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Kapitel 1

Das Rattern der altersschwachen Bahn ist das einzige Geräusch, das die Stille des frühen Herbstmorgens durchbricht. Wie eine defekte Klimaanlage humpelt sie durch die verschlungenen dunklen Schächte, die so eng und marode sind, dass jede Aufbesserungsarbeit den Betrieb für mehrere Monate lahmlegen würde. Es ist erst kurz nach sechs, als ich auf die Uhr sehe. Das Abteil, in dem ich sitze, ist, abgesehen von vereinzelten übermüdeten Touristen und abgekämpften Feierwütigen, menschenleer. Es riecht nach nassem Hund, Frittiertem und Schweiß. Cat hat mir neulich erst erzählt, dass, wenn man einen ganzen Tag lang durch die asbestverseuchten Tunnel fahre, sei das ebenso schädlich, wie eine Schachtel Zigaretten zu rauchen.

Träge wische ich mir über die müden Augen und versuche noch ein paar Minuten Schlaf zu bekommen. Doch es will mir nicht so recht gelingen. Immer wieder rutscht meine Stirn gegen die vibrierende Fensterscheibe. So oft, bis ich nach wenigen Minuten mein Vorhaben innerlich fluchend aufgebe und meinen unangenehm pochenden Kopf von der milchigen Fensterscheibe nehme. Eine knappe Minute später fahren wir mit einem lauten Quietschen der Bremsen in den nächsten U-Bahnhof ein und ein Blick auf das Stationsschild verrät mir, dass noch mehr als sechs Stationen vor mir liegen.

Wäre ich nicht so unglaublich knapp bei Kasse, würde ich längst im Besitz eines dieser zentralen und schmucken Studioappartments sein anstatt mit einem schäbigen Zimmer in einem winzigen Londoner Vorort vorlieb nehmen zu müssen. Doch als Schulabgängerin lässt sich leider kein Vermögen verdienen, was dazu führt, dass am Ende meines Geldes noch immer so viel Monat übrig bleibt, sodass selbst das Finanzieren dieser Kemenate eine echte Herausforderung darstellt. Mit jedem Stopp drängen sich mehr Passagiere in die muffige U-Bahn. Doch statt der hippen Großstadtbewohner, die tagsüber Fifty Shades of Grey lesen und neonfarbene Strickmützen tragen, lassen sich zu dieser Geisterstunde nur gut kostümierte und bereits gestresste Geschäftsleute auf die rauen, abgewetzten Sitze nieder.

Eine knappe halbe Stunde später stehen die zugestiegenen Passagiere wie die Sardinen in der Dose und ich atme erleichtert auf, als ich den Piccadilly Circus erreiche und dem wilden Gedränge entfliehen kann. Schnellen Schrittes quetsche ich mich durch die dichten Menschenmassen Richtung Ausgang und werde gleich darauf mit einem heftigen Regenschauer begrüßt, der nur allzu typisch für die britische Hauptstadt ist.

„Mistwetter“, fluche ich leise und krame in meiner Handtasche nach dem Klappschirm, der seit Betreten dieser grünen Insel mein liebster Begleiter geworden ist. Doch ich greife ins Leere, bis mir siedend heiß einfällt, dass ich ihn vor lauter Panik verschlafen zu haben daheim vergessen habe.

„Verfluchter Mist!“, brumme ich verärgert, ziehe mir den Kragen meines dunkelblauen Mantels tiefer ins Gesicht und schirme mich mit meiner ledernden Handtasche gegen die hinabregnenden Binnfäden ab, als ich den zehnminütigen Fußweg zum Molise rennend zurücklege.

Das Molise liegt in einer kleinen Seitenstraße im Londoner West End, nicht weit von Soho, dem wohl aufregendsten Viertel Londons wie Cat meint. Leider ist das aber auch schon alles, was am Molise Aufsehen erregt. Die verwitterte Backsteinfassade und das flackernde Reklameschild des einst erstklassigen Hotels aus den 60er Jahren, welches sich bereits in dritter italienischer Generation befindet, lassen darauf schließen, dass dessen Blütezeit bereits lange vorüber ist. Doch die niedrigen Zimmerpreise scheinen für sich zu sprechen, denn über eine miserable Hotelauslastung kann man im Molise nicht gerade klagen.

Als ich das braungeflieste Personalgebäude des Hotels betrete, das aussieht als wäre es das letzte Mal in den Achtzigern grundsaniert worden, bin ich bis auf die Socken durchnässt und schnaube wie eine Dampfmaschine ob meines Sprints durch den heftigen Wolkenbruch. Eilig ziehe ich meine Chipkarte durch die digitale Stechuhr und haste den langen grauen Gang hinunter, als Giorgia, die Hausherrin, plötzlich von mir unbeachtet um die Ecke kommt und mich beinahe in meiner Eile von den Füßen reißt. Strauchelnd suche ich an der gefliesten Wand Halt, während Giorgia mich mit einem strengen Blick durch ihre tiefsitzende Hornbrille bedenkt, der wohl schon so manch gestandenen Mann in die Knie gezwungen hat.

„Signorina, wir haben wohl keine Augen im Kopf, wie?“, kommentiert sie unseren beinahe Frontalzusammenstoß, begutachtet mein pudelnasses Auftreten mit abfälliger Miene und drückt mir im gleichen Moment kommentarlos eines der frisch gewaschenen Handtücher, die sie gekonnt auf ihren kurzen Armen balanciert, in die Hand.

„Machen Sie, dass Sie fertig werden und auf Ihre Zimmer verschwinden. Ihre Schicht beginnt in fünf Minuten!“, brummt sie und hechtet so schnell es ihre kurzen Beine zulassen an mir vorbei.

Ich schaue ihr einige Sekunden lang ausdruckslos hinterher. Giorgia ist eine kleine, runde, alte Frau mit einem strengen graumelierten Dutt und einer fisteligen Stimme, die ihre dicken Füße gerne den ganzen Tag in Stöckelschuhen versenkt hält auf denen sie nicht einen Zentimeter waagerecht gehen kann.

Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass Giorgia kein sehr beliebter Charakter unter uns Zimmermädchen ist. Ihre exaltierte Art mit ihren Händen vor unseren Gesichtern herumzufuchteln, als würde sie versuchen, uns wie ein Orchester zu dirigieren, findet nur bei Signor Ricci, dem alteingesessenen Inhaber dieses in die Jahre gekommenen Hotels, Anklang. Und das auch nur, weil er Angst hat, dass eine Auseinandersetzung mit ihr in einem schäbigen Rosenkrieg enden könnte. Ich fahre mir mit dem flauschigen Handtuch einmal quer über mein feuchtes Gesicht, während ich auf die Damenumkleide zuhalte und wenige Augenblicke später Cats wilden Rotschopf und wohlproportionierten Körper auf mich zuschnellen sehe.

„Elle! Da bist du ja endlich“, atmet sie erleichtert auf und reißt mich in eine feste Umarmung. „Ich dachte schon, du würdest mich dem miesepetrigen Schrapnell heute allein überlassen“, grinst sie und entlockt mir ein kleines Lächeln.

Cats loses Mundwerk und entwaffnende Ehrlichkeit haben schon das ein oder andere Mal dafür gesorgt, dass sie und Giorgia aneinander gerasselt sind. Mich wundert es ehrlich gesagt, dass Giorgia sie nicht längst vor die Tür gesetzt hat, denn mit schnippischen Mäulern kann sie wahrlich wenig anfangen.

„Du verwechselst mich mit dir“, antworte ich grinsend und nestle an dem Zahlenschloss meines Schließfaches, um meine Klamotten zu verstauen.

Cat und ich kennen uns seit knapp drei Jahren. Als ich damals Hals über Kopf Arklow, eine noch viel winzigere und unglaublich öde Stadt an der Ostküste Irlands, verlassen habe, war sie es, die mich verlorenes Landei mit einem breiten Lächeln am Flughafen in Heathrow aufgelesen hat und mir half, mich durch den wirren Transportjungel Londons zurechtzufinden, obwohl wir uns bis dato völlig fremd waren. Da Cat unglaublich anhänglich ist, wenn man es auf ihrer Sympathieskala besonders weit nach oben schafft, kann ich heute sagen, dass sie seit diesem Tag einer meiner liebsten Menschen ist und Kopf und Kragen für mich riskieren würde, wenn es hart auf hart käme.

„Ich habe schon lange nicht mehr blau gemacht“, empört knufft mich Cat in die Seite. „Oder willst du etwa etwas anderes behaupten?“

Doch statt einer Antwort entkommt meinen Lippen nur ein leises Lachen, das mich den Kopf über ihre unmögliche Art schütteln lässt. Ihre Retourkutsche lässt wie üblich jedoch nicht lange auf sich warten.

„Du siehst übrigens ziemlich scheiße aus, von deinem triefenden Aufzug mal ganz abgesehen“, stichelt sie.

„Ich habe schlecht geschlafen“, gebe ich ihr zur Antwort und pelle mich aus meinen triefnassen Klamotten und fördere den schwarzen Kittel samt weißer Stickschürze, der ein Zugeständnis an die Bedürfnisse jeder modernen Reinigungskraft ist, aus dem Schließfach zu Tage.

„Dass deine Augenringe nicht irgendwo zwischen deinen Zehen hängen, ist aber auch alles.“

Ein lahmes „Mhm“ ist alles, was ich darauf antworte und scheinbar ausreichend, um den Schalk aus Cats Gesicht zu nehmen.

„Hast du etwa noch immer diese fürchterlichen Albträume?“, will sie besorgt wissen und hebt skeptisch eine ihrer perfekt gezupften dunklen Augenbrauen.

Mein Schweigen scheint ihr Antwort genug zu sein.

„Elle, du solltest dringend deine Medikamente aufstocken!“

„Ich nehme schon seit einem halben Jahr keine mehr“, nehme ich ihr die Luft aus den Segeln und steige währenddessen in das schwarze Ungetüm.

Was? Wieso denn nicht?“, alarmiert schaut sie mich an.

„Weil das völlig absurd ist. Mir geht es gut“, erkläre ich sachlich. „Ich verspüre nicht die Absicht im nächstbesten Moment von der Klippe zu springen oder mich vor einen Zug zu stürzen.“

Doch Cat schüttelt nur den Kopf und verschränkt skeptisch die Arme vor der Brust.

„Glaubst du wirklich, dass sie dieses Zeug nur Leuten mit perfiden Mordgedanken verschreiben? Von wegen!“, Cat zielt kurz mit dem Finger tadelnd auf mich und vergräbt ihn dann wieder in ihrer Armbeuge. „Diese Dinger bringen wichtige chemische Prozesse wieder ins Gleichgewicht. Prozesse, die für dein Seelenheil von ungemeiner Bedeutung sind.“

Ich schmunzle.

