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Die Geschichte des Noel Cruz



Das Land, von dem diese Geschichte erzählt, existiert nicht. Ich weiß es, ich habe dort gelebt…

„Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen, noch tritt auf den Weg der Sünder, noch sitzt, wo die Spötter sitzen, sondern hat Lust am Gesetz des HERRN und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht! Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit und seine Blätter verwelken nicht. Und was er macht, das gerät wohl."
Der Wind blies über die Bibel und blätterte die von mir bereits gelesenen Seiten zurück. Ich verlor mich. Es war ziemlich spät und unser Wohnheim stand schon fast leer da. Die Studenten waren bereits alle bei ihren abendlichen Vergnügungen. Ich trat in mein Zimmer und entdeckte, dass mein Zimmergenosse sich schon schlafen gelegt hatte. Leise legte ich die Bibel auf meinen Schreibtisch. Mein Name ist Noel Cruz und ich studierte zu diesem Zeitpunkt Theologie. Eigentlich hatte ich das nicht vor, doch meine Eltern haben sich dies gewünscht. Mein Vater war der Pfarrer unseres Dorfes und meine Mutter arbeitete in der Dorfbäckerei. Wir waren zwar nicht wohlhabend, sondern lebten in ärmlicheren Verhältnissen als andere, doch dafür waren wir die glücklichste Familie der Gemeinde, wenn nicht gar des gesamten Erdkreises. Ich wollte eigentlich in die Fußstapfen meines Vaters treten und der nächste Pfarrer der Gemeinde werden, doch meine Eltern meinten, dass ich mit meiner Intelligenz Gelehrter werden sollte, und so schickten sie mich an die Universität, obwohl sie sich das gar nicht leisten konnten. Ich wollte ihnen nicht ihren Wunsch nehmen. Ich war ziemlich einsam ohne meine Familie, doch ich hatte bereits neue Freunde gefunden. Die meisten der Theologiestudenten waren mir ähnlich und wir waren zusammengeschweißt zu einer festen Gemeinde. Die Abende saßen wir zusammen in der Universitätsbibliothek, machten unsere Hausarbeiten und lasen gemeinsam das neue Testament. So bestand mein Tagesablauf darin, dass ich morgens in den Vorlesungen war, mittags im Park spazieren ging und die Abende in der Bibliothek verbrachte. Mein Leben war Gott gewidmet.

Ich liebte meine täglichen Spaziergänge. Es war Frühling und die Natur erwachte vor meinen Augen zum Leben. Die Schönheit von Gottes Schöpfung erfüllte jeden meiner Tage mit Freude. Und die wundervollste Schöpfung war eindeutig der Mensch. Das Lächeln eines spielenden Kindes war schöner als die allerschönste Blume, strahlender als die Sonne selbst, das Lachen melodischer und friedvoller als das Läuten der Kirchenglocken. Die Eltern spazierten mit ihren Kindern durch den Park, die Älteren saßen auf den Bänken und fütterten die Vögel. In jedem Menschen sah ich einen Funken Gottes, jeder Mensch schien zu strahlen. Der Frühling erweckte alle. Ich betrachtete Gottes Schöpfung mit weiten Augen und Tränen der Bewunderung bahnten sich ihren Weg über meine Wangen. So verging jeder meiner Tage und sie waren so wundervoll, dass ich am liebsten jeden einzelnen festgehalten hätte.

Eines Tages, als ich auf einer der Bänke im Park saß, setzte sich eine junge Frau neben mich. „Ich habe dich hier schon öfters gesehen. Gehst du hier immer spazieren?“, fragte sie lächelnd. „Ja, es ist so friedlich hier“, antwortete ich. Sie gab mir die Hand. „Mein Name ist Désirée Hesse. Ich studiere Mathematik hier an der Uni.“ „Ich heiße Noel Cruz und studiere Theologie.“ „Du hast einen seltsamen Namen“, meinte sie zu mir. „Meine Eltern haben sich Mühe gegeben“, grinste ich. Sie wendete ihr Gesicht nach vorne und schaute den Vögeln vor uns zu, wie sie die Brotkrümel aufsammelten. Nachdem wir eine Weile schweigend nebeneinander gesessen sind und die Vögel beobachtet hatten, fragte sie mich mit immer noch nach vorne gewandtem Gesicht: „Wohnst du im Wohnheim?“ „Ja. Und du?“, fragte ich zurück. „Ich habe eine eigene Wohnung. Teilst du dein Zimmer mit jemandem?“ „Ja, aber mein Zimmergenosse ist nicht gerade kontaktfreudig. Er spricht fast gar nicht, sondern liest die ganze Zeit Bücher auf Latein. Er ist Lateiner und das anscheinend mit ganzer Seele. Ich habe nichts dagegen, dass er kaum mit mir spricht. Wenn er seine Ruhe haben will, soll er sie haben.“ „Ach so…“, sagte sie nur und schwieg wieder. Doch sie brauchte nicht zu reden.

Wir trafen uns fast jeden Tag im Park. Wir hatten uns nicht einmal abgesprochen, doch wir fanden einander immer. Ich freute mich auf die Zeit im Park noch mehr als üblich. Sie sprach fast gar nicht mehr mit mir. Ich hingegen redete fast die ganze Zeit. Ich erzählte ihr von meinem Leben, von meiner Kindheit, sprach direkt aus, was ich dachte. Ich könnte das auch anderen erzählen. Was hätte ich schon zu befürchten? Doch der Drang zu erzählen, war in ihrer Anwesenheit unüberwindbar groß. Ich wollte ihr meine Seele malen. Und so redete ich immer weiter, nur sie im Blick, während sie alles Mögliche um uns herum beobachtete. Manchmal lächelte sie für einen Moment. Diese Momente liebte ich. Ich fand sie unsagbar schön, noch schöner als andere Menschen. Ich liebte den Klang ihrer Stimme, wenn sie mir eine kurze Frage stellte. Ihre Anwesenheit wirkte unheimlich wohltuend auf mich. Meine Augen nahmen meine Umgebung noch strahlender wahr als sonst. Ich fragte mich, ob das, was ich empfand, vielleicht Liebe war. Nachdem eine Woche auf diese Art vorbeigeschlichen war, nahm sie mich am achten Tag unserer innigen und vertraulichen Bekanntschaft mit zu sich, um mir ihre Wohnung zu zeigen. Sie hatte, wie ich es auch erwartet habe, eine sehr helle Wohnung mit riesigen Fenstern. Während ich noch ihr großes Schlafzimmer betrachtete, mit beigen Wänden, weißen Lampen und weißer Bettwäsche, trat sie direkt vor mich und zeigte mir plötzlich und unerwartet ihr strahlendes Lächeln. Ich stand da, wie betäubt von ihrem bezaubernden Gesichtsausdruck. Und ich merkte nicht, dass ihre glatten und kühlen Hände gerade dabei waren, mein Hemd aufzuknöpfen. Sie lehnte sich nach vorne, legte ihre Lippen auf meine und umspielte sie mit ihrer Zunge. In dieser Nacht träumte ich von einem Kind, das meine blonden Haare und Désirées graue Augen hatte.

