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Wer rettet den Kinderfasching?

 

 

 

 

Algo se muere en el alma un amigo que se va.
(Etwas stirbt in der Seele, wenn ein Freund weggeht.)

Spanisches Sprichwort   

 

Inhaltsverzeichnis

 

Wer rettet den Kinderfasching?

 

Lottes Ding

 

Die coolste Oma der Welt

 

Marie im Glück

 

Der Traumprinz

 

Lotte und Marie machen eine Reise

 

Eine  Nacht im Zelt

 

Der andere Paul

 

Friends forever

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wer rettet den Kinderfasching?

 

Über dem kleinen Dorf lag noch der Frühnebel und die alte Kirchturmuhr schlug sieben mal. Von überall her gingen die Schulkinder zur Bushaltestelle und blickten missmutig unter ihren Kapuzen hervor. Es nieselte. Und obwohl die Tage schon deutlich länger waren, hatten die Leute das Gefühl, dass sich der Winter dieses Jahr besonders lange hinzog. Und doch lag etwas Besonderes in der Luft – ein ganz spezielles Ereignis ließ die Kinderherzen in diesem Monat etwas höher schlagen als gewöhnlich: Der berühmte Kinderfasching von Windhausen stand an. Wie jedes Jahr wurde dieses Fest von Herrn Peterson organisiert.

Herr Peterson war einer der wenigen Hauptschullehrer, die sich auch noch in ihrer Freizeit gerne und oft mit Kindern und Jugendlichen beschäftigten. Er liebte den Glanz in den unzähligen Kinderaugen, wenn er die Preisverleihung für das beste Kostüm vornahm oder die Bonbons in die Menge schmiss. Außerdem hörte er sich selbst gerne reden und verkleidet mit Mikrofon auf der Bühne machte das doppelt Spaß.

Vor zwei Jahren allerdings hatte Herr Peterson mit seiner Verkleidung daneben gelegen. Er hatte sich als Schleppetebel verkleidet. Der Schleppetebel war ein alter Geist, der in der Feldmark sein Unwesen trieb und weil keiner so genau wusste, wie der Schleppetebel eigentlich aussah, errieten die Kinder auch nicht, wen oder was er darstellen wollte. Dabei hatte sich Herr Peterson so viel Mühe gegeben: Er hatte sich seinen alten Parka übergezogen, das Gesicht schwarz gemalt und sogar sein altes Fahrrad mit auf die Bühne genommen. „Was soll das sein? Wer bist du?“, riefen die Kinder verwundert.

„Bist du ein Landstreicher?“, fragte die kleine Christel Knoblich. Herr Peterson schüttelte den Kopf.

„Bist du das Rumpelstielzchen?“, fragte Biggy Mettmann. Wieder gab es nur ein Kopfschütteln.

„Bist du der Maibohmonkel?“, fragte Katja Pechstein aufgeregt. Herr Peterson lachte: „Gute Idee, aber der bin ich nicht!“ Erst als er dann zwei Finger seiner linken Hand herunterknickte und nur noch drei Finger in die Luft hielt, rief Christoph Iwen aus der hintersten Ecke:„ Bist du etwa der Schleppetebel?“ Herr Peterson machte eine unheimliche Stimme und wisperte ins Mikrofon: „Ja, der bin ich! Ich bin gekommen, um euch zu holen und euch für immer in meiner Höhle am Katzenstein zu braten!“ Viele Kinder hatten daraufhin angstvoll den Saal verlassen oder waren zu ihren Müttern auf den Schoß gesprungen. Für Tristan und Werner war dies die letzte Faschingsfeier gewesen. Sie weigerten sich standhaft, den Saal je wieder zu betreten, auch wenn ihre Mutter tausendmal sagte: „Das war nicht der Schleppetebel, das war doch nur Herr Peterson!“ Die Leute im Dorf fanden den Scherz ebenfalls sehr geschmacklos und man hatte lange überlegt, ob man Herrn Peterson das Amt des Kinderfaschingplaners besser entziehen sollte. Sie nannten ihn nur noch den Angstmacher und versuchten ihm so gut es ging aus dem Wege zu gehen. Doch ein Ersatzmann konnte nicht gefunden werden. Bauer Kroymann war zu sehr mit seinem Hof und seiner herzkranken Mutter beschäftigt. „Ich bin auch nicht so ein Partytyp!“, hatte er dem Bürgermeister in einem Gespräch unter vier Augen gesagt. Die Frau des Bürgermeisters hatte hinter der Tür gelauscht und dachte versonnen: „ Er ist ein Frauentyp!“ Auch viele andere Kandidaten fielen aus, entweder weil sie keine Zeit hatten oder weil sie nicht mit Kindern umgehen konnten.

