Kapitel 1 deai – Begegnung
Worte hallten in seinem Kopf wider… „Als ob das noch ihr Stil wäre… Die sind doch total nach Westen gerichtet! ... Niemand will ihre Lieder hören… Sie sind nicht mehr so einzigartig wie früher! Ja, ja, langsam werden die Typen alt… War ja klar, dass sie irgendwann nachlassen!“
Er machte die Augen auf und bemerkte, dass jemand neben ihm stand und ihn müde und genervt ansah.
„Kyo! Hast du schon wieder gepennt?! Kannst du denn nicht ein Mal bei der Sache bleiben? Du weißt doch, dass Isoga-san uns hierher gebeten hat, um uns was Wichtiges zu sagen…“, murmelte Kaoru wütend. Man sah ihm deutlich an, dass er enorm unter Stress stand und ihn in diesem Zustand jede Kleinigkeit zum Ausrasten bringen konnte.
„Der Depp kommt jetzt ja selbst zu spät! Da macht es doch nichts, wenn ich mich eine Weile ausruhe…“, erwiderte Kyo ihm widerwillig.
Nach einigem wütenden Blickwechsel (bei dem Kyo logischerweise verlor) stand Warumono letztendlich doch von seinem selbstgemachten Bett auf, das er sich aus drei gepolsterten Stühlen gebastelt hatte. Er brauchte frische Luft und eine Zigarette, um wieder in die Realität zurück zu kommen. Er ist zu schnell aus seinen unliebsamen Gedanken herausgerissen worden.
Kyo nahm sein schon wieder fast leeres Zigarettenpäckchen und ging hinüber zum Fenster, das bereits wie zur Einladung offen stand. Wenig interessiert warf er einen Blick, nach unten. Sie waren ziemlich weit oben in einem Wolkenkratzer und unter ihm lag eine tiefe Straßenschlucht. Ganz normal Tokyo halt…
Er zog genüsslich an seiner Zigarette und warf einen Blick nach oben. Die grelle Sonne kotzte ihn langsam wirklich an. Es war zu hell, viel zu hell. Die Sonne legt immer alles, was man nicht sehen will oder sehen sollte, vollkommen ins Licht. Das ist weder besonders gut noch besonders angenehm. Trotzdem gefiel Kyo der Blick nach oben besser; da war nicht alles voller Menschen, voller Trubel, voller Lärm…
Plötzlich entdeckte er, wie von oben etwas nach unten geflogen kam. Erschreckt stellte er fest, dass es sich dabei anscheinend um einen Menschen handelte. Kyo war ja eigentlich der Auffassung, dass jeder Mensch mit seinem Leben tun kann, was er will, und hatte dementsprechend eine ganz normale Meinung zum Selbstmord. Doch trotzdem spürte er das Verlangen, dieses menschliche Leben zu retten, zu helfen, nicht einfach nur teilnahmslos zuzusehen. Während die eine Hälfte seines Hirns panisch überlegte, was er tun könnte, dachte die andere Hälfte daran, dass auch er, der große und gefürchtete Warumono (seine willkürliche Namensgebung), sich nicht so sehr von „den Anderen“ unterschied. Von diesen törichten Menschen, die nur ihr oberflächliches Mitleid und ihre noch oberflächlichere Güte zeigen, und dabei eigentlich alle nur ein riesiger Haufen Egozentriker sind.
Da bemerkte Kyo noch einen menschlichen Schatten hinter dem ersten. Er erkannte nicht viel, da ihm die Sonne direkt ins Gesicht schien. Das Ganze ereignete sich genau über ihm. Die zweite Person hatte die erste eingeholt und scheinbar umklammert, als plötzlich über den beiden ein Fallschirm aufging. Er streifte das Gebäude, da sie so nah an der verglasten Wand waren. Kyo sah die beiden bereits von oben auf sich zugleiten und wich zurück. Einen Moment später ragte nicht einmal einen Meter über seinem Kopf ein Katana aus dem Glas. Mit weit aufgerissenen Augen folgte er dem Lauf des Schwertes. Es ist gerade durch die Glaswand gestoßen worden und die zwei Möchtegern-Selbstmörder (so Kyos Schlussfolgerung) hingen am anderen ende. Es waren zwei junge Frauen, vielleicht sogar noch Teenager. Die eine hielt sich mit einer Hand an dem Schwert und hielt mit der anderen das zweite Mädchen an sich. Von ihren Schultern hingen Seile herab, wahrscheinlich vom Fallschirm. Das Ganze ähnelte einer Lebensrettungsszene aus einem James-Bond-Film mit weiblicher Hauptrolle.