„Mein Sohn, merke auf meine Weisheit; neige dein Ohr zu meiner Lehre, dass du behaltest guten Rat und dein Mund wisse Erkenntnis zu bewahren! Denn die Lippen der fremden Frau sind süß wie Honigseim und ihre Kehle ist glatter als Öl, hernach aber ist sie bitter wie Wermut und scharf wie ein zweischneidiges Schwert. Ihre Füße laufen zum Tode hinab; ihre Schritte führen ins Totenreich, dass du den Weg des Lebens nicht wahrnimmst; haltlos sind ihre Tritte und du merkst es nicht.“ Ich öffnete die Augen und sah mich um. Für einen kurzen Augenblick wurde ich geblendet, dann erkannte ich das Zimmer wieder. Désirée war nicht da und ihr Platz war bereits kalt. Mein Kopf war leer. Ich sammelte meine Kleider vom Boden auf und zog mich an. Dann suchte ich nach ihr. Ich rief ihren Namen, doch ich erhielt keine Antwort. Sie war weg. Immer noch nicht ganz bei Gedanken, verließ ich ihre Wohnung, ihr Haus, ihre Straße…
Ich kehrte zurück ins Wohnheim, duschte und setzte mich an meine Hausarbeiten. Doch ich konnte mich nicht konzentrieren, also gab ich auf. Ich ging wieder in den Park, doch diesmal nahm ich einen anderen Weg dorthin. Auf dem unbekannten Weg konnte ich mich mit den unbekannten Dingen ablenken. Wovon ich abgelenkt werden wollte, weiß ich nicht. Und dann war da sie… Und an ihren Lippen ein anderer Mann. Auch sie erblickte mich und zog ihn noch näher an sich heran. Als er sich von ihrem Mund löste und seinen Kopf zu ihrem Hals hinunter neigte, lächelte sie mir zu. Doch das war nicht sie. Es war ein anderes Lächeln, eins, das ich noch nie gesehen hatte. Es war boshaft, spöttisch, verachtend… Ich kann nicht ausdrücken, was ich dabei fühlte. Während ich da stand und meinen Blick nicht von ihr abwenden konnte, verabschiedete sie sich von dem Mann, sah ihm hinterher und als er außer Sichtweite war, ging sie zu mir. Ich dachte, sie wolle an mir vorbeigehen ohne mir auch nur in die Augen zu sehen, doch neben mir blieb sie abrupt stehen. „Die Menschen sind nicht alle so, wie du denkst. Die Welt ist nicht so, wie du sie siehst. Du hast keine Ahnung, du naives Kind“, sagte sie leise und ich hörte einen mir unbekannten Ton heraus. „Was meinst du?“, fragte ich zögerlich. „Ich bin nicht so, wie du denkst. Ich habe dich um den Finger gewickelt und das ohne große Schwierigkeiten. Du bist einfach reingefallen. Eigentlich wollte ich dich von Anfang an nur ins Bett bringen. Als ich dich das erste Mal gesehen habe, hast du mir sofort gefallen. Du bist nämlich unheimlich hübsch, weißt du das? Und dann kam noch der Kick dazu, einen unberührten Heiligen wie dich zu schänden“. Sie fing an, wie eine Wahnsinnige zu lachen. Sie stand da und lachte über mich. Und ich hatte nichts dagegen. Doch ich verstand nicht ganz, was sie meinte. Damals verstand ich es noch nicht. „Bist du enttäuscht?“, fragte sie. „Ich verstehe dich nicht…“, sagte ich nur. „Irgendwie tust du mir leid. Ich glaube, ich sollte dir zeigen, was Leben ist, was es wirklich ist… Du kommst jetzt mit“. Sie packte mich an der Hand und zog mich hinter sich her. Ich folgte ihr willig. Wir liefen und liefen, sie vorne, ich hinter ihr. Wir blieben vor einem bunten Gebäude stehen, über dessen großem Eingang mit Neon-Röhren „Karaoke“ geschrieben stand. „Was wollen wir hier?“ , fragte ich, geblendet von den grellen Farben. „Weißt du nicht einmal, was Karaoke ist?“, fragte sie und lachte mich wieder aus.

„Du willst nichts singen, oder?“, fragte sie und nahm, ohne eine Antwort abzuwarten, wieder das Mikrofon in die Hand. Wir saßen in einem kleinen Raum mit kleinem Tisch, großem Sofa und riesigem Fernseher, auf dessen knallbuntem Bildschirm irgendwelche seltsamen Tierchen und Männchen, sogenannte Maskottchen, herumtanzten. Vor mir stand eine Flasche Champagner, die sie bereits zur Hälfte geleert hatte. Ich hatte keinen Schluck genommen.
„Soll ich dir Wein bestellen?“, hatte sie mich lachend gefragt, als wir vor einer halben Stunde den Raum betreten haben. „Beim Abendmahl trinkt ihr den ja auch, also wird das wohl nicht gegen deine Prinzipien sein“. Ich schwieg beschämt. Währenddessen hatte sie bereits ein mir unbekanntes Lied gewählt und sang einen mir unbekannten Text. Je länger sie sang, desto glücklicher wurde ihr Gesichtsausdruck, desto heftiger ihre tänzerischen Bewegungen. Einmal brach sie kurz ab, drehte sich zu mir um und küsste mich leidenschaftlich. Ich ließ alles über mich ergehen und beobachtete sie weiter. Die Flasche Champagner war leer. Als sie mit sich zufrieden war, gingen wir hinaus. Sie wollte in der Stadt spazieren gehen. „Ich finde es schade, dass du nicht gesungen hast, aber wahrscheinlich kannst du nur Kirchenlieder singen und die gefallen mir überhaupt nicht, wenn du verstehst, was ich meine…“ Sie leerte ihre vierte Flasche. Was für ein Getränk es war, weiß ich nicht.
Als wir endlich zurückgingen, musste ich sie stützen. Vor der Haustür befahl sie mir dann, sie hineinzutragen. Ich legte sie auf das Bett, schaltete das Licht aus, verabschiedete mich von ihr und näherte mich schon der Ausgangstür, als ich aus dem Schlafzimmer ein unterdrücktes Schluchzen vernahm. Vollkommen verwirrt, machte ich kehrt und rannte zurück zu ihr. Désirée lag zusammengerollt auf dem Bett und verbarg ihr Gesicht in einem Kissen. „Désirée…was ist los?“, stotterte ich und näherte mich ihr. Sie blickte vom Kissen auf und ich sah ihr tränenüberströmtes Gesicht. Die schwarzen Tränen, gefärbt durch ihre Schminke, liefen haltlos über ihre Wangen. Auch auf dem Kissen waren die schwarzen Abdrücke ihrer verzweifelten Tränen zu sehen. „Lass mich nicht allein, Noel…, verlass mich nicht…“, flüsterte sie mit erstickter Stimme und streckte eine Hand nach mir aus. Sie wollte es. Sie wollte es wieder. Wollte sie nichts Anderes von mir? Sie wollte nur es. Und ich gab es ihr. Ich gab es ihr widerstandslos.

Die Bibel lag unberührt auf meinem Schreibtisch. Ich ging nur noch morgens zu den Vorlesungen. Die Spaziergänge und die abendlichen Bibliotheksbesuche fanden für mich nicht mehr statt. Ich hatte Anderes zu tun. Ich hatte Désirée. Manchmal schien es mir, dass sie mich wirklich liebte, manchmal empfand ich mich nur als Spielzeug. Ich denke, ihr Benehmen kam aus ihrer Einsamkeit. Das dachte ich schon damals. Und wer sich einsam fühlt, der weiß, wie es ist, nicht einsam zu sein. Daraus folgerte ich, dass sie früher jemanden an ihrer Seite hatte. Doch wo war dieser „jemand“? Hatte er sie verlassen? Wird er wieder kommen und sie befreien? Denn ich konnte das nicht tun, ich war nur eine Notlösung. Auch in meiner Gegenwart huschte ab und zu dieser tieftraurige Ausdruck über ihr Gesicht. Mein Selbstbewusstsein bekam Risse. Wurde ich von ihr nur als Gegenstand angesehen? Im Nachhinein frage ich mich eher, ob ich damals überhaupt ein Selbstbewusstsein hatte. Was ist Selbstbewusstsein? Man ist sich seiner bewusst… Man ist sich bewusst, was für ein Mensch man ist? Man ist sich bewusst, dass man einen Wert hat? Kann ein Mensch etwas wert sein? Oder etwas nicht wert sein? Seltsam, dass ich als Theologiestudent erst nach dem Treffen mit einer Mathematikerin begonnen habe, wirklich nachzudenken… Wenn ich mir die Form von Désirées Selbstbewusstsein anschaue, komme ich mir überhaupt nicht selbstbewusst vor… Sie steht zu dem, was sie ist und wie sie ist. Sie hat auf jede Kritik eine Antwort. Sie ist sich immer sicher, dass sie Recht hat. Ist sie dann selbstbewusst… oder arrogant? Und ich? Ich habe immer nach Grundsätzen, nach Dogmen gelebt. Hatte ich kein Ich? Désirée hat mal gemeint, ich sei nicht frei. Ich sei gefangen in meiner Religion, in ihren Regeln. Ist man erst ohne Regeln frei? Ist man dann nicht auch einsam? Gehört man dann überhaupt noch irgendwo dazu, wenn man sich seiner Freiheit wegen nirgendwohin hinordnen lässt? War das der ursprüngliche Grund für ihre Einsamkeit?

