Cover

Karte von Paléa

Mundo - Völker und Gruppierungen

Epoche: Mittelalter

 

Länder: Eisland, Morven, Ness tir, Verengard, Al-Kush, Türkis-Atoll

 

Völker und Beziehungen:

 

Menschen:

Gute Händler, Bauern, Seefahrer und Schwertkämpfer. Zäh, einfallsreich, anpassungsfähig, machthungrig.

 

Zwerge:

Klein, kompakt, zäh, kräftig. gute Händler, fantastische Schmiede und Axtkämpfer. Tapfer, furchtlos, trinkfest, habgierig, weltoffen, tolerant, können gut 300 Jahre alt werden.

 

Elfen:

Groß, schlank, feingliedrig, hochintelligent, kultiviert, traditionsbewusst, ausgeprägtes Moralempfinden, nachtragend, werden bis zu 500 Jahre alt. Gute Gelehrte, Bogenschützen, Taktiker, Ingenieure und Architekten.

 

Zauberer /-innen:

Einziges magiefähiges Volk. Katzenhafte Bewegungen, schnell, heimlich, lautlos, verschlagen, misstrauisch, extreme Reflexe. Talentierte Assassinen, Jäger und Diebe.

 

 

Sprachen:

Eisland: Norsk, Gaelic

Morven: Morvenisch, Gaelic

Ness Tir: Zwergisch, Gaelic

Verengard: Verenisch, Elfisch, Gaelic

Al-Kush: Kush, Sandsprache, Gaelic

Türkis-Atoll: Kush, Salzsprache, Gaelic, Elfisch

 

 

Mundo - Bestiarium

Humanoide:

 

Vampire:

Intelligent, eloquent, leben oft unbemerkt unter den Menschen, vorwiegend nachts unterwegs, stark und schwer zu töten.

 

Werwölfe:

Verfluchte, die nur an Vollmond gefährlich sind, dann aber enormen Schaden anrichten können.

 

Feen:

Kleine, fliegende Wesen, die Blumen oder Bäume bewohnen. Sie sind harmlos, aber furchtbar geschwätzig.

 

Nixen:

Wassermenschen, die die Ozeane bevölkern. Sie sind prinzipiell friedlich, jedoch sehr territorial, falls nötig, können sie Gegner mit einem Biss vergiften.

 

Gestaltwandler:

Können die Gestalt von Menschen oder Tieren annehmen. Leben häufig inkognito in großen Städten.

 

Zentauren:

Halb Mensch, halb Pferd, intelligent, jedoch zynische Einsiedler, teilweise brutal mit einem ausgeprägten Hass auf Menschen.

 

Geister:

Tote Menschen, Elfen o.ä., können friedlich oder aggressiv sein. Oftmals verfluchte Seelen, die nur befreit werden können, wenn der Fluch von ihnen genommen wird.

 

Magische / magiefähige Wesen:

 

Drachen:

Vorwiegend in den Eisenbergen anzutreffen, mittlerweile beinahe ausgerottet. Besitzen oft magische Fähigkeiten.

 

Einhörner:

Gelten als ausgerottet. Der Legende nach scheuten sie die Menschen, suchten jedoch zutraulich die Nähe von menschlichen oder elfischen Jungfrauen, was ihnen vermutlich zum Verhängnis wurde, da man sie so anlocken und töten konnte, um ihre wertvollen magischen Körperteile zu verkaufen.

 

Baumgeister:

Beschützen die Wälder, in denen sie leben. Sie gelten als brutal und gnadenlos gegen Eindringlinge und sind aufgrund der ihnen innewohnenden Naturmagie selbst für erfahrene Zauberer eine enorme Herausforderung. Ihr Aussehen erinnert an große, laufende Bäume und man sollte einen großen Bogen um sie machen.

 

Djinns:

Wind-Dämonen aus der Wüste, die Sandstürme verursachen können und alle Lebewesen töten, indem sie ihnen in Sekunden sämtliches Wassesr entziehen und sie so zu Mumien machen.

 

Kobolde:

Etwa so groß wie Hunde, schleichen nachts in Häuser und stehlen oder spielen Streiche. Sie sind relativ harmlos und werden als Schädlinge betrachtet.

 

Nichtmagische Tierwesen:

 

Kelpies:

Wasserpferde, die an den Ufern von Flüssen und Seen grasen. Sie locken Menschen oder Tiere ins Wasser, wo sie sie ertränken und zwischen den Schlingpflanzen aufbewahren, bis sie verfault sind, um sie dann zu fressen. Eher selten anzutreffen und allgemein scheu.

 

Seeschlangen:

Gigantische Ungeheuer, die Schiffe versenken und verschlingen können. Da hilft nur beten!

 

Trolle:

Große, plumpe, wenig intelligente Wesen, die über eine primitive Sprache verfügen und panische Angst vor Feuer haben.

 

Riesenspinnen:

Leben in Wäldern und Höhlen. Spinnen riesige Netze, in denen sie sogar Rinder und Pferde einfangen können.

 

Greifen:

Kreuzung aus Vogel und Löwe, sie leben bevorzugt in den Bergen und fressen mit Vorliebe Nutzvieh, vor allem Schafe.

 

Harpyen:

Übergroße, bösartige, sehr intelligente Greifvögel, die für ihre Verschlagenheit bekannt sind. Der Legende nach stellen sie vorbeikommenden Wanderern Rätsel und fressen diese, wenn sie die Lösung nicht finden können. Eine Magiefähigkeit ist fraglich, es existieren unterschiedliche Aussagen dazu.

 

Leichenfresser:

Vierbeinige, nach Verwesung stinkende Monster, die etwa die Größe von Wölfen erreichen. Sie jagen im Rudel und werden von Leichengeruch magisch angezogen, weshalb man sie oft im Windschatten von Armeen und Seuchenausbrüchen beobachten kann. Da sie jedoch auch lebendes Fleisch nicht verschmähen und ihr Biss tödliche Infektionen verursacht, sind sie äußerst gefährlich.

 

 

 

 

Erster Teil - Blut und Sand

Die Sonne versank langsam am Horizont und tauchte die Dünen in blutrotes Licht. Deria starrte angespannt über die Wogen aus Sand hinweg, in deren Windschatten die Ziegen sich gemächlich zur Nacht aneinanderschmiegten. Einsam und geduckt lag das dunkle Lederzelt in einer Senke aus eben diesem Sand und warf den einzigen Schatten, soweit das menschliche Auge sehen konnte. Deria hielt Ausschau nach einem Reiter, ihrem Ehemann, doch gewiss nicht aus Vorfreude, sondern aus Furcht.

 

Ganze drei Monate war er nun schon fort und sie rechnete jeden Tag mit seiner Rückkehr. Arif war von Beruf Karawanenhändler, er durchstreifte die große Wüste mit einer Gruppe Händler, vom östlichen Rand der Verengard-Berge bis zum Ozean ganz weit im Westen, den Deria nur aus Erzählungen kannte. So war es schon die ganzen bisherigen vier Jahre ihrer Ehe gewesen und Deria war stets dankbar für die Abwesenheit ihres Gatten. Denn er war ein brutaler, stinkender Säufer, unbeherrscht, fett und stets schlecht gelaunt. Mehr als einmal hatte sich Deria gefragt, weshalb er unbedingt sie zur Frau gewollt hatte, obwohl er sie doch so offenkundig hasste. Doch irgendwann wurde auch diese Frage unbedeutend, wie so viele andere Fragen in Derias Leben. Vermutlich, so dachte sie, hasste er alle Frauen gleich. Und so hatte die junge Deria die letzten vier Jahre seit ihrer Hochzeit abwechselnd in quälender Einsamkeit oder in Furcht verbracht. Ihre einzige Gesellschaft waren die Ziegen und Kamele, mit denen sie oft sprach, sie waren das einzig Angenehme in diesem riesigen Albtraum aus Sand und Schlägen gewesen.

 

Doch seit kurzem war alles anders.

 

 

 

Von seiner letzten Karawane hatte Arif ihr einen Sklaven mitgebracht. Einen riesenhaften Mann mit bronzefarbener Haut, nicht kaffeebraun wie die von Deria und ihrem Mann, dürr wie ein Stock, mit kahlgeschorenem Schädel und ernsten, nussbraunen Augen. Er trug nichts, außer einen zerfetzten Lumpen um die Hüften. Sein gesamter Oberkörper und die Arme waren von Narben gezeichnet. Deria betrachtete ihn verstohlen, er war abgemagert, keine Frage, nichtsdestotrotz fand sie ihn ansehnlich. Seine Muskeln an Brustkorb und Schultern traten deutlich hervor und er hatte eine ruhige, autoritäre Ausstrahlung. Trotz seines rasierten Schädels wirkte er nicht annähernd wie ein Sklave, eher wie ein Krieger. Deria wurde unwohl, als sie seinen Blick auf sich spürte, sie straffte die Schultern und blickte ihn herausfordernd an. Die untere Hälfte seines Gesichts war bedeckt von einem struppigen, hellbraunen Bart. Deria hatte noch nie so einen Mann gesehen, er musste aus einem anderen Volk stammen, als sie. Arif bestätigte ihre Vermutung:

„Das ist Drivan, er stammt aus einem der Reitervölker im Norden, die über das Grasmeer herrschen. Ich habe entschieden, dass es für dich zu gefährlich ist, hier so lange ganz allein zu sein. Außerdem soll er dir mit den Tieren helfen.“

Deria war einen Moment lang wie vor den Kopf gestoßen. Arif wollte sie mit diesem fremden, hünenhaften, wild aussehenden Kerl über Wochen hinweg allein lassen? Unwillkürlich zog sie ihr Gewand enger vor der Brust zusammen. Arif entging das nicht, dem Sklaven ebenso wenig, er zog die Augenbrauen zusammen, die Geste war winzig, doch Deria sah sie trotzdem. Arif antwortete gereizt:

„Ich würde ihn wohl nicht bei dir lassen, wenn er eine Gefahr wäre, oder? Der Händler sagte er ist n bisschen blöd im Kopf, aber völlig harmlos. Außerdem habe ich nicht vor, ihm die Ketten abzunehmen.“

Deria blickte an dem Sklaven herunter. Seine Hände lagen in schweren Eisen, die mit einer leicht rostigen Kette verbunden waren. Außerdem trug er einen eisernen Halsring mit einer ähnlichen Kette, dessen Ende Arif lässig in der Hand hielt, als würde er ein Kamel am Strick führen. Deria runzelte die Stirn, Mitleid wogte in ihr hoch wie eine Welle, sie fand diese Behandlung äußerst unwürdig, hegte allerdings keine Hoffnung, dass sie daran etwas ändern könnte, zumindest solange Arif zuhause weilte.

Zum ersten Mal blickte sie dem Sklaven direkt ins Gesicht, in diese nussbraunen, klugen Augen, die ihren Blick ebenso verhalten musterten, jedoch nicht im Geringsten misstrauisch oder abfällig, ja, vielleicht eher neugierig? Interessiert? Deria vermochte es nicht zu sagen, doch sie hatte nicht im Geringsten den Eindruck, dass dieser Mann ein bisschen blöd war, im Gegenteil, er war offenbar klug genug gewesen, sich dumm zu stellen. Deria schoss es eiskalt den Rücken herunter und sie beschloss insgeheim, ihn genau im Auge zu behalten. Sie wandte sich wieder an Arif:

„Spricht er denn unsere Sprache?“

„Nur ein paar Brocken, aber es wird wohl reichen, um ihm Befehle zu erteilen.“

Deria blickte wieder den Sklaven an, und dann, sie wusste selbst nicht, woher sie den Mut dazu nahm, richtete sie sich kerzengerade auf und sprach ihn an:

„Dein Name ist also Drivan?“

Der Sklave nickte ernst und mit Nachdruck, so als befürchtete er, man könnte ihm seinen Namen absprechen, er verstand sie also scheinbar wirklich.

„Dann sei willkommen in deinem neuen Heim, folge mir, ich zeige dir deinen Schlafplatz.“

Und ohne den überraschten Arif eines Blickes zu würdigen nahm sie die Kette sanft aus dessen Hand und führte den Sklaven in das Zelt.

 

 

 

Und seit diesem Tag schlief Drivan stets zu ihren Füßen, sie hatten ja nur dieses eine, recht beengte Zelt, er begleitete sie zu den Tieren, half beim Zusammentreiben und Melken, baute das Zelt auf und ab, wenn sie den Standort wechselten. Ihm schienen solche Tätigkeiten nicht fremd zu sein und Deria vermutete, dass das Leben in einem nomadischen Reiterstamm sich wohl nicht besonders von dem eines nomadischen Händler- und Hirtenvolks unterschied. Er sprach kaum, vielleicht beherrschte er ihre Sprache auch einfach zu wenig, doch er war aufmerksam, sehr aufmerksam, geradezu lauernd, Deria entging das nicht, Arif leider schon. Er hatte Drivan am ersten Tag die Ketten an den Armen entfernt, damit er arbeiten konnte. Deria hatte erschrocken die halb verheilten, zerfransten Narben an den Handgelenken des Sklaven betrachtet. Doch außer ihr machte niemand großes Aufhebens darum, offenbar war das Alltag für einen Sklaven. Nun trug Drivan nur noch den eisernen Halsring, mit dem ihn Arif jeden Abend vor dem Zubettgehen an einen Zeltpfosten fesselte. Arif war sogar so großzügig gewesen, dem Sklaven zu erlauben, sich zu rasieren. Deria war ehrlich verwundert über ihren Ehemann. Damit er uns keine Läuse einschleppt. Hatte er gesagt. Drivan hatte sich draußen am Wasserloch gewaschen und rasiert und als der Sklave so frisch und sauber zurück ins Zelt kam, war Deria tatsächlich die Kinnlade heruntergefallen! Drivan hatte ein schönes, kantiges Gesicht, mit hohen Wangenknochen, einem kräftigen Kiefer und wunderschön geschwungenen, vollen Lippen. Als er ihre Reaktion bemerkte, wurde dieses scharf geschnittene Gesicht von einem verschmitzten Lächeln erhellt, sodass Deria augenblicklich errötete und beschämt den Blick abwandte. Das konnte ja heiter werden.