Während er das Suizidpärchen betrachtete, traf sein Blick mit dem des Schwertmädchens zusammen. Die grauen Augen durchbohrten ihn geradezu und hinterließen ein irritierendes Gefühl zurück. Seine Intuition sagte ihm, dass sie etwas Besonderes sei, etwas, worauf er schon sein Leben lang gewartet hatte. Grundlose Glücksgefühle erfüllten ihn mit einem Schlag.
Während Kyo so verdattert da stand und nicht wirklich daran dachte, sich zu rühren, drängten sich die anderen vier Dirus, die, angelockt durch Kyos mal ausnahmsweise interessierten und zugleich auch seltsamen Gesichtsausdruck, dem Geschehen auch zugesehen hatten, schreiend nach vorne und zogen die beiden Frauen, die logischerweise immer noch in Todesgefahr schwebten, oder um genauer zu sein hingen, durch das Fenster hinein. Das untere Mädchen, anscheinend die jüngere der beiden, ließ sich auf den Boden fallen. Sie war schweißgebadet und leichenblass. Das Schwertmädchen stand vor ihr, mit ihrem Katana in der Hand, das sie aus der Glasscheibe befreit hatte. Sie blickte stolz und verachtungsvoll auf das Mädchen herab, das vor ihr geschockt auf dem Boden kauerte.
Nach einigen Sekunden des Schweigens, in denen sich die beiden Mädchen anstarrten (während sie selbst von den Dirus angestarrt wurden), glätteten sich plötzlich die Gesichtszüge des Schwertmädchens und sie meinte: „Das Leben sollte man erst wegwerfen, wenn man keine Chance mehr hat, es zu verbessern.“
Sie wartete auf eine Antwort, doch diese kam nicht. Das andere Mädchen starrte sie ungläubig und zornig an, doch man spürte geradezu ihre Bereitschaft, gegen jedes einzelne Wort zu widersprechen.
„Ich werde dir eine Chance geben. Komm mit mir! Du sollst die Möglichkeit bekommen, dein Leben so zu gestalten, wie du es haben willst.“
„Was willst du mir denn geben?! Geld etwa?! Ach so! Du wirbst mich als Prostituierte an!“, schrie ihr das bleiche Mädchen entgegen und verfiel nach ihrer Aussage in hektisches Gelächter.
„Ich gebe dir das, was du haben willst: Freiheit.“, erwiderte die Ältere unbeeindruckt.
„Und wie willst du mir das geben?! Du hast mir gerade meine Freiheit geraubt, als du mich vom Selbstmord abgehalten hast!“
„Du kannst mein Angebot einfach mal begutachten. Danach kannst du dich ja immer noch weigern. Was hast du schon zu verlieren, wenn dein Leben dir nichts mehr bedeutet? Im Notfall hättest du tausend Möglichkeiten, unter allem einen Schlussstrich zu ziehen…“
„Was geht denn hier vor?!“
Der Ausruf unterbrach sie und sie blickte zum Urheber herüber.
Isoga-san, der Manager der im Raum versammelten Band Dir en grey, stand am Eingang. Kaoru, der sich als erster von den Fünf wieder fasste, erwiderte darauf nur: „Seit wann stehen Sie denn da, Isoga-san?“ „Seit das Schwert durch das Glas gestoßen wurde!“, antwortete Isoga-san barsch und ging auf das Schwertmädchen zu.
„Ah! Sie sind es Isoga-san! Wir haben uns lange nicht gesehen, aber Sie haben sich kein bisschen verändert.“, meinte die weibliche James Bond lächelnd.