Nach einem Jahr war bei den meisten Dorfbewohnern ohnehin wieder Gras über die Sache gewachsen und keiner dachte mehr an den Schleppetebel. Herr Peterson verkleidetete sich seit diesem Vorfall lieber wieder als Clown, da konnte nichts schiefgehen.

 

 

Die Kinder überlegten meist schon Wochen vorher, als was sie sich verkleiden könnten und oft mussten Omas und Mamas selber Kostüme entwerfen und nähen.

Auch die beiden Freundinnen Marie und Lotte saßen grübelnd in Lottes Zimmer und überlegten. Die Mädchen wollten unbedingt beim Kinderfasching mit ihrem Kostüm den ersten Platz zu belegen, denn es gab immer gute Preise.

Letztes Jahr hatte Jo Kaiser gewonnen. Er war als Feuerwehrmann gegangen, was Lotte nicht sehr einfallsreich fand. Viele hatten sich damals gewundert, warum gerade er den ersten Platz bekommen hatte und man munkelte, dass die Wahl nicht mit rechten Dingen zugegangen war und einige sprachen sogar von Bestechung. Ob diese Gerüchte stimmten, ist bis heute nicht geklärt worden.

„Ich habe dieses Jahr keine richtige Idee!“, seufzte Marie und knabberte am Ende ihres Bleistiftes herum, mit dem sie eine Liste geschrieben hatte. Letzte Woche war sie zehn Jahre alt geworden und weil der Geburtstag im Vordergrund stand, hatte sie sich noch nicht allzu lange mit der schwierigen Kostümfrage beschäftigt.„Ich auch nicht!“, jammerte Lotte, die alle ihre Ideen bereits wieder durchgestrichen hatte. Darunter waren Dornröschen, Cinderella, Belle, Schneeweißchen und Schneewittchen. „Ich möchte einmal etwas ganz Besonderes sein und nicht immer irgendeine Prinzessin!“, sagte sie nachdenklich. „Wie wäre es, wenn wir uns ein Doppelkostüm ausdenken?“, schlug Marie plötzlich vor. Das hatten sie noch nie gemacht und den Preis würden sie sich dann selbstverständlich teilen. Lotte war auch ganz begeistert von der Idee. Gemeinsam mit Marie klappte alles immer irgendwie besser.

Paulchen Kaiser, Jos kleiner Bruder, hatte bereits eine Idee: Er wollte sich als Old Mac Donald verkleiden, denn das würde prima zu seinen Hühnern passen. Dann bräuchte er sich nur alte Bauernsachen von seinem Vater anzuziehen und ein bisschen Dreck ins Gesicht zu schmieren. Perfekt. Auch er wollte dieses Jahr gewinnen, denn was sein Bruder konnte, das konnte er schon lange. Immer stand er im Schatten von ihm, das wollte er jetzt ändern. Auch er sehnte sich nach Anerkennung und nach einer Urkunde vom Kinderfasching von Windhausen 1. Platz. Die würde er sich dann über sein Bett hängen. Aber er brauchte noch einen extra Clou für seine Verkleidung. Einfach nur in Bauernsachen dort aufzukreuzen, dafür bekam man normalerweise nicht den ersten Platz. Nachdenklich sah er aus dem Fenster. Da hatte er plötzlich eine Idee.

