Cover

Prolog

Leni kam am vereinbarten Treffpunkt an, mitten in Berlin, an der Weltzeituhr. Zugegeben kein besonders ausgefallener Ort, um sich zu treffen. Jeden Tag standen hier Hunderte von Leuten und warteten, auf die Zukunft, auf die Liebe, auf einen Freund, oder auch nur darauf, dass die Zeit vergeht.

 

Sie sah ihn, ja das musste er sein. Oder doch nicht? Sie blieb stehen und beobachtete, wie der Mann etwas hin und her lief und sich umblickte. Wie sehr hatte sie sich danach gesehnt ihn einmal zu treffen, nach über einem Jahr voller geschriebener Worte.

 

Leni zitterte vor Aufregung, ihr Herz schlug bis in den Himmel, bis hoch zum Fernsehturm und zurück. Sie könnte jetzt verschwinden, einfach davonlaufen, zusehen, wie er vielleicht noch einige Zeit auf sie wartete und dann enttäuscht gehen würde, weil sie ihn versetzte, weil vielleicht alles eine verdammte Lüge war, die Illusion der Worte hatte sie ertrinken lassen.

 

Nein, nie würde sie sich verzeihen, ihn nicht getroffen zu haben. Ihn einmal umarmen im richtigen Leben, ihn einmal spüren. Sie dachte daran, wie sie gleich über sein Shirt streicheln würde, so eine unbeabsichtigte Bewegung mit der Hand über seinen Bauch, ohne jede Bedeutung, ohne dass er es wahrnahm und doch würde es ihr ein Schmunzeln ins Gesicht zaubern. Wie oft hatte sie sich schon, ohne ihn zu kennen, über sein Bäuchlein beschwert?

 

Leni war weiter gegangen, gleich würden sie sich in die Arme nehmen. Sie blickte wieder in Richtung Weltzeituhr, doch er war fort. Nur einen kurzen Augenblick hatte sie ihn aus den Augen verloren, war in ihre Gedanken versunken und hatte geträumt mit offenen Augen. Sie sah auf ihre Uhr. Sie war auf gar keinen Fall zu spät.

Leni

Leni war noch keine zwei Minuten auf dieser neuen Internetplattform für Autoren und Dichter angemeldet und schon wurde sie zugeballert von Werbung und Freundschaftsanfragen. Da sie sich nur wegen der Schreibwettbewerbe angemeldet hatte, ignorierte sie erst einmal alle Versuche der Kontaktaufnahme. Es machte ihr Spaß zu lesen und gelesen zu werden. Sie war erstaunt, wie viele unterschiedliche Menschen sich hier tummelten und wie viel es hier zu lesen gab, in ganz unterschiedlichen Genres und Schreibstilen.

 

Jeden Tag nach der Arbeit ging sie jetzt in ihr Forum und freute sich, wenn jemand für ihre Geschichten abgestimmt hatte oder Post auf sie wartete. Nach einigen Wochen entdeckte sie ein Gedicht, das sie interessierte. Ein Gedicht von einem Leon.

 

Es war irgendwie eigenartig, aber wenn sie etwas sehr berührte, dann schien es ihr manchmal unmöglich einen Kommentar unter das gelesene zu schreiben. Sie hatte selbst noch keine Gedichte geschrieben, aber wenn sie es tun würde, dann konnte sie das nur aus einem bestimmten Gefühl heraus. Es würde nie möglich sein, ein so gefühlvolles Gedicht geschrieben zu haben, ohne eine reale Empfindung.

 

Leni hätte diesen Leon gerne gefragt, für wen er dieses Gedicht geschrieben hatte, aber das ging natürlich nicht, sie konnte doch nicht einen wildfremden Mann anschreiben. Und wenn sie einen kleinen Kommentar hinterlassen würde? Aber vermutlich lag sie ganz falsch mit ihren Gedanken. Sie las sich die bereits abgegebenen Bewertungen durch und irgendwie passten sie alle nicht zu dem, was sie fühlte bei seinen geschriebenen Worten. Sie beschloss noch einmal darüber nachzudenken.

 

Es wurde langsam dunkel und sie saß schon wieder viel zu lange vor ihrem Laptop. Sie war inzwischen ein Wettbewerbsjunkie, nur der Poesie - Wettbewerb war bisher von ihr verschont worden. Wenn sie ihre Gefühle so in Worte verwandeln könnte wie dieser Leon, dann würde sie es vielleicht auch einmal versuchen.

 

Mitten in der Nacht erwachte Leni, sie setzte sich an den Laptop und schrieb Leon einige Zeilen unter sein Gedicht. Dann legte sie sich wieder in ihr Bett und war gespannt ob und wie er darauf reagieren würde.

 

 

Leon

 Mehr oder weniger erfolgreich veröffentlichte Leon in einem Internetportal für Autoren seit einigen Monaten seine Gedichte und Geschichten. Na so was, da hatte doch tatsächlich jemand sein Gedicht positiv kommentiert. Das freute den dreißigjährigen Mann sehr, sofort schickte er ihr eine Nachricht:

 

Hallo, ich bin Leon und wollte dir für deine tolle Bewertung danken. Gerne würde ich dich in meiner Freundeliste aufnehmen. Ist das okay für dich?

Liebe Grüße Leon

 

Eine Minute später erhielt er die Bestätigung. Was nun folgte, war ein kleiner, harmonischer Schriftwechsel, nach dem Leon nun wusste, dass sie Leni heiße und in Berlin lebe. Nach ihrem Profilbild mochte der junge Mann nicht fragen, stellte es doch einen zerbrochenen Ring dar. Noch nicht.

 

In den folgenden Tagen häuften sich die Mails in beiden Postfächern. Leon freute das. Er empfand dies nicht nur als Schriftwechsel, sondern schon eher wie eine richtige Unterhaltung. Irgendwann saßen sie bis spät in die Nacht hinein am PC und plauderten virtuell. Wie ihre Stimme wohl klingen würde, fragte sich Leon. Und ob sie auch in echt eine so lockere, humorvolle Art hätte, wie im Web.

 

Nachdem sie sich weit nach Mitternacht voneinander verabschiedeten, fragte sich Leon, was sie jetzt wohl tun würde? Ist sie im Badezimmer? Hat sie sich in ihre Decke eingerollt, weil ihr ein wenig kalt war? Mit den Gedanken bei ihr schlief Leon langsam ein. Die Vorfreude darauf, dass er schon in wenigen Stunden wieder von ihr lesen würde, zauberte ihm ein Lächeln ins Gesicht.

 

"Leni", sagte er nochmal vor sich hin, bevor er mit ihr ins Reich der Träume eintrat.

 

Leni

Schon viele Tage waren seit seiner ersten Mail an sie vergangen. Leni freute sich jeden Abend auf ihn. Sie übersah manchmal, dass dies hier alles nur virtuell war. Sie vertraute ihm, sie mochte ihn und sie fragte sich, wie das alles passiert war.

 

Jeden Tag, wenn sie hier herkam, vergaß sie ein bisschen die Welt da draußen, es schien ihr wie eine kleine Insel, wo sie abschalten konnte. Sie wusste gar nicht viel über ihn, es gab nur wenige private Fragen. Manchmal hätte sie gerne nachgefragt, aber sie hielt sich zurück. Ab und an gab es Momente, wo er ihr anders vorkam, sie konnte das gar nicht beschreiben und das alles hier waren ja auch nur geschriebene Worte, trotzdem konnte sie ihn fühlen.

 

Heute war es spät geworden. Sie schloss den Laptop, ging noch kurz ins Bad und kuschelte sich dann in ihre Decke. Was machte Leon wohl den ganzen Tag, wenn er nicht mit ihr gemeinsam Buchstaben suchte, um Worte zu fühlen. Sie freute sich auf den nächsten Abend mit ihm und als sie die Augen schloss, meinte sie ihn bei sich zu haben. „Leon“, ganz leise flüsterte sie seinen Namen. 

 

Leon

 

Berlin.

Das war das Einzige was Leon wirklich von Leni wusste, dass sie in der Spreemetropole wohnt.

Ob sie ihm ihr Geburtsdatum verraten würde? Der Mann fasste sich ein Herz und fragte nach. Zunächst antwortete Leni mit dem Sternzeichen: Löwe.

 

Leon kannte sich damit nicht so gut aus, also googelte er die chronologische Reihenfolge der Tierkreiszeichen und verschluckte sich fast. Denn dieses Sternzeichen war noch etwa zwei Wochen relevant, bevor die "Jungfrau" übernehmen würde. 15. August, schrieb Leni in diesem Moment, dass hieß ihm blieb noch eine Woche Zeit.

 

Eine Adresse hatte er nicht. Dennoch sollte sie ein Geschenk von ihm erhalten, aber wie? Blumen schicken war nicht möglich. Eine persönliche Übergabe... wäre machbar, aber...

Nein. Leon klickte immer wieder auf Lenis Profil. Er suchte nach irgendeiner kleinen Information, ein Hinweis, vielleicht aus einem ihrer Bücher? Da war so ein Cover, auf dem war eine Bahn abgebildet. Und plötzlich huschte dem Mann ein Lächeln ins Gesicht.

 

"Ja, das ist es.", triumphierte er und schrieb sofort an die, nein, an "seine" Berlinerin: "Leni, wenn du mir schon nicht sagst wo du wohnst, nennst du mir dann vielleicht deine Bahnstation, an der du immer zusteigst?"

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Leon notierte sich den Namen und rief einen guten Freund an.

 

"Hey Sascha, ich wollte dich... wie?... Nein. Kein Cover dieses mal. Ich brauche deine Kreativität im XXL-Format."

Und während Leon mit seinem Freund per Skype mit seinem Vorhaben ins Detail ging, hatte er ganz und gar vergessen, sich von Leni zu verabschieden. Sie war inzwischen off gegangen, verabschiedete sich aber mit einer kurzen Nachricht, die nur aus drei Zeichen bestand. N8i

 

Leni

Leons grünes Licht leuchtete zwar noch, er war noch online, aber er schien abgelenkt zu sein. Wenn sie sonst miteinander schrieben, flogen die Nachrichten nur so hin und her. Sie fragte sich manchmal mit wem er noch schrieb, oder was er noch so zwischendurch erledigte. Er war ja multitaskingfähig, wie sie von ihm selbst erfahren hatte. Beeindruckend für einen Mann mit einem kleinen Bäuchlein, das sie ihm bereits angedichtet hatte und einem Hang sie zu ärgern. Wobei er Letzteres immer wieder schaffte und in ihrer Vorstellung sah sie ihn sich diebisch freuen, wenn sie in eines seiner wortgewaltigen Fettnäpfchen trat.

 

Leon hatte es fertiggebracht, dass sie ihm niemals wirklich böse war und das ihre virtuelle Welt von jeglichem Streit unberührt blieb. Natürlich hatte sie auch ein Privatleben und manchmal kam es vor, dass sie an einem schlechten Tag auch seine Zeilen ganz anders las, oder verstand, anders als sie gemeint waren. Sprache ohne Worte, ohne Betonung, ohne Klang, war schwer zu verstehen und führte zu Missverständnissen, die sie nicht immer hinterfragte.

 

Grade heute hatte er sie nach ihrem Geburtstag gefragt, erst hatte sie überlegt gar nicht zu antworten, oder etwas Falsches zu schreiben, wozu sollte das gut sein, persönliche Dinge von ihr zu erfahren schienen ihm eh nie wichtig. Sie machte sich zu viele Gedanken und nahm das einfach alles zu ernst hier. Das Geburtsjahr ließ sie besser weg, eine Frau fragte man einfach nicht nach ihrem Alter, auch wenn man in ihrem Fall nicht von Alter, altem Haus, oder gar Ruine sprechen konnte, wobei sie sich schon vor ihrem dreißigsten Geburtstag fürchtete und grade jetzt, fragte sie ausgerechnet Leon danach.

 

Sie sagte ihm zuerst ihr Sternzeichen, sie hielt aber gar nichts von Astrologie, obwohl sie die Sterne liebte und sie wusste das Leon dieselben Sterne sah, wenn er jetzt in den Himmel schauen würde. Die Sterne, die auch sie sah, wenn sie in ihrem Bett unter der Dachschräge lag und an ihn dachte.

 

„Leon? Bist du noch da?“ Er antwortete nicht, wer weiß was er wieder schrieb oder las. „Ich mache jetzt das Licht aus. Bis morgen, ja? Kissen werf.“

 

„Hey Leni....autsch, hast voll getroffen. Na warte....einen ganze Wadenladung Kissen werf.....hihi...Schlaf schön, bis morgen.N8i

LG Leon

 

„ Aus dem Kissenberg aufrappel. N8i Leon und ein Kissen ohne en für dich , schlaf du auch gut“, schrieb und dachte sie noch bevor sie den Laptop runter fuhr und sich in ihre Kissen vergrub. Morgen war für sie ein anstrengender Arbeitstag und sie wusste noch nicht, ob sie für Leon Zeit finden würde, aber sie würde es versuchen, wie fast jeden Abend, seit er über ihr Profil gestolpert war.

 

 

„Leni?“ Leni schlief bereits und war seid Stunden offline

 

Ich nochmal...Leon hier.....