„Sie haben sich auch kein bisschen verändert, Sensei… Ihre Auftritte sind jedes Mal von neuem schockierend… Haben Sie etwa schon wieder einem Selbstmörder das Leben gerettet? Bald können Sie einen Rettungsverein aufmachen…“
„Ich tue nur, was ich für richtig halte. Das sollten sie ja aber bereits wissen… Ich kam lediglich hierher, weil Sie mich darum gebeten hatten…und entdeckte dann eben dieses Opfer der Gesellschaft auf dem Dach…“ „Nun ja, das ist Ihre Sache… Jetzt haben Sie mich an mein eigentliches Vorhaben erinnert. Kaoru-san, Die-san, Toshiya-san, Shinya-san und Kyo-san!“, wendete er sich an die langsam wieder lebendigeren Dirus. „Darf ich euch vorstellen: Dies ist Jiyuu Kaze-sensei! Sie ist Kulturwissenschaftlerin und Assistenzprofessor an der Universität im Bereich der japanischen Kultur und Kunst. Außerdem ist sie in vielen Vereinigungen und sonstigen öffentlichen Verbänden tätig. Sie betreut eine große Wohngemeinschaft, die aus… nun ja, nicht so wichtig… Jedenfalls haben euer Produzent, der Chef und ich beschlossen, dass ihr für einen Monat bei ihr einzieht!“
Schweigen erfüllte den Raum. Ungläubig starrten die Dirus ihren grinsenden Manager an. Währenddessen hat es sich die als Kaze benannte Frau auf einem Stuhl gemütlich gemacht und schlürfte genüsslich eine Tasse grünen Tee, der auf dem Tisch stand.
Dann riefen plötzlich alle Fünf durcheinander los: „Haben Sie kein Geld mehr, um uns eine ordentliche Bleibe zu besorgen?!“ „Wieso sollte wir in eine Wohngemeinschaft ziehen?!“ „Jetzt kapiere ich gar nichts mehr…“ „Und das soll eine Lehrkraft an der Uni sein?!“, schrie als Letzter Toshiya heraus und zeigte auf Kaze.
Erst jetzt machten sich die Fünf mal die Mühe, diese Kulturwissenschaftlerin näher zu betrachten. Sie trug einen Corsage und einen Minirock, dazu Stiefel mit riesigen Absätzen und eine Netzstrumpfhose, alles in Lila und Schwarz gehalten, mit viel Satin, Seide, Tüll und Leder. Von ihrer linken Hüfte hing eine Schwertscheide, in der nun auch das oben erwähnte Katana steckte. Ihre vollkommen violetten Haare waren hinten zu einem Zopf zusammengebunden, der ihr bis zu den Knien reichte. Auf ihren beiden Oberarmen trug sie jeweils eine Tätowierung: „jiyuu na kaze“ und einen Flügel darunter. Über ihren gesamten Rücken waren zwei riesige geschlossene, schwarz schattierte Flügel tätowiert. Das Erste, was den Dirus bei diesem Anblick einfiel war: Ein total verrückter und total gefährlicher Visu.
Doch sie strahlte etwas Majestätisches und Überlegenes aus, vor allem, wenn sie jemanden mit ihren grauen Augen ansah. Auch ohne sie zu kennen, wusste man bereits bei ihrem Auftreten, dass man ihr Respekt zollen sollte. Kyo wurde wieder von einem Glücksgefühl überspült, das er sich aber nach außen hin nicht anmerken ließ.
Die Stille des Betrachtens wurde plötzlich vom Chorus von „Child Prey“ unterbrochen. Kaze griff in eine Seitentasche ihres Rocks, zog ihr Handy heraus und warf einen kurzen Blick auf das Display.
„Wir müssen los. Hime wartet schon.“, sagte sie zu allen Anwesenden. Dann wandte sie sich zu Isoga: „Isoga-san, ich nehme die Fünf mit und erkläre ihnen auf dem Weg alles. Sobald Sie alles erledigt haben, können Sie ja nachkommen.“
Ohne eine Antwort zu erwarten, packte sie das wütend auf dem Boden sitzende Mädchen, das sie vor einer Viertelstunde vor dem Suizid bewahrt hatte, und schleppte sie hinter sich her. Sie gab den Fünf das Zeichen, ihr zu folgen, verließ den Raum und machte sich auf zu den Aufzügen.
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zu den japanischen Bezeichnungen:
• Warumono: heißt übersetzt „böser/schlechter Mensch“
• Katana: japanisches Schwert („Seele des Samurai“)
• Jiyuu na kaze: heißt übersetzt „freier Wind“ (Tätowierung); Jiyuu alleine heißt Freiheit, deshalb heißt ihr Name übersetzt „Freiheit Wind“
• Hime: heißt übersetzt „Prinzessin“
Tag der Veröffentlichung: 29.01.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
meiner geliebten Band Dir en Grey und allen Dingen, die mir in diesem Leben wichtig sind