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Kapitel 2 tamashii ni me wo mukeru
In die Seele blicken


„Also, wieso sollen wir zu Ihnen ziehen, Jiyuu-san?“, fragte Die verzweifelt, während Kaoru versuchte, ihn ein wenig zu beruhigen, damit dieser nicht mehr so rumschrie.
„Du kannst mich duzen und mich beim Vornamen nennen. Ich habe keine Lust, einen Monat lang zuhause gesiezt zu werden.“, antwortete die lila Schönheit desinteressiert und kühl.
„Okay. Wieso sollen wir zu dir ziehen?!“, schrie Die noch verzweifelter heraus.
„Heißt das, wir haben diesen ganzen Monat keine Auftritte, Interviews etc.? Wir machen einen Monat lang keine Musik?“, fragte Kaoru immer noch leicht irritiert.
„Ja, das heißt es… Ihr habt sozusagen einen Monat Urlaub. Musik machen könnt ihr aber, ich habe Instrumente zuhause und auch eine kleine Bühne, aber ich denke mal, ihr bringt eure eigenen Instrumente mit, oder?“, fragte Kaze grinsend.
„Ja, aber sicher doch!“, antwortete ihr Toshiya, der sich als Einziger von den fünf Dirus darüber freute, etwas Unerwartetes zu erleben, was er auch offen zeigte, indem er sein Gesicht zu einem riesigen XD verzog.
„Sie haben Die’s Frage noch nicht beantwortet…“, ertönte plötzlich Shinya’s schüchterne, leise Stimme.
Kaze schwieg zunächst. Sie überlegte, wie sie es den Dirus am besten erklären sollte, wobei sie sich an diesem Tag schon öfters darüber Gedanken gemacht hat. Langsam fing sie an zu erklären:
„Nun ja, wie gesagt…ein Monat Urlaub… Ihr seid doch frustriert und überarbeitet…
Isoga-san meinte sogar, dass ihr in einer ziemlich tiefen Depression steckt, wobei ich das bei all der Scheiße, die über euch verzapft wird, gut verstehen kann…“
Sie brach ab und wartete auf eine Reaktion, die aber nicht kam. Das Einzige, was sich verändert hatte, war die Stimmung, die sofort düster wurde.
„Also…dieser Monat soll für euch eine Art Therapie sein. Meine WG ist offiziell eigentlich auch eine Psychotherapieanstalt sozusagen…“ Sie lächelte, wobei ihr Lächeln gleichzeitig amüsiert und verletzt aussah. „Wir sind der Abschaum der Gesellschaft, der von Allen verstoßen wurde, auf den falschen Weg gekommen ist usw. Die meisten von meinen so genannten Adoptivkindern hatten außer sich selbst fast nichts, bevor sie zu mir gekommen sind. Wir ersetzen einander die Familie, die die meisten von uns nicht gehabt haben… Keiner dieser Menschen ist „normal“, oder wie die allgemeine Gesellschaft das heutzutage bezeichnet… Jeder hat seine eigene Geschichte, jeder ist durch die dreckigste Scheiße gewandert. Aber ihr werdet verstehen… Wundert euch über nichts! Dort sind nur Menschen mit kuriosem Charakter, wobei ich den ja auch habe…“, grinste sie zum Schluss.
Die Dirus sagten nichts, sondern dachten darüber nach, was Kaze ihnen gerade erzählt hatte. Sie malten sich aus, was ihnen alles bevorsteht, wobei bei keinem ein schönes Bild daraus wurde. Kaze durchbrach wieder die Stille: „Ich denke vor allem für Kyo-san ist die Anwesenheit von so vielen seltsamen Menschen gut. Da haben Sie viel Stoff für Ihre Songtexte… Wichtigstes Ziel dieses Monats ist es nämlich, dass Sie Ihre Schreibblockade überwinden, Kyo-san. Ich denke, meine Family wird Sie äußerst motivieren…“
Kyo schaute durch den Rückspiegel in ihre Augen und seufzte.