 

Nach den ersten Tagen, in denen alle Beteiligten die neue Situation vorsichtig beobachtet hatten, war Arif leider schnell wieder der Alte und ging wieder seiner liebsten Freizeitbeschäftigung nach. Er betrank sich schon am helllichten Tag, dann torkelte er zornig durch die Herde, trat die Ziegen aus seinem Weg, dass sie meckernd auseinanderstoben. Und wenn ihm etwas missfiel, dann schlug er Deria dafür. Wenn das Essen nicht rechtzeitig fertig wurde, wenn Deria ihm im Weg stand, wenn sie es gar wagte, ihn anzusprechen, oder nicht mit ihm zu sprechen, oder zu schlafen, wenn ihm der Sinn nach körperlichen Vergnügungen stand. Deria ertrug es stoisch und zählte insgeheim die Tage, bis er wieder aufbrach. Was sollte sie auch sonst tun? Es war ihr allerdings sehr unangenehm, dass Drivan nun stets des Nachts Augen- und Ohrenzeuge ihrer Schändung, denn anders konnte man das nicht nennen, wurde. Das machte die ganze Situation noch unerträglicher. Er war nur ein Sklave, was sollte er schon tun? Oder sagen? Dennoch schämte sie sich dafür, stellvertretend für Arif, dem Schamgefühl völlig fremd war.

 

Eines Morgens, die unbarmherzige Sonne hatte den Horizont noch nicht ganz hinter sich gelassen, war Deria mit einem großen Tonkrug auf dem Rückweg von einem nahe gelegenen Wasserloch, als sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Sie brach in die Knie, der schwere Tonkrug fiel ihr von der Schulter und das ganze Wasser kippte in den Sand, wo es sofort versickerte. Deria kniete im nassen Sand, von Weinkrämpfen geschüttelt, so heftig, dass sie kaum atmen konnte. Wozu soll das gut sein? Dachte sie verzweifelt. Was nützt mir ein Sklave, der mich beschützen soll, wenn er gegen die größte Bedrohung ebenso machtlos ist, wie ich es bin? Deria ließ mutlos den Kopf hängen und beobachtete, wie der nicht enden wollende Strom aus Tränen vor ihr in den Sand platschte und verschwand. Es dauerte lange, bis er abebbte und Deria wieder etwas durchatmen konnte.

 

Plötzlich fühlte sie eine Hand auf der Schulter und schrak auf. Sie sprang hoch und drehte sich blitzartig um. Vor ihr stand Drivan, ihr Sklave.

„Du lange weg, ich dich suchen. Du in Ordnung?“

Er betrachtete ihr tränennasses Gesicht und ließ ratlos die Schultern sinken. Deria wischte sich hektisch über die Augen, aber es kamen immer neue Tränen heraus, sie schluchzte heftig und wandte sich beschämt ab. Dann spürte sie eschrocken, wie sich zwei warme, kräftige Arme um ihre Schultern legten und sie wurde an seine muskulöse Brust gezogen. Sie wusste dass es falsch war, dem nachzugeben, und es konnte fatal enden, für sie beide, doch sie konnte nicht anders. Deria war am Ende ihrer Kräfte und vergrub das Gesicht in seinem groben Leinenhemd, das nach Sonne, Sand und Mann roch. Sie reichte ihm gerade so bis zur Brust und mit ihrem linken Ohr vernahm sie das gleichmäßige Schlagen seines Herzens. Ruhig, verlässlich, sicher. Erneut packte sie ein heftiger Weinkrampf und sie schlang die Arme um seine schmale, sehnige Taille und klammerte sich verzweifelt in das Leinen an seinem Rücken.

 

Er hielt sie fest und schwieg, bewegte sich kaum, streichelte nur mit dem Daumen sanft über ihre Schulter, eine winzige Bewegung, mehr gestand er sich nicht zu. Selbst das war schon zu viel, das wusste er. Wenn der dicke Säufer sie hier erwischte, ineinander verschlungen, würde er kurzen Prozess machen. Völlig egal, dass er sie nur trösten wollte. Der Dicke würde ihm den Schwanz abschneiden, oder ihn köpfen. Und er könnte es ihm nicht einmal verübeln. In seinem früheren Leben hatte Drivan oft mitangesehen, wie Sklaven kastriert wurden, die ihren Schwanz nicht in der Hose behalten konnten. Unwillkürlich spannte er sich an und blickte sich unauffällig um.

Die Minuten verstrichen und allmählich wurde das Schluchzen weniger heftig, sie wurde leiser und nur hin und wieder wurde sie noch von einem Beben geschüttelt. Drivan hielt sie immer noch fest, die kleine, dunkle Frau mit den langen, rabenschwarzen Locken, die ihm der Wind ins Gesicht blies. Ihr Duft war schwer und süß, wie Rosen und Kaffee. Drivan atmete ihn tief ein und fühlte einen leisen Stich in der Brust, dann ließ er sie sanft los und hielt sie eine Armlänge von sich entfernt.

„Du wieder besser?“

Fragte er mit einem schüchternen, verlegenen Lächeln. Seine Stimme klang rau, nachdem er so lange nicht gesprochen hatte. Deria nickte stumm und wich seinem Blick aus.

„Du warten hier.“

Sprach Rivan, und mit einem letzten, sanften Druck ließ er ihre Schultern los und hob den Tonkrug aus dem Sand. Er wandte sich um und schritt die paar Meter zurück zur Wasserstelle, Deria blickte ihm unsicher nach. Was sollte sie von diesem Mann halten? Führte er etwas im Schilde? Wollte er sich einschmeicheln? Wieso riskierte er sein Leben, nur um sie zu trösten wie ein Kind, das sich die Knie aufgeschlagen hat? Deria beschloss, ihn noch besser im Auge zu behalten und auf einmal erschien ihr der lang ersehnte Tag von Arifs Abreise viel zu schnell heranzurücken. Sie musste sich eingestehen, dass ihr Angst und Bange wurde bei dem Gedanken daran, zehn oder mehr Wochen allein mit diesem fremden Riesen zu verbringen.

Drivan kehrte mit dem vollen Tonkrug zurück. Er hatte ihn lässig auf der Schulter abgestellt, gestützt mit einer Hand und schlenderte gelassen an ihr vorbei, in Richtung Lager. Deria starrte ihm stirnrunzelnd nach. Sie hatte erwartet, dass er ihr das Tragen überlassen würde, wie sie es von ihrem Mann gewohnt war. Doch Drivan schritt entschlossen weiter, mit dem riesigen Krug auf der Schulter. Als er nach einigen Schritten bemerkte, dass sie immer noch wie angewurzelt dastand und ihn nachblickte, drehte er sich zu ihr um:

„Du kommen jetzt? Müssen Ziegen melken!“

Das riss Deria wieder aus ihrer Trance und sie trottete ihm nach, zurück zum Zelt, die mittlerweile heiß brennende Sonne im Nacken und ein ungutes Gefühl in der Magengegend.

 

 

 

Sie sollte Recht behalten. Kaum hatten sie das Lager erreicht, da donnerte auch schon Arifs alkoholfeuchte Stimme aus dem Zelt. Er kam wutentbrannt herausgestolpert, direkt auf Drivan zu, der immer noch den Krug auf der Schulter trug. Deria stieß einen erstickten Schrei aus und schlug die Hände vor den Mund, als sie gewahr wurde, wie Arif die Reitgerte seines Kamels ergriff und Drivan damit so heftig auf den Arm schlug, dass dieser das Gleichgewicht verlor und den Krug fallenließ. Er zerbrach mit lautem Krachen auf einem Stein. Deria rannte eilig die letzten Schritte bis zu Arif und versuchte, ihn zu beschwichtigen.

„Arif! Was ist in dich gefahren? Drivan bringt doch nur das Wasser…“

Weiter kam sie nicht, denn nun traf sie mit voller Wucht die Reitgerte ins Gesicht. Deria taumelte und fiel, sie schmeckte Blut und in ihren Ohren rauschte es. Sie schüttelte ein paarmal den Kopf, um sich wieder zu sammeln, da sah sie mit Entsetzen, dass Drivan einen zornigen Ausdruck im Gesicht hatte und einige Schritte auf Arif zuging, offenbar in dem Vorhaben, ihm die Gerte abzunehmen. Arif, der das offenbar auch eben erkannt hatte, heulte vor Wut auf und schlug wie ein Irrer auf Drivan ein, in einer Geschwindigkeit, die man ihm bei seiner Leibesfülle und dem Alkoholkonsum nicht zugetraut hätte. Drivan versuchte verzweifelt, mit erhobenen Armen die Schläge abzuwehren, doch, unbewaffnet wie er war, musste er sich irgendwann geschlagen geben. Arif prügelte wie ein Irrer auf den Sklaven ein, traf ihn empfindlich, zerfetzte seine Kleidung. Deria schrie entsetzt auf, als der Riese zu Boden ging, blutüberstromt und offensichtlich bewusstlos geworden. Arif schlug dennoch weiter auf ihn ein, Deria rappelte sich auf und stürzte sich auf den schnaufenden und schwitzenden Arif:

„Es reicht, Mann! Du bringst ihn noch um! Er hat nur seine Arbeit getan, was zur Hölle ist in dich gefahren?“

Deria war rasend vor Wut, es war ihr egal, ob er sie noch einmal schlagen würde. Doch Arif blickte sie nur schwer atmend an:

„Ihr wart so lange weg. Erst du, dann ist er hinterher und dann wart ihr ewig verschwunden. Und dann trägt er deinen Wasserkrug und grinst wie ein dämlicher Affe! Was soll ich da denken!?“

Deria hätte sich beinahe mit der Hand an die Stirn geschlagen. Der Zorn kochte in ihr hoch und sie hatte Mühe, ihn zu unterdrücken. Das würde Drivan nicht helfen. Sie beschloss, die Strategie zu ändern.

„Arif, Liebster! Du hast doch selbst gesagt dass er ein wenig dämlich ist. Wer weiß, warum er so dumm grinst beim Wassertragen.“

Derias Herz blutete beim Anblick von Drivan, der immer noch bewusstlos zu ihren Füßen lag und sich nicht mehr rührte, aber sie durfte sich jetzt nichts anmerken lassen.

Arif dagegen schien allmählich seinen Verstand wiederzufinden. Er streckte die Hand aus und umfasste ihr Kinn, drehte ihren Kopf und betrachtete die Strieme auf ihrer rechten Wange, die sich vom Ohr bis zu ihrer aufgeplatzten Unterlippe zog. Deria zitterte bei seiner Berührung, doch er betrachtete nur sein Werk, dann ließ er die Hand sinken und drehte sich ohne ein Wort um und verschwand zwischen den Kamelen.

Deria wartete ängstlich, bis er außer Sichtweite war und stürzte dann zu Drivan, der mit dem Gesicht zur Erde dalag. Sie betete inständig, dass er noch lebte. Sie fiel vor ihm auf die Knie und legte ihm die Hand auf den geschundenen Rücken. Er atmete noch, sie konnte es spüren. Eilig schickte Deria ein Dankgebet in den Himmel und versuchte, Drivan auf den Rücken zu drehen. Er war schwer, doch mit einiger Anstrengung gelang es ihr. Er sah furchtbar aus; blutüberströmt, das Hemd in Fetzen, ebenso die Haut, das Gesicht begann schon, anzuschwellen. Eilig blickt sie sich um und entdeckte eine große Tonscherbe, in der noch eine kleine Wasserpfütze stand. Sie griff danach und legte sie ihm vorsichtig an die Lippen. Die andere Hand schob sie in seinen Nacken und hob vorsichtig seinen Kopf ein Stück an.

Als das Wasser seine aufgeplatzten Lippen benetzte, öffnete er so plötzlich die Augen, dass Deria erschrak und die Scherbe fallenließ. Sie griff hektisch danach, doch das Wasser war bereits versickert. Deria blickt wieder zu Drivan. Sie wollte etwas Entschuldigendes sagen, aber bei seinem Anblick verschlug es ihr die Sprache. Er starrte sie direkt an, furchtlos und wissend, als würde er in die Ferne blicken und dort seine Zukunft sehen. Sie überkam eine Gänsehaut bei dem Anblick. Sahen so Menschen aus, wenn sie den Tod vor Augen hatten?

Er sagte nichts, bewegte sich nicht, seine dunklen, sanften Augen hatten sich immer noch fest auf sie geheftet. Er betrachtete sie so intensiv, als könne er direkt in ihre Seele blicken und Deria spürte, wie ihr Puls sich überschlug.

 

Sie blickten einander in die Augen und für einen Moment hielt die Welt an. Drivan spürte den Schmerz nicht mehr, er hörte und sah nichts mehr außer ihr. Er verlor sich rettungslos in ihren großen, pechschwarzen Augen. Auch sie war gefesselt von seinem Blick. Es hielt nur einen Herzschlag lang, vielleicht zwei, dann war der Zauber vorüber und die Realität hatte sie zurück. Doch Drivan wusste, dass es keine Illusion war, sie hatte es auch gespürt, er sah es deutlich in ihrem Gesicht. Eine einsame Träne rann ihre Wange hinab. Er streckte angestrengt die Hand aus und wischte sie sanft fort. Zögerlich neigte sie den Kopf und schmiegte ihre Wange in seine Hand. Nur einen winzigen Moment lang. Dann sank er wieder in die Dunkelheit.