Ein Ereignis gab es, wegen dem ich dachte, dass ich ihr wirklich wichtig war. Ich traf sie zufällig, während sie in Begleitung anderer Studentinnen in die Mensa lief. Bisher hatten wir uns noch nie in der Universität getroffen. Ich bin ihnen gefolgt und habe sie beobachtet. Als ich später gefragt habe, hat sie gemeint, sie hätte mich nicht gesehen. Vielleicht hätte sie sich anders verhalten, hätte sie mich bemerkt. Die ganze Zeit, die ich sie beobachtete, wunderte ich mich nur. Wo war ihre emotionale Seite? Sie sah einfach nur kalt aus. Sie schwieg fast die ganze Zeit und wenn sie etwas sagte, hatte sie einen vollkommen desinteressierten Gesichtsausdruck. Ein junger Mann hatte gemerkt, dass ich permanent auf Désirée fixiert war und sprach mich an. „Willst du was von ihr?“, fragte er mich. „Wie bitte?“, fragte ich freundlich. Ich kannte den Ausdruck nicht, obwohl ich glaubte, ihn einmal bei Désirée gehört zu haben. „ Ob sie dir gefällt, frag ich dich.“ „ Und?“ Sein Ton gefiel mir gleich am Anfang nicht. „ Wenn ja, dann vergiss es, würde ich dir raten. Das ist keine Frau, das ist Medusa. Wer ihrem Blick begegnet, erstarrt sofort, zwar nicht zu Stein, aber zu Eis sicherlich. Ich habe noch nie etwas dermaßen Gefühlloses gesehen. Eigentlich passend, dass sie Mathematik studiert. Sie ist ein reiner Analytiker. Die hat nicht mehr viel Menschliches an sich.“
So war sie also für die Anderen. Für mich war sie das genaue Gegenteil. Sie war emotional ständig geladen, hat dauernd gekreischt, gestrahlt, geweint oder geschrien. Ruhig habe ich sie nur gesehen, als wir uns erst kennengelernt hatten. Damals hat sie auch fast nur geschwiegen. Vielleicht war eben das, was mir der Student in der Mensa erzählt hatte, der Grund dafür, dass ich trotz allem, trotz aller Konflikte bei ihr geblieben bin. Ich wollte sie nach dem Grund für ihre Verschlossenheit den Anderen gegenüber fragen, doch letztendlich wollte ich sie damit nicht belästigen. Ich sollte noch die Chance bekommen, mich zu äußern. Doch davor hatte ich noch, wie Désirée es benannt hatte, eine „ kleine Krise“.

In einer Vorlesung hatten wir das Thema Keuschheit. Und da wurde mir erst richtig bewusst, was ich eigentlich tue. Verkaufe ich nicht sozusagen meinen Körper? Wieso schlafe ich mit einer Frau, mit der mich nicht einmal Liebe, geschweige denn eine Ehe verbindet? Zu dem Gefühl, ein wertloses Spielzeug zu sein, kam das Gefühl dazu, dass ich der letzte Dreck der Welt bin. Eigentlich bin ich eine Hure, dachte ich mir. Désirée ist es zwar auch, aber ihr ist es ja egal. Vielleicht zeigte sich da wieder der Unterschied zwischen meinem religiösen Leben und ihrem freien Leben. Ich hatte das Gefühl, von meiner Sünde erdrückt zu werden. Doch was war meine Sünde? Die Hingabe zum Körperlichen? Kann ich denn nicht gleichzeitig auch Gott zugewendet sein? Und überhaupt, wieso darf ich dem Menschen, den ich liebe, nicht alles geben, auch den Körper? Die Diskussion war ziemlich einseitig. Es wurden nur ein paar Argumente dafür gebracht, dass „ Sex vor der Ehe“ nichts Schlechtes sei, um möglichst fair und formal zu bleiben. Die meisten haben sich dagegen ausgesprochen. Und ich hörte zu sehr auf die Meinung der Anderen. Das Gefühl des Drecks verließ mich auch am Abend nicht. Ich war wieder einmal bei Désirée. Sie erzählte mir von irgendeinem Buch, doch ich hörte ihr nicht wirklich zu, was sie anscheinend dazu brachte, zum Hauptteil über zu gehen. Mittlerweile verlief eigentlich alles schon von selbst. Ich zog sie sogar selber aus, was ihr besser gefiel, als wenn sie das machen musste. Doch meine negativen Gefühle nahmen überhand, in mir kochte die Wut auf. Gegenüber Désirée, weil sie mich benutzte, gegenüber mir selbst, weil ich es zuließ. Wie konnte ich bloß wütend auf sie sein? Sie konnte doch gar nichts dafür.
Ich verweigerte mich. Als ich ihr sagte, dass ich nicht will, stand sie erst einmal ein paar Sekunden erschüttert da. Dann gab sie mir eine ziemlich heftige Ohrfeige und begann mich zusammen zuschreien, wie ich es überhaupt wagen könne, sie abzulehnen. Nach einigem Hin –und Hergeschrei, wobei ich mich gar nicht mehr erinnern kann, was ich geschrien habe, (ich habe vorher noch nie im Leben jemanden angeschrien), bekam sie dann den Grund heraus. Und wieder lachte sie mich aus. Sie fand es lächerlich. Sie fand mich lächerlich. Als Rechtfertigung für sich selbst meinte sie nur: „Es ist mein Leben und mein Körper. Ich kann damit machen, was immer ich will.“ Typisch Désirée. Es hört sich vollständig nach ihr an. Freiheitsgebunden wie immer. „Du studierst doch Theologie. Dann erkläre mir doch mal, wie ihr bescheuerten Christen auf den Grundsatz „kein Sex vor der Ehe“ gekommen seid. Was ist schon so toll daran, jungfräulich zu sein? Hast du eine Lebenserfahrung weniger. Unberührt bleiben… Dass ich nicht lache! Woher kommt denn bloß dieser Keuschheitswahn? Was ist denn so schlecht an Sex? Sag mir mal deine ehrliche Meinung! Findest du Sex schlecht und dreckig? Und zwar wirklich deine Meinung! ...Wenn du eine hast … “ Ich konnte keine der Fragen beantworten. Jetzt kann ich nur sagen, dass ich diese innige körperliche Verbindung nicht für dreckig halte. Ansonsten kenne ich immer noch keine Antworten. Aber sie hat das Problem äußerst vorzüglich als „Wahn“ bezeichnet.

Ich saß ruhig auf dem Stuhl vor Désirées riesigem Schminkspiegel und ließ mir von ihr die Haare herrichten. Sie hatte gesagt, sie wolle mich an einen ihr wichtigen Ort mitnehmen, wo ich etwas Neues vom Leben erleben würde. Wofür sie mir dann solche Kleidung angezogen hatte, wagte ich nicht zu fragen. Ich kam mir vor wie einer der Studenten, die am Wochenende abends ausgehen. Genau so sah ich nämlich aus. Gut, es war Abend, es war Wochenende und wir gingen irgendwohin aus. Désirée selbst war schon fertig mit ihrem Äußeren. Sie sah wunderschön aus. Ich konnte meine Augen nicht von ihrem Spiegelbild abwenden. Sie schien geradezu zu glitzern und ihre Haut sah aus wie Porzellan. Sie schien noch zerbrechlicher als sonst. Man sah ihr an, dass sie sich unheimlich freute, sie konnte ihr ständiges Grinsen gar nicht unterdrücken. „Fertig“, sagte sie und lächelte mir strahlend vor Freude im Spiegel zu. Meine langen Haare waren offen und sie hatte sie irgendwie bearbeitet. Es war ein gewisser Unterschied da, aber ich konnte nicht genau erkennen, was es war. Ich fand mich sogar selbst schön. So brauchte ich mich nicht davor zu schämen, neben Désirée zu laufen. Ansonsten hatte ich immer das Gefühl, dass ich mit meiner Erscheinung ihre anziehende Ausstrahlung zerstöre. Wir verließen das Haus und setzten uns in ihr Auto. Die Passanten schauten uns mit offenem Mund und noch weiter geöffneten Augen an. Ich fühlte, dass in meinem Inneren etwas dabei war, sich langsam zu verändern. Sie lachte, drückte aufs Gas und wir fuhren an einen mir fremden Ort.