„Ich könnte schon über Ihren Auftritt zehn Lieder verfassen, so wie Sie reingeplatzt sind…“
Kaze lachte. „Ich habe doch gesagt, dass ihr mich alle duzen sollt.“ „Sie siezen mich aber auch, Kaze-san.“ „Sie stehen auch einige Stufen über mir…“ „Wieso denn das? Isoga-san nennt Sie ja wohl nicht umsonst Sensei…“
Kaze’s Lächeln verschwand und sie blickte in die Ferne. „Also gut, sucht es euch selbst aus. Mich nennt eh jeder, wie er will… Werdet ihr zuhause schon merken…“
„Wann kommen eigentlich unsere ganzen Sachen an?“, fragte Shinya plötzlich und meisterte somit einen totalen Themenwechsel. Kyo wand zum ersten Mal den Blick von Kaze ab, den er während des Gesprächs auf sie geheftet hatte, während sie diese Geste nicht merkte oder ihr einfach keine Beachtung schenkte und auf die Straße vor sich schaute.
„Isoga-san bringt heute das Nötigste mit. Morgen könnt ihr dann den Rest holen.“
„Sie retten anscheinend öfters Selbstmörder, was? Meinte Isoga-san ja…“, versucht Kyo wieder das Gespräch aufzunehmen und zeigte auf das Mädchen, das auf dem Beifahrersitz saß. „Huch, die habe ich ja komplett vergessen! Du bist ja mal echt ein waschechter Emo! Sitzt neben mir und ich bemerke sie nicht einmal!“, sagte Kaze und lachte laut.
„Du solltest besser still sein! Deine Arme sind doch übersät mit Narben! Und dann wagst du es auch noch, mich als Emo zu bezeichnen?! Du bist doch selber einer!“, schrie das Mädchen ihr entgegen und setzte ein höchst missachtendes Grinsen auf.
„Wie heißt du eigentlich?“
„Wieso sollte ich dir das sagen?!“, schrie das Mädchen wieder. Kaze blickte sie kurz an, wonach das Mädchen den Namen Sorako von sich gab und sich wieder in ihre düstere Ecke zurückzog, die sich irgendwie auf dem Beifahrersitz gebildet hatte.
Kyo schaute aus dem Fenster und sah, dass sie außerhalb Tokyos waren. Die Straße war begrenzt durch Einfamilienhäuser mit Vorgärten und durch das offene Fenster des Wagens atmete er tief die frische Luft ein. In seinem Kopf schwirrten vereinzelt die Worte Visu, Narben, Abschaum und freier Wind herum und setzten sich zu einem seltsamen, unverständlichen Puzzle zusammen. Den anderen Dirus ging es ähnlich.
Kaze riss Kyo aus seinen Gedanken: „Wir fahren jetzt auf mein Grundstück ein.“
Kyo blickte nach vorne durch die Frontscheibe und sah zwei große Gittertore, die vor ihnen automatisch aufgingen und sich hinter ihnen wieder schlossen. Zu beiden Seiten der asphaltierten Straße lagen verschiedene Spielfelder: Volleyball, Basketball, Tennis u.s. Weiterhin war ein Skatepark zu sehen, der sich, wie es schien, noch weit nach hinten hinausstreckte. Während Kaze seelenruhig auf das weiße Haus vor ihnen steuerte, das alle sonstigen im Auto sitzenden Personen eher an einen Palast erinnerte, wenn nicht gar an das Schloss von Versailles, wussten die Dirus nicht, was sie mit ihren Blicken verschlingen sollen.
Kurz vor dem Palast bogen sie nach links ab und fuhren in eine riesige Garage ein, in der noch einige Autos standen. Kaze sagte mit einem glücklichen Gesicht „Aussteigen“ und führte ihre Gäste auf einem Kiesweg in den Bereich links vom Haus. Vor ihnen stand ein großer roter Torii, der, von einer hohen Hecke umgeben, den Eingang in einen wunderschönen japanischen Garten darstellte.