 

Für mein Kissenmonster

 

Zart streicht deine Hand über mich

vergräbst in mir dein Gesicht

hast dich auf mich gefreut den ganzen Tag

wärme dich weil ich dich mag

 

War schon in deinem nackten Schoß

nimmst mich klein, machst mich groß

bin an dir, musst mich nicht missen

ich, dein süßes kleines Kuschelkissen

 

Psst, für dich

schlaf schön

Dein Leon

 

 

Leon

 

"Was?", rief Sascha in die Webcam, "Ein Riesentransparent an einer Berliner S-Bahnstation? Was soll denn da drauf stehen?"

 

Leon überlegte kurz. "Happy Birthday, liebe Leni. Oder nein, 'Happy Birthday, liebe Leni. Dein Leon'. Ja, das soll da drauf und das Ganze gut und gerne drei mal zehn Meter."

 

"Drei mal zehn Meter? Junge, Junge, du musst ja ganz schön verknallt sein.", scherzte Sascha. "Wieso rufst du sie nicht einfach an, oder schickst eine Karte?"

 

"Gehts noch langweiliger? Aber selbst wenn, ich habe..." Leon wurde nachdenklich.

 

"Ja?"

 

"Ich verrate dir ein Geheimnis, Sascha. Es klingt völlig bescheuert, aber ich habe mich verknallt. Verknallt in eine Frau von der ich weder Telefonnummer noch Adresse habe. In eine Frau, die ich noch nicht einmal gesehen habe. In eine Frau, deren Stimme ich noch nicht mal gehört habe. Ganz zu schweigen von den fast 500 Kilometern, die uns trennen. Uns verbinden nur Worte. Nur das geschriebene Wort."

 

"Abgefahren." Das war das einzige Wort, das Sascha noch hervor bringen konnte, bevor Leon in einen wahren Redeschwall fiel. Er schwärmte von Lenis Lockerheit, ihrem Humor, ja sogar von ihrer Klugheit. Und das beide immer wieder lachen müssen, wenn sie feststellen, dass sie gewisse Dinge genau so sehen, wie der andere. Das sie oft den selben Geschmack haben, sei es bei Musik, Geschichten oder Mode.

 

Sascha hörte gebannt zu, bis er mit seiner humorvollen Art sagte: "Bist du sicher, dass du nicht doch einen anderen Text auf das Transparent haben willst? So etwas wie "Ich liebe Dich, oder, willst du mich heiraten?"

 

"Blödmann."

 

"Na was, Leon? So wie ich das höre, ist das ja mehr als nur Schwärmerei."

Und während sich Leon ein Glas Wein einschenkte, wurde er erneut ein wenig nachdenklich. "Weißt du, vielleicht hab ich ja Angst vor der Wirklichkeit. Wer weiß, ob das alles im realen Leben auch so schön wäre. Es ist doch immer dieser scheiß Alltag, der irgendwann über die Beziehungen herfällt und sie zu killen vermag. Aber so, so wie es jetzt ist, ist es etwas Besonderes. Keine Zwänge. Keine Enge. Als reales Paar muss man doch immer mit seinen Stimmungen aufeinander hocken. Wenn es mir mies geht, geh ich eben nicht on. Kein Streit. Keine Szene. Einfach nur pure Leichtigkeit.

 

"Sascha blies durch die Backen. "Ah ja. Das ist mein Leon. Nur die schönen Seiten rauspicken. Hauptsache du fällst hinterher nicht auf die Schnauze."

 

"Quatsch! Wie meinst du das überhaupt?"

"Vielleicht hat sie ja doch jemanden in ihrer realen Welt. Immerhin, weit genug weg wohnst du ja."

Beide schwiegen für einen Moment.

 

"Also Leon, du weißt, dass ich dein Freund bin. Ich will dir da nicht reinreden, aber spinne mal ein paar Monate oder von mir aus auch Jahre weiter. Wärst du bereit eines Tages zu ihr zu ziehen? Nach Berlin? Oder sie, würde sie hierher kommen? In dieses Kaff?"

 

"Ach so weit sind wir doch noch gar nicht..."

 

"Ja eben", rief Leons Freund dazwischen, "Sieh dich doch mal hier vor der Haustür um, dann stellt sich doch so eine Frage erst gar nicht. Was ist eigentlich mit Karin? Ich weiß, dass sie dich mag. Ich könnte ein Treffen..."

 

"Ach lass es. Das funktioniert nicht."

 

"Immerhin wohnt sie hier um die Ecke und nicht drei Bundesländer weiter. Sie wollte mal ein Gedicht von dir. Hast du ihr eigentlich damals eins geschrieben? Irgendetwas das sich reimt. Die Frauen mögen das."

 

Leon stellte das Glas ab. "Nur weil sich etwas reimt, ist es noch lange kein Gedicht. Und außerdem: Ein Gedicht muss sich nicht immer zwangsläufig reimen. Viel mehr kommt es auf das hier drinnen an." Leon klopfte sich auf die Brust. "Bei Karin da funktionierte das nicht. Das geht nicht einfach so. Das ist nicht, als würde ich einen Zeitungsartikel schreiben. Bei einem Gedicht, da schreibt mein Herz. Da schreibe ich tief aus meinem Innersten."

 

"Hast du denn deiner virtuellen Freundin schon eines geschrieben?"

 

Leon dachte an die Verse von letzter Nacht. War das schon ein Gedicht?

 

"Nein, aber der Tag wird kommen. Ich fühle es."

Leni

 

Auf dem Weg zur Arbeit, saß Leni in der S-Bahn und hing ihren Gedanken nach. Sie musste Schmunzeln bei dem Gedanken an seine Verse, welche sie heute Morgen in ihrem Postfach gefunden hatte.

 

Warum wollte Leon nur diese S-Bahnstation wissen? Würde er nach Berlin kommen? Und wenn ja, würden sie sich treffen? Und dann? Wo sollte das hinführen? Sie hatte bisher nicht darüber nachgedacht, hatte es verdrängt.

 

Sie lachte noch immer, wenn sie an Hannahs entsetztes Gesicht dachte. Ihre beste Freundin war einfach viel zu neugierig und Leni wollte ihr nicht zu viel über ihren Leon verraten. „Wann triffst du denn mal, diesen Leon?", hatte sie vor zwei Tagen gefragt und Leni hatte geantwortet: "In 9 Jahren, 5 Monaten, 4 Wochen, 20 Tagen, 3 Stunden, 24 Minuten und exakt 3 Sekunden." Das war ihr eigentliches Blind Date, denn dann hatte mindestens einer von ihnen einen Roman veröffentlicht. So hatten sie mal zusammen geträumt. Leni war sich bewusst, dass dies alles schwer zu verstehen war und Hannah sie für komplett verrückt halten musste, aber Leni hatte das Gefühl in den letzten 10 Jahren immer viel zu realistisch und zu überlegt gewesen zu sein.

 

Jetzt hatte sie sich einfach mal Leons geschriebenen Worten hingegeben, ohne gleich wieder zu denken was,wenn und überhaupt. Sie hatte ihn in ihr Herz geschlossen und machte sich manchmal sogar Sorgen um ihn, wenn sich irgendetwas nicht so anfühlte wie all die Tage davor.

 

Vor einigen Wochen noch hätte sie jeden für irre erklärt, der ihr gesagt hätte, das man sich in geschriebene Worte verlieben konnte, aber genau das hatte sie getan, irgendwie hatte sie sich in diesen Leon verknallt. Sie wusste nur das von ihm, was er sie lesen ließ, was er sie durch Buchstaben fühlen ließ, die er in Worte verwandelte, dies alles konnte auch eine Täuschung sein. Leni war eben ein sehr emotionaler Mensch und sie war sich sicher, das konnte selbst Leon in ihren Worten spüren.

 

Aber was, wenn er einfach nur gerne flirtete und das vielleicht in vielen Foren?

 

Hatte er vielleicht sogar eine Freundin? Aber wenn er wirklich verliebt war, so richtig, dann wäre er nicht hier, dann würde er diese Frau doch auf Händen tragen, oder?

 

Leni wollte ihn besser nicht mehr nach Berlin fragen. Wenn sie ihm so wichtig war, dann würde er sie bestimmt fragen, ob sie sich treffen können. Nur, was würde sie ihm antworten? Was könnte passieren? Entweder fand sie ihn wirklich gut, dann wäre alles nur noch schlimmer, denn ihr Lebensmittelpunkt, ihre Freunde, ihre Familie waren in Berlin und er hunderte von Kilometern weit weg, oder alles war nicht so, wie sie es sich immer vorstellte und ihrer beider Illusion wäre für immer zerstört, sie könnten sich nie wieder so schreiben wie jetzt, alles wäre vorbei. Und so realistisch sie das jetzt alles auch sah, trotzdem würde es sie verletzen, wenn er sie nicht einmal fragen würde.

 

Sie hatte überlegt, was es ist, dass sie jeden Tag wieder zu Leon zog, zu seinen Buchstaben, die ihren so glichen, das nicht einmal die Wirklichkeit dem standhalten könnte. Dabei war ihr aufgefallen, das es da ein Gedicht von Erich Fried gab. „Was es ist“...und aus der Inspiration heraus schrieb sie einige Zeilen für Leon, Gedicht wollte sie es nicht nennen, eher das was ihr grade durch den Kopf ging.

 

 

Deine Kraft

 

Du berührst meine Seele

mit Buchstaben, die du zu Worten fügst

versinke in deinem Blick, den ich nicht sehen kann

streichelst mich sanft,

fesselst mich mit deinen Gedanken

quälst mich mit Gefühl

schreist mich stumm an

küsst mich, ohne zu verführen

verletzt mich, bis ich blute

tust mir aber nie weh

trinkst von mir, bis ich verdurste.

Du bist die Kraft, die ich nicht habe,

wenn ich mein Innerstes verberge,

werde das sein, was wir haben

meine Sehnsucht nicht begraben

ziehe meine Kraft aus dir,

denn du bist jetzt und hier.

 

Wenn es ein erstes Mal zwischen ihr und Leon gab, dann waren es diese Zeilen, sie hatte noch nie ein Nichtgedicht für einen Mann geschrieben, aber das wollte sie Leon niemals erzählen.

 

 

 

Leon

Leon atmete leise auf dem Rücken liegend im Bett. Er spürte eine Hand auf seinem Bauch. Haare, die ihm ins Gesicht fielen. Seine Linke umfasste eine Taille, Lenis Taille, die er nun sanft an sich zog. Ihr Kopf lag seitlich auf seiner Brust. Das Pochen seines Herzens entschied sich für einen schnelleren Takt. "Leni", raunte der dösende Mann bis ihn das Handy unbarmherzig aus dem Schlaf riss. 

 

"Dein Transparent ist fertig!"

 

"Oh Mann, Sascha! Hab gerade so schön geträumt..."

 

"Geh mal on, ich zeigs dir."

 

"Schick es mir aufs Handy, ich muss erst mal wach werden."

 

Keine zwei Minuten später schien Leon wirklich wach zu sein, denn er rief sichtlich aufgebracht in sein Handy. "Sag mal Sascha, bist du verrückt geworden? Du kannst doch nicht meine Telefonnummer auf das Plakat setzen." Er stellte das Handy auf Laut und fuhr hastig in seine Klamotten. "Warum nicht gleich noch ein Foto mit Adresse und am besten noch die Bankverbindung. Sag mal, gehts noch?"

 

Und während Sascha versuchte seinen Freund zu beruhigen, schnappte sich Leon die Laptoptasche, knallte die Tür und hämmerte auf die Lifttaste.

 

"Naja", schmunzelte Sascha, "sonst wird das ja ewig nix mit euch beiden."

 

Leon, der eigentlich wissen müsste, dass ihn sein Freund nur ein wenig auf den Arm nahm, schaute auf die Liftanzeige. Es dauerte ihm zu lange und so rannte er, nein, er flog regelrecht vom sechsten Stock durchs Treppenhaus. Immer noch telefonierend schwang er sich auf sein Mountainbike und trat in die Pedale.

 

"Ich bin gleich bei dir, dann machen wir das zusa..."

 

Zunächst war es ein kurzer Hupton, dann ein Scheppern, das Sascha am anderen Ende vernahm.

 

"Leon? Bist du noch dran? Leon?"

 

 

Zentimeter für Zentimeter suchten Leon's braune Augen die Wände ab. Diese weißen, kahlen Wände, mit dieser Uhr an der Wand, bei der die Ziffer Sechs durchgestrichen war. Oder lag der abgebrochene Sekundenzeiger darüber? Neunzehnuhrdreißig, wenn sie richtig ging. Was Leni wohl machen würde? Ob sie schon on ist? Neunzehnuhrdreißig bis Zwanzigfünfzehn, das war immer ihr Zeitfenster. Ein paar Minuten in denen sie sich austauschten. In denen sie sich mal fünfzig Nachrichten schickten, oder aber auch nur fünf. Dennoch steckte immer ein liebevolles Lächeln in ihren Zeilen. Ja, Leni konnte das. Sie lächelte mit jedem ihrer Worte.

