STAUB
Das Dorf lag tief im Süden Spaniens, eingebettet zwischen Hügeln und dem Meer. Eine Kirche und vierzig, fünfzig Häuser, umgeben von gelbbraunen Feldern. Eine vereinsamte Landstrasse, auf der nur selten ein Auto fuhr. Hin und wieder ein Bauer bei der Arbeit auf dem Land, oder eine schwarz gekleidete Frau, die trotz der glühenden Hitze ihr Gesicht, bis auf die Augen, mit einem Kopftuch verdeckte.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als eine Gestalt, um drei Uhr nachmittags, den einsamen Dorfplatz überquerte. Sie bog in eine Gasse, und verschwand in dem einzigen Geschäft.
Als die Frau den Fremden hereinkommen sah, blickte sie neugierig hoch. Ausländer gab es hier selten. Er grüsste, und hob dabei eine Hand, dann blieb er neben einem der Regale stehen.
Als er kurz darauf zu ihr kam, um zu bezahlen, fixierte sie ihn mit ihrem Blick. Sie nahm den Geldschein entgegen und öffnete die Kasse. In dem Moment muss es gewesen sein. Sie hatte ihn erkannt. Ein zweiter Blick in seine Augen ließ sie kurz zusammenzucken und erschaudern. Er grüsste sie noch einmal, murmelte ein paar Worte, die sie nicht verstand, drehte sich dabei um und verließ den Laden. Als sie kurz darauf zur Tür hastete, um zu sehen in welche Richtung er gegangen war, war er schon am Ende der Strasse. Sie sah ihn noch am Brunnen vor der Kirche vorbeigehen, sie erkannte noch seinen Rucksack, den er lässig über der Schulter trug, bis er hinter der Kirche verschwand. Hastig verschloss sie die Tür mit dem Schlüssel und rannte nach hinten zu ihrem Baby. Das Baby schlief ruhig atmend in seinem Bettchen.
Er musste es sein, dachte sie. Er musste es sein.
Nie hatte sie sein Bild vergessen können. Diese braunen Augen, diese schmalen, zu einer geraden Linie gezogenen Lippen. Nie diesen Blick… diesen seltsam leeren Blick.
Er war es.
Jetzt war sie sich sicher.
Sie drückte das Baby zitternd an die Brust und fühlte ihren eigenen Herzschlag. Sie überlegte was zu tun sei und wickelte das Baby in ein Deckchen. Dann lief sie hinaus auf die Strasse, huschte durch die Gassen, noch am Rathaus vorbei, bis zur Dorfpolizei.
Als sie vor dem Comandante saß, versuchte sie, sich zu beruhigen und ihren ganzen Mut zu fassen. Sie hielt das Baby, und wippte es sanft auf ihrem Schoss.
„Können Sie sich daran erinnern?“
„Natürlich erinnere ich mich. So etwas vergisst man nicht“, sagte der Comandante ernst, und wunderte sich über diesen Besuch.
„Er war in meinem Laden“, sagte sie, mit einer Stimme, die ihr so fremd vorkam, als ob es nicht ihre wäre.
Der Comandante blickte hoch und sah sie scharf an. Hundert Gedanken schossen blitzschnell durch seinen Kopf, aber er sah sie nur scharf an.
„Er hat ein paar Sachen gekauft…“, sagte sie, fast im Flüsterton, „das Übliche, was man so kauft..…Brot und Schinken, ein Stück Käse…..eine Flasche Bier“.
„Wann war das?“, wollte er wissen.
„Gerade eben. Vor einer halben Stunde“.
„Und Sie sind sicher, dass er es ist?“
„Er war es“, sagte sie entschlossen, „Der Ausländer, auf dem Bild in der Zeitung“.
Der Comandante sah sie prüfend an.
„War er zu Fuß?“
„Ja. Er war zu Fuß“
Mehr brauchte der Comandante nicht. Plötzlich hatte er es eilig. Er stand auf und riet ihr, nach Hause zu gehen. Er sagte, sie solle sich ruhig verhalten und mit niemandem darüber sprechen.
„Ich werde Ihnen morgen oder übermorgen einen Besuch abstatten“, sagte er, „Gehen Sie jetzt und tun Sie so, als seien Sie nie hier gewesen“. Dann rief er den Sargento und begleitete sie bis an die Tür.
Als sie ihr Haus betrat war Manuel, ihr Schwager, schon von der Arbeit zurück.
„Manuel!“, rief sie, noch während sie zur Tür hereinkam.
„Erinnerst du dich noch...... vor drei Jahren? Da hatte ein Fremder einen achtjährigen Jungen in den Hügeln von Santa Piedra missbraucht und getötet. Erinnerst du dich?“
„Natürlich erinnere ich mich. Es stand in der Zeitung. Es war Fremder, der auf einem der Hügel in einem Zelt lebte, und der Junge ging immer zu ihm rauf, um dort zu spielen. Einige Bauern hatten sie sogar ein paar Mal zusammen gesehen“
„Ja“, sagte sie, „Und als man den Jungen tot auffand, da war der Fremde plötzlich weg. Verschwunden. Nirgends mehr auffindbar. Weißt du das noch?“.