Die Besucher liefen über kleine Wege und Bäche, übersprangen die zahlreichen kleinen Seen mit ihren Wasserfällen auf den darin platzierten Steinen und überquerten kleine Brücken.
Nur einmal wurde die Stille gestört. „Wohin gehen wir?“, fragte Kaoru. „Zu Hime.“ „Wer ist das?“ „Die Aufnahmeprüfung sozusagen…“
Ansonsten wagte es keiner etwas zu sagen. Die Stille wurde lediglich von Blätterrauschen und dem Plätschern eines Wasserfalls oder eines Kois durchbrochen. Man bekam geradezu Schwindelgefühle von der reinen Luft und der absoluten Ruhe. Es verschwand jegliche Erinnerung daran, dass man vor einiger Zeit noch im lärmenden, stickigen Tokyo war.
Plötzlich eröffnete sich ihrem Blick ein großer Teich, in dessen Mitte ein Teehaus stand, mit einer Brücke verbunden. Die Shôji des Teehauses waren geöffnet und aus ihm klangen leise die Töne eines Shamisen. Die Eindringlinge gingen langsam über die Brücke und näherten sich der kleinen Person, die im Teehaus saß, mit dem Gesicht zu ihnen gewandt, undmit geschlossenen Augen dem Shamisen seine beruhigende Melodie entlockte. Angekommen, folgten alle Kaze ins Teehaus und setzten sich nach ihrem Beispiel im Seiza auf die weichen Tatami.
Das kleine Mädchen hörte auf zu spielen und legte das Shamisen beiseite. Erst dann öffnete sie die Augen. Das Mädchen sah aus wie eine der Puppen, die man zum Hinamatsuri aufstellt. Sie trug einen mehrlagigen Kimono in sanften Tönen mit Pfirsichblütenmuster. Ihre langen rabenschwarzen Haare trug sie offen. Sie lagen noch hinter ihr auf den Tatami, man konnte sich nur vorstellen, wie lang sie eigentlich waren. Kaze und das Mädchen verneigten sich sitzend voreinander, wonach letztere, die anscheinend Hime war, ihren Blick zunächst über die fünf Dirus schweifen ließ und ihre schwarzen Augen dann an Sorako heftete.
„Wo hast du die denn aufgetrieben?“, fragte Hime Kaze, während sie Sorako weiterhin durchdringend musterte. „Die ist von einem Wolkenkratzer gesprungen.“ „Sag bloß, du hattest einen Fallschirm dabei!“ „Maya hat vergessen, ihn aus dem Kofferraum zu holen.“
Hime seufzte und meinte: „Was wollen wir mit diesem normalen Emo?“ „Irgendetwas an ihr ist anders, findest du nicht auch, Hime?“ „Ja, da ist irgendetwas…“
Sie stand auf und ging auf Sorako zu, bis sie direkt vor ihr stand und auf sie herabblickte.
„Du hast wirklich Glück, dass Kaze so ein gütiger Mensch ist. Ich hätte einem schlechten Menschen wie dir nie eine Chance gegeben…“, meinte sie herablassend.
Sorako’s Augen wurden noch größer als sie schon waren. Immerhin war das Kind vor ihr nicht gerade eine „normale“ Erscheinung.
„Du hasst alle Menschen und alle Dinge auf dieser Welt. Ich weiß, wie das ist, ich war auch so. Allerdings hatte ich, im Gegensatz zu die, einen Grund dazu.
