei einem Konzert ergattert zu haben. Der abgefetzte stinkende Lappen hing über ihrem Bett, aber ich habe ihr die Geschichte nie richtig abgenommen. Zum Glück weckte das Blitzlichtgewitter den schlafenden Mann nicht auf. Nur eine Stewardess kam angelaufen und sagte, ich sollte mit dem Fotografieren aufhören. Widerwillig steckte ich die Kamera wieder ein.Jetzt wollte ich es endgültig wissen. War er es, oder war er es nicht? Leise flüsterte ich ein paar Mal: „Sebastian!“ Dann rief ich lauter: „Sebastian Vettel!“ Keine Reaktion. Nur einige Leute aus der Reihe vor mir drehten sich neugierig um.
„Ist das da neben Ihnen Sebastian Vettel, der berühmte Rennfahrer?“, fragte eine ältere Dame echt interessiert.
„Ich bin mir nicht ganz sicher!“, gestand ich aufgeregt. Ein anderer Passagier hatte sich ebenfalls umgedreht. Er betrachtete den schlafenden Rotblonden und meinte: „Das ist ganz sicher nicht Sebastian Vettel!“ Daraufhin drehte sich die Frau auch wieder um und setzte ihr Sudoku fort. Dann war er eben nicht Sebastian Vettel. Ich war sogar erleichtert, dass er es nicht war. Denn dann hätte ich mich womöglich noch über Autorennen unterhalten müssen und davon hatte ich nun wirklich keine Ahnung. Mein Nachbar hatte keinen Bart. Gott sei Dank, denn Bärte bei rotblonden Männern sehen immer irgendwie doof aus. In seinen Händen hielt er ein Geo Magazin. Warum war er mir vorhin noch nicht aufgefallen? Ich war wahrscheinlich so beschäftigt mit mir selber, dass ich meine Umwelt nicht bemerkt hatte. Immer und immer wieder hatte ich den Brief meiner Gastmutter durchgelesen und die mitgeschickten Bilder der beiden süßen Mädchen betrachtet. Dabei hatte ich mich gefragt, ob ich sie wohl im Menschengewimmel am Flughafen erkennen würde.Verstohlen blickte ich auf meine Armbanduhr. Noch 5 Stunden bis zur Ankunftszeit in New York. Eine halbe Ewigkeit! Ich nippte an meinem Kaffee. Er war noch zu heiß. In dem kleinen Fernseher vor mir lief „Friends“ und auf dem anderen Kanal „Everybody loves Raymond“.
Leider kannte ich die Folgen schon in und auswendig und auf die Simpsons hatte ich irgendwie keine Lust. Nervös klopfte ich mit den Fingerspitzen auf meinem Ausziehtischchen herum. Dann stand ich auf und ging zur Toilette. Dort hatte jemand eine Frauenzeitschrift vergessen.
Neugierig blätterte ich einige Seiten in der Freundin und stieß gleich auf einen interessanten Artikel: „Der moderne Mann von heute will angesprochen werden.“ Hastig überflog ich die Zeilen. War das wirklich so? Aber warum eigentlich nicht. Jemand klopfte von außen an die Tür. Vielleicht die Frau, die ihre Zeitung vergessen hatte? Schnell drückte ich auf den Spülknopf und verließ die enge Kabine. Die Zeit ging einfach überhaupt nicht herum. Es kam mir fast so vor, als würden wir immer auf einer Stelle fliegen.Flogen wir eigentlich über das Bermuda Dreieck? Ich hatte in Erdkunde mal wieder nicht aufgepasst und hatte daher keine Ahnung. Ich hoffte nur, dass es nicht so wäre.