 

Deria wusste später nicht mehr, welcher Zauber ihr solche Kräfte verliehen hatte, doch sie schleppte Drivan durch den Sand in das schattige Zelt. Dann bettete sie ihn behutsam auf seine Schlafstelle am Fußende des flachen Ehebetts und lief eilig mit einem Wasserschlauch aus Ziegenhaut wieder hinaus. Sie eilte so schnell sie konnte erneut zu dem Wasserloch, an dem ihr die Welt heute Mittag für einen kurzen Augenblick nicht düster und trostlos erschienen war. Wehmütig dachte Deria zurück an die tröstende Wärme seines Körpers und dem beruhigenden Schlagen seines Herzens an ihrer Wange, wo jetzt der Schlag von Arif immer noch auf ihrer Haut brannte. Sie schüttelte den Gedanken ab und beeilte sich, wieder zurückzulaufen. Nicht auszudenken, was Arif mit Drivan anstellen könnte, wenn er zurückkehrte und ihn bewusstlos vorfand. Sie keuchte unter der brennenden Sonne und sah sich im Lauf nervös zu allen Seiten um, doch von Arif keine Spur. Deria sah nichts, außer Dünen, Gestrüpp und den Bergen in der Ferne. Endlich erreichte sie wieder das Lager und stürzte ins Zelt. Eilig durchschritt sie den Wohnbereich und teilte den ledernen Vorhang, der den Schlafplatz im hinteren Bereich abtrennte.

Deria atmete erleichtert auf. Drivan lag noch genauso da, wie sie ihn zurückgelassen hatte. Sie verlor keine Zeit und machte sich gleich daran, seine zahllosen Wunden zu reinigen und zu versorgen. Sie besaß ein kleines Holzkästchen, in dem verschiedene Heilkräuter lagerten. Eilig griff sie hinein und zerrieb einiges von seinem Inhalt in einem kleinen Mörser. Mit etwas Wasser erzeugte sie eine Paste, die kräftig nach dem getrockneten Knoblauch roch, der Hauptbestandteil der Mixtur war. Die Paste verteilte sie behutsam auf seinen Wunden. Drivan war noch immer ohne Bewusstsein. Hin und wieder, wenn Deria eine besonders schlimme Wunde erst nähen musste, gab er ein leises Stöhnen von sich und zog die Stirn kraus.

Es dauerte eine Ewigkeit, all die kleinen und großen Wunden zu versorgen. Deria arbeitete fieberhaft und voller Konzentration. Als sie beinahe fertig war, stand die Sonne bereits so tief, dass sie im Zelt die Lampen anzünden musste. Die Ziegen und Kamele, die heute auch noch nicht gemolken worden waren, blökten mittlerweile herzzerreißend. Deria stand der Schweiß auf der Stirn, noch die eine letzte Schramme. Arif war schon sehr lange weg, er könnte jeden Moment zurückkehren. Endlich geschafft! Deria deckte ihn behutsam mit einem der Felle zu und eilte hinaus, um die Tiere zu versorgen.

 

Als Drivan erwachte, war es um ihn herum stockdunkel. Für einen Moment glaubte er, er sei gestorben und lag unter der Erde, so finster war es. Doch dann spürte er allmählich seinen zerschundenen Körper wieder und die Erinnerung kehrte zurück. Ganz vorsichtig bewegte er Arme und Beine, tastete seine Wunden ab und stellte fest, dass er mehrere Verbände trug. Der Schmerz war auszuhalten, doch Drivan fühlte sich zerschlagen und schwach, als wäre er unter ein Pferdefuhrwerk geraten und die Hufe und Räder hätten seine Knochen zermalmt. Durchaus kein neues Gefühl für ihn. Er würde einfach weiter schlafen und am Morgen würde es schon besser werden. Er wollte sich gerade vorsichtig in eine bequemere Lage bringen, als der Ledervorhang des Zeltes so plötzlich zur Seite gerissen wurde, dass er unwillkürlich zusammenzuckte. Keine zwei Meter von ihm entfernt war noch jemand heftig zusammengezuckt, er hatte es gehört. Es war so dunkel, er konnte seine eigene Hand nicht sehen, doch es war sicher Deria gewesen.

Drivan konnte nicht verhindern, dass er nun Ohrenzeuge ihrer Bestrafung wurde, wie sie vorher die seine mitansehen musste. Und er war völlig machtlos. Angekettet und verwundet hörte er, wie dieses widerliche, fette Schwein über die junge Frau herfiel. Er versteifte sich instinktiv und spannte alle Muskeln an, unauffällig prüfte er die Kette. Keine Chance, sie war fest. Als Deria zu wimmern anfing, stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Sie bettelte Arif an, dass er aufhören solle, und Arif schlug sie. Drivan brach der Schweiß aus und seine Kehle schnürte sich zu. Das Gefühl der Ohnmacht drohte, ihn zu überwältigen. Sie weinte jetzt, Arif schien es nicht zu stören. Drivan schluckte, es war schlimmer, als sonst, sie schrie auf, weil er ihr wehtat, doch in der Dunkelheit konnte Drivan nicht sehen, was er ihr antat. Irgendwann gab sie den Widerstand auf und hörte auf, mit den Beinen zu zappeln, das Rascheln erstarb. Drivan hörte nur noch die monotonen Sexgeräusche und ihr leises Schluchzen. Einer ihrer Füße lag dicht neben seinem Kopf. Er streckte die Hand aus und strich sanft über ihren Knöchel. Das Schluchzen wurde allmählich leiser und als Arif endlich von ihr abließ und sich umdrehte, rutschte sie ein kleines Stück weiter nach unten, näher zu Drivan. Er hatte die ganze Zeit über ihr Bein gestreichelt, wollte ihr zeigen, dass sie nicht allein war. Jetzt rutschte auch er näher und legte seine Wange behutsam auf ihrer Wade ab. Dabei spürte er plötzlich, dass sein Gesicht nass war. Er hatte gar nicht gespürt, dass er vor Hass und Ohnmacht Tränen vergossen hatte. Er schämte sich ein wenig dafür, vor allem weil sie es jetzt auch an ihrem Bein spürte. Doch nun war es nicht mehr zu ändern.

Arif schnarchte bereits monoton vor sich hin. Drivan bewegte keinen Muskel, er blieb genauso liegen, versuchte Deria Trost zu spenden. Sie weinte noch lange, doch irgendwann schlief sie vor Erschöpfung ein. Drivan strich noch einmal zärtlich über ihren Knöchel, dann drehte er sich zur anderen Seite. Er wollte auf keinen Fall riskieren, dass Arif bei Sonnenaufgang erwachte und sie beide in dieser Situation vorfand. Diese Schändung mit anzuhören war das schlimmste, was ihm jemals widerfahren war bisher, es hatte ihm beinahe das Herz zerrissen. Er nahm sich fest vor, dass er das niemals wieder zulassen würde. Er mochte gar nicht daran denken, wie schlimm es für Deria gewesen war. Allmählich forderten die Anstrengungen ihren Preis und auch Drivan fielen die Augen zu, das letzte, was er im Traum sah, war Derias Gesicht, wie sie ihre Wange in seine Hand schmiegte.

 

 

 

Deria erwachte, als die Sonne aufging und konnte sich kaum rühren, so steif fühlten sich ihre Knochen an. Sie blickte zur Seite, Arif war schon auf. Ihr zerschundener Körper schmerzte und als sie sich endlich aufgerappelt hatte, stellte sie angeekelt fest, dass etwas Warmes, Glibbriges ihre Beine hinabrann. Sie schaffte es nur mit Mühe, sich nicht zu übergeben. Sie beschloss gerade, sich beim Wasserloch zu waschen und sah sich im Zelt nach dem Wasserschlauch um, als ihr Blick auf Drivan fiel, der zusammengerollt an ihrem Fußende lag, immer noch in tiefem Schlaf. Ihre Gedanken wanderten zurück zur letzten Nacht und eine Woge der Zärtlichkeit überkam sie. Er hatte sie getröstet, wollte ihr beistehen. Sie spürte immer noch seine große, raue, warme Hand auf ihrem Bein. Deria beugte sich herab und zog ihm die verrutschte Decke über die Schultern. Sie lauschte seinem gleichmäßigem Atem und eine leise, hoffnungsvolle Stimme in ihrer Seele fragte sich vorsichtig, ob er vielleicht eingegriffen und zu ihrer Rettung geeilt wäre, wenn er nicht verwundet gewesen wäre. Sie wagte es kaum, sich diesen Gedanken einzugestehen.

Dann fiel ihr Blick auf die dicken Eisen an seinem Hals und den Handgelenken und Wut stieg in ihr auf. Er hätte es gar nicht gekonnt. Doch wann hatte Arif ihm die Ketten angelegt? Sie konnte sich nicht erinnern, ihn gehört zu haben, sie war erst aufgeschreckt, als er in der Nacht so plötzlich das Zelt betreten hatte, hasserfüllt und betrunken, wie üblich. Deria fand den Wasserschlauch und schritt langsam durch das Zelt zum Ausgang, jeder Schritt verursachte ein ekelhaftes Brennen zwischen ihren Beinen. Sie steckte den Kopf aus dem Zelt und sah sich verstohlen nach Arif um, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Sie trat heraus und ließ den Blick über die Dünen schweifen. Die Kamele! Sie waren fort! Alle zehn! Arif musste sich beim ersten Lichtstrahl davongemacht haben. Deria überlief ein Schauer bei dem Gedanken daran, dass er sich angezogen und gepackt hatte, während sie nichts ahnend daneben geschlafen hatte. Er hätte ihr im Schlaf die Kehle durchschneiden können und sie hätte es erst gemerkt, wenn es zu spät gewesen wäre. Hastig schüttelte sie den Kopf, um diesen beängstigenden Gedanken abzuschütteln, und schritt energisch in Richtung Wasserloch. Umso besser, dass er jetzt aufgebrochen war, dann musste sie ihm erstmal nicht mehr unter die Augen treten. Sie schritt weiter durch den Sand, die aufgehende Sonne im Gesicht, da wanderten ihre Gedanken erneut zu Drivan. Hatte er letzte Nacht etwa um sie geweint? Sie hatte etwas Nasses an ihrem Bein gespürt, als er seinen Kopf darauf legte. Sie hatte es erst für Blut gehalten, doch im Tageslicht war ihre Wade sauber gewesen, und die Wunden in seinem Gesicht ebenso. Aber das war doch nun wirklich unmöglich, schalt sie sich. Warum sollte es einen Sklaven interessieren, was seiner Herrin widerfuhr? Doch andererseits hatte er sie auch getröstet, schon zweimal jetzt! Deria konnte sich keinen Reim darauf machen, es war einfach zu seltsam in ihren Augen. Sie erreichte immer noch grübelnd das Wasserloch. Sie füllte den Schlauch und blickte sich dann verstohlen um. Natürlich war keine Menschenseele weit und breit zu sehen. Hastig streifte sie ihr langes, luftiges Gewand ab und stieg in das eiskalte Wasser. Sie zitterte vor Kälte, doch nahm sie darauf keine Rücksicht. Wie besessen schrubbte sie sich mit Sand ab, bis ihre Haut rot leuchtete und brannte. Doch egal, wie sehr sie schrubbte, es war nicht genug, es würde nie genug sein. Deria kannte dieses Gefühl bereits zur Genüge.

Nach einiger Zeit besann sie sich wieder und stieg aus dem Wasser. Ihre Zähne klapperten und ihr ganzer Körper war von Gänsehaut überzogen. Eilig kleidete sie sich an und ging dann, immer noch bibbernd, mit dem Wasserschlauch im Arm zurück. Sie kam ins Zelt und fand Drivan wach vor. Er lag auf einen Ellenbogen gestützt auf seinem Lager und sah zu ihr auf, als sie den Schlafbereich betrat. Deria konnte nicht anders, sie senkte beschämt den Blick und fluchte innerlich, weil sie spürte, wie sie rot anlief. Auch Drivan blickte etwas unsicher. Fragend hielt er ihr einen Arm hin und rasselte sanft mit der Kette. Richtig! Sie schalt sich selbst in Gedanken. Wie sollte er denn aufstehen, wenn er noch immer angekettet war? Eilig blickte sie sich um und suchte den großen eisernen Schlüsselbund. Sie fand ihn nach kurzer Zeit in der Truhe mit Arifs Handelspapieren. Hektisch kniete sie sich vor ihm hin, öffnete seine Handschellen und die schweren Ketten fielen laut scheppernd zu Boden.

 

Drivan hielt ganz still, wagte nicht zu atmen, oder sich zu bewegen. Sie kniete vor ihm und starrte ihn an, wie ein verschrecktes Reh, das bei jeder hastigen Bewegung davonspringen und im Dickicht verschwinden würde. Mit fahrigen Bewegungen hatte sie ihm die Handschellen aufgeschlossen und blickte jetzt unsicher auf den schweren Eisenring an seinem Hals. Er konnte in ihrem Blick sehen, dass ihre Gedanken rasten. Er wartete, es hatte keinen Sinn, sie zu drängen, sie war viel zu verschreckt. Dann hatte sie anscheinend einen Entschluss gefasst, denn sie nahm den zweiten Schlüssel in die Hand und näherte sich damit ganz langsam seinem Hals. Sie versuchte verzweifelt, ihn in das schwere, rostige Vorhängeschloss zu bekommen, das seitlich von dem Eisen herabhing. Doch sie schaffte es nicht, ihre Hände zitterten zu sehr. Sie war ihm so nah, dass er ihren hektischen Atem an seinem Hals spüren konnte und von ihren Haaren tropfte Wasser auf seine Schulter. Sie wurde immer nervöser und er sah Panik in ihr aufsteigen. Er musste ihr helfen, sonst würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Ganz behutsam legte er seine Hand auf ihre und führte sie. Im ersten Moment dachte er, sie würde die Hand zurückziehen und fliehen, sie hatte fürchterlich gezuckt, als er sie berührte, doch dann fing sie sich wieder und er konnte ihr helfen, das Schloss zu öffnen. Mit einem lauten Klicken sprang es auf und fiel zu Boden. Der Eisenring folgte ihm nach, doch Drivan hielt noch immer ihre Hand mit dem Schlüssel. Er war sich nicht sicher, woher er den Mut dazu nahm.