„Seit wann bist du denn unter die Doktoren gegangen und weißt, welches der hundert Mittel man bei den Tausend verschiedenen Diagnosen einsetzt?“

Ich hebe meine Augenbraue. So weit, um ihr zu demonstrieren, dass ich genau weiß, dass sie keine Schimmer hat, wovon sie da überhaupt spricht. Cat erwidert darauf nichts und rümpft nur stumm die Nase.

„Irgendwann werde ich über alles hinwegkommen. Ganz allein“, erkläre ich. „Ich brauche keine Tabletten, die das für mich übernehmen.“

Ungewollt haben meine Worte einen bitteren Beigeschmack bekommen, wie so oft. Cat seufzt laut. Sofort habe ich ein schlechtes Gewissen meiner einzigen Freundin gegenüber.

„Entschuldige. Ich weiß, dass du Recht hast. Ich gebe zu, dass ich momentan emotional angeknackst bin und dir manchmal ziemlich auf den Keks gehe, aber…“

„Manchmal?“, will sie empört von mir wissen. Doch ihr breites versöhnliches Grinsen verrät sie und lässt mich gedanklich wieder etwas entspannen. „Jeder fliegt mal in die Scheiße. Trotzdem müssen wir alle irgendwann darüber hinwegkommen. Am besten ist es, wenn du Sachen tust, die dich glücklich machen“, fügt sie an und schafft es tatsächlich mich damit zum Lächeln zu bringen.

„Du machst dich gar nicht so schlecht als Möchtegern-Therapeutin“, frotzle ich.

Cat will gerade etwas Passendes erwidern, als Giorgia plötzlich mit Zornesfalte in die Umkleide stürzt und Cats Worte im Halse ersticken.

„Signorinas! Sie werden hier nicht für’s Blödherumstehen bezahlt. An die Arbeit!“, entrüstet sich Giorgia laut und scheucht uns wie Wildvieh zusammen.

Schnell schlüpfe ich in meine schwarzen Sneakers, stopfe meine Tasche in das Schließfach und lasse die Metalltür geräuschvoll zufallen, bevor Cat und ich unter Girogias strafenden Blicken aus der Umkleide auf die Zimmer scharen.

Auf Zimmer. Das klingt, als würden Cat und ich in einen Tagebau hinabsteigen. Eine Beschreibung, die manchmal nicht passender sein könnte, wenn in einem Moment das ganze Intimleben einer fremden Person vor einem ausgebreitet liegt. Man muss noch nicht mal großartig rumschnüffeln. Manche Leute wollen gerade zu, dass man in ihre Privatsphäre eintaucht und über sie genauestens Bescheid weiß. Der eine öffnet die Tür in Unterhose mit Elefantenrüssel, in die er sein Geschlecht notdürftig gestopft hat und lässt seine benutzten Unterhosen auf dem Boden liegen. Der andere liest seltsame Esoterik-Magazine, die vergisst ihren Dildo in der Dusche, der faltet aus seiner alten Zeitung Dutzende Papierboote und lässt eine komplette Sahnetorte auf den Teppichboden zerschlagen. Die Liste ist nahezu endlos.

Mittlerweile machen Cat und ich uns einen Spaß aus der ganzen Sache und schließen Wetten ab, wenn wir das Zimmer eines Gastes betreten. So auch heute. Es ist kurz nach 11 Uhr, als Cat und ich bereits kiloweise Schmutzwäsche gewaschen, gebügelt und gefaltet haben und unsere übliche Putzrunde durch den vierstöckigen Altbau beginnt.

„Dein heutiger Tipp?“, Cat blickt mich erwartungsvoll an, während sie sich bereits prophylaktisch die gelben Gummihandschuhe überzieht.

„Alter Herr mit Neigung zu diversen BDSM-Spielchen“, antworte ich sachlich und tue es ihr gleich.

„Den hatten wir doch letzte Woche erst noch“, Cat schüttelt amüsiert ihre Locken. „Anständiger Kerl mit Faible für Damenreizwäsche“, hält sie feixend dagegen und führt die Magnetkarte schwungvoll durch das Türschloss.

Mit einem leisen Summen springt die schwere Zimmertür auf und erwartungsvoll setzen wir einen Fuß ins Rauminnere.

„Himmel!“, angewidert rümpft Cat sich die Nase, als sie wie ein Tiger an die Beute heranpirscht. „Hier riecht es wie im Pumakäfig!“

Ich stehe dicht hinter Cat und es braucht einen Moment, bis der schweißgeschwängerte Geruch an Cats süßlichem Parfüm vorbeizieht und ich weiß, wovon sie spricht. Mit Putzlappen und Desinfektionsmittel in der Hand durchquert Cat den Raum in Richtung Fenster. Ich lasse einen prüfenden Blick durch das kleine Hotelzimmer gleiten, doch es ist zu dunkel, um etwas zu erkennen. Alles was ich wahrnehme, ist der beißende Geruch nach schwerem Parfüm, Räucherwerk und menschlichen Köperausdünstungen. Mit einer hastigen Handbewegung zieht Cat die tiefroten Vorhänge zur Seite und das graue Tageslicht offenbart uns erbarmungslos das volle Ausmaß der Verwüstung.

„Der Punkt geht an dich!“, murrt Cat geschlagen, als sie das scheinbar vergessene Sado-Maso-Repertoire des kürzlich abgereisten Zimmerbewohners vor sich ausgebreitet entdeckt.

Meine Lippen verziehen sich zu einem triumphalen Lächeln.

„Vier Treffer in Folge“, grinse ich. „Das kostet dich mindestens ein Abendessen im Diner.“

Cat verzieht nur gequält das Gesicht, ehe wir anfangen die Überreste der ausschweifenden arabischen Nacht zu beseitigen. Zwar mögen Cat und ich vielleicht hin und wieder unseren Spaß beim Bettenmachen und Schrubben diverser Kloschüsseln haben, aber wenn ich ehrlich bin, habe ich mir meine Zukunft doch ein wenig anders vorgestellt. Aber mit einem Haufen Probleme und ohne einen Penny zu viel in der Tasche darf man wohl keine großen Anforderungen stellen. Trotzdem las sich die Jobanzeige in der Zeitung damals ein bisschen anders. Ich nehme an, dass sich niemand gemeldet hätte, wenn dort gestanden hätte: „Mädchen für alles zwischen 20 und 25 gesucht“. Hätte ich vor vier Jahren sicherlich auch nicht, aber das Leben ist ja bekanntlich kein Wunschkonzert.

Kapitel 2

Nach einem langen Vormittag mit unzähligen gesaugten Zimmern und saubergeschrubbten Kloschüsseln, und einem noch längeren Mittag in der dunstigen Hotelwaschküche habe ich jetzt endlich Feierabend. Es ist erst kurz nach vier, dich ich bin bereits unglaublich erschöpft. Seit diese Träume mich nachts regelmäßig panisch aufschrecken lassen, schlafe ich grundsätzlich nicht mehr als vier Stunden.

Alles, was ich heute Abend will, ist mich daheim in meinem Bett zu vergraben, mir eine idiotische Comedyserie anzuschauen und eine Tüte Chips zu essen. Und zwar ohne darüber nachzudenken, wie ungesund das eigentlich ist. Um die Kalorien brauche ich mir heute schließlich keine Sorgen zu machen, denn nach dem Frühstück musste ich heute nämlich aus Zeitgründen alle anderen Mahlzeiten ausfallen lassen.

Ich will mich gerade aus meinem verschwitzten Kittel schälen und zurück in meine Jeans und meinen liebsten Rollkragenpullover, der auch schon bessere Tage gesehen hat, steigen, als Giorgia plötzlich die Tür aufschlägt und mit einem lauten Poltern in die Umkleide fällt. Das aufgeregte und enthusiastische Gemurmel über diverse Feierabendpläne der anderen Mädchen verstummt schlagartig. Verärgert halte ich inne und ziehe hastig den Reißverschluss meines Kittels zurück, bevor ich ihr, wie auch die anderen Mädchen, einen vorwurfsvollen Blick zuwerfe.

Himmel, hat diese Frau denn gar kein Feingefühl?

„Ich erwarte Sie in fünf Minuten im Versammlungsraum. Vollzählig!“, kommandiert sie und sieht einmal streng durch die Runde, damit auch die letzte noch so begriffsstutzige Elevin die Dringlichkeit ihrer Worte versteht. Dann lässt sie uns wieder alleine und die Damen um mich herum nehmen völlig unbeeindruckt ihre Gespräche wieder auf, als wären sie nie unterbrochen worden. Cat lässt jedoch ein empörtes Schnauben hören.

„Was will sie denn jetzt schon wieder?“, grummelnd schlüpft sie zurück in ihre ausgelatschten Korksandalen. „Uns den Feierabend versauen? Dabei dachte ich, wir kommen hier heute einmal halbwegs pünktlich raus!“

Ich zucke ahnungslos mit den Schultern. Vielleicht steht uns mal wieder eine ihrer Strafpredigten bevor, weil eines der Mädchen das Armaturenbrett nicht sorgfältig genug von anderer Leute Behaarung entfernt hat, den Staubsauger nicht im Staccato bewegt oder die Kondome versehentlich falsch einsortiert hat, obwohl das eigentlich so gut wie keinen unserer Gäste interessiert.

Als wir den kleinen Versammlungsraum betreten, werden Cat und ich von nervösem Stimmengewirr begrüßt. Die nächsten fünf Minuten passiert dann erst einmal nichts. Cat unterhält sich gerade mit einer älteren Dame über klassische Servietten-Falttechniken, als plötzlich die Tür aufgeht und unser Hotelchef Ricci in Begleitung einer mir unbekannten, hochgewachsenen männlichen Gestalt den Raum betritt. Die gedrungene, fast bullig wirkende Gestalt unseres Seniorchefs ist wie üblich in einem beigefarbenen Anzug mit Weste, der auf feinste italienische Handarbeit hindeutet, eingezwängt. Sein weißes Hemd ist weit aufgeknöpft und sein dichtes schwarzes Haar, das mit Haarlack zu einer Tolle geformt wurde, ist von silbernen Fäden durchzogen.