 

So gut es ging sah sich der Mann in dem Zimmer um. Auf dem Boden, neben dem Nachttischchen, entdeckte er seine Laptoptasche. Völlig verdreckt und eingerissen war sie. So gut es ging angelte sich Leon ein Stück von dem einseitig abgefetzten Schultergurt und zog sie zu sich. Das klappernde Geräusch verhieß nichts Gutes. Der Computer war Schrott. Sein Handy konnte er nirgends finden.

 

"Ach Leni, könnte ich dir doch schreiben." Mit diesem Gedanken stieg in Leon verstärkt das Bedürfnis auf, sie sprechen zu können, ihre Stimme zu hören. Die Sehnsucht nach Lenis Stimme, ja die hatte Leon zweifelsohne.

 

Doch zunächst war es die Stimme einer Krankenschwester die er vernahm: "Sie haben Besuch."

 

Dieser näherte sich nur zögerlich dem Krankenbett. Mit leiser Stimme brachte er ein "Entschuldigung" hervor. Ihm, Sascha, tue es unendlich leid und er wollte das auf keinen Fall. Er fühle sich verantwortlich für das, was passiert ist. Doch Leon beruhigte ihn. Nur er allein sei schuld an dem Unfall. Nur er allein.

 

"Was genau ist denn nun passiert?", wollte Sascha wissen.

 

"Ich weiß nur, dass mich" Leon schaute zur Uhr, "vor etwa zwölf Stunden ein weißer Transporter geknutscht hat. Naja, die wollen mich noch hier behalten. Beobachten wegen Gehirnerschütterung und so." Leon fasste sich an den Kopf, wahrscheinlich brummte ihm noch immer der Schädel.

 

Sascha, dem dabei die Schürfwunden an Leons Unterarm auffielen, fragte besorgt: "Wissen deine Leute Bescheid? Soll ich jemanden anrufen?"

 

"Ja! Ruf Leni an." witzelte Leon, dann deutete er auf die kaputte Tasche mit dem demolierten Inhalt.

 

Sascha blickte hinein: "Ach, so ein Mist. Aber das kann man vielleicht noch reparieren. Soll ich ihn mitnehmen?"

 

"Ja gut, wenn das geht. Kann ja hier drin sowieso nichts damit anfangen."Leons Freund nahm die Tasche an sich, blickte in die braunen Augen, in denen ein wenig Traurigkeit mitzuschwingen schien und fragte: "Du denkst an sie, ja?"Leon presste die Lippen zusammen, fiel in sein Kissen um dann leise zu antworten: "Ja und ich bin traurig, dass ich ihr nicht schreiben kann."

 

Drei Stunden später gab sich Sascha in seiner Hobbywerkstatt siegessicher. "So, dann wollen wir doch mal sehen..." Er verkabelte noch etwas, dann startete er Leons Laptop. Erleichtert stellte der Bastler fest, dass keine Passworteingabe nötig war. Ein Klick auf den Browser, den Rest erledigten Leons Grundeinstellungen.

 

Eine Suchmaschine öffnete sich, dann eine Art Lexikon und schließlich eine Seite für Autoren, Leser und Bücherfreunde. Sascha entdeckte eine Zahl, oben rechts, die in wenigen Abständen stieg. Zunächst eine Neun, dann Zehn, Elf. Bei Dreizehn schaute er genauer hin. Posteingang. Offenbar war gerade jemand in genau diesem Moment damit beschäftigt, Leon Nachrichten zu schicken. Noch zögerte Sascha, sollte er vielleicht... Aber nein. Es ginge ihn doch gar nichts an. Aber sein Freund lag im Krankenhaus. Was, wenn es wichtig ist?

 

Beherzt klickte Sascha auf eine dieser Nachrichten, die alle von ihr verfasst wurden: Leni.

 

"Na Leon, du bist doch on, warum antwortest du nicht? Oder hast du wieder mal vergessen dich auszuloggen... lach. Na los, meld dich nochmal bevor ich ins Bett gehe, sonst gibts hier gleich eine Kissenschlacht :)"

 

Sascha ließ den Mauszeiger über den Antwortbutton kreisen. Die Kreise wurden schneller. Kleiner. Schließlich ruhte der Zeiger eine ganze Weile auf dem blauen Kästchen.

 

Klick, das Antwortfenster öffnete sich.

 

Leni

Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken, fühlte wie er nah an ihrem Rücken lag. Er strich ihre langen Haare zurück, um mit seinen Lippen vorsichtig ihren Hals zu berühren, ganz langsam küsste er sich zwischen ihren Schulterblättern entlang, hinab zu ihrem süßen Hintern. Sie bekam eine Gänsehaut. “Leon“, flüsterte sie, wagte aber nicht die Augen zu öffnen. Seine Hand umfasste die ihre und streichelte ihre Finger.

 

„Dieser Zug endet hier.“

 

„Was?“

 

Leni schreckte auf, sie war in der S-Bahn eingeschlafen und bis zur Endhaltestelle gefahren.

Heute würden die ersten Kunden nicht von ihr behandelt werden, heute kam Leni zu spät zur Arbeit im Hotel an. Als Physiotherapeutin war das nicht grade gut. Sie brachte damit den gesamten Terminplan durcheinander, um etwas Zeit aufzuholen arbeitete sie die Mittagspause durch und hängte noch eine Überstunde dran. Am Abend fiel sie erschöpft auf ihr Sofa. Nach diesem Tag konnte sie sich kaum wach halten, aber Leon würde wieder im Forum auf sie warten, zu ihrer Zeit, in ihrem Zeitfenster und so ging sie duschen, fuhr den Laptop hoch und zwang sich die Augen auf zu halten.

 

„Bin daha. Wie war dein Tag? “

 

5 Minuten später

 

„Wo bist du? Ich gucke mal, ob Licht bei dir ist?“ Damit meinte sie den kleinen Punkt der grün leuchtete, wenn er online war.

 

Leon war nicht online. Leni wunderte das. Sie dachte darüber nach und stellte fest, dass sie seid Wochen noch nie einen einzigen Tag ohne Leons Worte gewesen war. Vielleicht war ihm auch mal etwas dazwischen gekommen, vielleicht traf er sich mit seinen Freunden, immerhin war es Freitagabend. Eigentlich auch ein Tag, um sich in der Stadt zu amüsieren. Hannah drängelte sie schon seit Monaten endlich einmal wieder tanzen zu gehen. Spätestens nach ihrem Geburtstag, immerhin gab es hier auch Ü30 Partys. Doch Leni wollte einen Roman schreiben.

 

Bisher hatte Leon sich immer bei ihr gemeldet, hatte ihr gesagt, wenn er es nicht schaffen würde, oder eine Verabredung hatte. Was wäre wenn...? Sie wagte es kaum diesen Gedanken zuzulassen, aber was wäre wenn Leon etwas passiert war? Er wäre einfach weg und sie hätte keine Chance etwas darüber zu erfahren. Sie wünschte sie hätte ihm wenigstens ihre Handynummer gegeben. Es gab nur diese einzige Verbindung zu ihm, dieses Forum. Sie zwang sich zu anderen Gedanken. Sie war müde. Vielleicht war er es auch und einfach nur auf seiner Couch eingeschlafen.

 

„Hallo Leon, ich war heute zu spät, bestimmt haben wir uns verpasst. Ich hoffe es ist alles gut bei dir. Ich vermisse dich. Ich.....ich hoffe ich gehe dir nicht auf den Keks. Aber das würdest du mir sagen,oder? Schlaf ganz schön :) In Gedanken dein Bäuchlein streichle."

 

N8i

 

Deine Leni

 

Sie fuhr den Laptop runter, obwohl sie sich Sorgen machte. Sie dachte auch plötzlich, dass sie sich vielleicht zu seiner persönlichen Stalkerin machte. In letzter Zeit war er immer so abgelenkt. Las ihre Nachrichten nur flüchtig, sie spürte das irgendetwas nicht stimmte. Aber sollte sie ihn darauf ansprechen? Nein, sie wollte erst einmal abwarten, ihm ein bisschen Luft lassen. Sie vergaß nur zu gerne, das Leon ein reales Leben hatte, eines das nichts mit ihr zu tun hatte. Leni konnte sich nicht vorstellen, dass Leon ihr nie mehr schreiben würde. Das er unerwartet verschwinden würde. Sie ging schlafen.

 

 

„Miau“ Kater Floh hatte ihr eine Pfote auf ihre Stirn gelegt und sie damit geweckt. Auch das noch, sie hatte vergessen den Freigänger in die Nacht zu entlassen. Leni hatte ungefähr drei Stunden geschlafen, jetzt war sie wach und wollte die Gelegenheit nutzen ihre Geschichten weiter zu schreiben. Zuerst meldete sie sich im Forum an. Sie wollte nur sehen, ob Leon ihr doch noch geschrieben hatte.

 

Er war online? Jetzt in diesem Moment? Sie ließ ihre Finger über die Tastatur gleiten.

Na Leon.....

Sie wartete, aber nichts, keine Antwort. Leni verstand das nicht, wenn er online war, dann hatte er doch ihre Nachrichten gelesen, dann konnte er ihr doch antworten. Nichts...

 

Leni meldete sich im Forum ab, sie spürte wie ihr Tränen in die Augen stiegen, sie hatte sich die ganze Zeit etwas vorgemacht, er war genauso oberflächlich wie es eben in solchen Foren war. Sie versuchte sich auf ihre Schreibe zu konzentrieren, aber es ging nichts mehr. Ihr Kopf war einfach nur leer. Sie legte sich auf ihr Bett und vergrub ihr Gesicht in ihrem Kissen. Sie dachte an Leon, an ihre virtuelle Kissenschlacht. An Kissen ohne „en“ "Gute Nacht Leon", flüsterte sie.

Leon

Nein, nicht schon wieder, ging es Leon durch den Kopf. Diese Träume von sanften Berührungen, dieses Streicheln, das in ihm die Sehnsucht nach Leni noch größer werden ließ. Aber dieses mal fühlte es sich so real an. Doch, doch! Jemand streichelte seinen Unterarm, hielt seine Hand. Schläfrig öffnete Leon die Augen, die sich erst langsam an das spärlich beleuchtete Zimmer gewöhnen mussten. Seine Rechte tastete am Bettrand entlang und streifte schließlich einen Oberschenkel. Hastig suchte dann diese Hand den Lichtschalter am Nachttisch. 

 

"Karin!" erschrak der junge Mann jetzt. "Was machst du denn hier?"

 

"Ich arbeite hier", lachte die Nachtschwester. "Also nicht hier, drüben auf der Kinderstation, aber Sascha erzählte mir.."

 

"Sascha." Leon setzte sich auf, nicht nur der räumlichen Distanz wegen.

 

Karin suchte den Blickkontakt, doch Leon starrte auf die Bettdecke.

 

"Ja, Sascha. Er hatte mein Handy repariert. Auf dem Weg zum Spätdienst hab ich es bei ihm abgeholt, dabei erzählte er mir, was passiert ist. Mensch Leon, da hast du großes Glück gehabt."

 

Glück, dachte Leon, Glück wäre, wenn er Leni erreichen könnte, wenn er sie endlich mit dem Riesenbanner überraschen könnte, wenn er sie einfach umarmen könnte, das wäre Glück. Das wäre der Moment der Glückseligkeit, auf der Woge der Liebe. Sie, seine Leni, zu riechen, zu spüren, mit ihr zu lachen.

 

Karin erhob sich und stand neben dem Bett. "Soll ich lieber gehen?"Leon schlug die Bettdecke zur Seite. "Das brauchst du nicht, das mach ich schon selber."

 

"Du willst abhauen? Aber das geht doch nicht?"

 

"Warum nicht? Ich fühle mich super. War doch nur auf Verdacht hier. Ich werde verschwinden. Außerdem hab ich eine Verabredung in Berlin."

 

Karin verdrückte eine Träne. Sie könnte ihm jetzt sagen, dass sie in ihn total verschossen ist. Sie könnte ihm sagen, dass sie dank Sascha von dieser Leni wusste. Und sie könnte Leon gestehen, dass sie heimlich in seinem Namen auf Lenis Mail geantwortet hatte, nämlich in dem Augenblick, da sie ihr Handy abholte und Sascha für einen Moment im Bad verschwand. Wer weiß, ob Leni dann noch ihren Leon sehen will, wenn sie die Nachricht liest.Karin richtete ihren Kittel.

 

"Dann geh ich jetzt wohl besser."Leon, der sich seine Jeans überstreifte, nickte wortlos. Dann drehte er sich doch noch zu ihr mit der Bitte, ihn nicht zu verpfeifen.

 

Sascha hatte einen unruhigen Schlaf. Seine Gedanken kreisten um seinen Freund und um die Frage, ob es richtig war, Karin vollends in die Geschichte mit Leni und Leon einzuweihen. Drei Uhr Vierzig zeigten die leuchtend roten Ziffern des Radioweckers, als plötzlich ein Klopfen zu hören war. Schnell knipste Sascha die Nachttischleuchte an und horchte auf. Da wieder. Jetzt ein Kratzen an der Tür dann nochmal ein zaghaftes Klopfen.