Man kann dir alles geben, was du willst, du bleibst trotzdem unzufrieden. Nie ist dir etwas gut genug. Deine Eltern lieben dich über alles und haben nur Augen für dich, und trotzdem reicht dir das nicht aus. Du redest dir dauernd ein, wie schlecht es dir doch geht, obwohl du in Wahrheit keine Ahnung hast. Du genießt es zu leiden, genießt es mit deiner ganzen Seele, dich in Selbstmitleid zu wälzen. Dein gesamter Lebensinhalt liegt nur darin, über das Leben zu klagen!“
Nachdem sie den letzten Satz ausgeschrien hatte, hielt Hime inne und beruhigte sich momentan. Sie redete weiter: „Ich werde dir Kaze’s Güte zu Liebe auch eine Chance geben, obwohl du sie nicht verdient hast. Du kannst entscheiden, ob du zurück in deinen alten sinnlosen Trott willst, oder versuchst, der Realität ins Auge zu blicken und ein reales Leben zu führen. Allerdings musst du dich darauf vorbereiten, dass die meisten Mitglieder unserer Familie dir mit Verachtung begegnen werden, da sich alle so ein Leben, wie du es hattest, immer gewünscht haben, und sie logischerweise missbilligen werden, dass du dich darüber sogar noch beklagst. Also, entscheide selbst. Du musst deine Entscheidung fällen, bevor du durch den Torii trittst. Danach kannst du den Weg gehen, den du gewählt hast.“
Sie schritt zurück, setzte sich auf ihren ursprünglichen Platz, verneigte sich nochmals vor Kaze, nahm ihr Shamisen, schloss ihre Augen und spielte ihre ruhige Melodie weiter.
Die Besucher folgten Kaze zurück auf dem Weg, den sie gekommen waren. Während die Dirus nur in Gedanken verloren waren, was bei ihnen in den letzten Stunden langsam zum Normalzustand wurde, starrte Sorako kreidebleich und schweißgebadet auf den Weg vor ihren Füßen.
Die Wahrheit hat sie unter sich begraben. Vielleicht hatte sie das alles sogar gewusst, aber sie hat es anscheinend verbannt, damit es ihr besser ging. Sie hat sich ihr ganzes Leben etwas vorgemacht, etwas vorgelogen. Sie hat sich die ganze Zeit selbst getäuscht. Ihre Klagen, ihre Schmerzen, sie waren nichts weiter als Ausgeburten ihrer Phantasie. In jedem Wort des seltsamen Mädchens lag die schwere Wahrheit. Ach, wie leicht ist es doch, sich selbst zu belügen! Nachdem man sich die Wahrheit eingestanden hat, hat man zwar einen klaren Blick, dafür aber eine schwere Last auf den Schultern. Sämtliche Wut und Aggressivität war verpufft. Das Einzige, was sie erfüllte, war ihre Scham, dass sie entlarvt worden ist, und ihre Abscheu gegenüber sich selbst. Verzweifelt stellte Sorako sich die Frage, wie es weiter gehen soll.
Mittlerweile ist die Gruppe beim Ausgang angekommen. Alle außer ihr sind bereits durch den Torii geschritten, nur Sorako stand noch einen Meter vor ihm da.
Sie konnte nicht zurück. Nicht mit der Wahrheit.
„Nimm mich bitte bei dir auf!“, rief Sorako Kaze zu.
Kaze lächelte und winkte sie zu sich.
Sorako trat durch den Torii.


---------------------------------------------------------------------------zu den japanischen Bezeichnungen:
• Sensei: Lehrer oder Meister, respektvoll und leicht emporhebend
• Sorako: übersetzt heißt ihr Name „Himmelskind“ oder „Kind des Himmels“
• Torii: eigentlich ein Eingang zu einem shintoistischen (japanischen) Tempel; wird aber gerne vor den Eingang von japanischen Gärten gestellt; wer immer noch nicht weiß, was gemeint ist, kann es googeln
• Shôuji: Schiebetüren (sollten auch jedem ein Begriff sein)
• Shamisen: japanisches Saiteninstrument; ist eigentlich bekannt aus dem Film „Memoirs of Geisha“
• Seiza: japanische Sitzstellung; man sitzt auf den Unterschenkeln, der Po ist auf den Fersen
• Hinamatsuri: Fest der Mädchen im Frühling; es ist Tradition, Puppen aufzustellen, die die Kaiserfamilie darstellen; der Kleidungsstil entspricht in etwa dem japanischen Mittelalter

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.03.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
meiner geliebten Band Dir en Grey und allen Dingen, die mir in diesem Leben wichtig sind

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