Ricci lächelt einmal charmant in die Runde und hebt begrüßend die Hand, an der zwei massive Goldringe prangen. Ich bin mir sicher, dass Ricci vor seiner Heirat mit Giorgia vor mehr als 30 Jahren ein ziemlich schlimmer Junge gewesen sein muss und den Damen mit seinem entwaffnenden italienischen Charme reihenweise die Herzen gebrochen hat. Im Gegensatz zu ihm, trägt sein Begleiter einen legeren dunkelgrauen Anzug, der sich eng an seinen athletischen Körper legt. Der Unbekannte wirkt eindrucksvoll und muskulös mit dem kantigen Kinn, Dreitagebart und dunkelbraunem Haar, das ihm wild in der Stirn liegt. Würde er nicht in diesem feinen Zwirn stecken, hätte ich ihn seiner Erscheinung nach zu urteilen beinahe für einen Schwerverbrecher gehalten.

„Dieser Typ ist heiß!“, flüstert Cat mir sofort balzend ins Ohr und zwinkert mir verschwörerisch zu.

Ich verdrehe die Augen.

„Es ist nur ein Kerl“, entgegne ich ihr gelassen und verschränke abwartend die Arme vor meiner Brust. „Hör auf zu sabbern!“

„Machst du Witze?“ Cat dreht mir ihr Gesicht samt ihrer beneidenswerten roten Korkenzieherlocken zu und sieht mir mit blankem Entsetzen entgegen. „Dieser Kerl ist ein wandelnder Sexgott! Ein Blick in diese Augen und ich werde zur Sirene.“

„Cat“, brumme ich ermahnend. „Du hast einen Kerl. Muss ich dich wirklich ständig daran erinnern?“ „Seit wann bist du meine Mom?“, will Cat mürrisch wissen.

„Sei nicht immer so verkrampft, Elle. Außerdem hat Adrian nichts dagegen, dass ich mich ein bisschen umschaue. Solange ich mich ausschließlich für ihn bücke, hat er damit kein Problem“, fügt sie keck hinzu.

„Zu viele Details!“, ich hebe abwehrend meine Hände in die Höhe, was Cat ein glockenhelles Lachen entlockt.

„Ernsthaft, Elle. Würdest du ihn dir wenigstens einmal kurz genauer ansehen?“

Seufzend komme ich ihrer Bitte nach und wage einen flüchtigen Blick in das markante Gesicht des Unbekannten. Doch meine kurzsichtigen Augen können nur schemenhaft die Details seines markanten Gesichts ausmachen. Er trägt eine Sonnenbrille, was ich ziemlich affektiert finde, angesichts der Tatsache, dass es bereits Oktober ist und es am Tag, wenn es mal nicht wie aus Eimern regnet, nicht mehr als zwei Sonnenstunden gibt.

„Ich finde, du übertreibst“, gebe ich sichtlich unbeeindruckt von mir.

„Wenn du so weitermachst, dann endest du irgendwann als einsame, alte Strickliesel mit zwanzig Katzen.“

„Und wenn schon“, sage ich und hefte meinen Blick aufmerksam auf unseren Seniorchef, der das private Gespräch mit seinem Begleiter scheinbar beendet hat.

„Guten Tag, die Damen“, beginnt Ricci. „Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie nach Schichtende noch aufhalte, aber es gibt etwas, das ich Ihnen gerne mitteilen würde.“ Sofort hat er die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen. „Wie Sie sicher durch unsere bisherigen Einsparungen mitbekommen haben, befindet sich das Molise momentan in einem ernsten finanziellen Engpass“, fährt Ricci fort.

Was?

Ich höre, wie einige der Mädchen nervös zu tuscheln beginnen.

„Will er uns jetzt etwa vor die Tür setzen?“, fragt Cat atemlos und blickt mir hilfesuchend entgegen.

„Ich hoffe nicht.“ Ich schlucke und bin mit einem Schlag ebenfalls unglaublich nervös.

Bis auf Cat und meine mickrige Unterkunft, ist dieser Job alles, was ich habe. Wenn Ricci mich jetzt vor die Tür setzt, dann… Ich mag diesen Gedanken gar nicht erst zu Ende führen. Eigentlich sollte mich diese Nachricht gar nicht überraschen. Seit Wochen geht schon das Gerücht umher, dass das Molise kurz vor der Insolvenz steht und an eine internationale Hotelkette verscherbelt werden soll. Wirklich viel habe ich auf dieses Gerücht nicht gegeben, denn in der Gerüchteküche des Molise brodelt es geradezu tagtäglich.

„Um den momentanen Liquiditätsproblemen erfolgreich entgegen zu wirken und Ihre Anstellung im Molise zu bewahren, denn ich schätze Sie alle sehr, haben wir Mr. Reid beauftragt, unsere Bilanzen zu prüfen und nötige Anpassungen durchzuführen“, erklärt Ricci sachlich und deutet mit einer bedeutungsvollen Handbewegung zu seiner Rechten.

Dieser zieht sich lässig die Sonnengläser vom Nasenrücken und zwei dunkle Raubkatzenaugen kommen zum Vorschein. Schockiert schnappe ich nach Luft, während ein anerkennendes Seufzen durch den Raum geht, welches er mit einem wissenden Grinsen quittiert.

Oh mein Gott! Das kann nicht sein!

Ich blinzle. Mehrmals. Doch das Bild bleibt. Mir schwappt der Duft seines schweren, herben Aftershaves, der dominant den kleinen Raum ausfüllt, in die Nase. Sofort schnellt mein Puls in die Höhe und ich merke, wie mein Herz ein paar Schläge aussetzt, bevor eine furchtbare Hitze mich durchströmt und in meine Wangen zieht.

Kennt ihr das? Wenn euch ein Teil eures Lebens begegnet, den ihr seit Jahren, in der hintersten Ecke eures Gedächtnisses versteckt? Dinge, an die ihr euch einfach nicht mehr erinnern wollt und ihr sie wieder verdrängt, sobald sie auch nur den Versuch wagen, wieder an die Oberfläche zu gelangen? Wie geht man damit um, wenn die Mauer um diese Erinnerungen von einer Sekunde auf die andere einbricht? Wenn alles, was man so unbedingt vergessen wollte, auf einmal lebendig vor einem steht?

In jedem Dorf gibt es dieses kleine Mädchen, das hoffnungslos in einen Jungen verliebt ist und niemals eine Chance haben wird, ihn für sich zu gewinnen. Leider ist ihr das nicht bewusst und sie verrennt sich, bis etwas geschieht, dass ihr endlich die Augen öffnet. Dieses Mädchen bin ich und der betreffende Junge steht jetzt vor mir. Nur, dass ich kein kleines Mädchen mehr bin, sondern eine junge Frau und der Junge steht als gestandener Mann vor mir.

Denton Reid, ein vereidigter Wirtschaftsprüfer?

Wäre heute nicht so ein unglaublich beschissener Tag, würde ich über diesen schlechten Scherz lachen. Ich werfe einen Blick in Richtung Ausgang, der jedoch von drei älteren Zimmerdamen blockiert ist. Wenn ich jetzt versuche, mich hinauszuschleichen, würde das sicher mehr Aufmerksamkeit auf mich ziehen als einfach hinter Cats Rücken zu verschwinden.

„Gott, mir wird schlecht“, murmle ich kaum hörbar und packe Cat hilfesuchend an den Oberarmen, um ihren kurvigen Körper vor mich zu schieben.

„Elle?“, verwirrt dreht sie sich zu mir. „Was tust du denn da?“

„Nicht!“, ermahne ich sie und halte sie mit aller Willenskraft an Ort und Stelle. „Bleib einfach so stehen, okay?“, flüstere ich ihr über ihre Schulter hinweg zu und versuche mich hinter Cat so schmal wie möglich zu machen, in der Hoffnung von dem Raubtier, das selbstbewusst und aufmerksamkeitsheischend seinen Blick durch die bewundernde weibliche Menschentraube schweifen lässt, unentdeckt zu bleiben.

Ich weiß, mein Verhalten ist unglaublich albern, aber ein zu langer, intensiver Blick würde ausreichen, um all den vergrabenen Schmerz in Sekundenschnelle wieder an die Oberfläche zu spülen und diese Blöße möchte ich mir hier nicht geben müssen.

„Du verhältst dich heute ziemlich merkwürdig“, flüstert sie leise brummend zurück, den Blick jedoch starr vor Faszination auf ihn gerichtet.

„Starr ihn nicht so an“, zische ich ihr zu und verpasse ihr einen Knuff in die Seite. „Sonst schaut er gleich noch zu uns herüber.“

„Na, das hoffe ich doch!“, jauchzt Cat und reibt sich euphorisch die Hände.

„Um einen umfassenden Einblick in unser Unternehmen und seine Arbeitsabläufe zu bekommen, wird Mr. Reid Ihnen die nächsten Monate etwas genauer auf die Finger sehen. Ich bitte Sie jedoch, einfach wie gewöhnlich mit Ihrer Arbeit fortzufahren und sich nicht von seiner Anwesenheit beirren zu lassen“, fügt Ricci derweil an und bittet Denton sich den Damen vorzustellen. Davon bekomme ich jedoch nichts mit, denn meine Gedanken überschlagen sich und sorgen dafür, dass mein Gehirn auf Durchzug ist.

Was zum Teufel tut er hier?

Ich höre Cat amüsiert auflachen. „Wie soll ich mich denn bitte auf die Arbeit konzentrieren, wenn dieser Adoniskörper mir nur wenige Zentimeter entfernt im Rücken steht?“

Ich will gar nicht daran denken, was passiert, wenn er in meiner Nähe ist. Schon jetzt hyperventilliert mein Körper ob seiner bloßen Präsenz in mehr als fünf Metern Entfernung völlig über und lässt mich vor purem Entsetzten, Wut und Enttäuschung gleichzeitig kochen. Ich kralle mich etwas fester in Cats Oberarme, was sie leise aufjaulen lässt.

„Elle, das tut weh!“, beschwert sich meine Freundin und streift energisch meine Hände von ihrem Körper. „Dass du gleich immer so aufdringlich sein musst.“

„Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen angenehmen Feierabend“, beendet Ricci seine Ansprache schließlich und lächelt ein letztes Mal aufmunternd durch die Runde, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen und jegliche Besorgnis aus unseren Gesichtern auszulöschen, was bei den anderen Damen ganz gut zu funktionieren scheint. Nur bei mir nicht.

Als ich sehe, wie sich die Menschentraube um uns herum auflöst und Ricci sowie Denton den Raum verlassen, trete ich hinter Cats Rücken hervor und schaue mich nervös um. Ich möchte hier weg. So schnell wie möglich, bevor meine in Zaum gehaltenen Gefühle mich übermannen und ich wie ein Kartenhaus in mich zusammenfalle. Ich habe absolut keinen Schimmer, wie ich die nächsten Monate mit ihm in meiner Nähe überstehen soll. Heiße Tränen steigen in mir auf.

Jetzt bloß nicht heulen, Elle. Das ist so erbärmlich!

„Was für ein Kerl!“, seufzt Cat abermals bewundernd.