Biggy Mettmann hatte es immer leicht mit ihrem Kostüm. Da sie das stärkste Mädchen im ganzen Dorf war, kam sie jedes Jahr als Pippi Langstrumpf und schleppte irgendetwas schweres durch die Gegend. Ihr war es nicht wichtig, den ersten Platz zu belegen, sie wollte nur auf ihre ungebrochene Stärke hinweisen und da reichte ihr das Pippi Kostüm, was ihr allerdings jetzt schon ein wenig zu klein war.

Pia und Mona wollten dieses Jahr beide als Rapunzel gehen Endlich einmal lange Haare haben, wenn auch nur für einen Tag. Das war ihr größter Wunsch. Sie durften sich bei Meinecke in der Spielzeugabteilung je einen blonden und einen brauen Zopf aussuchen und steckten sich diesen bereits schon eine Woche vorher an. Pia warf die ungewohnte Haarpracht immer gekonnt über die Schulter und Mona liebte es, mit den Fingern daran zu zupfen.

Christoph Iwen und Martin Jäger waren auch dieses Jahr wieder Gangster und freuten sich am meisten über die Platzpatronen, mit denen sie viele Kinder ärgern konnten.

Tobias und Robert kamen als Fußballspieler und hofften ebenso auf den ersten Platz. Onkel Kurt sagte: „ Ihr müsst euch schon etwas mehr Mühe geben, das ist zu wenig, wenn ihr siegen wollt.“ Tobias und Robert sahen sich enttäuscht an und gingen nachdenklich wieder zurück in ihr Zimmer.

Antonia hatte sich dieses Jahr auch etwas ganz anderes ausgedacht: Sie war ja schon lange nicht mehr die brave Antonia, das Vorbild im ganzen Dorf. Sie war jetzt ein kleines Teufelchen, und das wollte sie auch beim Fasching ausdrücken. Ihre Mutter nähte ihr ein wundervolles Kostüm aus rotem Stoff und bastelte aus Klorollen zwei Hörner. „Antonia, du siehst fantastisch aus!“, sagte sie, als sie ihre Tochter mit der fertigen Verkleidung betrachtete. „Du wirst bestimmt gewinnen!“

Endlich war der lang ersehnte Kinderfaschingstag gekommen. Marie und Lotte waren die ersten Gäste. Sie waren so sehr verkleidet, dass man nicht wusste, dass sich unter den Kostümen Marie und Lotte verbargen.

 

Die beiden Mädchen sahen es sofort, nachdem sie mühsam die große Treppe von „Zur Linde“ hochgestiegen waren. Das weiße Schild, auf dem stand:

 

„Der Kinderfasching muss leider ausfallen, weil Herr Peterson krank geworden ist.“

 

„Das darf nicht wahr sein!“, rief Lotte und fiel beinahe in Ohnmacht. So viel Mühe hatten sie sich mit dem Kostüm gegeben, so viel Zeit und so viel Arbeit investiert. Jetzt war alles auf einen Schlag wie Sand zerronnen. „Marie, Marie, was sollen wir bloß tun?“

Marie war kreidebleich geworden, was man aber durch ihr Kostüm nicht erkennen konnte. Sie atmete in kurzen, heftigen Zügen und ballte ihre Hände zu Fäusten.Günther Peterson, ihr alter Mathelehrer, hatte sie schon wieder bitter enttäuscht. Er war bestimmt gar nicht richtig krank, sondern er hatte keine Lust mehr auf die Kinder. In der letzten Mathestunde hatte er bereits so etwas angedeutet. Herr Peterson hatte seine Hände vors Gesicht gehalten und in einem weinerlichen Ton gebrüllt: „Ich halte euch alle nicht mehr aus! Wieso hört mir nie einer zu?“ Marie und ihre Banknachbarin hatten sich verzweifelt angeschaut – so kannten sie Herrn Peterson gar nicht. Normalerweise waren ihm Krach und falsche Schülerantworten total egal ...  „Hoffentlich hat er nicht das Burn – out Syndrom!“, hatte Maris Nachbarin ihr zugeflüstert und Marie hatte nur Bahnhof verstanden. Doch jetzt wurde ihr plötzlich so Einiges klar. „Wieso muss Herr Peterson gerade jetzt ausbrennen?“, rief sie verzweifelt und Lotte schaute sie fragend an. Doch Marie hatte keine Zeit, der Freundin eine lange Erklärung abzugeben. Sie fasste blitzschnell einen Plan und sagte: „Ich renne zu Onkel Kurt und du sagst in der Gastwirtschaft Bescheid, dass wir einen Ersatzmann haben. Lass alle Kinder schon mal in den großen Saal!“ Lotte nickte wie ein Roboter und tat alles, was Marie ihr aufgetragen hatte. Marie rannte so schnell sie konnte den Weg zurück nach Hause. Das Kostüm war dabei sehr hinderlich und alles rutschte immer wieder herunter. Mühsam rappelte sie sich auf und zog die Verkleidung wieder in die richtige Form.