Als ich meinen Sitzplatz erreicht hatte, schlief der vermeintliche Sebastian Vettel immer noch tief und fest wie ein süßes Baby. Hatte der es gut! Völlig ausgeruht und entspannt würde er in der neuen Heimat ankommen, während ich schon jetzt völlig fertig mit den Nerven war. Plötzlich kam mir eine verrückte Idee. Vielleicht war es kein Zufall gewesen, dass ausgerechnet die Freundin auf der Toilette vergessen wurde! Es war ein Wink des Schicksals, das mir auf diesem Wege mitteilen wollte, dass ich diesen gut aussehenden Mann einfach einmal ansprechen sollte. Was hatte ich zu verlieren? OK, ich müsste noch fünf Stunden neben ihm aushalten, wenn ich mich blamierte. Doch dann könnte ich immer noch schlafen oder fernsehen. Oder auf die Toilette gehen. Vielleicht durfte ich auch das Cockpit besichtigen! Es gab so viele Möglichkeiten. Außerdem hatte ich mir vorgenommen, mutiger und extrovertierter zu werden. Also zählte ich leise bis zehn und stupste ihn an: „Sorry!“Ich tat so, als wäre mir etwas heruntergefallen. Doch der junge Mann zeigte keine Regung. Im Gegenteil: Er hatte sogar mit dem leisen gleichmäßigen Schnarchen aufgehört. Ich erschrak und lauschte. Nichts. Was war passiert? Hatte er einen Herzstillstand? Sein Gesicht war aschfahl und er atmete nicht mehr. Ich trat ihm auf den Fuß. Wieder nichts. Keine Reaktion. Langsam bekam ich Panik. Sollte ich eine Stewardess rufen oder Erste Hilfe leisten? Obwohl ich erst vor kurzem den Führerschein gemacht hatte, hatte ich das Gefühl, völlig unfähig zu sein, jemanden wiederzubeleben. Wie ging das gleich noch mal mit der Herzdruckmassage und der stabilen Seitenlage? Oh je! Aber vielleicht schwebte mein Nebenmann gar nicht in Lebensgefahr und hatte einfach nur eine flache Atmung?
Auf einmal wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich kippte meinen heißen Kaffee auf seine Jeans. Als er sich wieder nicht bewegte war mir endgültig klar, dass ich neben einer Leiche sitzen musste. Ich hatte mir zwar ein aufregendes Leben gewünscht und mein altes Leben verflucht, doch so aufregend sollte es nun doch nicht sein. Meine Gedanken liefen Amok. Dann ging alles ganz schnell. Mein Reaktionsvermögen kehrte zurück und ich rief panisch:„I need a docotor! Is there a doctor around? Help! Help!“Ich hätte nie gedacht, dass das meine ersten englischen Sätze sein würden. Viel eher hätte ich getippt auf Sätze wie: „My name is Sarah Newman. What`s your name? “ Aber so sollte es nicht sein. Die heile Welt aus dem Englischleistungskurs gab es nun einmal nicht. Die Wirklichkeit sah anders aus. Eine braunhäutige Stewardess kam sofort angelaufen. Sie war groß und stämmig und ich schätzte sie als sehr kompetent ein. Aus den mittleren Reihen sprangen ein paar Menschen auf – wahrscheinlich die Ärzte, nach denen ich gerufen hatte.„This man is dying! He has got a heart attack!“, schrie ich verzweifelt und deutete auf den leichenblassen Sebastian Vettel Doppelgänger.
Die Stewardess gab meinem Nebenmann eine heftige Backpfeife ins Gesicht und schrie mit lauter Stimme: „Wake up!“In diesem Moment hatte ich eine Wahnsinnsangst vor der lauten Frau und war mir sicher, dass jeder bei dieser Ansprache aufwachen würde. Sogar eine Leiche.Tatsächlich schlug der Mann die Augen auf und starrte uns verwundert an. „Was ist denn los? Was machen Sie mit mir?“, fragte er verärgert und rieb sich die Wange.„Ihre Freundin hat um Hilfe gerufen. Wir dachten, Sie haben einen Herzinfarkt!“, versuchte sich die Stewardess herauszureden. Die Ärzte schüttelten nur mit dem Kopf und gingen schimpfend auf ihre Plätze zurück. Dabei konnten sie doch froh sein, dass der Fall noch einmal so glimpflich ausgegangen war. Aber wahrscheinlich war es bei Ärzten so wie bei Feuerwehrmännern, die den ganzen Tag auf einen Brand warten und schließlich selber ein Feuer legen, um endlich löschen zu können.
Nachdem sich der Tumult gelegt hatte, starrte mich mein Nebenmann ungläubig an. Er schien auf eine Erklärung zu warten. Mit dem roten Handabdruck auf seiner Wange sah er ziemlich lädiert aus. Die Stewardess hatte wirklich heftig zugeschlagen.