 

Derias Herzschlag erreichte ungekannte Höhen. Das Blut rauschte in ihren Ohren und sie fürchtete, jeden Augenblick in Ohnmacht zu fallen, so sehr waren ihre Nerven gespannt. Sie hatte das Schloss mit seiner Hilfe aufbekommen. Und jetzt lag es am Boden und er hielt noch immer ihre Hand. Ganz sanft, wie etwas unglaublich wertvolles, etwas zerbrechliches. Und er starrte sie an, war wie gebannt in ihrem Blick, doch auch Deria konnte ihren Blick nicht von diesen sanften, braunen Augen lösen. Sie zogen sie magisch an, wie ein Strudel, der sie immer weiter in die Tiefe zog. Sie spürte kaum, wie sie sich immer weiter zu ihm herüberbeugte, auch er kam immer näher. Sie spürte seinen sanften Atem auf ihrem Gesicht. Und dann trafen sich ihre Lippen und Derias Herz explodierte. Schlagartig war alle Furcht vergessen, aller Schmerz wie weggeweht. Und der Schlüssel fiel klimpernd zu Boden…

 

 

 

Nachdem sie sich zum ersten Mal geküsst hatten, war Deria vollkommen erschrocken aus dem Zelt gestürzt und zu den Ziegen geeilt. Sie hatte versucht, sich einzureden, dass das gerade nicht passiert war, hatte nach dem Melken stundenlang zwischen den Tieren gehockt und ins Leere gestarrt. Bis es Abend wurde und Drivan sie holen kam. Er legte sanft die Hand auf ihre Schulter:

„Essen fertig.“

Sagte er nur, und ließ die Hand kraftlos sinken, doch sein Blick war so abgrundtief traurig, dass es ihr einen Stich versetzte. Er wandte sich ab und ging mit hängenden Schultern voraus. Deria konnte ihr Erstaunen nicht verbergen, als sie das Zelt betrat und alles aufgeräumt vorfand. Es roch nach gutem Essen und Derias Magen knurrte hörbar, was Drivan ein flüchtiges Lächeln auf die Lippen zauberte. Sie hatte den ganzen Tag das Essen vergessen! Betretenes Schweigen erfüllte das Zelt, als sie sich kauend gegenübersaßen. Er hatte einen Eintopf aus Ziegenfleisch gekocht, es schmeckte herrlich, doch Deria konnte sich kaum aufs Essen konzentrieren, zu viele Fragen und Gedanken kreisten in ihrem Kopf. Sie spürte seinen Blick und sah zu ihm auf. Einige Sekunden lang betrachteten sie sich gegenseitig, dann schlug sie beschämt die Augen nieder und stocherte wieder in ihrem Essen. Draußen wurde es bereits dunkel und Deria erhob sich bald darauf und legte sich erschöpft in ihr Bett. Sie fühlte sich immer noch wie zerschlagen und in ihrem Inneren tobte ein Sturm. Sie war zu Tode erschöpft, fand jedoch keinen Schlaf. So lag sie eine Weile da und starrte nach oben an die Zeltdecke und verfluchte ihr Leben, bis nach einer Weile Drivan leise durch den Vorhang kam und sich an seinem gewohnten Platz niederlegte.

 

Es war ein Fehler, er hätte sie nicht küssen dürfen. Drivan fluchte innerlich zum einhundertsten Mal an diesem Tag. Sie hasste ihn jetzt bestimmt, oder sie hatte Angst vor ihm. Sie kam auch von selbst nicht zurück, offenbar ertrug sie seine Nähe nicht mehr. Er machte sich Vorwürfe und weil er nicht stillsitzen konnte, räumte er erst das ganze Zelt auf, holte dann Feuerholz und, als sie immer noch draußen saß und die Ziegen anstarrte, machte er das Abendessen und ging sie dann holen, als die Sonne schon den Horizont im Westen berührte.

Jetzt lag er hier in der Dunkelheit, hörte sie atmen und das betretene Schweigen stand wie eine unüberwindbare Mauer zwischen ihnen. Er hatte etwas sagen wollen, vorhin beim Essen, irgendetwas! Doch ihm fehlten die Worte, er wusste nicht einmal, was er ihr eigentlich sagen wollte? Doch, eigentlich wusste er es genau! Doch das konnte er nun wirklich nicht sagen! Sie würde ihn für verrückt halten. Er brummte genervt und warf sich trotzig auf die Seite, wand ihr den Rücken zu und versuchte, seine Gedanken zum Schweigen zu bringen.

Da schoss völlig unerwartet eine heftige Gänsehaut seine Wirbelsäule hinab, etwas hatte seinen Rücken berührt. Nur ganz leicht, wie ein Flügelschlag, doch eindeutig da! Drivan drehte sich zögernd um und fand Deria neben sich sitzend vor, er konnte ihre Silhouette gerade eben erkennen. Einige Strahlen des Mondes hatten sich in das Zelt verirrt und ließen ihr lockiges schwarzes Haar schimmern wie flüssiges Silber.

 

„Ja, Herrin?“

Fragte er unsicher. Er hörte sie atmen, dann zog sie die Hand fort und räusperte sich unsicher.

„Es ist recht kalt heute Nacht, findest du nicht?“

Drivan runzelte die Stirn. Was wollte sie damit sagen? Er zog es vor, erstmal zu schweigen und abzuwarten. Deria setzte erneut an:

„Ich friere ein wenig. Die dünne Decke reicht nicht aus. Würdest du…“ Sie zögerte.

 

Drivan schluckte, seine Kehle war mit einem Mal staubtrocken. Lud sie ihn gerade wirklich in ihr Bett ein? Er musste träumen. Ungläubig blinzelte er sie an. Das Schweigen wurde immer unangenehmer. Schließlich seufzte sie, zuckte die Achseln und legte sich wieder zurück auf ihr Lager. Verflucht! Drivan, du lahmer Esel, das war eine Einladung, beweg dich, Mann! Er schalt sich selbst, weil er sie mit seinem Zögern vor den Kopf gestoßen hatte. Endlich kam wieder Leben in seinen Körper und er kroch vorsichtig zu ihr. Sie lag bewegungslos da, doch er wusste, dass sie nicht schlief. Offensichtlich gab sie wieder das erstarrte Reh. Drivan ließ sich behutsam neben ihr auf die Felle sinken und schmiegte sich an ihren Rücken, den sie ihm zugewandt hatte. Sie schien keine Einwände zu haben, also zog er die Decke über sie beide und legte einen Arm um ihre Taille, den anderen schob er unter seinen Kopf. Er machte sich keine Illusionen, dass hier heute Nacht irgendetwas passieren würde. Das wollte er ihr nach der letzten Nacht auch wirklich nicht zumuten. Und so war er glücklich damit, sein Gesicht in ihren Haaren zu vergraben und ihren Duft einzuatmen. Nur sein Puls verriet seinen inneren Aufruhr, denn sein verräterisches Herz hämmerte so heftig in seiner Brust, als würde es gleich herausspringen. An schlafen war erst einmal nicht zu denken…

 

Deria wunderte sich über sich selbst. Woher nahm sie auf einmal diese Kühnheit? Du meine Güte, wie er mich angestarrt hat! Als wäre ich übergeschnappt! Dachte sie peinlich berührt. Doch dann war er doch darauf eingegangen. Zuerst hatte sie vermutet, dass es reines Pflichtgefühl war, das ihn dazu veranlasste, dass er einfach keinen Befehl verweigern wollte. Doch die Art, wie er sich an sie schmiegte, wie er die Decke über sie gezogen hatte, das war mehr, sie wusste es ganz genau! Und er hatte einen Arm um ihre Taille gelegt! Deria konnte es kaum glauben. Das war nicht bloß Pflichterfüllung! Dieser riesige, schöne Mann lag hier an sie gepresst, die Nase in ihrem Haar und sein Herz hämmerte gegen ihren Rücken. Allmählich dämmerte es ihr, dass Drivan vielleicht genauso nervös war, wie sie. Deria spürte ein aufgeregtes Flattern in der Magengegend. Sanft ergriff sie die große, warme Hand auf ihrer Taille und hielt sie ganz fest. Und dann, das erste Mal seit über vier Jahren, schlief sie zufrieden und ohne Angst ein.

Drei Monate später…

 

Er nannte sie ma shekh, das hieß „meine Sonne“ hatte er verlegen zugegeben. Deria überkam eine warme Welle der Zuneigung, wenn sie sein Gesicht wieder vor sich sah und sie musste in sich hineinlächeln. Nach der ersten Nacht, in der sie so schüchtern und vorsichtig nebeneinander lagen, hatte Drivan sie ausnahmslos jede Nacht im Arm gehalten. Er hatte sie an sich gezogen, sie mit seinem großen, sehnigen Körper abgeschirmt, sowohl gegen die nächtliche Kälte, als auch gegen die Albträume, die Deria beinahe jede Nacht plagten. Doch seit Drivan bei ihr lag, war es besser. Sie erwachte am Morgen ausgeruhter und fand allmählich zu ihrer alten, temperamentvollen Natur zurück. Manchmal küssten sie sich lang und intensiv, bis Deria ganz heiß wurde und es in ihrem Bauchnabel zu kribbeln begann, doch noch wagte sie nicht, ihn zwischen ihre Schenkel zu lassen, die Spuren der jahrelangen Misshandlungen waren noch zu präsent, sowohl in ihrer Erinnerung, als auch auf ihrer Haut. Und Drivan drängte sie nicht. Er verhielt sich verständnisvoll und geduldig.

Deria war bisweilen erstaunt, wenn sie über sein Verhalten nachdachte. Drivan wurde niemals zornig, er schimpfte nicht mit ihr, er schlug sie nicht und beleidigte sie auch nicht. Er wirkte ganz und gar fremd und wunderbar neu und interessant auf sie. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass Männer so verschieden sein könnten. Sie hatte immer gedacht, dass sie im Grunde alle boshaft und brutal waren, doch Drivan schienen diese Charakterzüge völlig abzugehen. Deria seufzte bei diesem Gedanken erleichtert auf. Die vergangenen drei Monate erschienen ihr wie ein Traum. Ein Traum, von dem sie wusste, dass er jeden Moment enden konnte. Sie blickte noch einmal über die endlosen Dünen und schritt dann energisch zurück ins Zelt, Panik kribbelte in ihrem Nacken.

 

„Drivan, ich habe Angst. Er könnte jeden Tag wieder da sein.“

Drivan saß am Feuer und schälte Süßkartoffeln.

„Vielleicht haben wir Glück, und ein Berglöwe hat ihn gefressen.“

Seine Sprachkenntnisse waren mittlerweile deutlich besser. Deria sah das humorvolle Glitzern in seinen Augen. Sie setzte sich neben ihn gab ihm einen halbherzigen Klaps.

„Hast du vergessen, wie er dich zugerichtet hat? Ich weiß nicht, ob wir das weiter vor ihm verbergen können. Ich will nicht dass er mich wieder…“

Sie schluckte und schlang sich die Arme um die Schultern, als wäre ihr kalt. Drivan drehte sich ruckartig zu ihr und legte sanft die Hand an ihre Wange. Deria blickte tief in die wunderschönen, nussbraunen Augen, die mit so viel Liebe auf sie herunterblickten.

„Er wird dich nie wieder anrühren!“

Er sagte es ganz ruhig und entschieden, so als würde er feststellen, dass draußen die Sonne schien, doch Deria spürte den unterdrückten Zorn, den er ausströmte und erbebte unwillkürlich.

„Wenn er zurückkommt, töte ich ihn!“

Deria riss erschrocken die Augen auf. Sie glaubte erst an einen Scherz, doch Drivans Gesicht war todernst. Er blickte ihr verschwörerisch in die Augen.

„Können wir nicht einfach verschwinden, bevor er kommt?“

Drivan schüttelte den Kopf, während er fortfuhr, ihre Wange zu streicheln.

„Wir wären beide niemals frei, solange dieses Ungeheuer am Leben ist. Du kennst ihn doch schon so lange, glaubst du ernsthaft, er würde uns einfach so davonziehen lassen? Nein, er würde uns nachjagen und uns vielleicht sogar töten. Mich würde er in jedem Fall töten und dann wärst du allein mit ihm.

„Er schüttelte heftig den Kopf, als wollte er das Bild in seinen Gedanken abschütteln.

„Außerdem hat er alle Kamele mitgenommen. Egal in welche Richtung wir uns wenden, jede menschliche oder elfische Siedlung ist mindestens zehn Tagesritte entfernt. Das schaffen wir nicht zu Fuß, und Arif würde uns mühelos einholen.“

Deria ließ resigniert den Kopf sinken. Sie musste Arif also doch wieder gegenübertreten, Drivan hatte Recht, daran führte kein Weg vorbei. Sie blickte verunsichert zu ihm auf:

„Hast du einen Plan?“

Drivan wirkte zuversichtlich.

„Weniger ein richtiger Plan, jedoch immerhin eine Idee. Wir warten, bis er abends zu Bett geht, dann überwältige ich ihn, fessele ihn mit meiner Kette, dann nehmen wir die Kamele und fliehen. Es wird ihn nicht umbringen, doch es wird auch eine Weile dauern, bis er sich befreien kann oder gefunden wird. Bis dahin sind wir hoffentlich schon über alle Berge.“

„Hast du denn eine Idee, wohin wir gehen können? Vielleicht zurück in deine Heimat? Ins Grasmeer?“

Drivan schüttelte bedauernd den Kopf.

„Mein Dorf existiert nicht mehr. Jeder Reiterstamm hat seine eigene Siedlung, doch sie sind untereinander verfeindet. Kein anderer Stamm würde uns aufnehmen, und ich glaube auch nicht, dass dir das Leben dort gefallen würde, es ist ziemlich rau und gefährlich. Doch durchqueren müssen wir das Grasmeer, wir wenden uns am besten nach Norden, nach Grüntal, das ist die nächste größere Stadt, da kennt uns niemand und ich finde vielleicht eine Arbeit.“

„Grüntal? Was ist das für eine Stadt?“

„Eine Menschenstadt, sie liegt, wie der Name schon sagt, im Tal des grünen Flusses, dort kreuzen sich sowohl der Fluss, als auch die Grenzen der Reiche Morwen, Verengard und unserer Heimat, Al-Kush. Daher ist sie bunt und laut und reich bevölkert und wir fallen dort nicht weiter auf.“

Deria warf ihm einen erstaunten Blick zu, sie konnte ihre Neugier kaum zügeln, am liebsten wäre sie noch am selben Abend aufgebrochen, doch sie war auch etwas verunsichert, angesichts ihres bevorstehenden Aufbruchs in eine unbekannte Zukunft.