Onkel Kurt saß gemütlich in seinem Ohrensessel und löste ein kniffliges Kreuzworträtsel aus der letzten Apothekenumschau. „Fluss in Italien mit zwei Buchstaben...!“, murmelte er lächelnd vor sich hin. „So etwas gibt es doch gar nicht!“ Gerade als er sich in seinem Kreuzworträtsellexikon vergewissern wollte, hörte er wildes Getrampel und seine Zimmertür wurde aufgerissen. Vor ihm stand plötzlich ein gelbes Männchen, das ihm irgendwie bekannt vorkam. Oder hatte sich seine Theorie vom Leben auf dem Mars nun doch bewahrheitet? Aber warum kamen sie gerade zu ihm? Tausend Fragen gingen ihm durch den Kopf und er starrte das Männchen einfach nur für Bruchteile von Sekunden an.

„Onkel Kurt, wir brauchen deine Hilfe, du musst den Fasching retten!“, hörte er plötzlich Maries Stimme und dann fiel ihm auch ein, woher er das Männchen kannte: Sie war als Bert aus der Sesamstraße verkleidet. Erschrocken ließ er sein Lexikon auf den Boden fallen und rief dann: „Aber wie?“ Da hatte Marie ihren Onkel aber bereits schon halb aus der Tür gezogen und gesagt: „Komm schnell, wir dürfen keine Zeit verlieren, nimm deinen Parka, den Rest erfährst du auf dem Weg.“

Marie und Onkel Kurt rannten Hand in Hand durch das Dorf und Marie redete pausenlos auf ihren Onkel ein. „...Herr Peterson ist krank geworden, du musst ihn jetzt vertreten!“ Schließlich schob sie ihn die Treppe hinauf zum Saal der Gastwirtschaft. „Du gehst einfach auf die Bühne und machst ein bisschen Stimmung. Dann legst du CDs auf und wir tanzen. Nachher lässt du noch das beste Kostüm wählen!“, sagte Marie und war plötzlich in der Menge verschwunden. Der Saal war mittlerweile rappelvoll und Onkel Kurt bekam Herzklopfen, wie er es noch nie zuvor gekannt hatte. Am liebsten wäre er umgekehrt und sofort wieder nach Hause gerannt, doch er konnte diese Kinder hier einfach nicht enttäuschen. Sie waren alle so lustig verkleidet und hatten strahlende Augen, wie sonst nur in der Weihnachtszeit. Also ging er mit wackligen Beinen auf die Bühne und suchte das Mikrofon. Endlich hatte er es gefunden. Im Saal wurde es plötzlich ruhiger und alle starrten ihn an.

Onkel Kurt räusperte sich und das klang durch das Mikrofon so laut, dass er sich selber erschrak und dachte, irgendein Tiger wäre los. Dann bemerkte er, dass er diesen furchtbaren Laut von sich gegeben hatte und fing endlich an:„ Ich bin Kurt Maibohm und vertrete heute den, der krank geworden ist.“ Einige Jugendliche bemerkten, dass sie hier keinen erfahrenen Hauptschullehrer vor sich hatten und fingen an, Onkel Kurt auszutesten. „He, wo ist deine Verkleidung?“, rief ein Freund von Christoph Iwen. Aber Onkel Kurt reagierte blitzschnell: „Ich bin ein Feuermelder. Siehst du nicht meine roten Haare?“ Einige Kinder lachten und Onkel Kurt fing an, Gefallen an der Sache zu finden. Er drehte den Spieß um und machte sich jetzt sogar über einige Kinder lustig: „He, du dahinten! Ist das deine echte Nase oder eine Verkleidung?“ „Du hier vorne mit den Klorollen auf dem Kopf. Bist du ein Klobürstenspender?“ „Wenn ich so aussehen würde wie du, würde ich mich auch jeden Tag verkleiden, hahaha!“