Überall sich küssende Paare, Frauen mit Männern, Frauen mit Frauen, Männer mit Männern, Männer mit Frauen. Manche Paare gingen auch schon um einiges weiter. Ich versuchte, nicht hinzusehen. Der Gestank von Alkohol und Parfüm schnürte mir die Kehle zu. Es war unglaublich heiß, der halbdunkle Raum war erfüllt mit der Wärme der zahlreicher Körper. Wir waren in einem „Club“ (so hatte Désirée diesen Ort bezeichnet). Ich wusste nicht wohin. Anfangs saß ich bei Désirée und ließ zu, dass sie sich mit mir vergnügte. Getrunken hatte ich nichts, im Gegensatz zu ihr, und hatte es auch nicht vor. Ein vollkommen betrunkenes junges Mädchen sprach mich an, während sie versuchte, mich mit ihrem Körper in eine Ecke zu schieben. Ich war mir ziemlich bewusst über das, was sie von mir wollte. Sie war nicht die Erste, das ging schon den ganzen Abend so. ich schaffte es, ihrem Körper zu entkommen und begab mich weiter auf die Suche nach Désirée. Ich hatte sie im Getümmel verloren, als sich ein Haufen Männer und Frauen zu ihr drängte.
Nach einigen weiteren „Anmachen“ (sogar ein Mann hatte versucht, mich zu bekommen), fand ich sie endlich in einer der dunkelsten Ecken des Gebäudes. Sie lag mit einer weiteren Frau auf einem Bett voller roter Kissen, umarmte und küsste diese. Die beiden waren umgeben von drei Männern, die sie mit gierigen Blicken streichelten. Als Désirée mich erblickte, lächelte sie schelmisch und winkte mir zu sich herunter und fragte: „Gefällt es dir hier?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte sie meinen Körper an ihren und umschloss meinen Mund mit ihren Lippen. Ich zog ihren bekannten Duft, gemischt mit dem abschreckenden Geruch von Hochprozentigem, tief in mich hinein. Die zweite Frau drängte ihren Mund zu unseren und ich nahm eine fremde Zunge wahr. Unbekannte Hände rutschten an meinem Körper entlang.

Ich rannte, ohne zu wissen wohin. Mir war schwindlig, wegen der frischen Luft, deren Kälte sich in mich bohrte wie ein Eiszapfen. Ich blieb stehen, lehnte mich an einen der Bäume entlang der Straße und erbrach mich. Tränen liefen über mein Gesicht, während ich vor lauter Ekel und Abscheu das gesamte Innere meines Magens nach draußen beförderte. „Gott, Gott…“, hallte permanent in meinem Kopf wider. Doch hatte ich überhaupt noch das Recht, Gott anzurufen? Die Panik wollte sich nicht legen. Ich fühlte mich blutleer. Ohne einen Spiegel konnte ich sagen, dass ich leichenblass war. Ich fühlte mich leer. Ich habe den Ort verlassen. Den Ort, der Désirée so wichtig war. Vor Ekel übergab ich mich nochmals. Wie konnte sie nur… Wie konnte sie nur diesen von Unzucht und Lastern erfüllten Ort lieben? Ihr Anblick in der Menschenmenge fiel mir wieder ein und ich weinte noch heftiger. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so weit ging. Natürlich wusste ich, dass sie nicht gerade ein braves Mädchen war, wohl eher das Gegenteil davon, aber etwas dermaßen Dreckiges… Wie konnte sie nur? Wie konnte sie das tun? Wie konnte sich mich an diesen Ort schleppen? Wie konnte sie es wagen, mir so etwas anzutun? Erfüllt von Wut, Panik, Angst und anderen, unbeschreiblichen Gefühlen taumelte ich weiter, in der Hoffnung an einen mir bekannten Ort zu gelangen, von dem aus ich den Weg ins Wohnheim kannte. Der kalte Wind wehte mir meine Haare ins Gesicht. Ich schaute hinauf zum Himmel und erblickte einen hell leuchtenden Himmelskörper. Vollmond. Sein Schein blendete mich und ich musste wieder hinuntersehen. Nie wieder… Nie wieder… So etwas wird nie wieder passieren… So etwas wird nie wieder sein… Ich lasse das nicht zu… Irrend auf der vom Mond hell beleuchteten Straße fasste ich einen Entschluss. Ich werde sie nie wieder sehen. Ich werde all dies vergessen. Ihre Welt ist nichts für mich. Nein. Ihr Land ist nichts für mich. Denn Gott hat nur eine Welt geschaffen. Und die Menschen leben in verschiedenen Ländern innerhalb dieser Welt. Ich werde ihr Land nie wieder betreten. Ich kehre zurück in mein eigenes. Ich kehre zurück in das Reich Gottes. Ich fand den Weg zum Wohnheim und lief unsicheren Schrittes weiter.

Ich versuchte, meinen Alltag wiederzufinden. Doch die Vorlesungen fand ich unnötig und langweilig. In den Park ging ich nicht, da ich Angst hatte, sie zu treffen. Ich musste mir eingestehen, dass sie eine gewaltige Macht über mich hatte. Ohne groß darüber nachzudenken, tat ich immer alles, was sie von mir wollte. Wenn ich sie wiedersehen würde, würde sie mich bestimmt ohne große Schwierigkeit wieder in ihr Land verschleppen können. Nein, ich darf nicht noch tiefer fallen. Es war ein riesiger Schock für mich, was für Spuren Désirée und die mit ihr verbundenen Ereignisse in mir hinterlassen hatten. Ich konnte meine Bibel nicht in die Hand nehmen, geschweige denn sie öffnen. Es schien mir, als ob sie mich abstoßen würde. Ich mied Menschenmengen, weil mich die Enge und die Körper an jenen verhängnisvollen Abend erinnerten. Überhaupt mied ich die Menschen allgemein. Ich hatte Angst davor, ausgefragt zu werden, bloßgestellt zu werden. Es durfte niemand erfahren. Niemand durfte etwas davon wissen. Es hatte mir schon gereicht, dass mich mein Zimmergenosse, der Lateiner, fragte, wo ich neuerdings immer die Nächte verbracht habe. Ich stotterte panisch irgendein sinnloses Zeug und gab, außer meiner Nervosität, eigentlich nichts von mir. Er meinte nur, dass ich nichts zu sagen brauche, wenn ich nicht darüber reden möchte. Ich sei panisch und paranoid, hatte er gesagt. Außerdem machte er sich Sorgen um mich, da ich nicht richtig schlafen konnte, permanent bleich war und öfters Übelkeitsanfälle bekam. Das erste Mal redete er richtig mit mir. Ich war gerührt darüber, dass er sich Sorgen um mich mache. Das einzige Gut, das aus meiner schlechten Lebensweise hervorging.
Doch ich musste es mir eingestehen. Ich war nicht mehr derselbe. Désirée hatte meine Seele gestört. Ich konnte nicht zurück in mein Land. Doch ich konnte auch nicht in ihres. Ich stand auf der Grenze und wusste nicht wohin. Was für ein Mensch soll ich denn jetzt sein? Wohin soll ich gehen? Gibt es jetzt überhaupt noch einen Ort, an den ich gehöre? Muss ich diesen Ort finden? Doch wo könnte er sein? Ist es ein neues Land? Eines, das ich noch nicht kenne, von dem ich nichts weiß? Meinen Gedanken folgend, beruhigte ich mich ein wenig. Ich fange ein neues Leben an. Es gab genug Menschen, die ich nicht kannte und die mich nicht kannten. Genug Menschen, die nichts von meiner Vergangenheit wussten, sowohl von der guten als auch der schlechten. Doch wie soll ich handeln? Ich beschloss, Dinge spontan zu tun, Worte spontan zu sagen. Ich sollte vielleicht eher auf das achten, was mein Ich selbst tut ohne auf die Vernunft in meinem Kopf zu hören. Ich habe mir gedacht, dass ich durch Beobachten meines natürlichen Verhaltens auf mich selbst stoßen könnte. Vielleicht finde ich dann meine eigene Persönlichkeit, einen Menschen, der keine Marionette ist, weder in den Händen Gottes, noch in den Händen von anderen Menschen.