„Woher weißt du so viel darüber? Warst du schon einmal dort?“

Drivan lächelte und gab ihr einen sanften Kuss.

„Ich war schon einige Male dort, mein Volk treibt Handel mit Pferden, überall in den Grenzstädten. Keine Bange, ma shekh, du wirst sie schon bald selbst erkunden und ich begleite dich und zeige dir alles.“

Deria wurde etwas leichter ums Herz. Voller Tatendrang sprang sie auf.

„Ich packe uns etwas Proviant zusammen und verstecke es in meiner Truhe.“

„Komm bitte noch einmal zurück, ma shekh, ich möchte etwas mit dir besprechen.“

Deria wandte sich erstaunt um und blickte auf Drivan hinab, der noch immer am Feuer saß und nun verlegen mit einem Ast darin herumstocherte. Sie setzte sich erneut neben ihn und blickte ihn beunruhigt an.

„Was ist denn, Liebster, gibt es ein Problem?“

Drivan lächelte sie liebevoll an.

„Ganz und gar nicht. Ich wollte dich etwas fragen.“

Er nahm ihre Hand und streichelte sanft mit dem Daumen über ihren Handrücken. Die Haut so zart, wie bei einem Kind. Er schluckte und fasste sich ein Herz:

„Liebste Deria, wenn das alles vorbei ist, wenn wir hier heil herauskommen, würdest du mir dann die Ehre erweisen und meine Frau werden?“

Deria hielt einen Moment die Luft an. Ihr Puls begann zu rasen und sie spürte ein Prickeln in ihrem Nacken. Sie wagte kaum zu hoffen, dass sie eines Tages in Frieden leben konnten. Ja, vielleicht sogar eine Familie gründen, dennoch war sie mehr als bereit, es zu versuchen, entgegen aller Widrigkeiten. Ihr Herz machte einen Hüpfer.

„Ich würde nichts lieber sein, als deine Frau, Drivan!“

Verkündete sie feierlich und fiel ihm um den Hals.

Drivan strahlte über das ganze Gesicht und küsste sie stürmisch. Er wünschte, er könnte sie jetzt sofort heiraten, ihr ein schönes Haus bauen, ein paar wunderbare Pferde als Brautgeschenk, und vielleicht eine Horde Kinder dazu? Für einen kurzen Moment war ihr Glück perfekt.

Ihr Kuss wurde immer leidenschaftlicher. Deria legte fordernd die Hände auf seine Brust und drückte ihn zu Boden, er ließ es geschehen. Sie saß jetzt rittlings auf ihm, ihre duftenden Locken fielen ihm ins Gesicht und kitzelten seinen Hals. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Nach den langen Monaten der Abstinenz, reichte schon der Duft ihres Haares, wenn sie an ihm vorüberging, um ihn steif werden zu lassen. Und Momente wie dieser hier, wo sie ihn küsste und so herausfordernd ihre Hüften kreisen ließ, raubten ihm beinahe den Verstand.

Sie ließ von ihm ab und beide rangen nach Atem, sie blickten einander tief in die Augen, Drivan sah nichts mehr, außer diesen tiefschwarzen, glühenden Augen.

„Heute?“

Fragte er vorsichtig, immer noch atemlos keuchend. Sie saß immer noch auf seinen Hüften und musste seine steinharte Erektion mehr als deutlich spüren. Sie lächelte ihn verschwörerisch von oben herab an.

„Nur unter einer Bedingung…“

Begann sie und wollte gerade fortfahren, als er sie unterbrach:

„Was du willst! Alles!“

Hauchte Drivan an ihre Lippen, bevor er sie erneut mit seinen in Besitz nahm. Der Kuss war hart und fordernd, er verlor allmählich die Besinnung, so sehr erregte sie ihn. Wenn sie sich jetzt wieder zurückzog, würde er wohl ohnmächtig werden, denn er hatte das Gefühl, dass sich jeder einzelne Blutstropfen in seine südlichen Gefilde verzogen hatte.

Deria kicherte wie ein Mädchen und drückte ihn mit beiden Händen entschlossen wieder zur Erde. Dann stemmte sie sich spielerisch auf seine Brust, um ihn unten zu halten und ließ erneut die Hüften kreisen. Drivan hatte das Spiel erst erotisch gefunden, er würde ihr gern die Führung überlassen, wenn sie das wollte, doch er bereute es sogleich, denn sie quälte ihn unendlich mit ihren Bewegungen. Er biss die Zähne zusammen.

„Ich möchte, dass du unten liegst!“

Deria kicherte erneut, ein glockenhelles, niedliches Kichern, das er eigentlich bezaubernd fand, in der jetzigen Situation hätte er es gern verflucht.

„Tu, was du willst, ma shekh, aber wenn du auch etwas davon haben möchtest, solltest du es etwas langsamer angehen lassen.“

Presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, krampfhaft darum bemüht, nicht an die Hitze zwischen ihren Beinen zu denken, die er so überdeutlich an seinem pochenden Schwanz spürte. Diese kleine Frau war eine wahre Hexe!

„Oh, verzeih mir!“

Sie hielt inne, ihr Becken ruhte immer noch auf seiner Erektion. Drivan nutze diesen Moment der Verunsicherung, um sich aus dieser unvorteilhaften Lage zu befreien. Mit einem Schwung setzte er sich auf und packte sie mit beiden Händen um ihren runden Arsch. Er hob sie mühelos an und trug sie hinüber zur Bettstelle. Sie klammerte sich an seinen Hals und kicherte wieder dieses bezaubernde Kichern, das ihn so verrückt machte. Einem Impuls folgend neigte er den Kopf und küsste ihren Hals, sie zog die Schultern an und giggelte haltlos. Drivan ließ sie behutsam auf das Bettzeug nieder und legte sich daneben.

„Soll ich mich ausziehen, oder möchtest du das übernehmen?“

Fragte er und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Deria begann etwas zögerlich, sein Hemd aufzuknöpfen. Darunter kam die wunderbar glänzende, bronzefarbene Haut zum Vorschein, die sie so gern betrachtete. Seine Brust war beinahe haarlos und unter der Haut zeichneten sich deutlich die sehnigen, kräftigen Muskeln ab. Sie strich ehrfürchtig mit der Hand darüber und spürte seine Gänsehaut, Drivan stöhnte leise. Er war wirklich schon sehr erregt, Deria musste aufpassen. Sie streifte sanft sein Hemd ab, wobei sie es sich nicht nehmen ließ, seine muskulösen Schultern zu streicheln. Drivan beugte sich vor und stahl sich einen kurzen, aber leidenschaftlichen Kuss, die Ungeduld zehrte an ihm. Deria machte sich nun daran, die dünne Segeltuchhose zu öffnen, die seine brettharte Männlichkeit so gar nicht zu verbergen vermochte. Als sie dabei mit der Hand die Haut an seinem Bauch streifte, wurde Drivan erneut von Schauern geschüttelt. Deria kicherte nervös, versuchte jedoch, es sich nicht anmerken zu lassen. Mit einem Ruck öffnete sie die Hose und sein bestes Stück sprang hervor und richtete sich auf.

Deria blickte fasziniert darauf herab, während Drivan selbst vor Ungeduld und Erregung beinahe die Kontrolle verlor. Er schwitzte bereits und atmete flach, sein Puls donnerte in seinen Ohren. Deria stellte fasziniert fest, dass sein bestes Stück leicht zuckte, es erbebte förmlich und wirkte zum Bersten gespannt.

„Liebste! Bitte erlöse mich!“

Stöhnte er. Deria riss ihren Blick nur widerwillig vom Objekt ihrer Begierde, doch sie musste sich eingestehen, dass sie Drivan nicht noch länger leiden lassen konnte. Er lag bereits flach auf dem Rücken, sein Schwanz senkrecht in die Höhe gereckt, und keuchte nur noch flach und unregelmäßig wie ein verwundetes Tier. Ein wenig musste sie schmunzeln über seinen Anblick, doch sie konnte es ebenso wenig erwarten, deshalb raffte sie rasch ihr langes Gewand bis über die nackten Hüften und stieg auf.

 

 

 

Drivan erwachte weit nach Sonnenaufgang, es war bereits brennend heiß im Zelt, er spürte, wie ihm der Schweiß den Rücken hinabrann. Vorsichtig öffnete er ein Auge und blickte auf Deria, die friedlich in seinen Armen schlummerte. Sie wirkte so unschuldig, dass man ihr niemals zutrauen würde, was sie in der vergangenen Nacht alles mit ihm angestellt hatte. Drivan spürte jeden Knochen im Leib und er musste unwillkürlich grinsen. Trotz der Hitze streckte er den Arm aus und zog dieses zierliche Geschöpf mit dem unfassbar runden Arsch näher zu sich heran. Sie seufzte leise im Schlaf und rieb besagtes Hinterteil verführerisch gegen seine Männlichkeit, sodass diese sich schon wieder zu regen begann. Drivan jedoch hatte nicht vor, sich zu bewegen, er wollte am liebsten bis an sein Lebensende so liegen bleiben.

 

Plötzlich vernahm er von draußen ein auffälliges, metallisches Klimpern, wie von einer Kette. Sein Puls überschlug sich und geschmeidig wie eine Katze glitt er aus dem Bett. Mit einem wehmütigen Stich im Herzen zog er hastig die Decke über Derias halbnackten, schlafenden Leib und warf sich auf seine eigene Schlafstätte. Eilig stellte er sich schlafend, denn das Klirren konnte nur bedeuten, dass Arif zurück war. Er lag bewegungslos unter seiner Lumpendecke, versuchte sein donnerndes Herz zu beruhigen und betete inständig, dass es im Zelt nicht mehr nach Sex roch.

Drivan lauschte angestrengt auf seine Umgebung, wo war nur diese verfluchte Kette abgeblieben, die er früher um den Hals trug? Jetzt war es zu spät, danach zu suchen, denn in dieser Sekunde wurde der lederne Zelteingang zurückgeschlagen und Arif betrat den Wohnraum. Drivan lauschte angestrengt, er hörte, wie Arif das Zelt durchschritt, offensichtlich auf der Suche nach seiner Frau. Das würde Ärger geben, Drivan spürte, wie ihm übel wurde vor Angst um seine Liebste. Er linste vorsichtig unter den Wimpern hervor, konnte Arif jedoch nicht ausmachen, da dieser außerhalb seines Blickfeldes stand. Drivan hörte sein Blut rauschen und spannte sich unwillkürlich an, wie zum Sprung bereit.

Dann, völlig unvermittelt, hörte er Deria schrill aufschreien und schoss hoch, als hätte ihn eine Hornisse gestochen. Er wurde gewahr, wie Arif, seine große, speckige Hand in Derias Haaren verkrallt, über ihr stand und mit der Faust auf sie einschlug. Deria schrie und versuchte verzweifelt, sich mit den Armen zu schützen, was Arif nur noch rasender machte.

„Verdammte Hure! Glaubst du, du kannst mich hier in meiner Abwesenheit betrügen und ich komme nach Hause und merke nicht was du hier treibst? Hast du dir einen Stecher zugelegt, um mich bloßzustellen?“

Er redete sich immer mehr in Rage und schlug Deria erneut ins Gesicht. Als er Drivan bemerkte, der, die Hände zu Fäusten geballt, auf ihn zukam, ließ er von Deria ab und blickte sich hastig nach einer Waffe um, fand jedoch nichts und brüllte vor Wut auf, sein fettes, bärtiges Gesicht schweißnass und rot. Drivan verlor die Beherrschung und stürzte sich auf Arif. Mit seiner hochgewachsenen, drahtigen Gestalt war er dem kompakten, fetten Arif in Sachen Schnelligkeit und Beweglichkeit deutlich überlegen, doch Arifs Fäuste trafen ihn wie Pferdetritte. Drivan steckte einige harte Treffer ein und traf seinerseits Arif empfindlich in die Nieren und an die Schläfe. Deria war in der Zwischenzeit ein paar Meter in Sicherheit gerobbt und versuchte unauffällig, das Bündel mit den Reisevorräten aus ihrer Truhe zu fischen. Sie musste ein paar Mal zurückweichen, weil Arif und Drivan sich prügelnd durch den Raum bewegten und sie beinahe über den Haufen getrampelt hätten.

Endlich bekam sie es zu fassen und presste das Bündel unsicher an ihre Brust. Sollte sie hinausgehen und zwei Kamele satteln? Was geschah dann mit Drivan? Was würde geschehen, wenn er verlor? Sollte sie allein fliehen? Nein! Das könnte sie niemals tun! Eher würde sie hier und jetzt mit Drivan zugrunde gehen, als auch nur einen Tag ohne ihn zu existieren!

Sie spürte wie der gesamte Zorn aus vier Jahren ständiger Misshandlung mit einem Mal in ihr aufflammte und sie von Kopf bis Fuß entzündete wie eine Stichflamme. Ihr war, als würde ihr Haar sich in der flackernden Hitze kräuseln und knistern. Plötzlich kam Wind auf und riss die Zeltwände aus ihren Befestigungen. Deria schrie ihre angestaute Wut hinaus, so verzweifelt und ohrenbetäubend, dass beide Männer erschrocken innehielten und sie ungläubig anstarrten. Deria hob die Hände in Richtung Arif und wollte sich in blinder Wut auf ihn stürzen, als ein weiterer heftiger Windstoß das Zelt erbeben ließ und ein schwerer, hölzerner Zeltpfosten herabfiel – genau auf Arifs Kopf.