Onkel Kurt ging sogar so weit, dass einige Kinder heulend den Saal verließen und ihr Kostüm in den nächsten Abfalleimer schmissen. Marie drängte sich schließlich nach vorne durch und zog ihren Onkel hinter den Vorhang. „Leg jetzt lieber ein paar CDs auf, wir wollen tanzen!“ Onkel Kurt hatte ganz vergessen, dass er auch noch CDs auflegen sollte und dachte, dass er nur für coole Sprüche zuständig war. Er war richtig in Fahrt gekommen und konnte von Marie nur mit Mühe gebremst werden.

Schließlich legte er doch Y.M.C.A von den village people auf und endlich kehrte die gute Stimmung wieder zurück. Die Kinder tanzten ausgelassen vor sich hin.

„Das ist meine neue Lieblingsgruppe!“, rief Marie fröhlich Lotte zu, während sie tanzten. „Wie heißt die Gruppe?“, fragte Lotte neugierig, die weder von dem Lied noch von der Gruppe je etwas gehört hatte.„Das sind die village people, die Dorfbewohner!“, erklärte Marie, die das alles von Onkel Kurt wusste.„Wir sind alle village people!“, lachte Lotte, der das Wort so gut gefiel.Onkel Kurt rieb sich die Hände. Das war ja einfach gewesen. Er holte sich eine Cola und lehnte sich lässig an einen Pfeiler. Vielleicht war das die Idee für seine Karriereplanung: Stimmungsmacher beim Kinderfasching. Dann bräuchte er auch nur einmal im Jahr los.

Da sah er plötzlich seinen großen, fast schon erwachsenen Neffen Lukas, der in einer dunklen Ecke vor seiner Staffelei saß und malte. Neugierig ging Onkel Kurt auf ihn zu und fragte: „Hallo Lukas! Was machst du denn hier? Das ist ja eine Überraschung!“ „Ich male Impressionen vom Kinderfasching!“, sagte Lukas stolz und schmierte einen blauen Kreis über einen grünen Kreis, so dass die Farben ineinander übergingen und verschmierten. Dann klatschte Lukas noch ein dunkles Rot dazwischen und verwischte alles mit den Händen. Onkel Kurt verstand zwar nicht viel von Kunst, doch diese Schmiererei konnte man wirklich nicht länger ertragen. Es war Zeit, dass er mit Lukas einmal ein ernstes Wort über seine künstlerische Zukunft redete, denn so kam der Junge auf keinen grünen Zweig. Wortlos schüttelte Onkel Kurt den Kopf und stellte sich wieder zurück an seinen Pfeiler, um das bunte Treiben zu beobachten.

„Du musst noch die Preisverleihung für das beste Kostüm machen!“, erinnerte ihn Marie nach zwei Stunden, als er sich gerade seinen Parka überzog und nach Hause gehen wollte. „Und wie macht man das?“, fragte Onkel Kurt etwas hilflos. „Keine Ahnung. Auf jeden Fall muss hier heute Abend drei Kinder eine Urkunde bekommen!“, erklärte Marie nicht gerade sehr hilfreich. Onkel Kurt ging widerwillig wieder auf die Bühne und ließ die letzte CD ausklingen. „Und nun kommen wir zur Preisverleihung“, verkündete er zögerlich. „Wer alles daran teilnehmen möchte, betritt die Bühne bitte jetzt.“