Ich atme dreimal tief ein und aus und versuche den Gefühlssturm in mir zu beruhigen, bevor ich mich an Cat wende und mir ein Lächeln abringe. „Komm, lass uns nach Hause gehen“, sage ich schnell und schicke sie zum Gehen an.

„Gute Idee“, stimmt Cat mir zu und ihr lächelndes Gesicht verzieht sich zu einer ernsten Miene. „Deine Laune ist heute nämlich kaum auszuhalten.“

Es tut es weh, das zu hören, aber Cat hat Recht. Zu meiner Verteidigung muss ich jedoch sagen, dass ich nicht immer so eine Mimose war. Nur manchmal passieren Dinge im Leben, die jeder Frohnatur irgendwann das Lachen schwer machen.

Schnellen Schrittes eile ich den Korridor in Richtung Umkleide, den Blick starr nach vorn gerichtet.

„Miss?“, ertönt plötzlich eine tiefe Baritonstimme hinter mir und lässt mich vor Schreck zusammenzucken und Cat und mich in unserer Bewegung inne halten. „Ich würde Sie gerne in meinem Büro sprechen.“

Lieber Gott, bitte mach, dass das nicht wahr ist!

Cat lächelt mich breit an und wackelt anzüglich mit ihren Augenbrauchen, während mein Herz mir bis zum Hals schlägt. Hilfesuchend blicke ich meine Freundin an, doch diese Verräterin lässt mich mit den Worten „Ich warte draußen auf dich“ und einem dreckigen Grinsen allein mit Denton zurück. Empört schnaube ich nach Luft und beschließe, es ihr einfach gleich zu tun und mich ebenfalls dieser absurden Situation zu entziehen.

„Miss“, wiederholt Denton. „Ich bin mir sicher, dass Sie wissen, dass es nicht sonderlich höflich ist in einem Gespräch einfach so davonzulaufen.“

Pff, einen Scheiß gebe ich auf gepflegte Umgangsformen!

Ich setze einen Fuß vor den anderen und versuche so viel Distanz wie möglich aufzubauen. Denton lässt sich jedoch nicht so leichtfertig von mir abservieren, wie ich den Schritten hinter mir entnehmen kann. In drei großen Schritten ist er hinter mir, um mir im nächsten Moment seine große Pranke, die sich wie Betonklotz anfühlt, auf die Schulter zu legen und mich zu stoppen.

„Fass mich nicht an!“ Aufgebracht wirble ich herum und blicke geradewegs in seine mokkafarbenen Iriden. Sein Casanova-Lächeln friert sofort ein, als er mir entgegenblickt. Doch im Gegensatz zu mir fängt er sich sofort wieder und zeigt eine undurchdringliche Miene. Meine Knie zittern und meine Eingeweide fallen ins Bodenlose.

„Kommen Sie, Miss. Es wird nicht lange dauern“, er deutet mit seinem langen Arm auf die nächste Tür, doch ich bewege mich keinen Zentimeter. Niemals werde ich mit ihm auch nur irgendwo gemeinsam hingehen. Eher friert die Hölle zu!

„Nein“, leider klingt meine Stimme nur halb so selbstbewusst, wie ich mir erhofft habe. „Muss ich Sie etwa zweimal bitten, Miss?“, fragt er und zeigt sein perfektes Grübchenlächeln.

Miss? Tut er jetzt etwa so, als würden wir uns nicht kennen? Als wüsste er nicht, wie ich heiße? Wie ich nackt zwischen zerwühlten Laken aussehe? Was für ein dämliches Spiel. Ich habe doch gesehen, dass er mich erkannt hat!

„Gibt es ein Problem?“, will Ricci, der gerade mit einer Zigarre um die Ecke kommt, überrascht wissen.

„In der Tat!“, antworte ich und verenge meine Augen zu Schlitzen, während Denton mich mit einem herrischen „Nein“ überstimmt. Irritiert sieht Ricci zwischen uns her, während er einen tiefen Zug von seiner Zigarre nimmt.

„Es ist alles in bester Ordnung“, versichert Denton ihm sofort. „Ihre Ansprache scheint das junge Fräulein nur etwas überrascht zu haben.“

„Machen Sie sich keine Sorgen, Miss. Es wird alles gut werden“, erwidert Ricci und schenkt mir ein ehrliches berührendes Lächeln, bevor er mir einen schönen Feierabend wünscht und wieder in sein Büro verschwindet.

„Was soll der Mist?“, fahre ich Denton an, als Ricci aus meinem Sichtfeld ist. Entsetzliche Wut rast durch meine Venen. Wut auf ihn, seine damaligen leeren Versprechen und seine Dreistigkeit, hier einfach so mir nichts dir nichts aufzutauchen. Anstatt mir eine Antwort auf meine Frage zu geben, schiebt er mich mit groben Handgriff durch die nächste Tür, bevor ich vor Augen der Belegschaft eine größere Szene anzetteln kann.

„Du sollst mich nicht anfassen!“, wiederhole ich zischend, als er mich auf einen knarzenden Ledersessel drückt.

„Seit wann so kratzbürstig?“, kommentiert er mein Fauchen mit einem abfälligen Blick und lässt sich auf den schwarzen Ledersessel hinter dem wuchtigen, hölzernen Schreibtisch fallen. „Damals hast du bei meinen kleinsten Berührungen noch wie ein kleines Kätzchen geschnurrt, Belle.“

Ich verspüre einen fiesen Stich in meiner Brust. Wie kann er es wagen, mich noch immer bei diesem Spitznamen zu nennen? Er hat jegliches Recht dazu verloren!

„Nenn mich nicht so!“, sage ich scharf und springe auf, um im nächsten Moment zur Tür eilen zu können, die Denton erst vor einigen Sekunden geschlossen hatte. Doch er scheint mein Vorhaben zu durchschauen, denn bevor ich die Chance habe, meine Hand auf die schwere Klinke zu legen, ist er bereits an der Tür und hält mich auf.

„Du hast dich verändert“, stellt er stirnrunzelnd fest. Ich schnaube verächtlich.

Er hat sich keineswegs verändert. Er ist schon immer groß und breit gebaut gewesen. Er hatte schon immer dunkelbraune Haare gehabt, die ihm zwar im Gegensatz zu damals jetzt wild ins Gesicht fallen. Er hatte auch schon immer diese braunen Augen, in denen ich früher etwas gesehen habe, von dem ich seit Jahren weiß, dass es nie existiert hat. Nein, er hat sich nicht verändert. Er ist nur noch größer und älter geworden. Und was seinen Charakter betrifft, so ist er nur noch unausstehlicher. Oder es kommt mir nur so vor, weil ich Jahre damit verbracht habe, ihn und alles, was in irgendeiner Weise mit ihm zu tun hat, zu vergessen. Dass diese ganze Arbeit jetzt hinfällig ist, muss ich wohl nicht erwähnen. Er musste nur wieder in mein Leben treten, damit der ganze Schmerz wieder zum Vorschein kommt.

„Was hast du erwartet? Ich bin keine 17 mehr!“

„Das sehe ich“, bestätigt er schmutzig grinsend. Ohne ihn eines weiteren Kommentars zu würdigen, schiebe ich ihn zur Seite und verlasse sein Arbeitszimmer.

„Elysia!“, ruft Denton mir hinterher. „Es tut mir leid!“ Ich schüttele energisch den Kopf und schalte mich ein dummes, kleines Mädchen, als seine Worte heiße Tränen in mir aufsteigen lassen. Mit 17 Jahren habe ich ihm das mal geglaubt.

„Ich bin auch keine 21 mehr und weiß, wie man sich einer Frau gegenüber verhält“, rechtfertigt er sich hinter mir.

Er rennt mir tatsächlich hinterher?

„Elysia, bleib stehen!“ Seine herrische Stimme geht mir durch Mark und Bein, doch ich bin stur.

„Wieso sollte ich?“, rufe ich im Gehen über meine Schulter zurück.

„Weil ich mit dir reden will!“ Aufgebracht bleibe ich stehen und warte darauf, dass er mich einholt.

„Weil du mit mir reden willst?!“, wiederhole ich wütend. „Weil immer alles nach deiner Nase tanzt? Weil du denkst, dass ich immer noch so leicht zu manipulieren bin, wie damals? Ich sage es dir wirklich nicht gerne, aber du bekommst nicht immer alles, was du willst!“

Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, dass er bei meinen letzten Worten getroffen aussieht, aber das ist unmöglich. Die kleine Elysia Poole ist nicht in der Lage, den großen Denton Reid zu verletzen. Niemand schafft das.

„Ich kann gar nicht in Worte fassen, was du mir damals angetan hast, aber die Geschichte wird sich nicht wiederholen. Wenn ich eins dazu gelernt habe, dann dass ich nie wieder etwas mit dir zu tun haben will, also suche dir jemand anderen, den du mit deinen leeren Worthülsen verarschen kannst!“, mein ganzer Körper zittert vor Wut, als ihm diese Worte entgegenspeie und den Gang hinunterrenne.

Kapitel 3

Auch vier Tage später bin ich immer noch jedes Mal auf 180, wenn ich auch nur an mein Zusammentreffen mit Denton denke. Bei unserer Vorgeschichte kann ich nicht verstehen, wie er auf die Idee kommt, ein normales Gespräch im Plauderton mit mir führen zu können. Als er mich in Arklow damals in einer Nacht- und Nebelaktion verlassen hat, hat er es schließlich nicht einmal für nötig gehalten, mir ein paar erklärende Worte zu hinterlassen. Bis heute weiß ich nicht, wohin es ihn vor knapp vier Jahren so urplötzlich verschlagen hat und einen Teufel werde ich tun, ihn danach zu fragen.

Das Pfeifen des Wasserkochers signalisiert mir, dass mein aufgesetztes Wasser kocht und somit heiß genug ist. Ich drehe den Herd aus und schütte es vorsichtig in eine Tasse, in der bereits ein Teebeutel hängt. Ich lasse den Tee für ungefähr fünf Minuten ziehen, bevor ich den Teebeutel entsorge, etwas Milch in die Tasse gebe und ihn einmal umrühre. Um die Temperatur zu testen, nippe ich kurz daran und schlürfe zufrieden ins Wohnzimmer. Müde lasse ich mich auf meine Couch gleiten und lehne mich wohlig seufzend zurück. Es gibt absolut nichts Besseres, als nach einem anstrengenden Tag die Beine hochzulegen und eine Tasse Tee dabei zu trinken. Ohne diese Momente wäre mein Leben bei Weitem nicht so ausgeglichen.