 

"Sascha? Bist du wach? Komm lass mich rein!"

 

"Ich glaubs ja nicht." Verwundert, aber auch irgendwie erleichtert, drehte Leons Freund den Schlüssel und öffnete.

 

"Was machst du denn hier?"

 

"Frag nicht mein Freund, aber ich weiß was du machst: Deinem besten Freund einen Kaffee.", witzelte Leon."

Den mach dir mal selber, du kennst dich ja aus. Was willst du überhaupt hier um diese Zeit?"

 

Leon entdeckte seinen Laptop, klappte ihn auf und sagte: "Ich fahre nach Berlin. Zu ihr. Zu meiner Leni."

 

Dann loggte er sich ein.

 

"Mann bist du verknallt, warte!" Sascha zog einen Karton unter dem Tisch hervor. "Hier, das musst du mitnehmen."

 

"Ah, das Banner. Was steht da nun drauf?" wollte Leon wissen."Happy Birthday, Leni. Dein Leon."

 

"Das ist gut. Wie groß ist es denn?"

 

"Es ist groß genug. Selbst wenn einer seine Brille vergessen hat, er wird es lesen können."

 

Beide lachten und Sascha machte nun doch noch selbst seinem Freund einen Kaffee. Doch das Lachen entwich Leon sehr schnell als er sein Mailfach öffnete.

 

"Sag mal warst du an meinem Postfach?"

 

Sascha fühlte sich unwohl. "Also ich... Wieso?"

 

"Weil Mails geöffnet sind, die ich noch nicht gelesen habe." Leon klickte ein weiteres mal. "Und weil der Postausgang gelöscht wurde. Ich will nur wissen, ob mein bester Freund, in meiner Post rumgeschnüffelt hat."

 

"Also ehrlich, die Seite öffnete sich und da war was im Posteingang, aber ich..."

 

Leon sprang vom Stuhl hoch, rempelte an Saschas Arm, der dadurch den Kaffee verschüttete.

 

"Ach und da dachtest du, schau ich doch mal nach. Mein Freund liegt ja sowieso im Krankenhaus."

 

Wütend klappte Leon den Laptop zu, legte diesen auf den Karton und trug beides in Richtung Tür.

 

"Leon, jetzt warte doch mal..."

 

"Bist mir echt ein schöner Freund. Das hätte ich nicht von dir gedacht."

 

Und während knapp drei Stunden später der traurige Sascha eine schlaflose Nacht hinter sich hatte, schlummerte in einem Zugabteil ein junger Mann mit Laptop und Karton.

 

Leni, ich komme.

Leni

Liebe Leni,

 

ich habe lange überlegt, ob ich dir das schreiben soll, aber ich habe mich verliebt. Leni ich habe eine Frau kennengelernt, sie wohnt in meiner Stadt. Sie ist sehr nett und ich....ich werde nicht mehr so oft online sein und wenn doch, dann will ich endlich an meinem Roman weiter schreiben. Leni, bitte schreib mir nicht mehr, ich denke du verstehst das.

 

Liebe Grüße Leon 

 

Leni schloss Leons Nachricht. Die Nachricht, die sie eigentlich freuen sollte, Leon ging es gut. Sie konnte grade nichts denken.

 

"So wilde Freude nimmt ein wildes Ende

Und stirbt im höchsten Sieg, wie Feu'r und Pulver

Im Kusse sich verzehrt."

William Shakespeare

 

Warum tat Leon ihr das an? Warum diese Nachricht, einen Tag vor ihrem Geburtstag?

 

 Leni spürte eine tiefe Traurigkeit in sich, obwohl sie immer geglaubt hatte, sie würde ihren Leon so verstehen und so leben lassen, wie es nun einmal war, unverbindlich, ohne Ansprüche, getragen von liebevollen Worten, gestreichelt mit Buchstaben und zugedeckt mit Zeilen. Leni las Leons Nachricht noch einmal, sie klickte auf Antworten, doch er hatte sich entschieden sie zu sperren. Sie schluckte, alles ist also vergänglich und dabei hatte sie geglaubt, ihre Welt mit Leon wäre unendlich, für die Ewigkeit. Sie bereute, dass sie ihn nie gefragt hatte, ob er mit ihr einen Roman schreiben wolle. Einen mit Liebe, Fantasie, Illusion, Leidenschaft, mit all dem was sie in der realen Welt vielleicht niemals zusammen leben könnten.

 

Leni hätte jetzt am liebsten sofort ihren Account gelöscht, aber es gab zu viele Texte und einige Freunde hier, die ihr wichtig waren, wenngleich Leon derjenige war, der es in ihr Herz geschafft hatte, ohne das sie jemals mit ihm geredet hatte. War das überhaupt möglich? Wenn sie ihre Gefühle in diesem Augenblick beschreiben sollte, so fühlte es sich wie Liebeskummer an. Leni ging offline und fuhr ihren Laptop runter.

 

Einmal hatte sie ihn gefragt, welches sein Lieblingsduft war, sie war aber nie in eine Parfümerie gegangen um zu schnuppern und leider hatte sie die Marke vergessen. Sie wollte jetzt erst einmal Abstand haben von diesem ganzen Internetportal. Sie musste raus aus ihrer Wohnung. Leni fuhr mit der S-Bahn in die Innenstadt, um sich mit der Menschenmenge in einer belebten Straße treiben lassen. Wenn Leon glücklich war, dann würde sie auch damit leben können, dann wäre sie es auch, ganz bestimmt. Gedankenversunken lief sie gegen einen Mann. Ein Karton fiel auf den Bahnsteig und so etwas wie eine Plane und ein Laptop fielen heraus.

 

„Mist...“, grummelte der junge Mann.

 

„Oh Verzeihung...ich...“

 

Als Leni sich bückte, um ihm zu helfen stießen sie auch noch mit dem Kopf zusammen. Das war definitiv nicht Lenis Tag. Sie quetschte den derben Stoff in die Kiste, während er seinen Laptop aufhob. Beim Aufstehen hielten sie sich beide an dem Karton fest und erst jetzt sah Leni diesen Typen an. Seine braunen Augen sahen müde aus und etwas traurig.

 

„Tut mir leid, ist heute nicht mein Tag ,“ murmelte sie, aber irgendwie hielt sie weiter an diesem Karton zwischen ihnen fest, ohne sich zu rühren. Sie musste schmunzeln, so hatte sie sich ihren Leon immer vorgestellt, ein bisschen größer als sie, ein bisschen verwuschelt, ein bisschen traurig und ein bisschen verwegen. Seine Gesichtszüge ließen das jedenfalls erahnen.

 

„Sagen sie, wissen sie wie ich zum S- Bahnhof Alexanderplatz komme?“ Leni musste plötzlich lachen, aber nicht laut, nur innerlich. Sie deutete auf das große Schild über den Sitzbänken auf dem Bahnsteig.

 

ALEXANDERPLATZ

 

Sie hielt diesen Karton jetzt noch fester, denn sie hatte das Gefühl, gleich würde der junge Mann ihn loslassen und einen weiteren Absturz würde der Laptop keinesfalls überleben.

 

Ähm.... Ja danke“, stammelte er und entriss ihr förmlich diese Kiste. Leni lächelte, dann ging sie besser weiter, jedes weitere Wort würde den armen Kerl nur in Verlegenheit bringen und sie brauchte jetzt unbedingt einen starken Kaffee, oder besser einen Whisky ohne Eis.

 

Leon

'Verdammt, brummt mir der Schädel'. Nach dem heftigen Rempler sah Leon der jungen Frau hinterher und hielt sich den Kopf. Irgendwie hatte Sie eine besondere Ausstrahlung. Und sie hat ihm immerhin gesagt, dass er richtig ist: Berlin, Alexanderplatz. Der junge Mann setzte sich auf eine Bank und schaute den Zügen nach. Hier also steigt Leni aus. Ein. Um. Dieses Wortspiel entlockte Leon ein Grinsen. Eigentlich verging die Bahnfahrt hierher wie im Flug. Womöglich ist die Entfernung gar nicht so groß? Jedenfalls fühlte es sich für Leon so an. Welche Entfernung ist zu groß für die Liebe? Gibt es das überhaupt? Für die Liebe gibt es doch keine Entfernung. Zumindest keine nennenswerte. Wenn ihr kein Berg zu hoch und kein Tal zu tief, dann ist doch die Distanz zwischen den Herzen nur ein Lidschlag groß, egal wo das andere Herz auf dieser Welt gerade schlägt, oder?

 

Leon stand auf und blickte in die Richtung, in die die junge Frau mit den brünetten Haaren vorhin gegangen war. Sie war nicht mehr zu sehen.

 

Wieder auf der Bank sitzend übermannte ihn die Müdigkeit und so bemerkte er nicht den Fortgang des Abends, bis dass der Bahnhof nun vollends in künstlichem Licht sein mattes Grau offenbarte.

 

Nur mit den Augen, den Kopf still haltend, suchte der Verliebte nach dem idealen Platz für seine Geburtstagsgrüße an Leni. Da drüben, zwischen den beiden Stahlträgern, das wäre gut. Leise Zweifel beschlichen Leon. 'Was mach ich hier eigentlich? Ich muss doch total verrückt sein.'

 

Doch so wie er dieses dachte, ergriff er den Karton und lief ein paar Bahnsteige weiter. Die Leute, die jetzt noch unterwegs waren, sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Sie sollten diesen kletternden Burschen nicht bemerken. Und so dauerte es gar nicht lange, bis die erste Leine am Stahlträger verzurrt war. Leon zog an dem Banner und glich es ein wenig aus. Nur noch die letzten Meter aus dem Karton ziehen und dann...

 

Doch daraus wurde nichts. Er zog und zerrte an dem Teil, als würde es von jemanden festgehalten. Schließlich blickte der Kletterer nach unten und erschrak:

 

"Sicherheitsdienst! Darf man fragen, was das hier werden soll? Los runter da!"

 

Leon blickte in die Gesichter, ein Mann und eine Frau, zweier Uniformierter. Das Knurren des Schäferhundes schien die Aufforderung unterstreichen zu wollen.

 

 

Zur selben Zeit, etwa 500 Kilometer weiter.

 

"Sag, dass das nicht wahr ist!" Sascha war außer sich.

 

Karin schluchzte und wischte sich die Tränen. "Es tut mir so leid."

 

"Wie konntest du das nur tun? So eine bescheuerte Mail abschicken, Mann."

 

 Aufgebracht hämmerte Leons Freund seine Faust gegen die Wand. "Karin, du bist so dämlich... Nein, ich bin dämlich. Wieso hab ich dir davon erzählt? Wieso hab ich Leons Läppi on gelassen?"

 

"Ich weiß ja, dass es ein Fehler war. Aber ich bin so verschossen in ihn."

 

"Verschossen? Verrannt. Du hast dich da in etwas verrannt. Mensch ich kann ihn nicht mal anrufen."

 

Sascha setzte sich. Irgendwie tat ihm Karin leid. Sie saß da, wie ein kleines Häufchen Elend.

 

"Aber mailen. Ja mailen geht. Aber stop mal. Wieso soll ich das machen, hier, das machst mal schön du. Du hast ja auch die andere Nachricht geschrieben, dann wirst du jetzt diese selbst verfassen.

 

"Sascha drehte den Laptop zu Karin, die mit zitternden Lippen und noch mehr zitternden Fingern zu schreiben begann. Besser gesagt: Beginnen wollte. Ständig schniefte sie und rang nach Worten. Sascha monierte, dass es nicht unbedingt von Vorteil sei, wenn ihre Tränenflüssigkeit auf die Tastatur tröpfelte. Die aufgeklebten Symbole würden sich auch schon von den Tasten lösen. Jetzt schluchzte Karin noch mehr. Dabei legte sie ihren Kopf an Saschas Schulter. Er kam nicht umhin, sie in die Arme zu nehmen und Trost zu spenden.

 

"So wird das nichts" meinte Sascha "Ich muss zu Leon. Ich muss nach Berlin.

 

"Karin hob ihren Kopf und blickte Sascha treuherzig an. "Nimmst du mich mit?"

 

"Aber nur, wenn du dich bei Leon entschuldigst und ihm alles beichtest. Und auch bei Leni, vorausgesetzt, dass er sie jemals finden sollte.

 

"Karin nickte und lächelte zum ersten mal an diesem Abend.

 

 

Der Schäferhund ließ Leon nicht eine Sekunde aus den Augen.

 

"Bin ich.. verhaftet?" fragte Leon irritiert.

 

"Ja klar. Drei Tage Knast mindestens" grinste der junge Wachmann überheblich, der dann im Befehlston "Ausweis!" brüllte. Seiner älteren Kollegin schien es gar nicht so recht zu gefallen und nahm vor ihrem Kollegen Leons Ausweis an sich.

 

"Auf jeden Fall Hausverbot!" frotzelte der Mann mit dem Hund weiter. "Und jetzt mach den Fetzen ab, aber dalli."

 

"Schneider, was soll denn das?" zischte die Kollegin. Und zu Leon weiter:

 

"Zeigen Sie mal her, was verbreiten Sie denn für Parolen?" Dann las sie laut: "Happy Birthday Leni. Dein Leon. Hm, so was hatten wir hier noch nie." Sie sah sich den Personalausweis genauer an und staunte. "Dafür sind sie so weit gefahren?"