Der Comandante und fünf seiner Männer trafen in drei Polizeiautos auf dem Campingplatz ein. Die Sonne war jetzt eine rote Kugel, dicht über dem Horizont. Auf dem Campingplatz standen nur zwei Wohnwagen. Zwei Kinder spielten mit Eimern und Schaufeln im Sand. Als die Polizeiautos an ihnen vorbeifuhren, hoben sie die Köpfe und verfolgten sie mit ausdrucklosem Blick. Sonst war niemand zu sehen.
Der Mann, den sie suchten, stand vor seinem Zelt. Er hatte schon zu Abend gegessen und wollte sich gerade auf seine Hängematte legen. Als er die drei Wagen der Guardia Civil auf sich zu kommen sah, blieb er regungslos stehen. Er bewegte sich auch nicht, als sie zu sechst ausstiegen.
Der Comandante fragte ihn nach seinem Namen, fragte ihn, woher er käme und verlangte nach seinem Pass, während die anderen Polizisten sein Zelt durchsuchten.
Dann legten sie ihm die Handschellen um.
Mit leerem, ausdruckslosem Blick, ließ er sich vorwärts und in einen der Polizeiwagen drängen. Seine paar Habseeligkeiten: der Rucksack, die Hängematte und das Zelt, blieben zurück. Die Kinder hatten aufgehört zu spielen. Sie standen jetzt am Rande des Weges und blickten dem Mann in die Augen, der hinten, zwischen zwei Polizisten, in dem vorbeifahrenden Auto saß. Noch eine Stunde zuvor, hatten sie mit ihm gesprochen. Hatten sich von ihm die Muscheln zeigen lassen, die er vom Strand mitgebracht hatte.
Während der Fahrt sagte er nichts. Er blickte seitlich zum Meer, wo die Sonne jetzt langsam untertauchte. Ein weiterer Tag seines bedeutungslosen Lebens ging zu Ende. Es gab nur eins was ihn wirklich wunderte: man hatte ihn viel zu schnell gefunden. Viel zu schnell geholt. Das Bild hatte sich plötzlich gewendet. Jetzt hatten sie ihn. Er, das Monster, der Abschaum der Menschheit. Das war, was er dachte. Aber dass es so schnell geschehen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Er wollte noch einmal auf den Hügel, er wollte noch einmal dort hin an diese Stelle, an der er damals einen Teil seines Selbst verlor. Er wollte noch einmal in diese Gegend, um das Geschehene zu verstehen. Aber dazu war jetzt keine Zeit mehr. Das Schicksal hatte ihm einen Streich gespielt.
Im Gefängnis von Santa Lucia steckte man ihn in einen Kerker. Ein feuchtes, kühles Loch, zwei Meter unterhalb der Erde. Man befahl ihm, über eine kleine Leiter hinab zu steigen und verriegelte von oben die Gittertür. Kein Stuhl, kein Tisch, kein Bett. Das einzige was er dort unten sah, war eine an der Decke hängende Glühbirne.
Drei Tage lang hockte er dort auf feuchten Steinen, abwartend und den Blick starr auf die Leiter gerichtet. Es gab nicht viel, worüber er nachdachte. Man hatte ihm noch nichts gesagt, noch keine Anklage erhoben. Als erstes müsste man ihm einen Rechtsanwalt bringen. Es müsste jemand sein, der seine Sprache sprach. Früher oder später würde wohl ein Prozess stattfinden. Man könnte ihn auch ausweisen und der Polizei seines Landes übergeben. Eines war er sich sicher: Er würde den Rest seines Lebens in einem Gefängnis verbringen. Staub zu Staub.....Das war alles was er dachte.
In der dritten Nacht marschierten fünf Polizisten der Guardia Civil den dunklen Gang entlang. Sie entsicherten die Gittertür und befahlen ihm hochzusteigen. Er erklomm die ersten Stufen, hielt kurz inne, und blickte verunsichert um sich. Als er schon fast oben war, erreichte ihn der erste Schlag im Nacken. Zwei paar Hände zogen ihn hinauf, als ihn ein zweiter Schlag mitten ins Gesicht traf. Er schrie nicht auf, fiel nur auf die Knie und tat nichts, um sich zu wehren. Es folgte ein Schlag nach dem anderen, mal mit einem Gegenstand, mal mit einer Faust. Und als er keuchend zusammen sackte, spuckte er Blut und Zähne aus. Er merkte kaum noch den Unterschied zwischen dem Stiefeltritt gegen seine Schläfe und dem Schlag der Eisenstange auf seinem Kopf. Als er endgültig zusammenbrach, spritzte ihm Blut aus Mund, Ohren und Nase.
Sieben Minuten später war er tot.
Man begrub ihn dreihundert Kilometer weiter südlich, auf dem Friedhof eines winzig kleinen Dorfes.
Auf seinem Grab gab es kein Namenschild.
Texte: Jiribold
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2012
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