„Äh, es tut mir sehr leid, aber ich dachte, Sie wären gestorben!“, stotterte ich und wurde über und über rot. Ich hätte es einfach bleiben lassen sollen. Warum musste ich den Typen unbedingt ansprechen? Jetzt hatte ich mich total blamiert und musste noch fünf Stunden neben diesem unfreundlichen Mann aushalten. Die Self Fullfilling Prophecy hatte sich bewahrheitet. Am liebsten wäre ich sofort ins Cockpit geflüchtet oder hätte mich für den Rest der Zeit auf dem Klo verkrochen. In Gedanken formulierte ich bereits einen kritischen Leserbrief an die Redaktion der Freundin. Durch diesen furchtbaren Artikel war ich schließlich ins offene Messer gelaufen.
Mit offenen Augen sah mein Sitznachbar auch längst nicht mehr so sexy aus. Er hatte einen verkniffenen Blick und seine Nase war extrem schief und krumm. Fast so, als hätte er sich in jungen Jahren mit jemandem geprügelt und war zu spät zum Hals – Nasen – Ohrenarzt gefahren worden.Doch der Mann sah mich plötzlich freundlich an und lachte. Er hatte nette Grübchen und sehr weiße Zähne. „Sie dachten, ich wäre gestorben?“, fragte er ungläubig nach und kratzte sich am Hinterkopf.„Ja, es sah so aus!“, gestand ich verlegen. „Ich habe Sie mehrfach angestupst und Sie haben keine Reaktion gezeigt! Dann habe ich um Hilfe gerufen! Es ist beruhigend zu wissen, dass so viele Ärzte mit im Flugzeug sitzen, finden Sie nicht auch?“Er lachte herzlich und stellte sich vor. „Ich glaube, wir können uns ruhig duzen. Ich bin übrigens Jan. Wie heißt du?“Mein Herz tat einen Freudensprung. Innerlich lobte ich mich und klopfte mir auf die Schulter: „Siehst du, es war doch richtig, ihn anzusprechen!“ Ich nahm mir vor, regelmäßig die Freundin zu kaufen oder die Zeitschrift vielleicht sogar zu abonieren. In Amerika gab es sicherlich noch viel mehr Frauenzeitschriften mit guten Ratschlägen. Ich freute mich jetzt schon.„Ich bin Sarah!“, sagte ich und schenkte Jan mein schönstes Lächeln.
„ In vier Stunden und 45 Minuten beginnt mein neues Leben als Au – pair!“
„In vier Stunden und 45 Minuten beginnt mein neues Leben als teaching assistant!“, erzählte Jan. Was für ein magischer Moment. Doch dann sah er an sich hinunter. „Was ist das denn? Wieso habe ich einen riesigen Kaffeefleck auf meiner Jeans?“ „Die Leute passen aber auch gar nicht auf!“, bemerkte ich und starrte wütend auf eine Frau im Gang, die einen schreienden Zweijährigen vor sich her trug. Jan blickte der Frau ebenfalls böse hinterher. Mein Ablenkungsmanöver war gelungen, ich war aus dem Schneider.Ich fühlte mich so toll und witzig wie schon lange nicht mehr. Ich flirtete, was das Zeug hielt und kramte schließlich den Brief von Julia, meiner Vorgängerin, aus dem Handgepäck.
"Das sind meine Au-pair Kinder: Angelina und Breanne!", erklärte ich Jan nicht ohne Stolz. "Die sehen ja süß aus!", bemerkte er. "Genau wie du!" Ich wurde rot und lachte. "Ich weiß genau, was auf mich zukommen wird, denn Julia, das Au-pair Mädchen, das vor mir dort war, hat mir alles beschrieben." Julia und ich hatten uns sogar ein bisschen angefreundet. Sie hatte eine wundervolle, schnörkelige Handschrift und lange, schwarze Haare. "Ich muss mich fast gar nicht um den Haushalt kümmern und bin nur für die Mädchen da. Julia nennt sie Prinzessinnen!" Jan musste lachen. "Hört sich gut an. Dann
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Dörte Müller
Bildmaterialien: Dörte Müller
Cover: Dörte Müller
Tag der Veröffentlichung: 04.06.2016
ISBN: 978-3-7396-5893-3
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle Au-pairs