 

"Für eine Anzeige so weit gefahren, der Idiot. Würde sagen, wir nehmen den mit!"

 

"Schneider, das hier ist eine Herzensangelegenheit. Davon haben Sie keine Ahnung. Warum gehen Sie nicht mit Dolly noch ein wenig Gassi?" Ihre Worte, gepaart mit einem Blick, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ, ließen keinen Widerspruch zu.

 

"Komm Dolly" Mit einem verächtlichen Blick entfernte sich der selbst ernannte Sheriff.

 

"Sind Sie von der Polizei?" wollte Leon wissen.

 

"Nein, aber die hätten wir gerufen. Im Normalfall."

 

"Ach und ich bin kein Normalfall?"

 

"Das hier scheint mir ehrlich gesagt eher ein Notfall. Sie sind wohl ganz schön verliebt in diese Leni?"

 

Und so erzählte ihr Leon, so gut es ging die ganze Geschichte. Immerhin hatte er ja eine sehr interessierte Zuhörerin, die letztendlich Leon Mut zusprach.

 

"Wissen Sie, Ihre Geschichte erinnert mich ein wenig an meine. Mit meinem Mann hatte ich zuvor auch nicht telefoniert, im Osten hatte ja nicht jeder ein Telefon. Naja und die Entfernung... . Er wohnte auf Rügen und ich im Harz, also blieben uns nur Briefe. Herrlich romantische Liebesbriefe. An manchen Tagen hatte ich gleich drei Stück im Briefkasten." lachte sie.

 

"Aber wie haben Sie sich denn kennengelernt?" wollte Leon wissen.

 

"Ich war damals 18 und Helferin in einem Ferienlager. Aus Spaß haben wir am letzten Abend unsere Adressen in die Kleiderschränke geschrieben und nur vier Wochen später hatte ich Post von Peter. Meinem Peter" setzte sie glücklich nach.

 

"Und?"

 

"Wir haben bald Silberhochzeit und sind glücklich wie am ersten Tag. So, aber jetzt muss ich. Und dieses Banner..."

 

"Ja, ja, ich weiß. Ich packe es wieder ein."

 

"Sie müssen mich schon ausreden lassen, junger Mann, hängen Sie am besten dort drüben auf. Aber erst wenn ich weg bin."

 

Leon war sprachlos. Er konnte nicht mal Danke sagen. Und bis er sein Glück begreifen konnte, war die Frau verschwunden.

 

Leni

„Happy Birthday Leni!“

 

„Wie bitte? Hannah?“

 

„Ja, ich bins, alles Gute zum Geburtstag!“

 

„Oh, danke. Wie spät ist es?“ Leni hatte im Halbschlaf das Telefonat entgegen genommen, ohne zu Wissen was eigentlich los war.

 

„Fünf Uhr!“,lachte Hannah.

 

Leni ließ sich mit dem Hörer am Ohr zurück ins Bett sinken. Sie wusste das Hannah sich diebisch freute die erste Gratulantin zu sein und Hannah wusste, dass Leni nicht unbedingt eine Frühaufsteherin war. Sie liebte es eher die ganze Nacht an ihrem Roman zu schreiben und früh auszuschlafen.

 

„Du hast es geschafft. Ich bin wach“, brummelte Leni.

 

„Ich wollte dich zum Frühstück einladen. Ich weiß, es ist ein kleiner Überfall, aber würdest du kommen?“

 

„Ja sehr gerne, aber ich muss doch noch zur Arbeit. Leni versuchte immer noch ihre Augen auf zu bekommen und ihre Gedanken zu sortieren.

 

„Nicht schlimm. Ich habe uns Frühstück auf der Dachterrasse deines Hotels bestellt.“

 

„Ich wusste gar nicht, dass ich Hotelbesitzerin bin.“

 

„Ach Leni, wozu arbeitest du im Wellnessbereich eines Vier - Sterne – Hotels, als Physiotherapeutin. Wir frühstücken gleich dort und anschließend bekommst du noch eine Massage von deiner lieben Kollegin Lisa. Alles schon abgesprochen. Und dann kannst du meinetwegen noch ein bisschen arbeiten.“

 

„Eine Massage von Lisa? Danach kann ich ja gleich meine Knochen einzeln aufsammeln.“ Sie versuchte es erst einmal mit gespieltem Entsetzen, bevor sie Hannah ihre große Freude gestand.

 

„Na dann, bis um 8 Uhr auf der Dachterrasse.“

 

Leni legte auf und schwang ihre Beine aus dem Bett, auf dem Weg ins Bad stürzte sie fast über ihren Kater Floh. Als sie nach dem duschen ihren Kleiderschrank öffnete, fiel ihr der Laptop auf. Sie war 24 Stunden nicht online gewesen, hatte nicht mit Leon gesprochen, geschrieben wäre natürlich die bessere Beschreibung, aber sie fühlte sich ihm immer verbunden, sodass es ihr eher wie ein Gespräch vorkam, wenn sie mit ihm schrieb und sie vermisste ihn. Sie verzichtete aber trotzdem darauf online zu gehen, vielleicht würde sie morgen mal ins Forum schauen, aber besser nicht heute, an ihrem dreißigsten Geburtstag. Leni griff zielsicher in ihren Kleiderschrank und schlüpfte in ein farbenfrohes Kleid. Wenig später sprang sie in die S-Bahn und als sie an ihrem Zielbahnhof ausstieg, bemerkte sie eine kleine Menschenmenge am gegenüberliegenden Gleis. Einige Männer hingen an einem Seil und fummelten grade an einem Banner herum. War das etwa so eine Greenpeace - Aktion wie „Rettet die Wale“ oder „Schützt die Arktis“. Doch dann schaute Leni genauer hin und ihr Herzschlag setzte einige Sekunden aus.

 

„Happy Birthday Leni!..... Dein Leon“ Leon? War das etwa ihr Leon? War er hier? Sie lief zum anderen Gleis. War er so verrückt dies hier eigenhändig.....? Ja, sie war sich auf einmal ganz sicher, das konnte nur ihr Leon fertig bringen. Sie lief zu der kleinen Menschengruppe die zuschaute wie das Banner vorsichtig wieder entfernt wurde.„ Haben sie zufällig gesehen wer dieses Banner aufgehängt hat?“ Die Leute konnten ihr nicht weiter helfen. Doch plötzlich kam eine Sicherheitsbeamtin auf sie zu.

 

"Sind sie Leni?“

 

„Ja ….ja die bin ich. Haben sie gesehen, wer dieses Plakat aufgehängt hat?“ Die Frau lächelte.

 

„Ich würde sagen, ein hoffnungsloser Romantiker.“ Nein, nicht hoffnungslos dachte Leni.

 

„Wissen sie wo er hingegangen ist ?“

 

„Da er nicht auf dem Bahnsteig übernachten durfte, denke ich, er ist in das Hotel am Bahnhof gegangen.“ Leni war kurz verwirrt. Sollte es wirklich wahr sein? Leon hatte in ihrem Hotel eingecheckt?

 

„ Ja.....danke....ähm, würden sie das Plakat für mich aufbewahren....ich muss....“

 

„Schon klar, laufen sie....ich denke er wird sich sehr freuen.“

 

„Denken sie? Danke.“ Leni drehte sich um und verließ den Bahnhof, ihre Gedanken glichen einer Achterbahnfahrt. Leon war hier? Aber diese Mail ? Vielleicht war er auch mit seiner Freundin in der Stadt und wollte ihr nur zum Geburtstag gratulieren, aber nein, Leon war wegen ihr hier, warum sonst tat man so verrückte Sachen, beschrieb ein riesiges Banner und kletterte in schwindelerregende Höhen, um es aufzuhängen.

 

Sie stand schon vor dem Eingang des Hotels und überlegte ob sie ihre Kollegin am Empfang fragen sollte, ob ein gewisser Leon mit ihr unbekanntem Nachnamen in den letzten Stunden ein Hotelzimmer gebucht hatte, doch dann unterbrach sie der Klingelton ihres Handys.

 

„ Leni? Wo bleibst du?“

 

„Ich bin grade vor dem Hotel angekommen. Ich bin in einer Minute bei dir.“ Leni ging zur Rezeption und erkundigte sich. Sie hatte Glück, es gab tatsächlich einen Gast mit dem Namen Leon und er hatte für zwei Nächte gebucht. Es blieben Leni also zwei Tage. Sollte sie Leon wirklich treffen?

 

Leon

Leon räkelte sich im Bett des Hotels am Bahnhof. Entweder hatte er schlecht gelegen, oder eine zu unbequeme Unterlage, denn sein Nacken schmerzte erneut. Langsam stand er auf, lief zum Fenster. "Was für ein herrlicher Morgen. Guten Morgen, Berlin. Guten Morgen, Leni.

 

"Während seine Blicke den Bahnhof streiften, dachte er sofort an das Transparent."

 

Ob Sie es schon gesehen hat?"

 

Das Telefon klingelte und riss ihn aus seinen Gedanken. Als er den Kopf drehte, um zu sehen, von wo denn das Klingeln käme, legte er mit schmerzverzerrtem Gesicht eine Hand in den Nacken.

 

"Ja, Hallo?"

 

"Guten Morgen, Sie wollten um Siebenuhrdreißig geweckt werden. Wir wünschen Ihnen einen schönen Tag."

 

Gerade, als Leon eine Frage stellen wollte, wurde aufgelegt. Erst jetzt merkte er, dass es sich um eine automatische Ansage handelte. Leon stellte das Radio an, begab sich ins Bad und genau nach Fünfzehn Minuten blickte er in seinen zerschlissenen Klamotten, die gestrige Aktion hatte vollsten Einsatz verlangt, über Berlin. Sein Blick blieb am Fernsehturm haften. Die silbrige Kugel spiegelte die Morgensonne so schön, diesen Blick musste Leon einfach genießen.

 

"Wie oft mag Leni da schon gewesen sein? Da oben, bei den Wolken? Der Sonne so nah?

 

"Sein Magen knurrte. Leon schmunzelte, musste er doch an die Worte seiner Mutter denken, die da sagte: 'Wenn der Herzhunger dich treibt, muss der Bauch genährt sein, sonst funkt er dir dazwischen.'

 

Und das sollte ja nicht passieren, also: "Frühstück!

 

"Pling! Die Lifttür öffnete und als Leon ein sich küssendes Paar sah, sagte er verschmitzt. "Okay, ich nehme dann den anderen, ähm... Lift. Viel Spaß noch." Das verliebte Paar, das ohnehin keine Notiz von dem jungen Mann nahm, hatte nicht mal bemerkt, dass jemand zusteigen wollte. Die Tür fiel ins Schloss, der Fahrstuhl sauste nach oben. Im selben Moment öffnete gegenüber die Lifttür, eine junge Frau, deren rechte Hand mit einem Handy beschäftigt war, während die Linke etwas umständlich einen Strauß Blumen hielt. Leon trat ein.

 

"Guten Morgen."

 

Für einen kurzen Moment sah sie auf, wieder zu ihrem Handy, wieder zu Leon, bevor sie antwortete: "Zur Dachterrasse?"

 

"Zum Frühstücksbuffet", lächelte der junge Mann, tippte auf seinen Bauch und fügte hinzu: "Der knurrt schon."

 

"Gibts heute auf zwei Etagen. Bei der Küche so wie immer, oder eins höher auf der herrlichen Terrasse."

 

"Na, Sie kennen sich ja aus."

 

"Meine Freundin arbeitet hier." Nun deutete sie auf die Blumen. Sie hat heute...", ihr Handy klingelte. "Sorry", sagte sie lächelnd und ging ran. Der Lift stoppte, Leon schlenderte gemütlich in Richtung Terrasse. Zunächst sah er sich um. Ein paar Leute waren da. Das küssende Paar aus dem anderen Lift saß an einem Tisch und, nein, sie frühstückten nicht, sie, genau, sie küssten. Ob immer noch oder schon wieder, keiner weiß es. Ist auch egal, Liebe fragt nicht und schon gar nicht, Wann, Wie, Wo und Warum. Zumal es ein schöner Anblick ist. Nichts ist herrlicher anzusehen, als zwei Verliebte, die ihre Liebe öffentlich bekunden, sei es nun durch Händchen halten, eng umschlungen zu spazieren oder eben sich zu küssen. Leon beobachtete die beiden ein wenig. Sie müssen sehr glücklich sein. Als seien sie in ihrer eigenen Welt. Wie wohl seine Leni küssen würde?"

 

Geht das jetzt mal weiter hier?"

 

Leon wurde unsanft zur Seite geschoben. Er stand etwas unglücklich im Weg. Ein kleiner, stämmiger Kerl hatte Sehnsucht nach der Pfanne mit dem Rührei. Als sich nun Leon nach einem Teller beugte, passierte es. Knacks! Selbst der Rühreischaufler hörte dies und sah kurz zu dem jungen Mann, der sich nun mit schmerzverzerrtem Gesicht den Nacken hielt. Der Teller glitt Leon aus der Hand un zerschellte am Boden. Alle Gäste schauten zu ihm. Wirklich alle? Naja, bis auf das sich küssende Paar, alle.