 

Drivan fesselte den bewusstlosen Arif mit seinen alten Eisenfesseln die Hände auf den Rücken und trieb den Holzpfosten mit der Kette so tief in die Erde, wie er konnte. Deria stand draußen bei den Kamelen und versuchte zu verarbeiten, was soeben geschehen war. Wo war dieser plötzliche Windstoß hergekommen? Eine dicke, graue Wolke hatte den Himmel verdunkelt, wie kurz vor einem Sturm, und sich anschließend wieder in Luft aufgelöst, als hätte sie niemals existiert. Etwas so seltsames hatte Deria noch nie gesehen und sie konnte es sich beim besten Willen nicht erklären. Das hier war die Wüste, es regnete nie! Es gab auch keine Unwetter, höchstens mal einen Sandsturm.

In Gedanken versunken sattelte sie gerade eins der Kamele und befestigte den Proviantbeutel. Drivan kam aus dem Zelt und schritt geradewegs auf sie zu. Deria blickte ihm entgegen und wollte etwas sagen, doch Drivan kam ihr zuvor, indem er seine langen, starken Arme ausbreitete und seine Liebste tröstlich und fest an seine muskulöse Brust drückte. Deria drückte die Nase in sein schmutziges Leinenhemd, das ihm vom Kampf noch schweißnass auf der Haut klebte. Drivan hielt sie lange so fest und strich mit der Hand tröstend durch ihr dichtes, weiches Haar.

„Geht es dir gut, ma shekh?

Er hielt sie ein Stück von sich weg und betrachtete sorgenvoll ihre aufgesprungene Unterlippe.

„Es ist halb so wild, Liebster. Nur lass uns bitte so schnell wie möglich von hier verschwinden!“

Drivan nickte verständnisvoll. Er half Deria auf ihr Kamel und stieg dann selbst auf. Deria lenkte ihr Reittier direkt nach Norden, doch dann zögerte sie verwundert, als Drivan seines wendete und in vollem Galopp kreuz und quer durch die übrigbleibende Herde ritt. Die Kamele stoben in alle Richtungen auseinander und rannten empört brüllend davon, bis sie hinter den Dünen verschwunden waren. Deria musste lächeln über seinen Einfall, das würde ihnen bestimmt einen zusätzlichen Tag Vorsprung verschaffen. Drivan schloss wieder zu ihr auf und gemeinsam stoben sie in vollem Galopp davon, die brennende Mittagssonne im Nacken. Deria blickte sich nicht um, sie wollte nie wieder an diesen verfluchten Ort zurückkehren, eher würde sie sich selbst richten! Verbissen trieb sie ihr Kamel an und legte sich flach über seinen Hals, um noch schneller zu werden. Drivan, der genau wie sie, seit Kindertagen im Sattel saß, tat es ihr gleich und gemeinsam flogen sie in einer Wolke aus Sand fort aus ihrem Gefängnis.

 

 

 

Sie ritten den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch, bis sie am nächsten Nachmittag eine kleine Quelle erreichten, die von einem dichten Palmenhain gesäumt war. Deria war ausgehungert und so erschöpft, dass sie um ein Haar eingeschlafen und aus dem Sattel gekippt wäre. Drivan, der es bemerkt hatte, hatte diese kleine Oase angesteuert, obwohl sie eigentlich zu winzig war, um ihnen ausreichend Deckung vor eventuellen Verfolgern zu bieten, doch sie hatte die ganze Zeit über kein Lebenszeichen von anderen Menschen gesehen, daher rechnete er nicht mit Schwierigkeiten.

Drivan hielt Derias Kamel am Zügel und ritt langsam zur Quelle, dort stieg er ab und hob sie aus dem Sattel. Deria ließ sich sofort in den weichen, schattigen Sand unter einer Palme plumpsen und rollte sich zusammen wie eine kleine Katze. Drivan führte die Kamele zum Wasser und trank dann selbst einen Schluck. Das Wasser aus der Quelle war angenehm kühl und sauber. Anschließend schritt er zurück zu seiner Liebsten, die bereits tief und fest schlief. Er überlegte kurz, ob er sie wecken sollte, damit sie etwas essen konnte, verwarf diesen Gedanken aber sogleich wieder. Sie würde später noch Zeit haben, zu essen. Jetzt sollte sie erstmal etwas ausruhen. Drivan setzte sich neben sie, lehnte den Rücken an den rauen Stamm der Dattelpalme und bettete ihren Kopf behutsam in seinen Schoß. Gedankenverloren strich er mit der Hand ihr Haar glatt, kaute an einem Stück Trockenfleisch und beobachtete die Kamele, die sich nach der Tortur nun auch zum Ausruhen in den Schatten legten. Sein Gewissen versetzte ihm einen leisen Stich, er hatte weder Deria noch den Tieren einen solchen Gewaltritt zumuten wollen, doch eine drängende Stimme in seinem Hinterkopf hatte ihn förmlich angeschrien, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und das Lager zu bringen. In solcher Hinsicht vertraute Drivan stets voll auf seinen Instinkt. Der hatte ihm schon oft das Leben gerettet.

 

Drivan erwachte durch schrille Schreie, die der Wind von Süden heraufwehte. Er hatte im Gras geschlafen, zwischen der Herde, wie die anderen ledigen, jungen Männer. Sie sollten die Pferde vor Raubtieren bewachen. Benommen rappelte er sich auf und rieb sich die Augen. Er hatte eigentlich nicht bei dem Fest heute Nacht dabei sein dürfen, doch er und die anderen Halbstarken hatten sich trotzdem heimlich einen großen Krug grünen Wein stibitzt. Er hatte bestimmt erst seit einer Stunde hier gelegen und seinen beachtlichen Rausch ausgeschlafen, als er von den grausigen Schreien aus dem Dorf geweckt wurde. Allmählich kam wieder Leben in seine Glieder und ihm wurde bewusst, dass das keine Feiergeräusche waren. Bleikr, sein treuer Hund, ein riesenhafter, zottiger, weißer Wolfshund, knurrte bedrohlich neben seinem Kopf. Wenn Drivan auf der Erde saß, überragte ihn der Hund noch um bestimmt zwei Zoll. Drivan kam schwankend auf die Füße und wäre bei dem Anblick, der sich ihm bot, beinahe wieder zu Boden gegangen.

Südlich von ihm, etwa eine halbe Meile den Hügel hinab, in der Biegung des kleinen Flüsschens, lag sein Heimatdorf – und brannte lichterloh. Die Hitze des Feuers war bis zu ihm zu spüren. In der Ferne, zwischen den brennenden Häusern konnte er Leute ausmachen, die schreiend davonrannten und Reiter, die verstreut umherritten und Jagd auf die Menschen machten. Drivan stand einen Moment wie erstarrt mitten auf dem Feld und konnte nicht erfassen, was er da sah. Dann blinzelte er heftig und fand wieder zu sich. Er war 17, bereits ein Mann! Er musste kämpfen! Eilig blickte er sich um, von den anderen Burschen keine Spur, entweder waren sie schon da unten oder sie schliefen noch ihren Rausch aus. Drivan hatte keine Zeit, nach ihnen zu suchen. Er sprintete los, seinen treuen Hund auf den Fersen, in die Pferdeherde hinein und suchte seinen kräftigen, pechschwarzen Hengst. Er fand ihn schnell und sprang auf dessen nackten Rücken. Für Sattel und Zaumzeug blieb keine Zeit und da Drivan reiten konnte, bevor er laufen gelernt hatte, waren sie für ihn sowieso überflüssig. Er krallte eine Hand in die lange Mähne und zog mit der anderen sein arakh, sein Krummschwert, das alle Krieger seines Stammes trugen. Schnell wie der Wind ritt Drivan hinunter in sein Dorf, mit dem Schwert in der Hand und Rachedurst im Herzen.

Er kämpfte die ganze Nacht hindurch, schlachtete so viele ab, wie er konnte, bis der Tag bereits dämmerte. Sein treuer Hund tötete drei von ihnen, der vierte ritt ihn jedoch über den Haufen und sein alter Freund Bleikr wurde unter den Hufen zermalmt, das seidige, schneeweiße Fell nicht mehr als blutige Fetzen. Drivan heulte auf vor Wut und stürzte mit seinem Pferd dem Gegner hinterher. Dieser war jedoch der Anführer des angreifenden Clans und viel älter und erfahrener als der junge Drivan. Mit einem geschickten Hieb seines Schwertgriffs brachte er den jungen Reiter aus dem Gleichgewicht und schnitt dann im Vorbeireiten Drivans Pferd die Sehnen eines Vorderbeins durch, wodurch das Tier in vollem Galopp vornüberfiel und Drivan einige Meter vor sich in den Dreck schleuderte. Der erfahrene Reiter stieg aus dem Sattel und schritt triumphierend und gelassen auf Drivan zu, der mit einer ausgekugelten Schulter keuchend im Dreck lag und verzweifelt versucht, mit der anderen Hand sein Schwert zu erreichen, dass etwas weiter im Schlamm gelandet war. Der ältere stieß das Schwert geschickt mit dem Fuß aus seiner Reichweite und richtete seine eigene Klinge auf Drivans Brust.

„Eigentlich schade um das Pferd, es war ein starker Hengst, sicher hätte er guten Nachwuchs hervorgebracht.“

Sagte er, nicht ohne Wehmut und blickte auf Drivans Pferd, das sich verendend im Schlamm wälzte.

Drivan blutete das Herz bei diesem Anblick. Heiße Tränen schossen ihm in die Augen und er wischte sie wütend fort. Er war kein Kind mehr!

„Dann bring es hinter dich! Töte mich endlich, du warst siegreich, mit deinem feigen Angriff aus der Dunkelheit!“

Der Alte grinste und Drivan erblickte einige Goldzähne. Der Kerl trug einen langen, schwarzen Bart, den er zu zwei Zöpfen geflochten hatte, die ihm bis auf die nackte, vernarbte Brust reichten. Seine Haut war von der Sonne gegerbt und Bart und Haare waren bereits von silbernen Strähnen durchzogen. Doch er war noch im Vollbesitz seiner Kräfte, wenigstens noch für ein paar Jahre. Wenn er zu alt zum Plündern wurde, würde sein Stamm ihn sowieso ersetzen, so waren nun mal die Gesetze der Steppe, doch das würde Drivan wohl nicht mehr erleben.

„Du stirbst heute nicht, Bursche! Du hast dich wacker geschlagen, dafür, dass du noch ein halbes Fohlen bist. Kräftige Sklaven können wir immer gebrauchen.“

Er lachte hämisch und Drivan schluckte.

 

 

 

Drivan erwachte schweißgebadet und schreckte hoch, weil jemand ihn schüttelte. Es war Deria.

„Liebster wach auf! Es war nur ein Traum.“

Beruhigte sie ihn. Drivan blickte sie verständnislos an und brauchte einige Augenblicke, um ihr Gesicht und ihre Worte in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Sie sah seine Verwirrung und nahm ihn in die Arme. Das half, ihr vertrauter Geruch brachte Drivan wieder zurück in die Gegenwart und seine Zunge fand wieder die richtige Sprache.

„Es tut mir leid, ma shekh, ich weiß nicht, was…“

„Ist schon gut, Liebster. Du hattest einen Albtraum. Nimm erstmal einen Schluck Wasser und iss etwas.“

Sie reichte ihm einen Wasserschlauch und ein Stück getrocknetes Ziegenfleisch. Es war bereits dunkel und Drivan sah beruhigt, dass sie ein Feuer entfacht und die Tiere versorgt hatte.

„Bist du schon lange auf?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Erst etwa seit einer Stunde. Wovon hast du denn geträumt?“

Drivan verschluckte sich am Wasser und hustete. Als er sich wieder gefangen hatte, rieb er sich verlegen das Kinn. Er stammelte vor sich hin.

„Schon gut, Liebster, du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht willst.“

Sie setzte sich neben ihn und nahm seine große, warme, raue Hand. Drivan blickte liebevoll auf sie herunter, er legte dem Arm um ihre Schultern und zog sie näher zu sich heran.

„Ich will es dir erzählen, das will ich wirklich! Du sollst alles von mir wissen, wenn du das möchtest, aber ich fürchte ich kann darüber nicht sprechen, noch nicht jedenfalls. Vielleicht, wenn ein wenig mehr Gras darüber gewachsen ist. Kannst du das verstehen, ma shekh?

„Natürlich verstehe ich das.“

Sie seufzte tief und aufrichtig erschöpft und nahm sein Gesicht in beide Hände.

„Wir haben wohl beide schon einiges durchgemacht in unserem Leben. Warst du dein ganzes Leben schon ein Sklave?“

Drivan schüttelte den Kopf.

„Sieben Jahre, acht Monate, 22 Tage…“

Sagte er mit ernstem Gesicht. Deria blickte ihn sprachlos und mit großen Augen an. Drivan warf lachend den Kopf zurück.

„Das war ein Scherz, ma shekh! Ich weiß es nicht genau, es waren etwa sieben Jahre.“

Sie schmollte gekünstelt und stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Rippen. Drivan stieß keuchend die Luft aus und lachte erneut.

„Für deine Verhältnisse war das aber sehr schwach! Als du dachtest, Arif würde mich töten, hast du einen Sturm heraufbeschworen, um ihm den Schädel einzudellen, und das soll jetzt alles sein?“

Deria hielt abrupt inne und starrte ihn verwundert an.

„Ich habe WAS? Wie hätte ich denn einen Sturm heraufbeschwören sollen? Das ist völlig absurd!“

„Aber du hast es getan! Oder wie erklärst du dir den plötzlichen Wind im Zelt?“

Fragte Drivan altklug und blickte sie abwartend an.

Als sie nicht antwortete, beugte er sich vor und küsste sie lang und feurig. Dann löste er sich erneut und betrachtete ihr Gesicht, seine Augen dunkel vor Begierde.

„Du hast vielleicht Talente, kemak eveth, von denen du noch nichts wusstest.“

„Was heißt das nun wieder?“

Drivan lächelte liebevoll und küsste ihre Nasenspitze.

„Sturmbraut“

Flüsterte er und nahm erneut ihre Lippen in Besitz.