Ausgeglichen bin ich allerdings nicht mehr, seitdem ich Denton wieder begegnet bin. Die Wut und der Schmerz sind wieder da. Es ist nicht besonders angenehm, wenn man feststellt, dass man nie über etwas hinweg gekommen ist, obwohl man fest davon überzeugt war, es geschafft zu haben. Es tröstet mich wenig, dass ich es geschafft habe, ihm die letzten vier Tage erfolgreich aus dem Weg zu gehen. Die Genugtuung, die ich dabei empfunden habe, ihm meine Meinung zu sagen, ist leider auch verschwunden und hat diesem unangenehmen Gefühl in meiner Magengegend Platz gemacht. Dieses unangenehme Gefühl, das ich immer bekomme, wenn ich gerne etwas ungeschehen machen würde, es aber nicht kann. Ich will mich auf keinen Fall bei ihm entschuldigen, denn dafür müsste ich im Unrecht sein. Aber wenn ich die Möglichkeit hätte, die Zeit ein wenig zurück zu drehen, würde ich wesentlich erwachsener mit der ganzen Situation umgehen.

Jahrelang habe ich mir gedanklich vorgestellt, was ich zu ihm sagen würde, sollte ich ihm jemals wiederbegegnen. Doch diese ganze Grübelei hat mir nichts gebracht, weil sein plötzliches Auftauchen mich vollkommen aus dem Konzept gebracht hat. Am einfachsten wäre es, Denton die Schuld an meinem Verhalten zu geben, aber so einfach ist es nicht. Ich bin immer noch selbst dafür verantwortlich, was ich tue und es war damals mein Fehler, auf ihn hereingefallen zu sein. Ich habe noch immer keinen blassen Schimmer, an welcher Stelle damals alles schief gegangen ist. Allerdings gibt es ein paar Dinge, die ich ihm nicht verzeihen kann, egal wie viel Schuld auch ich an allem trage. Manche Dinge vergisst ein Mädchen niemals, so sehr sie es auch versucht.

Ich werde aus meiner Gedankenwelt gerissen, als es auf einmal an der Tür klingelt. Müde rapple ich mich auf und laufe zur Tür, während ich mich frage, wer das wohl sein kann. Ich werfe einen vorsichtigen Blick durch den Türspion und mir schwant Böses.

Bitte nicht!

Aber mein Stummes Flehen wird nicht erhört und auch der Versuch, die dick vermummte Gestalt einfach zu ignorieren, bleibt erfolglos, denn im selben Moment klopft sie schon energisch gegen die alte Holztür. „Tu nicht so, Elle. Ich weiß genau, dass du Zuhause bist und mich gesehen hast!“

Seufzend öffne ich ihr die Tür. „Du bist ein Quälgeist, Cat!“, murre ich und verschränke abwehrend die Arme vor der Brust. „Ich bin heute keine gute Gesellschaft.“

Doch Cat kommt erbarmungslos lächelnd auf mich zu.

„Ich war so frei, heute auf der Arbeit einen Blick auf deinen Dienstplan für dieses Wochenende zu werfen und weißt du, was mir da aufgefallen ist?“

Heftig schüttle ich den Kopf. Ich will es gar nicht wissen.

„Dass heute Freitag ist und du seit Monaten mal wieder das Wochenende frei hast und kein Sterbenswörtchen darüber verloren hast“, klärt sie mich auf. „Du weißt, was das bedeutet. Wir gehen heute Abend aus! Es wird dringend Zeit, dass du mal wieder aus diesem Loch herauskommst“, sagt sie bestimmt und lässt einen abwertenden Blick durch das kleine Zimmer, das ich derzeit bewohne, wandern. „Also beweg deinen süßen Hintern ins Bad, zieh dich um und schmeiß dir etwas Farbe ins Gesicht.“

Ihr jetzt zu widersprechen wäre zwecklos. Vor geraumer Zeit hat Cat es geschafft, mir das Versprechen abzunehmen, an einem freien Wochenende mit ihr auszugehen. Das dies nicht häufig vorkommt, eigentlich so gut wie nie, habe ich mir bei diesem Versprechen damals keine großartigen Gedanken gemacht. Dass sie ausgerechnet heute Abend darauf besteht, dass ich meinen daher gesagten Worten Folge leiste, hätte ich allerdings nicht gedacht. Cat hat einen sehr starken Willen, wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hat.

Also schlürfe ich ohne weitere Diskussionen ins Badezimmer, um unter die Dusche zu springen. Ehrlich gesagt habe ich gar keine Lust mich unter Menschen zu begeben, besonders wenn ich mein Bett bis hierher nach mir rufen hören kann. Einen kurzen Moment überlege ich, mich einfach im Badezimmer einzuschließen, aber vermutlich braucht es keine halbe Stunde bis Cat mir auf die Schliche kommt und schon den nächsten Schlüsseldienst kontaktiert hat. Mit einem ergebenen Seufzen entledige ich mich meiner grauen Jogginghose und dem dicken Strickpulli und steige in die Dusche. Versprochen ist schleißlich versprochen. Es dauert nicht lang, bis das winzige Zimmer in warmen Dunst gehüllt ist. Cat öffnet kurz die Tür und lässt ein paar Klamotten auf den geschlossenen Toilettendeckel fallen.

Nachdem ich mich ordentlich eingeseift und abgeduscht habe, vergrabe ich meine noch warmen Füße in dem flauschigen grünen Flokati-Teppich und inspiziere die Klamotten, die Cat mir da augenscheinlich zurecht gelegt hat. Wenn ich bislang gedacht habe, dass simples Ausgehen nach einem anstrengenden, langen Tag das Schlimmste ist, das mir widerfahren könnte, muss ich nun feststellen, dass ich mich geirrt habe. Cat war nämlich nicht, wie anfänglich gedacht, an meinem Kleiderschrank zu Gange, um mir etwas Passendes für heute Abend herauszusuchen, sondern an ihrem. Und das bedeutet, dass die Sachen für meinen Geschmack viel zu knapp und freizügig ausfallen und ich mir heute Abend zu allem Überfluss auch noch den Hintern abfrieren werde. Dabei ist mir die Tasche in ihrer Hand eben gar nicht aufgefallen. Da aber selbst ich einsehe, dass ich wohl kaum mit meinem heißgeliebten Strickpulli und meinen ältesten Jeans in keinen der Läden, in die Cat mich vermutlich gleich schleifen wird, auflaufen kann, greife ich zögerlich nach der frischen Unterwäsche sowie der dunkelroten Chiffonbluse und dem schwarzen Faltenminirock inklusive Netzstrumpfhose. Dazu hat Cat mir eine schwarze Lederjacke und Stiefel, die zumindest mir gehören und somit ganz annehmbar sind, herausgelegt. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass ich mir in diesen luftigen Klamotten bei dem starken Herbstwind, der da draußen pfeift, den Tod holen werde.

Als ich knappe zwanzig Minuten später mit geföhnten Haaren aus dem Bad komme, sitzt Cat auf der Couch und tippelt bereits ungeduldig mit ihren Füßen.

„Braves Mädchen“, lobt sie mich, als ihre kritischen Augen meine Klamotten sowie mein dezent geschminktes Gesicht und Haare, die in einem hohen Zopf zusammen gebunden sind, mustern.

Dann klatscht sie einmal euphorisch in die Hände und springt auf, um sich im nächsten Moment bei mir unterzuhaken und mich aus der Tür zu ziehen. Sofort schlägt mir ein scharfer Wind entgegen und ich ziehe bibbernd den Kragen meiner Lederjacke tiefer ins Gesicht.

„Stell dich nicht so an“, meckert Cat gleich. „Es ist Ewigkeiten her, dass du das letzte Mal aus warst. Versuch ein bisschen Spaß zu haben. Nur einen Abend lang, okay?“

„Ich versuch’s“, murre ich.

Leider liegen zwischen Cats und meinen Vorstellungen von Spaß Welten. Meistens sind die Abende mit ihr für introvertierte Gemüter wie mich sterbenspeinlich. Lässt man Cat bei der Abendgestaltung freie Hand, landet man mit ihr meistens in irgendwelchen zwielichtigen Läden. Meine feierwütige Freundin verbucht einen Abend außerdem erst dann als erfolgreich, wenn sie frühestens im Morgengrauen den Heimweg antritt, kein Gefühl mehr in den Zehen hat und mindestens fünf Handynummern von irgendwelchen wildfremden, attraktiven Kerlen in ihrem Ausschnitt stehen hat. Auch wenn sie wohl niemals einen davon anrufen wird, schließlich hat sie ja Aiden und ihre seltsame On/Off-Beziehung. Mit Cat auszugehen ist demnach unheimlich anstrengend und teuer. Zumindest für mich. Im Gegensatz zu mir schafft Cat es immer, sich den ganzen Abend von anderen Kerlen aushalten zu lassen, während ich stocknüchtern daneben stehe und mich langweile. Ich mag Cat wirklich. Sie ist meine beste Freundin und wohl auch einzige, aber ich gehe nicht gern mit ihr aus. Eigentlich nie, wenn es sich vermeiden lässt. Doch sie scheint meine entsetzlich schlechte Laune seit meinem Aufeinandertreffen mit Denton als Aufforderung zu sehen, mich auf andere Gedanken bringen zu müssen, indem sie mich in einen Klub schleift.

Resigniert seufzend lasse ich mich von ihr in die nächste U-Bahn in Richtung Stadtzentrum ziehen. Gähnend und frierend sitze ich in der Bahn, während Cat bereits ihr erstes Opfer für den heutigen Abend gefunden zu haben scheint und mit ihm um die Wette flirtet. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, wann ich das letzte Mal von einem Kerl angesprochen geschweige denn angeflirtet worden bin. Seit Denton mich vor vier Jahren so anstandslos abserviert hat, ist mir jegliche Laune auf einen noch so harmlosen und netten Flirt bis auf unzählige Jahre vergangen.

Es dauert eine knappe halbe Stunde, bis wir die Londoner Stadtmitte erreichen. Leicht bekleidete und wildgackernde Mädchen in Begleitung von höchst gut gelaunten Kerlen flanieren über den Piccadilly Circus in die umliegenden Bars und Klubs. Dank Cats tiefen Ausschnitts und ihres geübten Süßholzgeraspels, schaffen wir es sogar ohne größere Wartezeit an den Securityguards vorbei und ins Ladeninnere des Strawberry Moons. Den Protest, den die Menschenmenge hinter uns daraufhin verlauten lässt, kommentiert Cat lediglich mit einem koketten Lächeln.