Insgeheim hatte Onkel Kurt gehofft, dass sich nur zwei oder drei Leute melden würden. Aber der ganze Saal stürmte los und Onkel Kurt wurde von den Massen umgerannt. Er konnte sich gerade noch hinter den Vorhang retten und zog sich am Seil nach oben. „OK, das war nur ein Test. Ich weiß, ihr wollt es alle. Ihr wollt alle den Spielzeuggutschein von Meinecke im Wert von 50 Euro gewinnen!“, sagte er durchs Mikrofon, wobei die Menge noch mehr tobte, denn Onkel Kurt hatte da ein Geheimnis ausgeplaudert, was er gerade von der Gastwirtin erfahren hatte. Verlegen biss er sich auf seine Unterlippe, aber das half ihm jetzt auch nicht mehr weiter. „Alle gehen wieder tanzen!“, rief er mit fester Stimme, um Zeit zu gewinnen und sich eine neue Strategie auszudenken. Während die Kinder widerwillig wieder auf die Tanzfläche gingen, malte sich Onkel Kurt schnell zehn Karten mit den Zahlen von eins bis zehn und ging dann durch die Meute. Die Karten verteilte er an die zehn besten Kostümträger und betrat dann anschließend wieder die Bühne. „Alle, die von mir eine Nummer bekommen haben, bitte jetzt zu mir auf die Bühne!“, rief er in das Mikro und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Baumwollhemd klebte an seinem Körper, so hart hatte er schon lange nicht mehr gearbeitet. Der freche Christoph Iwen knallte ihm mit der Spielzeugpistole in das rechte Ohr, so dass Onkel Kurt ein permanentes Summen spürte, das ihn nicht mehr los ließ. „ Das ist wahrscheinlich der Anfang von einem Tinitus!“, ging es ihm durch den Kopf, aber für all diese Sorgen hatte er jetzt keine Zeit.Die zehn Favoriten sprangen überglücklich auf die Bühne und einige wunderten sich sogar selber, warum gerade sie ausgewählt wurden.

Paulchen Kaiser hatte die Nummer eins und lief aufgeregt hin und her. Er hatte etwas Geheimnisvolles unter seiner Arbeitsjacke, aber in dem Tumult merkte es keiner. Antonia wirbelte wie ein rotes Wollknäuel über die Bühne und freute sich ebenfalls, dass sie auserwählt war. Lotte und Marie schwitzten unter ihrer Verkleidung. Kein Mensch ahnte, dass sie sich darunter versteckten. Darum klatschen auch alle um so lauter, als sie als Ernie und Bert die Bühne betraten. Lotte hatte schließlich diese gute Idee gehabt, denn seit ihrer Windpockenkrankheit schwärmte sie erneut für die Helden ihrer Kindheit. Sie persönlich wäre lieber als Bert gegangen, doch Marie hatte sich in diesem Punkt durchgesetzt. Sie hatten sich unter unendlicher Mühe aus Pappmasche die entsprechenden Masken gebastelt und die Oma hatte ihnen Pullover gestrickt. Der Rest war einfach gewesen: Jeans und Turnschuhe und fertig waren die Sesamstraßenfreunde.

Auch Mona und Pia hatten es mit ihren Rapunzelzöpfen unter die ersten zehn Kandidaten geschafft. Onkel Kurt hatte sie ausgewählt, weil er sie aus Maries Erzählungen ganz gut kannte und weil sie ihm immer so leid taten mit den kurzen Haaren, die sie gar nicht wollten.

Auch Tobias und Robert betraten johlend die Bühne. Onkel Kurt hatte sie nicht nur ausgewählt, weil sie seine Neffen waren, sondern weil sie wirklich originell aussahen als Zahnbürste und Zahnpasta.Tobias hatte sich die Kritik an seinem Fußballkostüm sehr zu Herzen genommen und hatte lange mit Robert zusammengesessen und überlegt, was sie sonst noch machen könnten. Dabei hatten sie Chips gegessen, die Rolle dann aus Versehen verschüttet hatte. „Pass doch auf!“, rief Tobias und holte einen Handfeger, denn er hasste es, wenn man neben seinem Bett krümelte. „Das ist es!“, rief Robert plötzlich. „Du machst dir den Handfeger auf den Kopf und gehst als Zahnbürste!“ „Dann nehme ich schon lieber den großen Besen, der hat bessere Borsten!“, sagte Tobias, fand die Idee aber auch gleich ganz toll. Robert stülpte sich dann noch einen Eimer über den Kopf und ging als Zahnpasta. Dazu trug er ein langes Gewand aus einem Bettlaken, auf das er mit Wasserfarben SIGNAL geschrieben hatte. „Wenn das nicht der erste Preis wird, fresse ich meinen Handfeger!“, lachte Tobias und sah sich schon siegesgewiss in der Zeitung.