Deria gab ein gekünsteltes, genervtes Geräusch von sich, verfiel dann aber erneut diesen vollen weichen Lippen und vergaß alles um sie herum. Das kleine Feuer erlosch kurz darauf, doch sie ließen es geschehen und liebten sich im Dunkeln, unter den rauschenden Palmblättern. Deria lag im Sand auf dem Rücken, Drivan war unter ihr Gewand getaucht und ließ sie in bisher ungekannte Höhen aufsteigen. Als Deria im Galopp dem Höhepunkt entgegen peitschte, schrie sie ihre Erregung heraus, unfähig, sich zu zügeln, hörte und sah sie nichts um sich herum. Sie krallte sich in Drivans Schultern und bäumte sich auf wie ein durchgehendes Pferd.

Als ihr heftiger Ausbruch allmählich abebbte, tauchte Drivan wieder auf und schob sich behutsam auf sie. Sie küssten sich lang und leidenschaftlich und schließlich flüsterte er in ihr Ohr:

„Bist du bereit, mit mir zu den Sternen zu reiten?“

Deria kicherte dieses glockenhelle, bezaubernde Kichern und nickte.

Drivan drang vorsichtig in sie ein und begann, sich langsam und rhythmisch in ihr zu bewegen. Am Anfang ganz sanft, dann, durch ihr zunehmendes Stöhnen ermutigt, wurde er immer stürmischer, fordernder, animalischer. Deria krallte sich in seinen Rücken und genoss es ganz offensichtlich. Als Sie erneut zum Höhepunkt kam, schrie sie auf und biss sich in seiner Schulter fest. Drivan hielt inne und wartete rücksichtsvoll ab, bis sie wieder ruhiger wurde. Schließlich öffnete sie die Augen, die noch glasig waren vor Lust und warf ihm einen Blick so voller Liebe zu, dass es ihn traf wie ein Stich direkt ins Herz. Er atmete schwer aus und küsste sie erneut, bis sie beide nach Atem rangen. Er wollte, dass es niemals endete, er wollte für immer mit ihr hier unter dem Sternenzelt liegen, auf ewig verbunden.

Langsam und betont rücksichtsvoll nahm er seinen Rhythmus wieder auf, und nach kurzer Zeit stöhnte Deria wieder lustvoll unter ihm. Drivan ließ sich Zeit und genoss jeden Augenblick. Jetzt fand er es doch bedauerlich, dass das Feuer erloschen war, er hätte gern ihr Gesicht besser gesehen. Er spürte seinen eigenen Höhepunkt nahen und richtete sich über ihr auf. Sein Atem ging flacher und er schwitzte bereits. Sein Herz raste und aus einem Impuls heraus nahm er ihre Hand und legte sie auf sein donnerndes Herz. Er konnte sie lächeln sehen, in ihren schwarzen Augen spiegelte sich der Sichelmond und als der Höhepunkt wie eine Welle über ihn hereinbrach reckte er den Hals und blickt nach oben zu den Sternen, die zu Milliarden über ihnen glitzerten. Drivan ergoss sich, Derias Hand hielt er immer noch wie einen Schatz an die Brust gepresst – da zischte aus der tiefschwarzen Nacht ein Pfeil heran, durchbohrte ihre Hand und drang ihm mitten ins Herz.

Zweiter Teil - Kind des Sturms

 

1

 

Es war ein kühler, nebliger Septembermorgen, als Riva ihr Heim verließ und auszog, um die Welt zu erkunden. Die Sonne hatte gerade erst ihren Rand über die zerklüfteten Berge im Osten geschoben und ließ die schattigen Kiefer- und Tannenwälder in den Tälern in sattem dunkelgrün aufleuchten. Riva ritt in gelassenem Schritt den steinigen, steilen Bergpfad hinab, die Bergkette im Rücken, den Blick nach Westen gerichtet. Sie hatte kein bestimmtes Ziel, denn sie hatte die einsame Siedlung in den Verengarder Bergen noch nie verlassen. Und da die Berge sich an der östlichen Grenze des Reiches Verengard befanden, ritt sie einfach aufs Geratewohl nach Westen. Sie hatte ein kräftiges, zottiges Pferd unter dem Hintern, einen guten Jagdbogen auf dem Rücken und ihre Mutter hatte ihr Proviant für ein paar Tage eingepackt. Sie hatte es wieder zu gut gemeint, Riva musste schmunzeln, wenn sie daran zurückdachte, wie ihre Mutter ihr zum bestimmt einhundertsten Mal vorgebetet hatte, wie sie sich zu verhalten hatte.

„Denk daran, dass du genug isst und trinkst.“

Lamentierte sie, während sie durch die kleine Hütte trippelte und fahrig alle möglichen Gegenstände aus den Regalen und Truhen zog und auf Rivas Bett warf.

„Bleib auf den Straßen und reise nur tagsüber! Die Wälder sind voller Banditen und wilder Bestien! Oh! Und trage immer deinen kleinen Dolch im Stiefel, verliere ihn nicht! Und trau keinen Fremden, vor allem keinen Männern!“

Riva hatte laut aufgelacht, wobei ihre Mutter zusammengezuckt war und sie erschrocken angestarrt hatte. Riva hatte sie stirnrunzelnd betrachtet.

„Was ist denn?“

Ihre Mutter schüttelte ungläubig den Kopf, wie um ein Gedankenbild abzuschütteln, und umarmte ihre Tochter impulsiv.

„Manchmal bist du deinem Vater so ähnlich, dass es mich richtig erschreckt.“

Gab sie verlegen zu, hielt ihre Tochter eine Armlänge von sich weg und betrachtete mit liebevollem Ausdruck ihr Gesicht.

Riva hatte die nussbraunen Augen und die bronzefarbene Haut von ihrem Vater geerbt, das hatte man ihr zumindest gesagt. Doch Rivas langes, glattes Haar war blütenweiß, als wäre sie schon steinalt, dabei war sie gerade einmal 17 Jahre alt.

Fjodor, der alte Zauberer, der Riva und die anderen Kinder aus der kleinen Siedlung ihr ganzes Leben lang in den magischen Künsten unterrichtet hatte, hatte Riva einmal im Vertrauen erzählt, dass das mit den dramatischen Umständen zu tun haben könnte, unter denen ihr Vater sein Leben verlor. Riva wusste nicht genau, was in jener Nacht vor sich gegangen war, doch der alte Fjodor war offensichtlich der Ansicht, dass mit den Dingen, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, auch ein kleiner Teil seiner Seele auf sie übergegangen war.

„Als dein Vater sein Leben aushauchte, hat seine Seele den sterbenden Körper verlassen. Für gewöhnlich entschweben die Seelen einfach in den Himmel, ins ätherische Nichts, doch da warst du. Du hast zu dem Zeitpunkt noch gar nicht richtig existiert, du warst nichts weiter als ein lebendes Gefäß, wenn auch ein sehr kleines. Und dein Vater hat deine Mutter so sehr geliebt, dass er sich nicht von ihr lösen wollte, daher wird wohl ein Teil seiner Seele sich an dich geklammert haben und ist mit dir verschmolzen. Deshalb hast du so etwas Geisterhaftes an dir, dich umgibt stets ein ätherisches Flimmern, wie ein Todeshauch. Und wahrscheinlich ist deshalb dein Haar im Mutterleib weiß geworden, aber das ist nur eine Vermutung. In Holmgard gibt es eine große Magierloge, falls dich deine Pfade eines Tages dorthin führen, kannst du vielleicht von den ansässigen Magiern mehr erfahren.“

„Hörst du mir überhaupt zu?“

Fragte ihre Mutter ungehalten, während sie an Rivas Reitkostüm herumnestelte. Sie trug Reitstiefel, eine stabile Reithose und ein ledernes Korsett über einer weißen Bluse. Das Korsett war eine für sie, der Schmied hatte es ihr gemacht. Es war leicht und bequem, hatte jedoch auf der Innenseite eingearbeitete Metallringe, die sie vor Hieben und Schlägen schützten, sah jedoch von außen völlig unscheinbar aus. Riva schüttelte den Gedanken ab und betrachtete die Hände ihrer Mutter, die wie kleine Vögel über ihre Knöpfe und Riemen flatterten und alles zurechtzupften. Eine widerspenstige, rabenschwarze Locke fiel ihr in die Stirn, doch sie beachtete sie nicht weiter. Auf dem linken Handrücken hatte ihre Mutter eine kleine, kreisrunde Narbe, ein wenig eingefallen, wie ein Loch. Riva wusste, dass die Narbe von dem Pfeil stammte, der ihrem Vater das Herz durchbohrt hatte. Ihre Mutter hatte ihr davon erzählt, als sie alt genug war.

 

Deria hatte sich allein nach Grüntal durchgeschlagen. Sie war ihrem Peiniger entkommen, doch hatte sie den sterbenden Drivan zurücklassen müssen. Er hatte noch einmal kurz ihre Hand gedrückt und sie liebevoll angesehen, bis sein Blick brach und seine große, warme Hand schlaff und schwer herabfiel. Deria hatte ihm einen letzten Kuss auf die Lippen gedrückt, wobei ihre Tränen sein Gesicht benetzten, dann war sie hastig aufgesprungen und in der Dunkelheit verschwunden. Das Zischen mehrerer Pfeile über ihrem Kopf.

Sie war kopflos in Richtung Norden geflohen, ohne Wasser und Essen, quer durch die Wüste, bis sie nach etwa einer Woche das Grasland erreichte. Von dort aus wanderte sie von Dorf zu Dorf, bettelte und stahl Essen von den Felder, bis sie irgendwann die Stadt Grüntal erreichte. Dort angekommen, zerlumpt, gehetzt und halb verhungert, war sie Fjodor begegnet, der ihr Potenzial erkannt und sie mit in sein Heimatdorf, eine Siedlung von Zauberern, nahm. Dort hatte sie sich niedergelassen und einige Wochen später hatte Riva mit einem markerschütternden Schrei, dem noch viele weitere folgen sollten, das Licht dieser Welt erblickt.

Riva war immer in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass sie anders war. Als sie klein war, wollte keins der Kinder aus dem Dorf mit ihr spielen. Alle fürchteten sich vor ihrem stechenden Blick, ihrem weißen Haar und ihrer zügellosen Wut. Sie war ein zorniges Kind. Und sie hatte zudem auch noch die magischen Fähigkeiten ihrer Mutter geerbt. Wenn sie einen Wutanfall bekam, flogen wie durch Zauberhand Gegenstände durch die Luft und trafen ihr Ziel mit solcher Wucht, dass selbst die Erwachsenen sich vor ihren Ausbrüchen fürchteten. Nur ihre Mutter trat ihr stets furchtlos entgegen und ertrug auch den schlimmsten Anfall von Tobsucht ohne mit der Wimper zu zucken. Fjodor blieb auch ziemlich gelassen, er brachte eine unendliche Geduld dabei auf, Riva zu helfen, ihre überbrodelnde Energie zu bündeln und sinnvoll und kontrolliert zu entfesseln.

Rivas Mutter hatte lange Zeit versucht, ihre Tochter für die Heilkunst zu begeistern, in der sie selbst über die Jahre beachtliche Fähigkeiten erlangt hatte. Doch musste sie bald erkennen, dass Riva aus vollkommen anderem Holz geschnitzt war. Ihre Tochter interessierte sich nicht besonders für die Künste der Heilung, sie lernte gerade einmal das Nötigste, um Wunden und alltägliche Krankheiten zu versorgen, und widmete sich dann, zuerst heimlich, der Kampfmagie. Auf diesem Gebiet war sie ein Naturtalent und entwickelte sich schnell zu Fjodors bester Schülerin. Doch Riva war rastlos. Eine Stimme in ihrem Innern rief sie hinaus in die Welt und wurde mit den Jahren immer lauter. Sie konnte es kaum abwarten, bis sie endlich alt genug war, um aufzubrechen.

 

Nun war sie soweit. Riva verließ das kleine Nest von Zauberern mitten in den Verengard-Bergen und zog hinaus in die Welt. Ihre Mutter hatte bei ihrem Abschied geweint und ihr mehrmals deutlich eingebläut, dass Zauberer und Zauberinnen in manchen Landstrichen mit Argwohn oder Hass betrachtet wurden, und sie deshalb vorsichtig sein solle. Riva musste ihr einige Male versprechen, ihren Rat zu befolgen, bis ihre Mutter sich zufriedengab.

Der alte Fjodor und einige andere Dorfbewohner waren ebenfalls versammelt, um sie zu verabschieden. Darunter auch Miro, einer ihrer Mitschüler in der Kampfmagie. Er stand lässig an die Palisaden gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt und lächelte schief zu ihr herüber. Er war gutaussehend, mit schön geschnittenem Gesicht und dunklem, glänzenden Haar, doch Riva hatte sich nie besonders für ihn interessiert. Er war jünger als sie und nur mittelmäßig talentiert. Für die ehrgeizige Riva war er im Unterricht nie mehr als ein Klotz am Bein gewesen, egal wie sehr er sich angestrengt hatte, sie zu beeindrucken. Eine Zeit lang, als Riva fünfzehn war, hatten sie sich heimlich im Stall getroffen und Küsse ausgetauscht, doch nach einer Weile wurde es Riva lästig und sie versetzte ihn einfach.

Miro hatte ihr das nie ganz verziehen und behandelte sie seitdem wie Luft. Jetzt, bei ihrem Abschied am Tor, sprach er das erste Mal seit fast zwei Jahren mit ihr:

„Du kommst doch da draußen sowieso nicht alleine zurecht, spätestens nach zwei Tagen klopfst du weinend ans Tor, wie ein kleines Mädchen. Vielleicht sollte ich dich begleiten, damit du nicht von einem Bären gefressen wirst.“

Riva lachte schallend.

„Ja, bitte komm mit, damit der Bär dich fressen kann, anstatt mich. Du bist viel langsamer, als ich!“

Sie bog sich vor Lachen und Miro zog beleidigt ab, um seinen verletzten Stolz zu pflegen. Sie blickte ihm amüsiert nach. Der Rest der Gesellschaft scharrte verlegen mit den Füßen. Riva war es egal, sie zuckte die Achseln und schwang sich aufs Pferd, ein zottiges, genügsames Gebirgspony, mit kräftigen Beinen und breitem Rücken. Gemächlich ritt sie den steilen Pfad hinab und winkte noch einmal zum Abschied. Ihre Mutter stand noch lange am Tor und blickte ihr nach, bis der Pfad einen Bogen machte und Riva hinter einer Felswand verschwand.