Der Klub ist hoffnungslos überfüllt. Außerdem ist es laut und stickig. Ich werde nie verstehen, was Cat an solchen Läden gefällt. Man kann sich vor lauter Lärm nicht unterhalten ohne sich anzuschreien und man bekommt kaum Luft aufgrund des kaum vorhandenen Sauerstoffgehalts. Cat nimmt mir die Jacke ab und drückt sie einer großgewachsenen dunkelhaarigen Dame in die Hand, die sie sorgfältig an der Garderobe aufhängt. Ich atme erleichtert auf, als ich zwei freie Plätze an der Bar erspähe und Cat souverän durch die Menschenmengen darauf zuläuft. Wenigstens würde ich diesen Abend sitzend verbringen und muss mir nicht die Beine in den Bauch stehen, während ich darauf warte wieder gehen zu können. Als wir an der Bar ankommen, dreht Cat sich zu mir um und grinst mich strahlend an.

„Ist doch gar nicht so schlimm“, feixt sie und dreht sich wieder zur Bar, um etwas zu trinken zu bestellen.

Während ich in diesem überfüllten Laden sicherlich eine halbe Ewigkeit hätte warten müssen, bis sich einer der Barkeeper dazu herabgelassen hätte, meine Bestellung aufzunehmen, hat Cat die Aufmerksamkeit des stark tätowierten David-Beckham-Verschnitts hinter dem Tresen in wenigen Sekunden erweckt. Ich kann nicht verstehen, was sie reden, aber ich sehe, wie Cat schmachtend mit den Wimpern klimpert und sich so zu ihm herüberbeugt, dass sie ihm tiefe Einblicke in ihr enges, schwarzes Top gewährt. Als er irgendetwas zu ihr sagt, schaut sie ihn aus großen Augen an, wirft ihre roten Korkenzieherlocken zurück und leckt sich lasziv über ihre vollen Lippen. Die Show, die Cat ihm da gerade offenherzig bietet, scheint ihm zu gefallen, denn ich sehe, wie er einen kleinen Zettel ins Cats Ausschnitt wandern lässt und schmutzig grinst. Zwei Minuten drückt sie mir höchstzufrieden einen kunterbunten Cocktail in die Hand.

„Mit den besten Grüßen des Hauses“, flötet Cat dabei entzückt.

„Cat“, ermahne ich meine Freundin. Ich trinke nicht und das weiß sie ganz genau. Cat hebt jedoch nur abwehrend die Hände.

„Oh doch, Elle! Wir werden uns heute Abend ordentlich gute Laune antrinken, vor allem du. Du hast es verdient, dich ein bisschen zu amüsieren. Also sei schön brav und denk nicht so viel nach. Wenn dich jemand anspricht, tu so, als wärst du tatsächlich so blöd, wie du blond bist. Nicht wieder die Intellektuelle raushängen lassen, okay? Das mögen Männer nicht.“

„Sehr witzig, Cat. Ich habe nicht einmal einen Schulabschluss“, erinnere ich meine Freundin, was sie irrwitziger Weise mit einem Lächeln quittiert.

„Du lernst schnell“, witzelz sie und wird im nächsten Augenblick auch schon abgelenkt, als sie von zwei Männeraugen ausgiebig von der Seite taxiert wird.

Es dauert keine zwei Sekunden bis sie mit wiegenden Hüften auf ihn zusteuert. Seufzend lasse ich mich auf den Barhocker fallen und lasse meine durch den Klub wandern. In der Hoffnung dabei nur halb so gelangweilt, wie ich eigentlich bin, auszusehen. Während Cats Gesprächs mit dem attraktiven Unbekannten, wandern ihre Adleraugen stets zu mir. So, als wolle sie sicher gehen, dass ich mich nicht gleich wieder auf dem Staub mache, sobald sie mich einmal unbeobachtet zurücklässt. Ich werfe einen Blick auf meine Uhr. Es ist nicht mal elf und somit noch viel zu früh, um zu verschwinden, ohne dabei am nächsten Tag eine ordentliche Standpauke von Cat zu kassieren. Vor Mitternacht lässt sie mich sicher nicht gehen. Nachdenklich mustere ich die tanzenden Menschenmassen. Gerne würde ich mich einem Rhythmus hingeben und meine Hüften im Takt der Musik bewegen können, aber leider bin unglaublich untalentiert was das Tanzen angeht.

„Ich hoffe, du spielst nicht mit dem Gedanken, in diesem reizenden Aufzug die Tanzfläche zu betreten“, reißt mich eine Männerstimme plötzlich aus meinen Gedanken.

Mein Herz rast, als ich herumwirble und ihn anstarre. Er steht in einer dunklen Jeans und einem grauen T-Shirt, das sich eng an seine durchtrainierte Brust schmiegt, lässig grinsend vor mir. Eine Hand in die Hosentasche geschoben, während er sich mit dem anderen Arm am Bartresen abstützt und mich ungeniert mustert.

Ich wusste, dass es eine saublöde Idee war, das Haus zu verlassen!

Meine Augen verengen sich zu Schlitzen und ich gleite sofort von dem kleinen Barhocker, um einen Schritt zurückzuweichen. Alarmiert halte ich nach Cat Ausschau, doch ich kann sie nicht finden. Eigentlich habe ich mir vorgenommen, kein einziges Wort mehr mit Denton zu wechseln. Doch seine selbstgefällige Art fordert mich geradezu heraus, mit einer weiteren derben Schimpftriade über ihn herzuziehen. „Erstens geht dich das überhaupt nichts an und zweitens war das genau mein Plan!“, fahre ich ihn an und mache mich von meinem unberührten Cocktail los, um demonstrativ auf die Tanzfläche zu schlendern. Wut rauscht durch meine Blutbahn, als ich ihn langsam auf mich zukommen sehe. Ich weiche zurück, doch er lässt sich nicht davon stören.

„Ich weiß nicht“, sagt er dann langsam. „Aber die Vorstellung, dich in diesem testosterongeladenen Schuppen allein zu überlassen gefällt mir ganz und gar nicht.“

Empört hole ich Luft. Was meint er eigentlich?

„Wie schön, dass das nicht die geringste Rolle spielt!“, schreie ich ihm über den Lärm entgegen, drehe mich auf dem Absatz um und stürme aus dem Klub. Er folgt mir und ich bin mir unschlüssig darüber, was ich davon halten soll. Also bleibe ich abrupt stehen und stemme wütend die Arme in die Seiten. Ich befinde mich in einer abgelegenen Seitenstraße, die lediglich von einer kleinen Straßenlaterne beleuchtet wird.

„Okay, das reicht!“, sage ich scharf. „Ich dachte, ich hätte mich vor ein paar Tagen klar genug ausgedrückt. Ich will nichts mit dir zu tun haben! Also lass mich gefälligst in Ruhe, sonst werde ich dich noch wegen Belästigung anschwärzen!“ Der eiskalte Ton in meiner Stimme lässt keinen Zweifel daran, dass ich es ernst meine.

„Das glaube ich dir gern“, grinst er. „Aber ich fürchte, du bist viel zu faszinierend, als dass ich dich einfach in Ruhe lassen kann!“

„Du hattest deine Chance!“, erinnere ich ihn wutentbrannt.

„Ich weiß“, sagt er und legt den Kopf schief. „Deshalb hätte ich gern eine zweite.“

Was? Seine Worte bringen mich aus dem Konzept, wenn auch nur für ein paar aberwitzige Sekunden.

„Du kannst mich mal, Denton!“, fluche ich lauthals und weiche ein paar Schritte zurück, bis ich plötzlich mit dem Rücken zu einer Hauswand stehe und zwischen ihm und der Wand gefangen bin.

Denton macht jedoch keine Anstalten mich zu berühren. Er steht einfach nur vor mir und hält die Hände in seinen Hosentaschen vergraben, während er mich eindringlich ansieht.

„Ich denke, du bist mir noch immer verfallen. Warum wehrst du dich so dagegen?“

Kapitel 4

Ich lache verächtlich auf. Wenn er das wirklich glaubt, dann irrt er sich aber gewaltig.

„Es interessiert mich nicht im Geringsten, was du denkst!“

„Du bist eine miserable Lügnerin“, stellt Denton daraufhin schlicht fest und stützt eine Hand neben meinem Kopf an der Wand ab.„Und du bist nichts weiter als ein verdammter Mistkerl!“, entgegne ich, aber klinge dabei bei Weitem nicht so schlagfertig wie erhofft.

Zu meinem Ärgernis lacht er nur leise und stützt die andere Hand ebenfalls an der Steinwand ab. Mein Puls jagt in die Höhe und das Blut rauscht in meinen Ohren ob seiner plötzlichen Nähe. Er ist mir zu nah, viel zu nah!

„Du bist unglaublich sexy, wenn du so biestig bist“, raunt er leise und kommt mir noch etwas näher.

Sofort regt sich mein Widerstand, doch Denton scheint mein Vorhaben, ihn von mir stoßen zu wollen, vorauszusehen und pinnt meine Arme mit nur einer Hand über meinem Kopf fest. Meine Haut prickelt unter seinem groben Griff und Panik steigt in mir auf. Seine Pupillen sind weit geöffnet, sein Gesicht ist unbewegt. Sacht berührt seine freie Hand meine Wange und streicht mir ein paar lose Haarsträhnen, die sich aus meinem Zopf gelöst haben, aus dem Gesicht. Ich reiße überrascht, außer Stande etwas zu tun, die Augen auf, als er sich ohne zu Zögern zu mir herunterbeugt, die Distanz zwischen unseren Gesichtern überbrückt – ohne ein einziges Mal den Blickkontakt zu brechen - und mich küsst. Mein Herzschlag setzt einen Moment aus, um im schnellen Tempo weiter zu rasen. Ein heißer Schauer durchströmt meinen ganzen Körper und lässt mich paralysiert inne halten. Seine kühlen rauen Lippen streifen meine nicht, sondern liegen sanft und fest zugleich auf meinem Mund. Ich hole erschrocken Luft und will ihn wegdrücken, doch er hält mich fest und macht einfach weiter. Meine Beine fühlen sich an, als würden sie jeden Augenblick nachgeben. Meine Gedanken sind vollkommen leer. Ich bin wie gelähmt. Dieser Kuss kommt völlig unerwartet.

„Belle“, raunt Denton mir entgegen und presst mich fester gegen die Wand. Die Erwähnung meines Kosenamens aus Jugendzeiten lässt mich jedoch augenblicklich aus meiner Schockstarre aufschrecken. Ich bin doch kein Opferlamm, das alles über sich ergehen lassen muss!

Gerade als er seinen Griff etwas lockert und sich seine Lippen an meiner Halsbeuge gütlich tun wollen, nutze ich die Chance, mich aus seinen Fängen zu befreien und ihm eine schallende Ohrfeige zu verpassen.

