Oft habe ich mich gefragt, ob das ganze Leben lediglich aus einer Kette von Zufällen besteht. Doch dann passierten mir so viele seltsame Dinge auf einmal, dass ich meine Meinung ändern musste.
Meine Geschichte beginnt an einem Abend im März. Genauer gesagt war es ein Freitag, der schönste Tag der ganzen Woche, wie ich finde. Das ganze Wochenende liegt noch vor einem und der Montag ist noch ziemlich weit weg, so dass man sich noch keine Gedanken um ihn machen muss.
Es war Freitag der 13., aber ich machte mir nichts aus diesem magischen Datum. Auch schwarze Katzen, die von rechts nach links über den Weg huschten, ließen mich völlig kalt. Ebenso vierblättrige Kleeblätter oder ein zerbrochener Spiegel. War doch alles Hokuspokus. Meine Exfreundin Jessica glaubte an diesen ganzen Zirkus. Sie war da ganz anders als ich. Sie hatte es sogar fertig gebracht, einmal mitten auf der Straße einen Schornsteinfeger zu küssen, nur um ein bisschen Glück zu haben.
Der Tag heute war ganz normal verlaufen. Ich war zu Arbeit gefahren, hatte mittags in der Kantine gegessen und mit meinem Kollegen Martin ausführlich über Fußball gequatscht. Nach der Arbeit fuhr ich zu Knülle, den ich wollte nicht an Jessica denken und mich irgendwie ablenken. Ich durfte einfach nicht zu viel über sie nachgrübeln, es tat mir überhaupt nicht gut.
Ich saß also an jenem Freitag mit meinem Kumpel Knülle auf seiner schäbigen grauen Couch und trank Bier. Knülle hieß eigentlich Marc, doch weil er im Studium eine Phase hatte, in der er sehr, sehr viel getrunken hatte, wurde er von allen Knülle genannt. Viele wussten bald gar nicht mehr, wie er wirklich hieß. Aber das spielte damals auch keine Rolle. Wir schwammen auf einer Welle des ewigen Glücks, hangelten uns von Party zu Party und hatten das verrückte Gefühl, die Welt läge uns zu Füßen.
Knülle wohnte noch immer im Magniviertel in Braunschweig. Gemütliche Fachwerkhäuser, Kopfsteinpflaster und unzählige Kneipen. Eine Freundin hatte er seit 25 Jahren nicht gehabt. Ich kann mich noch erinnern, dass er sich im 3. Semester in eine Heike verliebt hatte. Doch diese Liebe blieb unerwidert und ich hatte das Gefühl, dass Knülle die Sache mit den Frauen irgendwie aufgegeben hatte. Offen darüber geredet haben wir allerdings nie. Seine Schmutzwäsche erledigte seine inzwischen 80 jährige Mutter für ihn, die unten im Haus wohnte. Vielleicht lag es daran, dass sich niemand ernsthaft für ihn interessierte. Oder es hatte damit zu tun, dass er trotz seiner 45 Jahre seine studentischen Angewohnheiten nicht abgelegt hatte. So radelte er jeden Dienstagabend immer noch ins Jolly und aß eine Pommes rot/weiß. Seine dünnen Locken schnitt er sich selber, Frisöre lehnte er grundsätzlich ab.
Vielleicht hätte sich die eine oder andere Frau doch für ihn interessiert, wenn sie erfahren hätte, dass Knülle als Einzelkind einmal alles erben würde. Nicht nur dieses Haus im Magniviertel, sondern auch noch einige Ländereien in Schleswig Holstein. „Liebe vergeht, Hektar besteht!“, war vor einigen Jahren noch sein Anmachspruch gewesen. Aber die Frauen wussten nie so recht, was Knülle damit sagen wollte. Wahrscheinlich dachten sie, er wäre sowieso wieder knülle. Knülle war eben viel zu bescheiden und hängte seine Erbschaft nicht an die große Glocke. Im Gegenteil: Wenn man ihn so sah, konnte man denken, er wäre der letzte Penner. Immer die gleiche, verwasche Jeans, ein altes, kariertes Hemd, das er zu selten wechselte und eine viel zu enge Jeansjacke.