„Hey Noel! Kommst du am Freitag mit in die Disko? Kai, Lucy und die anderen kommen auch…“, fragte Tim, mein Zimmergenosse, der Lateiner, mich. „Natürlich! Als ob ich euch erlauben würde, ohne mich zu gehen!“, lachte ich zurück. Wie sich herausgestellt hatte, war er gar nicht schweigsam, im Gegenteil, er war ein sehr offener, lebensfroher und gesellschaftsliebender Mensch. Und seine Lateinbücher mochte er auch nicht so sehr, wie ich gedacht hatte. Meine damalige Religiosität war ihm einfach dermaßen unangenehm, dass es ihm lieber war, seine Nase in Bücher zu stecken als sich mit mir zu unterhalten. Seitdem ich mein altes Ich abgelegt hatte, wurde er zu meinem besten Freund.
Seit der Nacht im Club… Seit meinem Entschluss, ein neues Leben zu beginnen, ist ein halbes Jahr vergangen. Es hat sich viel verändert. Tim war der Erste, der meine Veränderung bemerkt hatte. Eines Tages meinte er, ich hätte eine ganz andere Ausstrahlung. Er hatte schon davor gemerkt, dass sich in mir etwas veränderte. Jedenfalls hatte er mir sehr geholfen, neue Freunde zu finden. Ein unerwarteter Fund war Kai. Er war derjenige, der mich damals in der Mensa angesprochen hatte, als ich Désirée beobachtete. Nach diesem ersten Treffen hatte ich einen äußerst schlechten Eindruck von ihm, vor allem weil er schlecht über Désirée gesprochen hatte, doch auch in ihm habe ich mich geirrt. Auch er gehörte jetzt zu meinem engsten Freundeskreis. Nur einmal hatte er mir eine Frage über Désirée gestellt, doch ich brauchte nicht darauf zu antworten, da Tim ihn sofort zum Schweigen gebracht hatte und die Angelegenheit wurde danach nie wieder angesprochen. Ich hatte Tim alles erzählt. Es ist mir schwer gefallen, darüber zu reden, doch ich glaubte daran, dass ich ihm vertrauen kann und wider aller meiner Erwartungen fühlte ich mich danach unglaublich erleichtert. Tim hatte gemerkt, dass diese Angelegenheit mir ziemliche Schmerzen bereitete und tat es mit der Aussage, Vergangenes sei vergangen und Vergangenheit, ab. Ich selbst versuchte auch alles zu vergessen und erinnerte mich nur selten zufällig an einzelne Ereignisse. Ich hatte es verschlossen. Mein Leben war nun fast vollkommen „normal“. Gut, Tim und Kai meinten, dass mein Leben fast normal sei, es sei eben fast genauso wie das von den Anderen, aber für mich war es das Paradies auf Erden. Ich verstand mich mit allen gut, hatte immer Spaß und war nie allein. Die Einzigen, die mit meiner Veränderung nicht einverstanden waren, waren die Leute aus meinem Theologiestudium, die der Meinung waren, ich sei unreligiös und unsittlich geworden. Ihrer Auffassung nach sei ich ein Ketzer.
Überrascht hatte mich einer unserer Dozenten. Als die Angelegenheit eskalierte und für einen Aufruhr bei den Theologiestudenten sorgte, wurde ich gebeten, ihm die Sache zu erklären. Entgegen meinen Erwartungen lächelte er zufrieden und sagte zu mir: „Man darf nicht wie ein Mensch ohne Verstand nach dem leben, was eine Schrift dir sagt. Der Schlüssel ist, einen Kompromiss zwischen einem Leben für Gott und einem Leben für sich selbst zu finden. Der goldene Weg liegt immer in der Mitte.“ Die Mitte. Die Mitte zwischen meinem alten Ich und Désirée. Wahrscheinlich hatte ich es eben durch das Erfahren beider Extrema geschafft, diese Mitte zu finden. Ich bin aus meinem alten Land geflohen und habe den Garten Eden gefunden. Auch mein eigenes Selbstwertgefühl ist gestiegen. Désirée hatte Recht gehabt, mein Aussehen blieb nicht unbemerkt. Da ich meinen Stil verändert hatte und mein Äußeres nun unterstrich, konnte ich mich kaum vor Verehrerinnen retten. Ich ließ die meisten Frauen aber höflich links liegen, da es mir nicht gefiel, nur wegen meines Aussehens geliebt zu werden. Durch meine erlernte Beobachtungsgabe, die ich mir auf der Suche nach einer neuen Persönlichkeit angeeignet habe, wusste ich, wie ich mit verschiedenen Menschen umgehen soll. Tim nannte es eine angeborene Führungsfähigkeit. Diese Führungsrolle war auch der Grund dafür, dass mein Leben nur als „fast“ normal bezeichnet wurde. Richtig, ich konnte die Leute eigentlich immer zu dem bringen, was ich wollte, doch ich versuchte, möglichst niemanden auszunutzen. Nachdem sich bei allen die anfänglichen Vorurteile mir gegenüber gelegt hatten, hab ich es geschafft, eine beliebte und respektierte Persönlichkeit zu werden.