 

"Verdammt, tut das weh", zischte Leon.

 

Eine Dame vom Service kümmerte sich um den jungen Mann.

 

"Soll ich Ihnen einen Arzt rufen?"

 

"Nein, Danke. Ich setz mich einfach einen Moment hin."

 

Nach zehn Minuten kam jemand vom Personal und bot dem von Nackenschmerzen geplagten Hotelgast an, ihm die Pritsche im Massageraum zur Verfügung zu stellen. Leon wollte nicht wirklich, aber da der Raum nur ein paar Schritte entfernt in selber Etage lag und seine Schmerzen nicht besser wurden, war er einverstanden.

 

Gleich fühlte er sich besser. Man gab ihm zunächst eine Schmerztablette.

 

"Danke, das ist sehr nett von Ihnen."

 

"Sagen Sie nicht Danke, dann hilft es nicht."

 

Leon schaute die Frau, die vom Alter her zweifelsohne seine Mutter sein könnte, verwundert an.

 

Um ihm die Verwunderung zu nehmen ergänzte sie dann: "Ich bin die Irmi und das war doch nur ein Spruch. Es wird schon helfen. Soll ich jemanden Bescheid geben, dass Sie hier im Massageraum sind, oder sind Sie ganz allein im Hotel?"

 

"Ich bin Leon" stellte er sich vor und weiter dachte er: 'Leni müssten Sie bescheid geben', und grinste trotz Schmerzen in sich hinein.

 

"Ah, die Medizin wirkt, der Herr kann bereits wieder lächeln."

 

Leon blickte an die Zimmerdecke: "Entschuldigen Sie, aber ich hatte soeben eine komische Situation vor Augen. Wissen Sie, ich verrate Ihnen mal ein Geheimnis. Ich bin verliebt. So richtig verknallt."

 

"Sie Glückspilz. Ich wünschte mir würde das auch mal wieder passieren", seufzte die gute Seele wohl meinend.

 

"Wir haben uns noch nie gesehen, sind uns noch nie begegnet, haben noch nie die Stimme des Anderen gehört", Leon lachte laut. "Und jetzt stellen Sie sich mal vor, wenn ich da so geknickt da stehe, meinen Nacken halte und sage: Sorry, ich hab mir beim Banneraufhängen einen steifen Nacken geholt.... Das geht gar nicht. Also, liebe Irmi, Sie müssen mir helfen."

 

"Was für ein Banner? Wo haben Sie das denn aufgehangen?", fragte Irmi und schaute demonstrativ zum Fernsehturm.

 

"Nein, doch nicht dort. Obwohl...."

 

Irmi deutete lächelnd eine Kopfnuss an. "Liebe soll zwar verrückt, aber nicht wahnsinnig machen, junger Mann. Jetzt müssen wir erst mal diese Nackenschmerzen los werden und dann kümmern Sie sich um Ihre Freundin. Ach apropos Freundin. Geben Sie mir mal Ihre ollen Klamotten her!"

 

"Wie bitte?"

 

"Nun gucken Sie sich doch mal an, Sie wollen doch nicht im ernst mit diesen Lumpen vor Ihre Freundin treten, noch dazu beim ersten Date. Also los, her damit, ich wasch die Ihnen wenigstens mal durch. Und keine Sorge, ich gucke Ihnen nichts ab, ich hab zu Hause vier von Ihrer Sorte gepudert", sprachs und zog dem verdutzten Leon das T-Shirt vorsichtig über den Kopf.

 

Leon, der jetzt nur noch in einem weißen Hotel-Bademantel da saß, hielt sich schon wieder den Nacken. "Es will einfach nicht besser werden."

 

"Ich kann Ihnen auch ein Wärmepflaster anbieten, wenn Sie möchten."

 

"Sie haben nicht zufällig einen Physiotherapeuten im Haus?" Die Frage, die Leon eigentlich im Spaß gestellt hatte, wurde prompt beantwortet.

 

"Naja, wir haben da jemanden. Sie hat zwar noch keinen Dienst, aber gut möglich, dass Sie im Hause ist. Ich frag mal nach. Bin gleich wieder zurück und bis dahin: Nicht bewegen!", mahnte die freundlich helfende Dame.

 

Plötzlich stand ein Kellner in der Tür: "Irmi komm ma schnell, ick brauch dir drinne. Ick globe, zwee knutschende hamm sich mit de Piercings verhakt, wa."

Leni

Leni freute sich auf das Geburtstagsfrühstück mit ihrer Freundin. Das Leon vermutlich und wahrhaftig in ihrem Hotel die Nacht verbracht hatte, brachte sie ein wenig durcheinander. Sie könnte jetzt sofort an seine Zimmertür klopfen, um sich zu überzeugen und dem Durcheinander in ihrem Kopf ein Ende zu bereiten. Nein langsam, sie sollte wirklich erst einmal frühstücken. Sie war vor Aufregung ohnehin schon einer Ohnmacht nah und ihre erste Begegnung stellte sie sich zwar irgendwie vertraut vor, aber sie wollte nicht gleich leblos in seine Arme sinken, sondern wenigstens Herr ihrer Sinne sein. Sie musste verrückt sein, lebensmüde, wahnsinnig, sie konnte es einfach nicht genau beschreiben. Sie war verliebt in dieses unbekannte Wesen.

 

Auf der Dachterrasse fand sie Hannah hinter einem riesigen Blumenstrauß wieder.

 

„Wo bleibst du denn, Süße?“ Hannah sprang auf, umarmte Leni und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

 

„ Alles Liebe zum Geburtstag.“

 

Die beiden Freundinnen ließen sich das Frühstück schmecken und beobachteten Irmi wie sie einem verliebten Pärchen behilflich war. Was trieb sie dort nur? Hatten die beiden sich mit ihren Zungenpiercings ineinander verhakt? Irmi war die gute Seele des Hotels und half dem einen oder anderen Gast schon mal aus einer Notsituation.

 

„Leni? Was ist los? Du träumst mit offenen Augen, wie mir scheint.“Hannah hatte sie voll erwischt. Sie dachte an Leon, an das Banner, an seine letzte Mail, an die vielen Abende im Chat, an…..Ach sie konnte gar nicht mehr denken.

 

„Nein, ich bin nur müde. Findest du das ich verrückt bin?“ Hannah sah sie etwas verwirrt an und zog eine Augenbraue hoch.

 

„ Sag mal liegt das an deinem Alter? Ich kann dich beruhigen, andere Frauen werden auch dreißig und nicht gleich in die Psychiatrie eingewiesen.“

 

Noch eh Leni etwas erwidern konnte wurde sie von Irmi regelrecht überfallen.

 

„Ah meine Lieblingsphysiotherapeutin, lass dich drücken. Bist du eigentlich gleich im Dienst? Ich habe einen kleinen Notfall in den Massageraum gebracht. Der arme Mann hat irgendetwas aufgehängt und sich dabei wohl verrenkt. Könntest du nach ihm sehen?“

 

"Ja klar, mache ich gerne.“ Sie stießen noch mit einem Glas Sekt an und dann war das leckere Frühstück schon beendet. Mal sehen was ihr Irmi da bereitgelegt hatte. Die Arbeit würde Leni ein wenig ablenken.

 

Der junge Mann lag auf der Massageliege, auf dem Bauch, nur bedeckt von einem Bademantel.

 

Obwohl sie ihn freundlich ansprach, gab er ihr keine Antwort. Sicher hatte Irmi ihn mit Schmerzmitteln betäubt. Leni schob den Bademantel bis zu seiner Hüfte zurück und riskierte einen Blick auf seinen süßen Hintern. Sie grinste in sich hinein, so ein kleiner Popoklatscher, ob er wohl davon aufwachen würde. Nein, sie ließ ihn besser schlafen. Leni rieb sich die Hände mit warmen Massageöl ein und legte ihre Handflächen auf seinen Nacken. Er schlief ganz ruhig und entspannt und Leni ließ sich auf ihn ein, ihre Finger glitten über seinen Rücken, sie fühlte ihn, löste jede Blockade, mit langsamen Bewegungen, arbeitete sie sich weiter an seiner Wirbelsäule entlang. Sie dachte an Leon, wie sie ihn berühren und streicheln würde. Sie empfand ihn immer als sanft, aber sie wusste irgendwie, dass sie ihn ruhig etwas härter anfassen durfte. Eh sie sich ganz vergaß, knurrte der Magen des Mannes, vermutlich hatte der Arme noch nicht einmal gefrühstückt. Die Verspannung zog sich durch seinen ganzen Körper. Er sollte sich vielleicht öfter mal fallen lassen und die Realität, die ihn scheinbar regelrecht blockierte, vergessen. Leise brummte er und nuschelte irgendwas von „Ich liebe dich, Kleene." Leni musste schmunzeln, wer weiß von wem er da gerade träumte. Sie ließ die Massage durch sanfte Bewegungen ausklingen und deckte den Unbekannten vorsichtig zu, sollte er ruhig noch ein bisschen dösen. Sie wollte Irmi noch bitten ihm sein Frühstück aufs Zimmer zu bringen.

 

Plötzlich hielt es Leni kaum noch aus, sie beschloss nachzusehen, ob dieser Leon wirklich ihr Leon war. Sie stieg in den Lift. Was tat sie hier eigentlich? Einem Mann hinterherlaufen? Einem den sie noch nie gesehen hatte? Mit dem sie noch nie ein Wort gesprochen hatte? Einem Mann der ihr so wichtig geworden war, den sie nicht verlieren wollte, nicht einmal, wenn sie ihn im wahren Leben nicht so mögen würde, wie in ihrer Illusion von ihm. Der Lift ruckelte und das Licht ging aus. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein? War sie gerade mit dem Fahrstuhl stecken geblieben? Sie tastete nach dem Notknopf ….

 

Leon

Pling! Sascha und Karin verließen Hand in Hand den Fahrstuhl des selben Hotels in welchem Leon eingecheckt hatte.

 

"Kommen wir auch nicht zu spät? Ich verpasse nämlich nur ungern mein Frühstück."

 

Karin knuffte ihm in die Seite. "Ach du... . Frühstück gibts bis elf." lachte sie. "Aber vorher will ich noch einen Kuss von dir." Dann sah sie dem Glücklichen tief in die Augen. "Ach Sascha, ich hätte nie gedacht, dass ich mich in dich mal verlieben würde. Ich dachte immer du bist mit deiner PC-Werkstatt verheiratet."

 

"Hm..., und ich dachte..., also du warst so auf Leon fixiert, dass ich mich einfach nicht getraut habe, dich..."

 

"Küss mich endlich, du Dussel!", schmunzelnd spitzte Karin ihre Lippen. Als die sich fast berührten, rief Sascha: "Was ist denn da los?"

 

Karin drehte sich um und blickte nun ebenfalls zu dem anderen Ende des Flures, da dort ein wenig Aufruhr zu herrschen schien."

 

Jemand ist in dem Fahrstuhl stecken geblieben. Los machen Sie schon, wir brauchen ihre Hilfe!" wurde das verliebte Paar gerufen.

 

Die Türen waren bereits aufgehebelt. Nur ein kleiner Spalt gewährte Einblick in die Kabine, aus der eine Frauenstimme um Hilfe rief. Einer der beiden Männer, die die Türen geöffnet hatten, wandte sich an Sascha. "Sie sind schlank, vielleicht können Sie durch den Spalt greifen und die Frau da rausziehen."

 

"Okay, ich versuch's." Der junge Mann legte sich auf den Boden und schob seinen Oberkörper weit durch die Lücke."

 

Geben Sie mir Ihre Hand, ich ziehe Sie hier raus."

 

"Sind Sie sicher?", fragte Leni und zögerte.

 

"Ja, absolut sicher. Ich... aarg..." In dem Moment verlor Sascha den Halt und rutschte kopfüber in den Lift. Seine Helfer hielten nur noch verdutzt seine Hose in den Händen. Leni biss sich auf die Lippen, um nicht laut los zu lachen. Wie ein Häufchen Unglück lag der so ungelenk wirkende Typ vor Ihren Füßen.

 

Leni half Ihrem vermeintlichen Retter auf die Beine. "Sind Sie okay?"

 

"Ja, ja. Ich, ich bin okay." Ein wenig peinlich berührt war Sascha schon, der nun versuchte sein Hemd länger zu machen, als es in Wirklichkeit war. Er zog und zerrte an ihm, als solle es nun bis zu den Knien reichen.

 

"Schöne Farbe", log Leni und blickte auf Saschas Slip, der dieses matte grau hatte. Dann endlich warf man ihm seine Hose hinterher.

 

"Entschuldigung, aber wir konnten Sie nicht mehr halten", rief einer der Helfer durch den Spalt, der sich dann Karin zuwandte: "Sie, junge Frau, da hinten links, letzte Tür, da muss ein Servicetechniker sein, könnten Sie den mal holen?"