Wir hörten an jenem schicksalhaften Abend „Kummer“ von Trio und schwelgten in Erinnerungen an unsere coole Studenten WG. Wieso war damals alles so viel besser als heute?
„Lebt Stephan Remmler eigentlich noch?“, wunderte sich Knülle und kratzte sich am Hinterkopf.
„Der sitzt doch im Knast!“
„Nee, das war der Drummer!“
„Ach so! Aber ich glaube, der ist tot, oder?“
„Ist ja auch egal!“
Inzwischen hörten wir „Anna, oh Anna ...“. Der gleichmäßige Rhythmus versetzte mich bald in eine Art Trancezustand, den ich als ganz angenehm empfand. Trotzdem: Irgendwie passierte an unseren Wochenenden nicht viel. Es gab keine Partys mehr, d.h. wir kannten keine Leute mehr, die uns einluden. Wir kannten sowieso kaum noch Leute. Alle hatten längst eine Familie gegründet und kümmerten sich um ihr Haus und um ihre Kinder. Knülle und ich waren einsame Randfiguren, die nie zum Zug kamen.
Ich hatte mir meine Zukunft vollkommen anders vorgestellt, mit Haus und Garten, einer wunderbaren Frau, zwei oder drei Kindern, vielleicht noch mit einem Schäferhund, den ich Rex genannt hätte. Doch dieses Bild verschwamm mehr und mehr. Je älter ich wurde, desto unwahrscheinlicher wurde mein Traum. Seit Jessica gegangen war, erschien mir meine Zukunft wie ein graues, schwarzes Monster. Manchmal wachte ich nachts schweißgebadet auf, weil ich wieder die Bilder im Kopf hatte: Ich, als Siebzigjähriger, allein in meiner Wohnung, hilflos auf dem Teppich, erst nach einer Woche gefunden und das auch nur, weil Rex unerträglich gejault hatte ...
„Früher war alles besser!“, stellte ich schließlich fest. Knülle nickte zustimmend und murmelte:„Auf jeden Fall!“ Schon wieder so ein verlorenes Wochenende. Insgeheim war ich aber froh, dass ich Knülle noch hatte. Er war einer der letzten Junggesellen, die ich kannte und Junggesellen haben immer Zeit und vor allen Dingen haben sie Bier im Kühlschrank.
„Hast du mal 50 Euro für mich?“, fragte Knülle plötzlich unvermittelt. „Ich bin vollkommen blank, habe nicht mehr geschafft, am Geldautomaten vorbeizukommen!“ Das nervte an Knülle. Ständig lieh er sich Geld von mir mit der gleichen Ausrede. Ich hatte inzwischen den Verdacht, dass er spielsüchtig war oder sich an der Börse verspekuliert hatte, traute mich aber nicht, ihn darauf anzusprechen. Denn Knülle rastete gerne mal aus und dann ging das eine oder andere Möbelstück zu Bruch.
Ich seufzte und zog mein Portmonee aus der Tasche. Das Bild von Jessica flatterte mir entgegen und ich fühlte wieder diesen Stich in meinem Herz. Früher hatte sie sich immer aufgeregt, dass ich kein Bild von ihr bei mir trug. Als ich das dann änderte, war es zu spät. Vorbei war vorbei. Ich musste mich irgendwie ablenken, dazu war ich ja schließlich hier. Ich steckte Knülle die 50 Euro in sein Sparschwein und ließ mich wieder auf die halb zerfallene Couch plumpsen. Immer noch besser als alleine Günther Jauch
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Dörte Müller
Bildmaterialien: Dörte Müller
Cover: Dörte Müller
Tag der Veröffentlichung: 29.02.2016
ISBN: 978-3-7396-4035-8
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