Freitag. Disko, Musik, Alkohol. Eine für mich bereits normale Abfolge der Stichworte eines Abends. Mir war heiß und meine Sicht verschwamm, doch ich war mir sicher, dass ich noch einiges trinken könnte, bevor ich an meine Grenzen stoße. Lucy kuschelte sich wie üblich behaglich in meine Arme. Tim ging im Rausch des Alkohols auf der Tanzfläche ab und Kai hatte sich wie immer auf die Suche nach einer neuen Frau gemacht, um eine Woche später wieder sitzen gelassen zu werden. Lucy drehte mein Gesicht zu sich und meinte, sie wolle tanzen. Ich führte sie leicht schwankend auf die Tanzfläche. Lucy studierte Lehramt. Sie liebte Kinder über alles und wollte Grundschullehrerin werden. Sie war die einzige Frau, die ich näher an mich heranließ. Vielleicht war das zwischen uns sogar Liebe. Ich weiß es nicht. Ich hatte ihr gegenüber nicht so starke Gefühle, wie es bei Désirée der Fall war. Trotzdem war sie mir sehr wichtig. Doch woher sollte ich denn wissen, ob sie mich liebte? Vielleicht liebte sie ja auch nur mein Äußeres und meinen Körper. Ich versuchte einfach, allem seinen Lauf zu lassen und über nichts groß nachzudenken. Das Lied war zu Ende und es begann ein neues. Lucy schrie mir ins Ohr (anders konnte man nichts verstehen), dass sie gleich wieder komme und ging in Richtung der Toiletten davon. Ich ging zurück zu unserem Tisch, damit sie mich leichter finden konnte, doch der Tisch war bereits besetzt. Ich wollte nur schnell schauen, ob ich jemanden kenne und ich traf mir sehr bekannte graue Augen. Ich erstarrte. Auch Désirée schaute mich mit einem geradezu geschockten Gesichtsausdruck an. Sie sagte der Frau neben sich etwas und erhob sich vom Tisch. Ihre Gesichtszüge hatte sie wieder unter Kontrolle. Geschmeidig und lächelnd lief sie ohne Eile an mir vorbei. Ich stand noch einen Moment leer da, dann drehte ich mich um und folgte ihr durch die Menge.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich dich an so einem Ort wiedertreffen würde.“, meinte sie, mich interessiert anschauend. „Ich hätte auch nicht gedacht, dich an so einem Ort zu finden…“, entgegnete ich ihr genervt. „Wieso das denn?“, fragte sie grinsend. „Weil ich dachte, du wärst abends nur an obszönen Orten zu finden“, funkelte ich sie an. „Wieso hast du mich verlassen?“ Auf meine Anspielung reagierte sie nicht. „Weil es mir zu viel wurde.“ Wir schwiegen. Ich schaute sie nicht an. Seitdem ich ihrem Blick begegnet war, prasselte eine schmerzhafte Erinnerung nach der anderen auf mich herab. Wieso musste ich sie bloß wiedertreffen? Wieso musste ich ihr bloß folgen? Genau davor hatte ich immer Angst. Ich hatte Angst davor, wieder an ihren Fäden zu hängen. Sie hatte immer noch eine riesige Macht über mich. Das spürte ich, allein schon wenn ich neben ihr stand. Sie darf mich nicht wieder zurückbringen. Ich muss widerstehen. Ich muss standhalten. Meine Gedanken waren erfüllt von dem Zwang, stark zu sein. „Ich habe schon viel von dir gehört. Viel von deinem neuen Ich. Du bist schon geradezu eine Berühmtheit geworden. Ich hätte nie gedacht, dass du es schaffen würdest, dich dermaßen zu verändern… Ist das mir zu verdanken?“, grinste sie. Ich hatte mich erschreckt, als ihre melodische Stimme das Schweigen zwischen uns brach. „Ja, es ist dir zu verdanken. Hättest du mich nicht aus meinem alten Leben gezerrt und mir deine abscheuliche Lebensweise gezeigt, wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass eine Veränderung notwendig sei.“ „Wenn meine Lebensweise abscheulich ist, dann war es deine aber auch“, sagte sie mit herablassendem Ton. „Dessen bin ich mir vollkommen bewusst. Aber der Unterschied zwischen uns ist, dass du diese Lebensweise selbst ausgesucht hast, während sie mir von dir aufgezwungen worden ist.“ „Wieso hast du Loser dich dann nicht gewehrt?“ „Weil ich schwach war.“ „Und jetzt bist du es nicht mehr?“, fragte sie schelmisch. „Nein“, sagte ich mit festem Gesichtsausdruck. Sie blickte mich einen Augenblick lang an und lachte los. In mir kochte die Wut auf. Sie lachte mich wieder aus! Sie lachte mich schon wieder aus! Doch nein. Sie lachte mich nicht aus… Sie freute sich… Mit überglücklichem Grinsen heftete sie ihre leuchtenden Augen auf mich. Ihre Hand strich über meine Wange und sie sagte: „Ich bin glücklich, dass ich etwas wie dich schaffen konnte. Deine Entwicklung übersteigt alle meine Erwartungen. Aber du wirst es trotzdem nie schaffen, mir zu entkommen. Du kannst mich nicht vergessen…“ Sie schenkte mir ihr sexuell anreizendes Lächeln und ließ mich alleine stehen.

„Dein Name ist dein Schicksal.“, sagte Désirée mit einem selbstsicheren Lächeln zu mir. „Noel bedeutet Geburt. Cruz bedeutet Kreuz. Die Geburt Jesu und der Tod Jesu. Der Anfang und das Ende. Du vereinst beides in deinem Namen, du vereinst beides in dir. Der Anfang ist das Ende und das Ende ist der Anfang. Ein endloser Kreislauf. Dein Schicksal ist es, dein Leben lang dem Lauf eines Kreises zu folgen. Egal was du tust, du kannst nicht hinausspringen. Du bleibst auf ewig derselbe. Du kannst deinem Schicksal nicht entkommen. Du wirst es nie schaffen, mir zu entkommen. Du kannst mich nicht vergessen…“
Ich sprang auf. Dunkelheit. Als sich meine Augen endlich der Dunkelheit angepasst hatten, erkannte ich die Umrisse meines Zimmers. Tim schnarchte leise. Ich war vollkommen verschwitzt und zitterte. Mein Herz raste, mein Atem ging schnell und stockend. Ich versuchte mich zu beruhigen. Nur ein Traum, nur ein Traum… Das, was mich an dem Traum am meisten irritierte, war die Tatsache, dass Désirée nie so etwas zu mir gesagt hatte. Nur die beiden letzten Sätze hatte ich bei unserem zufälligen Treffen vor kurzem von ihr gehört. Was wollte mir mein Unterbewusstsein damit sagen? Du kannst mich nicht vergessen… Ihr letzter Satz hallte immer wieder in meinem Kopf wider. Verdammt, wieso musste ich sie bloß wiedertreffen? Wo ich es doch endlich geschafft hatte, mein Leben neu zu ordnen und glücklich zu sein. Als ich Tim von meiner Begegnung mit Désirée erzählt habe, hat er gemeint, ich solle die Vergangenheit ruhen lassen und mit ihr umgehen wie mit jedem anderen Menschen auch. „Tu so, als wäre sie nur deine Bekannte…“, hat er gesagt. Ok, vielleicht würde ich es schaffen, mit ihr einfach oberflächlich umzugehen, doch würde sie da mitspielen? Was, wenn sie jemandem von unserer gemeinsamen Vergangenheit erzählt? An diese Möglichkeit hatte ich davor gar nicht gedacht. War es so, weil ich ihr vertraut habe? Was, wenn sie es Lucy erzählt? Wenn Lucy es erfahren würde… Sie würde mich hassen… Schließlich soll sie Kai mal gesagt haben, dass sie sich sicher sei, dass ich noch nie eine Frau gehabt hätte. Denn als ich mich verändert habe, wäre sie gleich an meiner Seite gewesen. Doch so war es nicht. Désirée war als Erste da. Lucy darf es nicht erfahren, nein. Sogar wenn ich sie auf diese Weise belüge, sie darf nichts von Désirée wissen. Nur meine Bekannte… Ich beschloss, Tims Rat zu befolgen und sie nur als Bekannte zu behandeln. Ich versuchte einzuschlafen, während mein Herz weiterhin raste.

Den ersten Beweis dafür, dass ich fähig war, mit ihr oberflächlich umzugehen, musste ich bereits ein paar Tage später in der Mensa darbringen. „He, Noel! Ist der Platz neben dir noch frei?“, fragte Désirée lächelnd und zeigte auf den leeren Stuhl neben mir. Ich stockte zunächst und schaute dann fragend in die Runde, während ich panisch überlegte, was Désirée hier wollte. Tim schaute drein, als hätte er so etwas schon erwartet, Kai hielt geschockt inne und versuchte mir mit seinem Blick klar zu machen, dass er Medusa (er hatte seine Meinung über sie nicht geändert) nicht am Tisch haben will und Lucy setzte einen ruhigen Gesichtsausdruck auf und ignorierte das gesamte Geschehen, womit sie aber nur noch mehr zeigte, dass sie das überfreundliche und anmachende Verhalten einer anderen Frau zu mir wie üblich aufregte. Ich wendete mein Gesicht wieder zu Désirée und da ich nicht wusste, wie ich es sagen konnte, versuchte ich meine Aussage in meinem Blick und meinem Gesichtsausdruck zu zeigen. Sie verstand es: „Oh, tut mir leid, ich will euch ja nicht stören… Also dann, byebye!“ Sie zeigte nochmals ihr strahlendes Lächeln und wendete sich schon zum Gehen, als sie plötzlich stehen blieb, mich anschaute und mir noch eine Frage stellte: „Kommst du am Freitag wieder in die Disco?“ Die Frage kam unerwartet und ich stockte. „Ich weiß noch nicht… Könnte sein“, brachte ich irritiert hervor. „Das wäre schön. Ich würde dich gern wiedersehen.“ Sie schenkte mir dasselbe Lächeln wie bei unserem Abschied und lief leise kichernd davon. Ich schaute ihr vollkommen durcheinander nach, als eine mörderische Aura an meiner rechten Seite mich dazu brachte, meine Aufmerksamkeit dorthin zu richten. Lucy war wütend und zwar so richtig wütend. Ich habe sie noch nie so gereizt gesehen. „Wer war das?“, fragte sie mich mit einem bohrenden Blick. „Nur eine Bekannte“, stotterte ich, während ich mir unter ihrem zornigen Blick wie ein hilfloser Zwerg vorkam. „Ach wirklich?“, fragte sie noch wütender, das sie es leicht als Lüge enttarnt hatte. „Wieso regst du dich eigentlich auf, Lucy? Als ob Noel noch nie von einer Frau angemacht worden ist. Mittlerweile solltest du ja daran gewöhnt sein, dass alle Frauen scharf auf ihn sind…“, versuchte Tim die Situation zu retten. „Aber das Weib ist irgendwie anders. Und Noel hat auf die Anmache nicht so ruhig und abweisend reagiert wie sonst!“
Ich ärgerte mich über meine Unfähigkeit, in Désirées Nähe meine Ruhe zu bewahren. Tim versuchte Lucy zu beruhigen. Eigentlich hätte ich sie durch einen einzigen Satz und eine einzige Bewegung beruhigen können. Ich könnte sie genau so nach meiner Pfeife tanzen lassen wie die anderen. Doch bei meinen Freunden wendete ich meine Fähigkeiten der Kontrolle nie an und so hoffte ich darauf, dass sie sich von selbst beruhigen würde. Kai hing währenddessen verstärkt irgendwelchen Gedanken nach und musterte mich. Ich konnte mir denken, dass er genau so wie ich überlegte, was Désirées Verhalten zu bedeuten hatte. Nur, im Gegensatz zu ihm, wusste ich schon die Antwort. Mit ihrer ersten Frage wollte sie prüfen, wie meine Freunde zu ihr standen und die zweite Frage sollte Lucy reizen und mir ein zusätzliches Problem bereiten.