 

Karin lief sofort los. 'Hinten links, letzte Tür', wiederholte sie in Gedanken. Dann stand Saschas neue Freundin in einem Vorraum von dem nun drei weitere Türen abgingen. Hinter der ersten Tür schien das Bügelzimmer zu ein. Keine Menschenseele zu sehen. Die zweite Tür war verschlossen. Karin klinkte mehrmals. Dann öffnete sie die dritte Tür, blickte hinein und rief schnell: "Oh, Entschuldigung!"

 

Da lag doch tatsächlich ein junger Mann halbnackt auf einer Massagepritsche. Fast hatte sie die Tür wieder zugezogen, da blickte sie noch einmal hin. Und noch genauer. Dann lief sie auf den schlafenden Mann zu: "Leon?"

 

Er hörte sie nicht. Karin legte ihre Hand auf Leons Schulter. "Leon, hörst du mich?"

 

"Was machen Sie denn hier?" Die das mit ruhiger, aber autoritärer Stimme fragte war die liebe Irmi.

 

Karin löste die Situation auf, worauf hin Irmi kurz telefonierte und sich schon bald jemand um den stecken gebliebenen Fahrstuhl kümmern sollte.

 

Irmi musterte Karin. "Sie müssen der Grund sein, warum sich der junge Mann hier den Hals verrenkt hat.""Ich...? Hals verrenkt...? Wieso, ähm..."

 

"Schauen Sie mich an!" forderte Irmi, die nun tief in Karins Augen blickte. "Ah, sie lieben ihn."

 

"Ich? Nein, ich bin vergeben, in festen Händen.""Aber Sie mögen ihn, stimmts?""Ja, schon", gestand Karin.

 

"Er ist ein guter Freund. Ein sehr guter Freund."

 

"Dann lasse ich Sie mal alleine, Ihr guter Freund scheint wach zu werden."

 

Karin bedankte sich, dann verließ Irmi das Zimmer.

 

"Karin!? Was machst du denn hier?", wunderte sich Leon.

 

"Es ist nicht so, wie du vielleicht denkst, Leon."

 

Dann erzählte sie alles, was inzwischen passiert ist und dass es ihr leid tut, was sie für Bockmist gebaut hatte. Und, freudig erzählte sie von ihrer großen Liebe: Sascha. Bei diesem Namen zuckte sie zusammen. "Mein Gott, Sascha. Er steckt immer noch im Lift fest.", sprachs und verschwand aus dem Raum. Leon der irgendwie noch gar nicht so recht begriffen hatte, zog sich langsam wieder an. 

 

"Juhu, wir fahren wieder", freute sich Leni.

 

"Ja, nach unten", moserte Sascha.

 

"Aber immerhin kommen wir nun raus hier."

 

Das 'E' für Erdgeschoss leuchtete auf, die Türen öffneten sich und Leni verließ eilig den Lift. Nach ein paar Metern drehte sie sich nochmal um: "Willkommen in Berlin, Herr... ."

 

"Oh, Entschuldigung. Ich hab mich ja nicht mal vorgestellt: Sascha. Ich bin der Sascha."

 

"Leni", rief die junge Frau und verschwand lächelnd im Foyer.

 

 

'Leni' wiederholte Sascha, ohne einen Zusammenhang oder sonst irgend einen Bezug zu Leon herzustellen. Er hatte sowieso keine Gelegenheit darüber nachzudenken, denn schon wurde er lautstark beim Namen gerufen.

 

"Sascha! Hier drüben!" Karin fuchtelte mit ihren Armen in der Luft und winkte ihren Freund in Richtung Hotelbar. "Schau mal, wer hier ist."

 

Sascha erblickte Leon, seine Miene erhellte sich, doch sein bester Freund gab sich kühl.Karin stand nun zwischen den beiden.

 

Sascha streckte Leon zur Begrüßung die Hand entgegen. Leon begann sich das Lachen zu verkneifen. Dann umarmte er herzlich seinen Freund. "Mensch Sascha, ich freue mich für Dich, für Euch. Karin hat mir alles erzählt."

 

"Puh, Du kannst aber auch eine harte Nuss sein, mein Alter.", lachte Sascha.

 

Karin meldete sich zu Wort: "Kommt, das müssen wir feiern!"

 

"Was denn jetzt am Morgen?", warf Sascha ein.

 

Leon gab der Bedienung ein Handzeichen: "Ja, jetzt am Morgen. Denn eine Freundschaft kann und sollte man immer feiern. Zu jeder Tageszeit."

 

Die Zeit verging. Es wurde viel gelacht, erzählt und, da ja alle noch nichts im Bauch hatten, ein ordentliches Sektfrühstück im Hotel-Restaurant eingenommen. Noch bevor das Thema auf den eigentlichen Grund des Berlinbesuches aufkam, fragte Leon nach: "Sag mal Sascha, Karin sagte, du warst mit einer Frau im Lift eingeschlossen, und dann noch ohne Hose. Ist das wahr?" Leon musste lachen.

 

"Naja, die Hose hatte ich ja schnell wieder an. Ja, wir haben ganz nett geplaudert."

 

Karin blickte süffisant. "Ach ja?" Schnell gab sie Sascha schmunzelnd ein Küsschen auf die Wange.

 

"War es eine Deutsche?", wollte Leon wissen."

 

Ich denke mal sogar eine Einheimische, sie hat jedenfalls ordentlich berlinert als sie geflucht hat. Und sie hat mir sogar ihren Namen verraten... .", Sascha wurde nachdenklich. "Ach herrje."

 

"Was denn?", hakte Leon nach.

 

"Leni. Ihr Name ist Leni."

 

"Was? Und das sagst du mir erst jetzt? Vielleicht war sie das ja." Leon sprang auf, sein Stuhl flog nach hinten weg, so dass die anderen Gäste erschrocken aufblickten. Karin versuchte ihn zu beruhigen und sagte, es könne sich doch auch um eine ganz andere Frau handeln. Doch es half alles nichts, Leon stürmte vor das Hotel auf die Straße, legte seine Hände wie einen Schalltrichter um den Mund und rief : "Leeeniiiie!"

 

Leni

Dies kurze Episode mit Sascha hatte sie verwirrt. Einem wildfremden Mann, ohne Hose in einem Fahrstuhl zu begegnen, war für Leni neu. Sie durchquerte das Foyer, ließ sich von ihrem Kollegen die Karte für Leons Zimmer geben und nahm die Treppe nach oben.

 

Das Schicksal schien sie von Leon fernhalten zu wollen und sie wusste, sie würde nichts tun können, alles kommt so, wie es kommen soll, außer man wird eine gute Autorin und schreibt all das, was man in der Realität nie leben kann,in einen Roman.

 

„Zimmerservice“ Sie klopfte an, aber nichts rührte sich. Vorsichtig schob sie die Karte in den dafür vorgesehenen Schlitz und drückte die Zimmertür auf. Das Zimmermädchen schien noch nicht da gewesen zu sein und so fand sie alles vor, wie Leon es zurückgelassen hatte.

 

Seine Bettdecke war zerwühlt und eines der Kissen lag auf dem Boden. Sie hob es auf und schmiegte ihr Gesicht an den weißen Stoff. Es roch männlich, es roch nach Leon und es war ihr nicht unangenehm , sie ließ sich auf sein Bett sinken. In einem ihrer Liebesromane, die sie in ihrem Forum schrieb, wäre sie mit ihm hier gewesen, hätte sich an ihn geschmiegt, ihn an seinen Lieblingsstellen geküsst, sich fesseln lassen von seinen Worten, seinen Gedanken, seinen Handschellen. Hätte sich entblößt, durch seine Fragen, seine Blicke, seine Hände, wenn sie es fertig gebracht hätten die raffinierten Verschlüsse ihrer Kleidung zu öffnen.

 

Auf der anderen Seite des Bettes lag ein Schreibblock. Leni nahm ihn in die Hand und betrachtete Leons Handschrift, wie er die einzelnen Buchstaben aufs Papier gekritzelt hatte, manche Passagen gestrichen hatte und andere eingefügt, sie musste schmunzeln und las eines seiner Gedichte.....“Dir weh tun......würd ich niemals wagen“....Nein, das würde sie auch niemals tun. Leon war für sie immer etwas Besonderes. Doch sie war sich immer bewusst, dass er ihr weh tun könnte und manchmal war sie sich nicht sicher, ob geschriebene Worte sie nicht mehr verletzen würden als gesprochene, ganz einfach deshalb,weil sie sie immer wieder lesen könnte, sie könnten nicht in ihrer Erinnerung verblassen. ….“Ich lieb dich nicht....dir niemals sagen“....würde man es niemals sagen, weil es so verrückt war sich in geschriebene Worte zu verlieben, oder würde man es niemals sagen, weil man den anderen Menschen nicht verletzen wollte, weil es wahre Liebe nur zwischen Menschen geben konnte die sich wirklich kannten. Sich wirklich berühren und in den Arm nehmen konnten.

 

Leni überlegte, ob es noch eine andere Liebe gab, zu jedem Vers hätte sie am Liebsten eine Bemerkung hinterlassen, was der Inhalt für sie bedeutete und wie sie ihn empfand, aber sie wusste diese Zeilen waren sicher für seine Freundin, die wegen der er ihr nicht mehr schreiben wollte. Doch er schien das Doppelzimmer ganz allein zu nutzen.

 

Sie stand auf, ging zum Fenster und ihr Blick fiel auf den Alexanderplatz. Hier war sie zu Hause. In dieser Stadt, die sie liebte und die ihr eine gewisse Anonymität bot.

 

Sie wand ihren Blick von dem Treiben da draußen ab und sah sich erneut im Zimmer um. Ein beschädigter Laptop lag auf dem Tisch. Leni ließ ihre Finger darüber gleiten und plötzlich war sie sich sicher. Sie hatte Leon schon getroffen, am Bahnhof. Der verwuschelte Kerl mit dieser Kiste.

 

„Leeeennnnnnnnnnnnniiii“ Hatte da grade jemand nach ihr gerufen? Sie verließ das Zimmer. Auf dem Flur begegnete sie Irmi . Erst jetzt bemerkte sie, dass sie immer noch sein Kissen in den Händen hielt.

 

„Leni, komm doch bitte. Die Gäste warten. Auf der Massageliege liegt schon die nächste Kundin und ich kann die Rosenblätter für das Romantikbad nicht finden.“

 

„Aber ich muss...“

 

„Das Kissen? Um das kann sich das Zimmermädchen kümmern:“ Irmi wollte es ihr aus den Händen nehmen.

 

„Nein, ich brauche es noch.“ Irmi hatte den Eindruck es nur noch mit verwirrten, verliebten, oder ineinander verhakten zu tun zu haben. Nach der letzten Kundin würde sie Leni sofort nach Hause schicken. Sie sollte ihren Geburtstag feiern, wenn sie meinte, das sie das Kissen brauchte, dann würde sie auch dafür sorgen, dass sie es behalten konnte.

 

Leni lief hinaus auf die Straße, aber sie fand niemanden. Sie hatte sich getäuscht, keiner schien sie gerufen zu haben.

 

Leni überlegte, ob sie Leon eine Nachricht mit einem Treffpunkt hinterlassen sollte. Ob sie ihn überhaupt treffen sollte. Aber er war hier. Wann würde es wieder eine Gelegenheit geben ihn zu sehen? Sollte sie ihm die Entscheidung überlassen? Ja vielleicht sollte sie das.

 

Sie hinterlegte für Leon eine Nachricht an der Rezeption.

 

 

Lieber Leon,

 

ich habe mich sehr über deine Geburtstagsgrüße gefreut. Es hat mich berührt, du bist verrückt. Wie hast du es geschafft dieses Plakat zu befestigen? Ich habe herausgefunden, dass du noch einen Tag in diesem Hotel bist. Wenn du magst, komme einfach zur Weltzeituhr, heute Abend. Ich werde dich erkennen. Es ist deine Entscheidung. Falls nicht, ich weiß nicht, dann bleibt alles wie es ist, vermute ich. Oder meinst du wir sollten wirklich damit aufhören uns zu schreiben?

 

Liebe Grüße

Deine Leni

 

Leon

Leon warf die Zimmertür hinter sich zu und sprang mit einem tollkühnen Bauchklatscher in sein Bett. Erneut faltete er das Brieflein auseinander. Da waren sie wieder, die ersten Zeilen, die ersten in echt geschriebenen Worte von Leni. Schon bald müsste Leon den Brief auswendig kennen, so oft wie er ihn schon gelesen hatte. Und genauso oft hatte er an ihm gerochen. Das Briefpapier war leicht parfümiert.

 

"Wie hast du mich nur gefunden?', fragte sich der Mann, der sich nun auf den Rücken drehte. Den Brief ließ er dabei keine Sekunde aus den Augen.

 

Ein Klopfen an die Tür ließ den offensichtlich verknallten Typen hochschrecken.

 

"Ja."

 

"Zimmerservice", scherzte Sascha.

 

"Komm rein, du Blödmann." Leon setzte sich lachend auf.

 

"Na, da strahlt aber einer."

 

"Klar, schließlich hab ich heut noch ein Date. Heute Abend an der Weltzeituhr.

 

"Sascha lief ans Fenster und sah zu jener Uhr hinunter. "Ich freue mich für dich. Wirklich Leon. Aber wirst du auch hingehen?"