„Ich habe gesagt, dass du mich nicht anfassen sollst!“, presse ich mit scharfer Zunge hervor.

Ich reibe mir einmal über die Hand, die ob des Schmerzes heftig pocht, und versuche verzweifelt die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Ich verfluche mich für diese unglaubliche Schwäche, die Denton in mir zum Vorschein bringt.

„Ich schätze, das habe ich wohl verdient“, lenkt Denton ein und fasst sich mit einem verzerrten Lächeln an die Wange, die mit großer Sicherheit lichterloh brennen muss.

Fassungslos starre ich ihn an. Mein geküsster Mund steht dabei ein Stück offen, aber das ist mir in diesem Moment egal. Ohne ein weiteres Wort sieht er mir noch einmal tief in die Augen, sein Ausdruck unleserlich und verschlossen, doch etwas in ihnen lässt mein Herz erneut einen Schlag aussetzen.

„Was soll das?“, will ich atemlos wissen und habe Mühe, nicht laut aufzuschluchzen.

Tränen schimmern in meinen Augen, aber ich will nicht weinen. Nicht in der Öffentlichkeit und schon gar nicht vor ihm.

„Es tut mir leid, was damals passiert ist“, wiederholt er seine Entschuldigung von vor vier Tagen und sieht mir dabei fest in die Augen. Die Ehrlichkeit seiner Worte trifft mich und schnürt mir die Kehle zu, um nur wenige Minuten später meinen mühsam zurückgehaltenen Tränendamm zum Brechen und mich wie ein Schlosshund zum Heulen zu bringen.

„Du hast nicht die leiseste Ahnung, was damals passiert ist, als du einfach abgehauen bist!“, schluchze ich nun ungehalten.

Er weiß nichts, gar nichts. Während der 28 Tage, die wir damals zusammen waren – falls wir das jemals gewesen sind, da bin ich mir heute nicht mehr so sicher -, haben wir lediglich eine Nacht miteinander verbracht. Eine Nacht, in der er mir nicht nur die Unschuld, sondern auch das Herz geraubt hat. Bevor ich die Chance hatte, ihm am nächsten Tag einen guten Morgen zu wünschen, war er bereits über alle Berge und ließ mich völlig ahnungslos in seinen Laken zurück. Als wäre das nicht bereits verletzend und erniedrigend genug gewesen, musste er mich auch noch zum Gespött von ganz Arklow machen. Für die Leute dort werde ich immer die kleine liebeskranke Elysia Poole sein, die sich einfach nicht von dem Reid-Jungen loseisen konnte, obwohl er sie so offensichtlich abserviert hat und nicht mehr wollte.

„Dabei habe ich mir geschworen, dass du mich niemals so sehen sollst“, ächze ich und wische mir energisch mit dem Handrücken die salzigen Tränen aus dem Gesicht, bevor ich meine Arme schützend vor der Brust verschränke.

Sofort tritt Denton einen Schritt zurück und fährt sich mit der Hand, die mich vor wenigen Minuten noch grob an die Wand gepinnt hat, durch das haselnussbraune Haar, das im Lichtkegel der schummrigen Straßenlaterne seidig glänzt.

„Es tut mir wirklich leid“, brummt er. „Ich war jung und unsicher.“

„Unsicher?“, wiederhole ich ungläubig. „Du? Du warst der arroganteste Kerl, den ich je getroffen habe!“

„Das mag vielleicht so auf dich gewirkt haben“, gesteht er, bevor sein Kopf herumfährt und er seine Aufmerksamkeit auf die aufgebrachten Stimmen, die langsam durch die Dunkelheit in unsere Richtung hallen, richtet. Sofort nimmt er weiteren Abstand von mir und versucht unsere Unterhaltung in weniger gefährliche Gefilde zu leiten.

„Dennoch freut es mich, dich wiederzusehen. Trotz unserer Differenzen“, grinst er verschmitzt.

Differenzen? So nennt man das also, wenn man jemandem das Herz in Tausend Stücke gerissen hat und sich darüber im Nachhinein auch noch bei seinen Freunden lustig gemacht hat?

„Ich sehe es als ein Wink des Schicksals. Und eine Möglichkeit, einige Sünden der Jugend wieder gutzumachen.“

„Arbeitest du an deinem Karma? Da hast du aber einiges zu tun!“, zische ich und ringe gleichzeitig lautstark nach Atem. Meine Nase ist von meiner Heulerei so verstopft, dass ich kaum Luft bekomme.

Plötzlich taucht Cats besorgtes Gesicht in Begleitung eines fremden Typens hinter der Straßenecke auf und lässt mich innerlich aufatmen.

„Elle?“, fragt sie zaghaft und stürmt sichtlich erschrocken auf mich zu, als sie mein tränenverschmiertes Gesicht im schmalen Licht entdeckt. „Oh Gott, Elle. Was ist passiert?“

Cat zieht mich in eine knochenbrechende Umarmung und legt mir meine Jacke, die ich in meiner Rage im Klub liegen lassen habe, um die Schultern. Erst jetzt merke ich, dass ich fürchterlich friere.

„Du zitterst ja“, bemerkt nun auch Cat und reibt ihre Handflächen über meine eiskalten Arme, bevor sie mir mit einem Taschentuch behutsam das verlaufene Make-Up aus dem Gesicht wischt.

„Hat er dich angefasst?“, will sie daraufhin mit scharfer Stimme wissen und bedenkt Denton, der Cats männliche Begleitung mit seinen Augen beinahe zu erdolchen scheint, mit einem abwertenden Blick. Erst dann erkennt sie, wen sie da eigentlich vor sich stehen hat und erstarrt augenblicklich zur Salzsäule.

„Sie?“, fragt sie belämmert und blinzelt unsicher, so als wüsste sie nicht, ob sie vor schlichter Empörung oder absoluter Bewunderung für Denton zergehen soll. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie…“

„Sie sollten in Zukunft besser auf Ihre Freundin Acht geben und sie nach Hause bringen, Miss“, unterbricht Denton Cats betretenes Gestammel, während seine Augen mich abschätzend mustern.

Dann dreht er sich weg und geht in Begleitung des fremden Typen, der sich bis eben noch ein wildes Blickduell mit Denton geliefert hat, mit langen, ruhigen Schritten davon. Als wäre nie etwas passiert. Fassungslos sehe ich den beiden hochgewachsenen männlichen Gestalten hinterher und bleibe an Ort und Stelle. Ich presse eine Hand auf meine Brust, während die andere zögerlich und ungläubig über meine noch immer geöffneten Lippen fährt. Mein Herz pulsiert heftig und das Atmen fällt mir schwer. Verzweifelt versuche ich meinen Puls wieder unter Kontrolle zu bringen.

„Du verschweigst mir etwas“, wittert Cat, die das Spektakel stumm betrachtet hat, gleich und verschränkt abwartend die Arme vor ihrer üppigen Brust.

Da kann sie lange warten. Ich verspüre nicht das geringste Interesse daran, mich jetzt mit ihr über Denton und sein Mistkerl-Verhalten zu unterhalten. Ich will einfach nur nach Hause, mich in meinem Bett vergraben und ihn vergessen. Also ignoriere ich ihren Kommentar und schlüpfe in die Ärmel meiner Lederjacke, bevor ich mich zum Gehen anschicke. Doch wie zu erwarten, lässt sich Cat nicht so einfach abspeisen und folgt mir mit klappernden Absätzen.

„Was zum Teufel ist da zwischen euch vorgefallen?“

„Nichts“, sage ich knapp.

„Du brichst doch nicht wegen nichts gleich in Tränen aus. Ich glaube dir kein Wort, Elle! Hat er dich belästigt?“

Kurz überlege ich ihr vielleicht doch von Dentons aufgezwungenem Kuss zu erzählen, damit sie endlich aufhört, mich mit ihren Fragen zu löchern. Doch dann erinnere ich mich daran, wie aufbrausend und unberechenbar Cat sein kann, wenn sie wütend ist. Und ich bin mir sicher, dass bei Cat alle Sicherungen durchbrennen werden, wenn sie erfährt, dass sich mir ein Kerl gegen meinen Willen aufgezwungen hat. Cat kennt meine Vorgeschichte. Naja, zumindest einen Großteil davon.

Sie weiß, dass ich auf einer kleinen Farm im irischen Arklow aufgewachsen bin und mich auf genau dieser vor vier Jahren unsterblich verliebt habe. Dass es dabei ausgerechnet um Denton handelt, habe ich ihr jedoch bis heute verschwiegen. Seit meinem 11. Geburtstag verbrachte er jeden Sommer auf unserem Hof, um meinem Dad bei der Ernte auszuhelfen und während der Schulferien ein wenig Geld in seine Freizeitkasse zu spülen. Schon als kleines Mädchen habe ich heimlich für ihn geschwärmt, dennoch hat es beinahe sechs Jahre gebraucht, bis er in mir mehr als das kleine, schüchterne Farmer-Mädchen gesehen hat. Mit 17 ging dann auf einmal alles ganz schnell. Das erste Date, der erste Kuss, der erste Sex. Das alles innerhalb von 28 Tagen.

Das würde mir heute nicht mehr passieren. Heute weiß ich, dass es unglaublich naiv und leichtsinnig war, einem anderen Menschen nach so kurzer das Herz auf dem Silbertablett zu präsentieren. Meine Unerfahrenheit ist die einzige Entschuldigung, die ich für mein damaliges Verhalten finden kann. Natürlich ließ der erste Liebeskummer und große Fall danach nicht lange auf sich warten.

„Elle!“, dröhnt Cats kreischende Stimme plötzlich an mein Ohr und ich spüre, wie ich ruckartig von ihr an meinem Arm zurückgezogen werde. „Gosh, willst du dich umbringen? Es ist rot!“

Erst jetzt realisiere ich, dass ich gerade im Inbegriff gewesen bin, die dicht befahrene Straße zur nächsten U-Bahn-Station zu überqueren ohne mich auch nur ein einziges Mal umzusehen.

„T-tut mir leid“, stammle ich betroffen. „Ich war in Gedanken.“

„Manchmal wünsche ich mir wirklich, du würdest mir nur einen winzigen Einblick in einen Bruchteil deiner Gedanken schenken, damit ich auch nur den Hauch einer Ahnung hätte, was da bei dir eigentlich so vorgeht“, frotzelt Cat und führt mich vorsichtig über die Straße, als die Ampel auf Grün springt.