Freitag. Disko, Musik, Alkohol. Wie üblich eben. Nur diesmal mehr Alkohol, da ich hoffte, betrunken nicht so schnell meine Gelassenheit in Désirées Nähe zu verlieren. Lucy, die mir in Sachen Saufen nicht nachstehen wollte, hatte zu viel getrunken und musste von uns mit dem Taxi heimgeschickt werden. Normalerweise hätte ich sie begleitet, doch ich wollte mit Désirée reden und nutzte Lucys Abwesenheit aus um nach Désirée zu suchen. Ich fand sie ziemlich schnell auf der Tanzfläche. Ich beobachtete sie noch eine Weile, bevor ich sie ansprach. Wir gingen hinaus vor die Disko und setzten uns auf den Bürgersteig. „Wie hast du es geschafft, dich von deiner eifersüchtigen Freundin loszureißen?“, grinste sie. „Hab sie betrunken nach Hause geschickt“, antwortete ich widerwillig. „Ach so, du hast sie abgefüllt, um sie loszuwerden! Wolltest du mich so sehr treffen?“ Sie lachte. Mein Kopf dröhnte vom Alkohol. Ihr Lachen bereitete mir zusätzliche Kopfschmerzen. „Ich finde es seltsam, dass du nicht mehr so freizügig bist wie früher. Damals hingst du noch dauernd an den Lippen irgendwelcher Leute.“ Ich erinnerte mich, in welchen Situationen ich sie immer vorgefunden hatte. Während ich sie beobachtet habe, hat sie niemanden geküsst, sich an niemanden rangeschmissen, überhaupt nichts Körperliches gehabt. Das wunderte mich am meisten. Hatte sie sich verändert? Konnte ich ihr die Augen öffnen? Eine vage Hoffnung breitete sich in mir aus. Hat ihr die Begegnung mit mir auch etwas bedeutet? Sie unterbrach meinen Gedankengang mit ihrer Antwort: „Mein Verlobter ist zurückgekommen. Und er möchte nicht, dass mich jemand außer ihm berührt.“ „Seltsam, früher war dir das egal.“ „Damals hatte er es auch nicht so ausdrücklich gesagt.“ Sie schaute zu Boden, doch ich konnte trotzdem ihr Gesicht sehen. Sie freute sich, wie ein Kind, noch mehr als letztes Mal, als wir miteinander sprachen. Sie freute sich darüber, dass er eifersüchtig war. „Und du lässt dir von ihm einfach deine Freiheit nehmen? Das hätte ich ehrlich gesagt nicht von dir erwartet.“ „Ich liebe ihn. Er ist mein Gott. Ich würde alles für ihn tun“, sagte sie sanft und schaute nach oben zum hell scheinenden Vollmond, der sie nur noch mehr erstrahlen ließ. Sie liebte ihn… Er war es, ohne den sie sich einsam gefühlt hatte. Er war es, für den ich der Ersatz war. Und jetzt war er zurück… Und sie ist glücklich. Ich hatte es nie geschafft, sie vollkommen glücklich zu machen. Er war es, den sie brauchte. In mir kochte eine Wut gegenüber diesem Mann auf. Auch wenn mir Désirée nie wirklich gehört hatte, er hatte sie mir nun vollständig weggenommen. Ich neigte meinen Kopf nach unten und versuchte, meine Wut zu bändigen, um im Rausch des Alkohols ja nichts Bescheuertes zu tun. An meiner Seite saß Désirée, lächelte und strahlte mit dem Vollmond um die Wette.

„Komm heute um 21:00 Uhr zu mir nach Hause. Ich werde auf dich warten. Désirée.“ Der Zettel wurde durch den schmalen Schlitz unter der Tür hindurch geschoben. Irritiert starrte ich den Zettel bereits seit einer halben Stunde an, als ob ich hoffen würde, dass er mir die Antworten auf die Fragen in meinem Kopf gibt. Tim saß mir gegenüber und betrachtete mein Gesicht, um daraus meine Gedanken abzulesen. „Du gehst eh hin“, sagte er seufzend zu mir. „Wieso sollte ich?“, rief ich unkontrolliert. „Du kannst es nicht abstreiten! Du liebst sie und kannst sie nicht vergessen. Lucy ist für dich nur ein Mittel, um sie zu vergessen…“ „Aber Lucy ist doch das genaue Gegenteil von Désirée!“, unterbrach ich ihn. „Das ist ja der springende Punkt! Du wolltest dir dadurch nur selber klarmachen, dass du auf Frauen wie Désirée nicht stehst.“ „Willst du damit sagen, dass Lucy mir nichts bedeutet?“ Ich wurde wütend. „Reg dich ab! Das hab ich nicht gesagt! Aber gib doch zu, dass du in Désirées Bann stehst. Es ist ein halbes Jahr vergangen, aber verändert hat sich nichts. Die Verbindung zwischen euch beiden hat ja sogar Lucy gleich bemerkt. Keine Ahnung was das mit euch beiden ist. Schicksal oder so…“, seufzte er. Mein Traum fiel mir wieder ein: „Du kannst deinem Schicksal nicht entkommen. Du wirst es niemals schaffen, mir zu entkommen“, sagte ich laut. Tim schaute mich fragend an. „Das hat Désirée mir vor einiger Zeit im Traum gesagt. Keine Ahnung, was das bedeuten soll… Tja, wie gesagt, vielleicht ist es ja Schicksal.“ „Was für ein Schicksal? Ich liebe sie, sie liebt einen anderen und ist mit dem sogar verlobt! Welches Schicksal? Soll es etwa mein Schicksal sein, einseitig zu lieben? Ich bedeute ihr doch gar nichts!“, rief ich verzweifelt. „Ich denke schon, dass du ihr etwas bedeutest, du hast doch gesagt, dass sie sich über deine Veränderung gefreut hat. Und überhaupt, die Sache mit Lucy und die anderen Probleme, vor die sie dich gestellt hat. Ich denke, sie tut das, damit du lernst, dich da durchzuschlagen. Sie möchte, dass du stärker wirst. Wie wäre es, wenn du ihr einfach sagst, dass du sie liebst und sie dann um Rat fragst?“ „Ich soll sie um Rat fragen?“, rief ich ungläubig aus. „Sie ist ja nun nicht gerade dumm und ich denke, dass sie sich auch um dich sorgt. Geh einfach zu ihr und rede mit ihr!“, sagte er, sich dessen sicher, dass alles gut gehen würde.