Weiterhin hatte Onkel Kurt Laura und Hendrike eine Nummer gegeben und noch einigen unbekannten Kindern, die gerade in seiner Nähe gestanden hatten.

Als sich die zehn Kostüme präsentierten, rief plötzlich Christoph Iwen: „Buh, ungerecht! Herr Maibohm hat fast seine ganze Familie auf die Bühne geholt!“ Auch andere Kinder fingen an, Buh zu rufen, zu pfeifen oder einfach nur zur rufen: „Wir wollen Herrn Peterson wieder haben!“ Onkel Kurt behielt aber trotzdem die Nerven und verkündete durchs Mikrofon: „Ich habe nun einmal so eine große Familie. Seid froh, dass diese Veranstaltung nicht ganz ausgefallen ist und ich meine Zeit geopfert habe!“ Kaum hatte er diese Worte gesprochen, da flatterte unter Paulchens Arbeitskleidung ein aufgeschrecktes Huhn hervor und verschwand in der Menge. „Mein Huhn, mein Huhn!“, rief Paulchen aufgeregt und versuchte vergeblich, es wieder einzufangen. Das Huhn flatterte immer weiter durch den Saal und war nicht zu fangen. Es war ein sehr flinkes Huhn, das den vielen Händen, die nach ihm grapschten, immer wieder geschickt entkam.„So geht das nicht weiter!“, rief Onkel Kurt wütend. „Wir verlieren kostbare Zeit, die Gastwirtschaft schließt in 15 Minuten!“

Das Huhn war endlich auf einem der oberen Dachbalken zur Ruhe gekommen und die Kinder konzentrierten sich wieder auf das Geschehen auf der Bühne. „Die Kostüme treten jetzt einzeln nach vorne und ihr klatscht bei eurem Favoriten am lautesten. Jeder darf nur einmal am lautesten klatschen“ , verkündete Onkel Kurt und ließ die Kandidaten der Reihe nach antreten. Die meisten Kinder im Saal fanden es auch ungerecht, dass so viele Kinder aus der Familie Maibohm vertreten waren und wollten daher bei Ernie und Bert am lautesten klatschen. Die Masken waren ja auch wirklich gut gelungen, da hatten sich zwei Kinder sehr viel Mühe gegeben.
Und so kam es dann, dass bei Lotte und Marie der größte Applaus zu hören war. Lotte und Marie klopfte das Herz bis zum Hals und sie sprangen vor Freude in die Luft, als der 1. Platz verkündet wurde. Dabei flogen ihre Masken ab und Christoph Iwen grollte wütend vor sich hin: „Und wieder eine Maibohm!“

Onkel Kurt sagte fröhlich: „ Als Belohnung dürft ihr euch noch ein Lied wünschen!“

„Wir wollen noch mal die village people!“, riefen Lotte und Marie gleichzeitig und schon tanzten alle wieder zu Y.M.C.A. . Lotte und Marie kamen in die Zeitung und strahlten auf dem Bild um die Wette. Paulchen konnte sich über einen sicheren zweiten Platz freuen und beschuldigte insgeheim sein Huhn, was ihm davon geflattert war. Wenn diese Panne nicht passiert wäre, dann hätte er es sicher auf den ersten Platz geschafft. Aber er war froh, dass er sein Huhn wieder hatte und dass ihm nichts Schlimmes passiert war.Platz drei

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Dörte Müller
Bildmaterialien: Dörte Müller
Cover: Dörte Müller
Tag der Veröffentlichung: 08.04.2016
ISBN: 978-3-7396-4777-7

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Opa Fritz und Oma Dorchen

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