Auch wenn sie es nie zugeben würde, weiß ich, dass ich Cat mit meiner ständigen Abwehrhaltung und Geheimniskrämerei vor den Kopf stoße. Im Gegensatz zu ihr weiß ich jedes noch so schmutzige Detail über meine beste Freundin. Ich wünschte, ich könnte vor ihr genauso blank ziehen, doch das kann ich nicht. Auch wenn es sehr unwahrscheinlich ist, dass Cat mich jemals so wie Denton hinter das Licht führen würde, denn Cat ist eine absolut treue Seele, ängstigt mich der Gedanke, mich anderen Menschen zu vollständig öffnen und mich somit verwundbar zu machen. Ich wünschte, ich könnte ihr erzählen, dass es sich bei dem Jungen, der mir damals das Herz in Tausend Stücke gerissen hat, um niemand anderen als Denton Reid handelt. Sofort überkommt mich ein schlechtes Gewissen.

„Alles okay?“, fragt Cat besorgt und drückt mich fest an ihre kurvige Taille, als wir die Stufen in den U-Bahn-Schacht hinabsteigen und sie die erneuten Tränen in meinen Augenwinkeln erkennt. Ich nicke schnell und versuche die Tränen wegzublinzeln, während ich einmal tief Luft hole.

„Ich bin eine miserable Party-Begleitung“, lache ich daraufhin verzerrt, was Cat ebenfalls zum Lächeln bringt.

„Nein, bist du nicht“, kichert Cat amüsiert und schiebt mich schnell in die U-Bahn, die gerade wieder ihre Türen schließen und abfahren will. „Das nächste Mal überlasse ich dir die Abendgestaltung. Versprochen.“

Cat drückt mich auf einen eingesessenen Zweisitzer und lässt sich neben mich fallen. Anlehnungsbedürftig lasse ich meinen Kopf auf ihre Schulter sinken.

„Tut mir leid, dass ich dir den Abend versaut habe.“

„Red keinen Unsinn, Elle. Ich hätte wirklich besser auf dich Acht geben sollen, dann wäre das nicht passiert“, widerspricht mir Cat mit einem versöhnlichen Lächeln, bevor ihre Mundwinkel sich zu einem schmutzigen Grinsen verziehen. „Außerdem habe ich fünf Nummern von unglaublich heißen Typen auf der Brust. Mein Abend war also durchaus sehr erfolgreich.“

Sprachlos blicke ich auf ihren wildbemalten Ausschnitt, als sie ihre Jacke zur Seite schiebt.

„Für schlechte Zeiten“, zwinkert sie. Ich verziehe angewidert das Gesicht.

„Bist du dir nicht etwas zu schade für dieses Spielchen?“, lache ich.

„Welches Spielchen?“

„Na, das zwischen dir und Aiden. Und den ganzen anderen Typen. Eure Beziehung eben.“

„Beziehung würde ich das nicht nennen, immerhin sind wir nicht exklusiv. Wir haben lediglich ein bisschen unverbindlichen Spaß miteinander. Nichts Ernstes, denn Heiratsmaterial ist Aidan nun wirklich nicht. Das weiß er auch und das ist auch gut so.“, erklärt Cat grinsend und zuckt dabei gleichgültig mit den Schultern.

„Manchmal bewundere ich dich wirklich für dein hohes Maß an Toleranz“, kichere ich und schmiege mich tiefer in ihre Daunenjacke, bevor ich die Augen schließe und wegdämmere, wohlwissend, dass Cat mich vor meiner Haltestelle rechtzeitig wecken würde.

 

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Nach dem desaströsen Klubbesuch hat meine Laune am darauffolgenden Wochenbeginn den absoluten Tiefpunkt erreicht. Eigentlich hatte ich mir ja vorgenommen, die ganze Sache zwischen Denton und mir etwas erwachsener anzugehen. Nur ist dieses Vorhaben kläglich gescheitert, als ich wie ein kleiner Welpe, dem man versehentlich auf den Schwanz getreten hat, zu heulen angefangen habe. Wenn ich diesen Abend noch einmal so Revue passieren lasse, würde ich am liebsten vor Scham im Boden versinken wollen, wenn ich es denn könnte. Ich will nicht, dass er denkt, dass sein bloßer Anblick ausreicht, um tiefvergrabene Empfindungen in mir hervorzurufen. Leider ist dies genau der Fall. Meines Erachtens nach ist diese niederschmetternde Erkenntnis bereits Grund genug, schlecht drauf zu sein. Hinzu kommt jedoch, dass mir bei dieser Erkenntnis aufgefallen ist, dass Denton mit seinen Worten vom vergangenen Wochenende Recht behalten hat. Auch wenn ich mich mit aller Macht dagegen wehre, so interessiert es mich, was er denkt. Besonders in Bezug auf mich und das macht die ganze Sache noch viel schlimmer. Zu allem Überfluss bin ich heute Morgen unter ziemlich üblen PMS-Krämpfen aufgewacht. Ich denke, das sind Gründe genug, mir wohl heute besser aus dem Weg zu gehen. Mein Geduldsfaden ist heute nämlich extrem kurz und meine Toleranz in Bezug auf weitere Zusammentreffen mit Denton ist auf ein Minimum beschränkt.

Ich bin gerade dabei die fünfte Waschtrommel mit Schmutzwäsche an diesem Montagmorgen zu befüllen, als ich Denton in Begleitung von Giorgia durch die Waschküche des Molise flanieren und prüfende Blicke durch den Raum werfen sehe. Im Gegensatz zu unserem ersten Aufeinandertreffen vor genau einer Woche trägt er heute keinen feinen Zwirn, sondern lediglich eine dunkle Jeans und ein hellgraues Hemd, das an den Ärmel aufgekrempelt ist. Seine Füße stecken dabei in eleganten, schwarzen Lederboots. Meine Augen wandern zu seinem Gesicht, doch als ich das schmutzige Grinsen auf seinen Lippen sehe, wird mir mit einem Schlag bewusst, dass ich ihn anstarre.

Sofort nehme meinen Blick von ihm und konzentriere mich wieder auf die Wäsche vor mir, während mir Hitze in die Wangen schießt. Schnell stopfe ich die restlichen Bettlaken in die Waschtrommel, bevor ich die riesige Maschine schließe, mit Waschpulver befülle und betätige. Ich greife nach dem leeren Wäschewagen und eile zum Aufzug, um ihn gegen einen weiteren mit Bettlaken beladenen Wagen einzutauschen. Ich tippe ungeduldig mit meinem Fuß auf und ab, während ich darauf warte, dass sich die Aufzugtüren öffnen. Mit einem leisen Pling öffnet sich der Aufzug und ich rolle den Wagen hinein. Gerade als sich die Türen hinter mir wieder schließen wollen und ich erleichtert aufatmen möchte, schieben sich zwei starke Arme dazwischen.

Denton.

Mit einem diabolischen Lächeln zwängt er sich an den breiten Wäschewagen, der beinahe den kompletten Aufzug ausfüllt, vorbei und kommt neben mir zum Stehen.

„Verfolgst du mich?“, frage ich scharf und versuche von ihm abzurücken, als sich die Türen schließen und wir ins Obergeschoss fahren.

„Gehst du mir aus dem Weg?“, stellt er mir die Gegenfrage und fixiert mich mit seinen dunkelbraunen Iriden.

„Ich muss arbeiten“, weiche ich aus.

„Seit wann schrubbst du denn Toiletten und wäscht die Schmutzwäsche anderer, um dir deinen Lebensunterhalt zu verdienen? Als Einser-Studentin irgendeiner renommierten Elite-Universität lässt man sich doch wohl nicht ausgerechnet für die Beseitigung von anderer Leute Dreck entlohnen?“ Sein spöttischer Blick lässt meinen Magen krampfen.

„Du hast keine Ahnung, was du da eigentlich sagst“, presse ich getroffen hervor und drehe mich weg von ihm.

Ich will mir das nicht anhören müssen. Nicht von ihm. Genau genommen ist er der auschlaggebende Grund für meine momentane Misere und die Tatsache, dass ich mit 23 Jahren keinen Schulabschluss habe.

„Tatsächlich? Dann klär mich auf.“

Es reicht. Ich habe bereits angedeutet, dass ich heute leicht reizbar und sehr emotional bin. Seine gehässigen Bemerkungen überspannen schließlich den Bogen.

„Hör auf!“, brause ich auf. „Weder bin ich eine Einser-Studentin, noch studiere ich an irgendeiner renommierten Elite-Universität, wie du es so schön ausgedrückt hast. Um genau zu sein, habe ich nicht mal einen Schulabschluss! Reicht dir das als Erklärung?“ Heiße Wut rauscht durch meinen Körper.

„Nein“, antwortet er nach einer Weile trocken und hält mich am Arm zurück, als wir das Obergeschoss erreichen, die Aufzugtüren aufspringen und ich schnellstmöglich aus seiner Nähe fliehen möchte. „Das nehme ich dir nicht an. Du warst damals die Jahrgangsbeste am St. Mary's.“

„Ich war gezwungen, vorzeitig die Schule abzubrechen, okay? Keine große Sache!“, entgegne und mache mich ruckartig von ihm los, um ihm damit zu signalisieren, dass das Thema hiermit beendet ist.

Denton scheint jedoch anderer Meinung zu sein, wie ich seinen Schritten hinter mir entnehmen kann.

„Bitte, Denton. Ich will nicht mehr darüber reden.“

Ich spüre wie mir allmählich ganz anders wird. Ich weiß nicht, ob es an seinen spitzen Bemerkungen, dem Schlafmangel oder der Tatsache, dass ich seit fast zwei Tagen kaum etwas gegessen habe, liegt. Der Boden unter meinen Füßen beginnt sich zu drehen, während die weißen Wände zu einem Ganzen verschwimmen.

„Alles in Ordnung?“

Ich bin mir nicht sicher, was er da gerade sieht, aber ich fühle mich alles andere als in Ordnung. Ich möchte einfach meine Arbeit hinter mich bringen, nach Hause gehen und mich hinlegen. Ich drehe mich zu ihm.

„Mir geht es gut. Lass mich einfach meine A-“

Ich schaffe es nicht, meinen Satz zu beenden. Der Raum tanzt ein paar Mal um mich herum, bevor er komplett schwarz wird.

 

 

***

 

Fortsetzung folgt!

 

Wer gerne wissen möchte, wie es weitergeht, den begrüße ich herzlich im folgenden Kapitel!

 

Bis dahin!

 

Liebe Grüße - eure J. Ennie

Impressum

Texte: J.Ennie 2014; Es handelt sich bei dieser Geschichte erstrangig um ein fiktives Werk. Ähnlichkeiten mit anderen Texten, lebenden sowie verstorbenen Personen oder Ereignissen sind rein zufällig.
Tag der Veröffentlichung: 27.07.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An alle Liebenden, Enttäuschten und Hoffnungsvollen dieser Welt. Egal wie alt. Denn es fühlt sich immer gleich an.

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