In ihrer Wohnung hatte sich kaum etwas geändert. Man merkte nur, dass im Haus nun auch ein Mann war. Der Gestank von Männerparfüm schnürte mir die Kehle ab. Ich ging ins Wohnzimmer. Das Schlafzimmer wollte ich mir nicht einmal vorstellen, geschweige denn es sehen. Mit wem sie wohl alles schon auf diesem Bett ihren Spaß gehabt hatte? Wir setzten uns auf die Couch. „Wieso hast du mich herbestellt?“, fragte ich interessiert. „Ich wollte dich wiedersehen.“, sagte sie mit einem glücklichen Lächeln.“ „Reicht dir dein Verlobter nicht aus?“, meinte ich gereizt. „Der hat jetzt ein Geschäftsessen, hat er gesagt. Aber ich glaube, dass er wieder bei irgendeiner seiner Liebhaberinnen ist.“ „Wie bitte?! Du darfst mit niemandem etwas haben und der Typ macht, was er will?!“, schrie ich heraus. „Solange es ihn glücklich macht, ist es okay. Mich liebt er trotzdem am meisten!“, sagte sie siegessicher. Die Verzweiflung zerfraß mich von innen. Wieso musste sie ihn so sehr lieben? Wieso konnte ich nicht derjenige sein, den sie liebte? Ich könnte sie doch glücklich machen! Wieso ertrug sie so einen egoistischen Mistkerl? Ich hielt inne. Die Situation kam mir bekannt vor… Früher… Ich habe sie abgöttisch geliebt und sie tat mit mir, was sie wollte. Désirée war jetzt in derselben Situation wie ich damals. „Tu ich dir leid? Hast du Mitleid mit mir? Wo ich dir doch so viele Schmerzen bereitet habe und das immer noch tue“, sagte sie. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich konnte meine Gefühle nicht mehr unterdrücken. „Ja, du tust mir ständig weh! Ich wollte dich hassen, dich vergessen! Aber ich kann nicht! Ich liebe dich! Du hattest recht, ich kann dir nicht entkommen!“ Mit einer schnellen Bewegung riss ich sie zu mir und küsste sie voller Verzweiflung und Leidenschaft. Sie wehrte sich, doch ich achtete nicht darauf und nach einer Weile gab sie auf. Als ich mich halbwegs beruhigt hatte, ließ ich ihre Lippen los und drückte ihren Körper noch näher an mich, so dass ich ihr rasendes Herz spüren konnte. „Was soll ich bloß tun? Bedeutet dir die Begegnung mit mir überhaupt etwas?“, fragte ich leise flüsternd, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich hatte das Gefühl, dass mir mein Herz herausgerissen wird. Wider Erwarten antwortete sie mir, genau so leise flüsternd wie ich: „Als ich dir begegnet bin, wollte ich dich einfach nur ins Bett bringen. Doch deine Gläubigkeit war für mich etwas dermaßen Falsches, dass ich sie unbedingt auslöschen wollte. Ich wollte dich mit Problemen zuschütten, die du nur selber, ohne deine Religion lösen konntest, so dass du einsiehst, dass du sie nicht brauchst. Doch du hast so viel Zeit mir mit verbracht, mir so viel Gefühl entgegen gebracht, dass ich mein Herz an dich geheftet habe. Also wollte ich dich wieder auf Abstand bringen. Doch später musste ich merken, dass ich übertrieben habe. Du hast mich vollkommen verlassen. Dann, als du immer bekannter an der Uni wurdest, als ich hörte, wie du dich verändert hast, da wurde ich noch einsamer. Du hast dich endlich verändert, du bist endlich so geworden, wie ich dich immer haben wollte. Und das ohne mich! Als du mir gesagt hast, dass ich der Auslöser dafür war, weißt du, wie glücklich mich das gemacht hat? Du bist das Einzige, was ich in meinem Leben zustande gebracht habe. Deshalb lebe! Du sollst leben! Sogar wenn ich tot bin. Du sollst auf ewig weiterleben! Damit du allen Menschen zeigst, dass ich nicht umsonst existiert habe. Du bist der Beweis dafür, dass ich nicht nutzlos bin. Du bist mein Lebenssinn. Ich liebe dich auch! Aber ihn liebe ich noch mehr. Ich kann mich nicht von ihm losreißen. Genau so wie du dich nicht von mir losreißen kannst! Es tut mir so leid. Ich wünschte, ich wäre an deiner Seite!“ Ich schaute in ihr tränenüberströmtes Gesicht. „Dann sei bei mir, sogar wenn es nur für einen Augenblick ist“, flüsterte ich und küsste sie, während ich den Reißverschluss ihres Oberteils aufmachte. Diesmal erwiderte sie meine Zärtlichkeiten. Ich habe mich noch nie einem Menschen so nahe gefühlt. Egal, wie oft wir schon miteinander geschlafen haben, so etwas habe ich noch nie gespürt. Sie gehörte mir. Und ich gehörte ihr. Ich fühlte mich vollkommen mit ihr verbunden.

Ein Schuss ertönte. Über meine rechte Hand rannte etwas Warmes und Désirées Haar klebte daran. Ich spürte ihr Herz nicht mehr. Ich küsste sie nochmals, doch sie erwiderte es nicht. Sie konnte nicht. Ihr lebloser Körper fiel kraftlos nach hinten. Ich sah auf meine Hand. Grelles Rot strahlte mir entgegen. Langsam wendete ich meinen Kopf nach rechts. Ein Mann stand in der Tür, eine Schusswaffe in der Hand. „Ich wollte sie eigentlich erst nach unserer Hochzeit entsorgen, aber ich habe die Firma ihrer Familie eh schon so gut wie übernommen. Diese Hure hat es auch gar nicht anders verdient. Hätte sie sich in jemanden verliebt, hätte sie noch die Verlobung aufgelöst und dann müsste ich zurück ins Dorf zu meiner armen Familie.“, sagte der Mann hämisch grinsend. Seine Augen blieben auf meinem Gesicht ruhen. „Wieso rennst du nicht weg? Wieso schreist du nicht? Hast du sie etwa wirklich geliebt? Da warst du dann aber sicher der Einzige! Gut, wenn sie dir so viel bedeutet, kannst du ihr ja folgen!“ Ein weiterer Schuss ertönte. „Du sollst leben“, hörte ich Désirée in meinem Kopf sagen. Mir wurde schwarz vor Augen.

Ich spazierte im Park neben meiner Psychiatrie. Mittlerweile wurde mir das erlaubt. Seit Désirées Tod sind bereits über zwei Jahre vergangen. Da ich ihren Verlobten auf bestialische Weise umgebracht habe, wurde ich zunächst hinter Gitter gesteckt, um dann hierher verfrachtet zu werden. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich ihn umgebracht habe. Und ich weiß auch nicht, wie. In die Psychiatrie schickte man mich mit der Begründung, ich sei schizophren. Mir gefiel es hier. Es war ruhig und die Leute kümmerten sich um mich, auch wenn sie ständig Angst hatten, dass ich wieder zur Bestie werde. Ich denke nicht, dass ich irgendetwas Bestialisches an mir habe. Das, was Désirée aus mir gemacht hat, ist der Inbegriff der Menschlichkeit. Ich empfinde mich mehr als Mensch, als jeder andere, gerade weil ich fähig bin, dermaßen starke Emotionen zu empfinden.
In meinem Beratungsgespräch heute morgen, hatte mir meine Betreuerin vorgeschlagen, die Ereignisse niederzuschreiben. Ich beschloss ihrem Rat zu folgen, so dass die Menschen auch nach meinem Tod erfahren könnten, was es bedeutet, wirklich zu lieben, wirklich Mensch zu sein. Wieder in meinem Zimmer, nahm ich den Stift und das Papier, das meine Betreuerin für mich bereitgelegt hatte und fing an zu schreiben. „Die Geschichte des Noel Cruz“, schrieb ich als Titel. Ich wollte es nicht zu kompliziert machen. Ich überlegte, wo ich anfangen könnte und mir fiel der erste Satz meiner Geschichte ein: „Das Land, von dem diese Geschichte erzählt existiert nicht. Ich weiß es, ich habe dort gelebt…“

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Tag der Veröffentlichung: 22.01.2009

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