 

"Wieso denn nicht, na klar doch." Leon trat ebenfalls an das Fenster, stand jetzt direkt neben Sascha. "Würdest du denn nicht hingehen?"

 

"Weiß nicht."

 

"Weiß nicht?", wiederholte Leon seinen Freund.

 

"Ich weiß nur, dass mein Freund immer auf diesen Zauber, auf dieses geheimnisvolle Knistern, diesen Reiz des Unbekannten geschworen hat. Nicht dass du hinterher enttäuscht bist." Sascha blickte auf seine Armbanduhr, gab Leon einen Klaps auf die Schulter. "Ich muss los. Karin wartet. Wir wollen noch ins Wachsfigurenkabinett und heute Nacht müssen wir zurück. Sie konnte ihren Dienst nicht tauschen und muss zur Spätschicht. Hatte ich dir das nicht erzählt?"

 

Leon verharrte, schien seinen Freund, der langsam zur Tür lief, nicht zu hören.

 

"Was auch immer du tust. Viel Glück dabei."

 

Die Tür fiel ins Schloss und Leon rutschte Gedanken versunken auf den Fenstersims. Hatte Sascha überhaupt eine Ahnung, was er mit seinen Worten in Leon ausgelöst hatte? Leons Blicke wanderten von der Weltzeituhr zum Fernsehturm, rüber bis zur Zimmertür und zurück. Zum ersten mal merkte Leon, dass sich sein Freund verändert hatte. Er war in gewisser Weise stärker geworden. Von innen heraus stärker. Seit er mit Karin zusammen ist, hat er sich zum Positiven verändert. Das kann nur Liebe schaffen. Liebe schafft alles. Nochmals streiften seine Blicke Lenis Brief, dann die Uhr auf dem Alexanderplatz. "Dort werde ich dich treffen, Leni. Werden wir uns zum ersten mal begegnen." Leon stieß einen Seufzer aus, merkte er doch, dass ihm ein wenig die Knie schlotterten.

 

Mit zunehmender Nervosität tigerte Leon durchs Zimmer. Er lief zum Fernseher, stellte ihn an, dann wieder aus, öffnete das Fenster, schloss es wieder, dann stellte er es auf Kipp.

 

"Dusche! Ich brauche erst mal eine Dusche.

 

"Erneut schaltete das Nervenbündel den Fernseher an um dann aber einen Radiosender einzustellen.

 

Atemlos durch die Nacht... tönte es aus der Box. Leon summte mit und nahm ein langes Duschbad.

 

Leon hielt es auf dem Zimmer nicht mehr aus. Er spazierte zunächst durch das Hotel, dann auf die Straße. Seine Finger zählten im Vorbeigehen die Stäbe eines Geländers. "Geh ich hin, geh ich nicht hin, geh ich hin, geh ich nicht..., was mach ich denn da?"

 

Über sich selbst verwundert und erschrocken zugleich schüttelte Leon den Kopf und lief in Richtung Weltzeituhr.

 

'Ist doch noch viel zu früh', dachte der Grübler. Erst beim Entdecken einer Currywurstbude schaltete seine Mimik zaghaft in den Normalmodus. Fünf Minuten später landete der Happen im Mülleimer. Nur ein kleines Stückchen verirrte sich in Leons Magen. Irgendwie war er wie zugeschnürt. Dabei sollte er sich doch freuen. Schade, dass Sascha nicht hier ist.Leon setzte sich auf den Rand eines Springbrunnens und beobachtete die Leute. Immer wieder sah er Paare, die sich offensichtlich verabredet hatten. Bei manchen sah es aus, wie ein erstes Date, andere schienen sich bereits länger zu kennen.

 

Leon begann vor sich her zu sprechen:

 

 

"Was soll ich machen?

Immer diese eine Frage

Was soll ich tun

an diesem Einen

der 365 Tage?

 

Der Tag, der so wichtig ist für mich

Der Tag, da sich alles dreht, nur um dich

Der Tag, der mein Herz zum rasen bringt

Der Tag, an dem mir nichts mehr so gelingt

 

Der Tag, der mich ändert mit jeder Sekunde

Der Tag, der mich küsst mit deinem Munde?

Der Tag, der kreisen lässt die Gedanken

Der Tag, der Gefühle lässt schwanken

 

Der Tag, der mich beglückt und betrübt zugleich

Der Tag, an dem meine Knie werden weich

Der Tag, an dem ich alles bin

Der Tag, der mich nimmt, wie ich bin

 

Der Tag, der mich aufwühlt und befreit

Der Tag, der mich belacht und beweint

Der Tag, der schrumpft mit jeder Stunde

Der Tag, dann hört aus meinem Munde:

 

Denk an Dich. Immerzu.

365 Tage Du".

 

 

 

"Nicht schlecht".

 

Leon kam die Stimme bekannt vor und drehte sich zur Seite.

 

"Ach, Frau Irmi..."

 

"Was war das gerade, was ich gehört habe? Ein Gedicht? Von Ihnen?"

 

"Äh, nein, ja. Also, nein, kein Gedicht, hab die Worte nicht mal aufgeschrieben und ja, weil von mir. Manchmal rede ich so vor mich hin und..."

 

Irmi fiel ihm ins Wort. "Lassen Sie mich raten. Sie haben ein Date und wissen nicht, was Sie tun sollen."

 

"Aber woher..."

 

"...weil Männer nie wissen, was sie tun sollen und wenn sie glauben es zu wissen, starten sie entweder durch oder ziehen die Notbremse." Irmi sah in Leons Augen. "Ich sehe Verliebtheit. Traurige Verliebtheit, aber warum? Sie brauchen Antworten mein Lieber".

 

Irmi sah auf ihre Uhr und deutete auf eine Bushaltestelle. "Ich muss dann mal weiter." Nach zwei, drei Schritten drehte sie sich noch einmal um und rief: "Übrigens, eine Notbremse bewahrt meist vor schlimmerem." Dann verschwand Irmi in ihren wohlverdienten Feierabend.

 

Leon blickte ihr nach. 'Wie meint sie das nun wieder?'

 

Nachdenklich lehnte er sich zurück und ließ seinen Blick an der Spitze des Fernsehturmes ruhen.

 

Sascha und Karin, dieses noch immer frisch verliebte Paar, turtelte lachend durch die Straßen. Schlenderte gemütlich ins Hotel. Leon war nicht auf seinem Zimmer, sehr zum Bedauern seines Freundes. Der vermutete, dass sich Leon inzwischen mit Leni getroffen hatte und dabei völlig vergaß, dass Sascha und Karin heute Abend noch abreisen.

 

An der Rezeption bat Sascha um Zettel und Stift, da er eine Nachricht hinterlassen wollte. So von Freund zu Freund.

 

"Würden Sie die bitte für Zimmer Siebenhundertzweiundzwanzig hinterlegen?"

 

"Siebenhundertzweiundzwanzig, ja gerne. Ach, Moment." Der Portier vergewisserte sich an seinem PC.

 

"Tut mir leid. Der Herr hat bereits ausgescheckt."

 

"Waas?" Sascha und Karin fielen aus allen Wolken.

 

"Wieso denn das? Er hat doch..., er ist doch..., das verstehe ich nicht."

 

Karin schüttelte den Kopf. "Aber wo ist er denn hin?"

 

"Komm mit." Sascha blickte auf die Wanduhr, die im Foyer neunzehn Uhr anzeigte. "Vielleicht haben wir ja Glück."

 

Nur Minuten später sind die beiden bei der Weltzeituhr angekommen, da zupfte Karin ihren Schatz am Ärmel. "Da schau mal, da drüben. Das ist sie doch, oder? Aber wo ist Leon? Ich sehe ihn nicht."

 

Sascha kniff ein wenig die Augen zusammen. "Ich weiß nicht. Ja, das könnte Leni sein."

 

"Du hast mit ihr halbnackt im Lift gestanden, nicht ich." Die junge Frau konnte und wollte sich diesen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen und lächelte verschmitzt.

 

Sascha kramte in seiner Gesäßtasche nach der Geldbörse. "Pass auf. Du gehst zu ihr rüber und ich hol für jeden eine Currywurst."

 

"Ich kann ja warten und wir gehen zusammen."

 

"Ich glaube, du hast noch was gut zu machen, mein Schatz."

 

Karin verflog ihr Lächeln. Ja sicher, diese Mail. Diese verflixte Mail, die sie geschrieben hatte. Sie fasste sich ein Herz und lief direkt auf Leni zu.Sascha bestellte, sah dann hinüber zu den Frauen. Sie redeten, nein, Karin redete und gestikulierte. Dann standen sie sich nur noch schweigend gegenüber, bis sich Leni abwandte und aufbrechen wollte. Karin sagte noch etwas, dann umarmten sie sich. Sascha atmete durch, zahlte und beeilte sich mit den drei Würsten.

 

"Bitte die Damen."

 

"Oh", Leni war angenehm überrascht. "Das ist ja ein Service. Dankeschön."

 

Eine Unterhaltung wollte sich nicht so recht entwickeln. Jeder missbrauchte den Imbiss als Alibi, indem er dachte: Sobald der Mund leer ist, schnell nachschieben, dann muss ich nichts erzählen, was vielleicht unbedacht wäre.

 

Sascha blickte immer wieder zum Fernsehturm, dann erhellte sich seine Miene. "Ich glaub ich weiß, wo Leon steckt."

 

"Ward ihr schon mal da oben?", wollte Leni wissen.

 

Als beide verneinten, war das Ziel klar. Nur fünfzig Minuten später blickten sie über das abendliche Berlin. Alle suchten nach ihm. Nach Saschas Freund. Nach Karins Kumpel. Nach Lenis Internetliebe. Leni ließ ihren Blick über die Stadt gleiten. Sie war traurig, sie verstand nicht warum Leon sie nicht getroffen hatte. Doch sie wusste, sie würde sich wieder mit ihm schreiben. Sie würde ihn in ihrem Herzen tragen und sie war glücklich mit ihm. Diese kleine Glück wollte sie nicht zerstören, sie liebte ihn.

 

Pünktlich rollte der Zug aus dem Bahnhof, schob sich langsam Fahrt aufnehmend durch die nächtliche Hauptstadt. Karin schmiegte sich an Sascha, der seine Beine auf den gegenüberliegenden Sitzplatz legte. Zum Glück waren nur wenige Reisende unterwegs.

 

"Was meinst du, ist Leon auch abgereist? Warum wollte er sich nicht mit Leni treffen? Ich meine, deswegen ist er doch, sind wir doch alle hier." Sascha erhielt keine Antwort, war doch Karin sofort eingeschlafen. Es war ja auch ein aufregender und anstrengender Tag, den die beiden hinter sich hatten. Saschas Augenlider wurden schwer und so schunkelte ihn die Stahlwiege in den Schlaf.

 

Leon blickte auf den Fernsehturm. Auf die Lichter. Die Lichter der Stadt. Er fragte sich bei diesem Anblick, was wohl mehr in dieser Stadt leuchtete: Die bunten Lichter oder die verliebten Herzen der Leute hier.

 

"Die Fahrkarten bitte!"

 

Leon schloss das Zugfenster, ließ sein Ticket entwerten und blickte in sein Spiegelbild in der Scheibe. Er betrachtete sich lange, dann sagte er nur. "Idiot. Herr Leon, Sie sind ein Idiot. Sind sie ein Idiot? Ja, und ein Feigling dazu.

 

"Einen tiefen Seufzer ausstoßend zog er die Tür des Abteiles auf und spazierte unruhig über die Gänge. Dabei blickte er mal mehr, mal weniger interessiert in die anderen Abteile. Dann stoppte er, drehte sich nochmal um. 'Sind das nicht Karin und Sascha? Ja, sie sind es.', freute sich Leon, fasste nach dem Türgriff, zögerte aber. Schließlich öffnete er nicht. Eine Weile betrachtete er die beiden, wie sie da eng aneinander gekuschelt saßen. Selbst im Schlaf wirkten sie glücklich und echt verknallt.

 

Leon löste seinen Blick, lief immer schneller werdend weiter. Wie im Zeitraffer schossen die letzten Begebenheiten durch seinen Kopf. Die Aktion mit dem Plakat, die Frau vom Sicherheitsdienst, Irmi, ja an Irmis Worte, als er sie das letzte mal sah, musste er jetzt denken.

 

"Leni, Leni!", rief er dabei. Seine Augen suchten oberhalb der Fenster und Gepäckablagen. Der Mann wurde immer unruhiger, suchte weiter, dann erblickte er endlich den kleinen Kasten mit dem roten Bügel. Ohne zu zögern löste er sie aus: Die Notbremse.

 

Kaum war der Zug zum Stehen gekommen, rannte Leon hinaus. Hinaus in die Nacht, in die Richtung aus der er eben gekommen war."Leni, ich komme! Leni, ich bin so ein Idiot! Leni..., ich, ich....Leni, ich liebe Dich!"

 

 

 

Impressum

Texte: Leonie Herzberger
Bildmaterialien: Pixabay - kostenlose Bilder
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2014

Alle Rechte vorbehalten

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