 

 

Die Reise beginnt

Der Tag war sonnig und warm und Riva ritt beschwingt in leichtem Trab die staubige Straße entlang. Die warmen Sonnenstrahlen brachten die Tannen- Kiefernzweige zum Leuchten und ein angenehmer, harziger Duft stieg ihr in die Nase. Es war vollkommen still, bis auf das Gezwitscher einiger Vögel und das rhythmische, einlullende Klopfen der Pferdehufe auf dem ausgetretenen Pfad. Es war erstaunlich warm für September, hier oben in den Bergen kam der Herbst für gewöhnlich früh und ging rasch in einen harschen, schneereichen Winter über. Nun, darüber brauchte sie sich nun keine Gedanken mehr machen, denn bis zum Winter wollte Riva längst in Holmgard sein. Die freie Stadt war die größte ihr bekannte Ansammlung von Menschen und lag weit im Westen, an den Ufern des Meeres, wo die Winter mild und die Sommer feucht waren. Es war ein weiter Weg bis dorthin, doch Riva konnte er kaum lang genug sein. Voller Vorfreude malte sie sich aus, welch wundersame Orte es wohl auf dem Weg geben könnte.

Ihr fielen die alten Geschichten und Legenden ein, die Fjodor den Kindern früher oft abends am Feuer erzählt hatte. Von verfallenen, vergessenen Tempeln der Altvorderen, wunderschönen, glanzvollen Elfenstädten, tief verborgen und geheim gehalten in den Wäldern. Große, übellaunige Trolle, die in den Felshöhlen hausten und Menschen aßen. Sie spürte, wie die Euphorie in ihr aufwallte und ihr Herz begann, heftiger zu klopfen. Sie konnte es einfach nicht erwarten. Aufgekratzt stieß sie dem gutmütigen, behäbigen Pony die Fersen in die Flanken und jagte lachend bergab in unbekannte Länder.

 

Nach vier Tagen erreichte Riva den weißen Fluss. Sie war ein wenig enttäuscht, weil ihr bisher nichts begegnet war, dass der Rede wert gewesen wäre. Hier und da ein Reh, sonst nichts. Doch da sie nun allmählich in etwas tiefere Lagen kam und der spärliche Krüppelwuchs in den Bergen einem dichten, tiefschwarzen Wald aus gigantischen Mammutbäumen gewichen war, hegte sie Hoffnung. Menschenleer war die ganze verdammte Gegend gewesen, doch Riva wusste, dass es entlang von Flüssen oft Dörfer und Siedlungen gab. Sie schlug ihr Lager auf, sattelte das Pferd ab und überlegte, ob sie den Fluss gleich hier überqueren sollte, wo er zwar noch klein, aber reißend war, oder dem Flusslauf weiter hinab folgen sollte, in der Hoffnung, auf eine Furt oder Brücke zu stoßen.

Sie grübelte immer noch darüber, als sie mit ihrer kleinen Axt ein paar Schritte vom Ufer entfernt in den Wald ging, und sich daran machte, einige trockene Äste von den Bäumen zu hacken, um ein Feuer zu machen. Die Dämmerung kam schneller als gedacht und die Schatten zwischen den Bäumen wurden lang und unheimlich. Riva überkam ein ungutes Gefühl, eine Gänsehaut prickelte ihren Rücken hinab und sie blickte sich beklommen um, konnte jedoch nichts Auffälliges entdecken. Dennoch verließ sie das Gefühl nicht und sie sammelte eilig die Äste zusammen und ging mit raschen Schritten auf das Lager zu. Nach einigen Sekunden wurde ihr bewusst, dass sie rannte. Sie wunderte sich noch über ihre kindliche Angst vor der Dunkelheit und wollte sich gerade zwingen, wieder langsamer zu gehen, als sie das Pferd vor sich aufgeregt wiehern hörte.

Jetzt rannte sie in vollem Lauf und ließ die Äste fallen. Sie erreichte das Pferd, dass stieg und panisch mit den Augen rollte. Riva bremste vor ihm so abrupt ab, dass sie auf der dicken Schicht aus Blättern noch ein Stück weiter rutschte und versuchte, nicht unter die hysterisch wirbelnden Hufe zu geraten. Dann wandte sie sich um und versuchte vergeblich, in der rasch aufsteigenden Dunkelheit etwas zwischen den Bäumen zu erkennen, doch der Schatten dort war so durchdringend, dass sie die einzelnen Baumstämme kaum voneinander abgrenzen konnte. Was auch immer dort lauerte, musste also herauskommen.

Riva nahm automatisch ihre Kampfhaltung an, die sie so viele Jahre geübt hatte. Sie konzentrierte sich und ließ in ihrer Handfläche eine blaue Flamme aufleuchten, um sich etwas Licht zu verschaffen. Feuermagie war in einem Wald nach einem trockenen Sommer nicht gerade die beste Idee, sie musste vorsichtig sein, damit sie nicht versehentlich die ganze Gegend abfackelte. Riva hielt die Hand mit der Flamme vor sich hin und versuchte angestrengt, eine Gestalt oder ein Tier zwischen den Bäumen auszumachen, doch ohne Erfolg. Dann erhob sich aus den Tiefen des Waldes ein so donnerndes, ohrenbetäubendes Grollen, dass ihr das Blut in den Adern gefror und sich sämtliche Härchen an ihren Armen aufstellten.

„Was zur Hölle ist das für ein Ding?“

Riva spielte kurz mit dem Gedanken, die Beine in die Hand zu nehmen, als sich plötzlich vor ihr die riesigen Baumkronen teilten und ein gigantischer, laufender Baum mit langen und knorrigen Armen und großen, wurzelbewehrten Füßen mit beeindruckender Geschwindigkeit auf sie zu stampfte und den Boden unter ihren Stiefeln erbeben ließ. Für seine Größe und das Gewicht bewegte sich das Monster erstaunlich schnell und Riva war einen Moment vor Angst wie erstarrt. Als das Vieh sie erreicht hatte, hob sie reflexartig die Hände über den Kopf und kauerte sich zusammen, die zitternde Flamme in ihrer Hand erlosch und die Welt um sie herum fiel schlagartig in tintenschwarze Nacht.

 

Riva rechnete fest damit, dass die gigantische Pranke des Monsters sie jeden Moment treffen und zermalmen würde, als ein scharfer Luftzug ihre Wange streifte und etwas Großes an ihr vorbeiflog. In dem Glauben, das Vieh hätte sie verfehlt, sprang sie federleicht auf die Füße und machte einen Satz nach hinten, um sich aus der Gefahrenzone zu bringen. Das Pferd schnaubte und schrie vor Panik nur wenige Schritte neben ihr. Da ihre Lebensgeister nun wiedererwacht waren, ließ sie die Flamme in ihrer Hand erneut aufleuchten und ihr stand vor Staunen der Mund offen.

Da war ein Mann! Da er sich so blitzartig bewegte und wie ein Pfeil durch die Luft sauste, musste Riva einige Male blinzeln, um wirklich sicher zu sein. Doch! Das war auf jeden Fall ein Mann! Wo kam der her? Während Riva von ihrem Verstand verlassen wie ein Klotz herumstand, zog der Fremde ein langes, glänzendes Schwert und stürzte sich wild brüllend auf das Ungeheuer, das sich relativ unbeeindruckt zeigt, mit der riesigen Pranke ausholte und den Kerl mitsamt seines Schwertes und seinem langen, dunklen Umhang gegen den nächsten Baum schleuderte.

Da dämmerte es ihr, dass der Kerl versuchte, ihr zu helfen und in diesem Moment Gefahr lief, sein eigenes Leben auszuhauchen. Doch da rappelte er sich schon wieder auf, packte den Schwertgriff fester und warf sich wie eine Sprungfeder erneut in die Schlacht. Rivas Verstand begann, fieberhaft zu arbeiten. Sie musste ihm helfen. Doch wie konnte sie, ohne ihn versehentlich zu treffen? Blitze und Flammen schleudern kam beides nicht in Frage. Riva beobachtete in ohnmächtiger Wut, wie dieses brüllende Ungeheuer, das jetzt ernstlich wütend zu sein schien, den Mann ein ums andere Mal durch die Luft schleuderte. Als das Monster ihn erneut heftig am Kopf traf, schrie er schmerzerfüllt auf und blieb auf dem zerwühlten Waldboden liegen. Das war genug! Rivas Wut wuchs dramatisch an und wurde zu heftig loderndem Zorn. Sie bündelte ihre gesamte Energie und richtete ihren glühenden Blick auf das Ungeheuer.

Am Horizont zogen dunkle, dicke Sturmwolken auf und ließen ein unheilvolles Grollen vernehmen. Die gewaltige Wolkenwand bewegte sich rasend schnell über den Himmel und verdunkelte die Sterne. Rivas Zorn kannte keine Grenzen. Ihre Haut prickelte von der angestauten Energie und ihre Haare stellten sich auf. Die Sturmfront war nun genau über ihnen und Blitze zuckten hinab und ließen den Wald für einen Wimpernschlag taghell aufleuchten, sodass das ganze Ausmaß des Kampfes sichtbar wurde. Der fremde Mann, der sich so blitzschnell und todesmutig auf das Monster gestürzt hatte, lag mit dem Gesicht nach unten im Laub, sein Schwert außer Reichweite, das Ungeheuer stand über ihn gebeugt und holte zu einem letzten, tödlichen Schlag aus. Als Riva das sah, schrie sie all ihre Wut und Angst heraus und reckte instinktiv die Arme in die Richtung der beiden Kämpfenden. Da zuckte ein gewaltiger Blitz aus den tiefschwarzen Wolken herab und traf den großen, wandelnden Baum genau in der Körpermitte. Er ging in Flammen auf und gab ein durchdringendes, ohrenzerfetzendes Kreischen von sich, sodass Riva sich schmerzerfüllt die Ohren zuhielt. Das Ding rannte panisch herum in dem Versuch, den Flammen zu entkommen, die sich unaufhaltsam über seinen ganzen Körper ausbreiteten. Das panische Kreischen erfüllte Riva mit einem nie gekannten Grauen und ihr stellten sich die Nackenhaare auf. Donner und Blitze verloren allmählich an Kraft und ein heftiger Wolkenbruch durchtränkte in kürzester Zeit den gesamten Wald. Der Regen löschte die Flammen und das schwer angeschlagene Ungeheuer stand reglos da und schien sie anzublicken. Riva konnte nichts ausmachen, was Ähnlichkeit mit einem Gesicht hatte, doch spürte sie den Blick des großen Baumwesens auf sich ruhen. Einige Augenblicke lang maßen sie sich mit Blicken, dann setzte sich das Wesen ganz langsam in Bewegung und schlurfte angeschlagen und hinkend zurück in den Wald und war innerhalb von Sekunden aus ihrem Blickfeld verschwunden.

Riva wagte zunächst nicht, sich zu rühren. Sie war noch zu benommen von den Ereignissen der letzten Minuten. Ihr Verstand versuchte, das Geschehene in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, scheiterte jedoch kläglich. Da vernahm sie ein gedämpftes Stöhnen durch das abklingende Plätschern des Regens und ihr fiel der Mann wieder ein. Eilig setzte sie sich in Bewegung. Die kleine blaue Flamme, die sie in ihrer Hand entzündete, warf einen flackernden Schein auf aufgewühlte Erde, gammliges Laub und abgebrochene Zweige. Dann fiel das Licht auf etwas Glänzendes. Das Schwert! Riva hob es auf und setzte ihre Suche fort. Er lag nur wenige Schritte entfernt, halb bedeckt von Laub und Erde. Er hatte es geschafft, sich im Liegen auf einen Ellbogen zu stützen und hielt sich den Kopf, von seiner Stirn tropfte ein kleines, dunkles Rinnsal auf ein mit kleinen, glänzenden Eisenringen besetztes Wams. Riva hockte sich vor ihm hin und konnte ihn nun zum ersten Mal im Detail betrachten und was sie sah, verwirrte sie ein wenig. Er war alt, und doch war er es nicht. Sein Haar war weiß, doch nicht so gleißend weiß, wie das ihre, sondern wie vom Alter ausgeblichen. Sein Gesicht zeigte jedoch nur wenige kleine Fältchen um die Augen und auf der Stirn. Und im Kampf war er mehr als agil gewesen. Er trug Rüstung und Schwert und an seinen Armen konnte sie drahtige, starke Muskeln spielen sehen, als er sich nun aufrichtete und sie ebenfalls betrachtete. Als sich seine Augen auf sie richteten, überlief sie unwillkürlich ein unangenehmer Schauer. Seine Augen waren blau und wirkten an sich unscheinbar und gewöhnlich, doch sein Blick hatte etwas Katzenhaftes, Lauerndes, das ihr Unbehagen bereitete. Er war ein Raubtier, keine Frage.

Mit zittriger Stimme sprach sie ihn an:

„Geht es dir gut?“

Etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Bevor er antwortete, wanderte sein Blick über ihre Gestalt und registrierten jedes Detail ihrer Erscheinung. Ihre Ausrüstung, Körperbau, den Zustand ihrer Kleidung. Als er mit seiner kurzen Musterung fertig war, sog er tief die Luft ein und setzte zum Sprechen an:

„Bist du völlig wahnsinnig geworden!?“

Vor lauter Verblüffung verlor sie das Gleichgewicht und plumpste mit dem Hintern in das nasse Laub. Sie wollte gerade fragen, was zum Teufel er damit meinte, als er erneut das Wort ergriff:

„Du wanderst völlig allein durch die Wälder und versuchst ein Feuer zu machen, direkt im Revier eines uralten, mächtigen Baumgeistes!? Hast du den Verstand verloren, Mädel!? Um ein Haar wärst du nur noch ein blutiger Klumpen gewesen!“

Er hatte die Stimme immer weiter erhoben und brüllte sie regelrecht an, sodass sie unwillkürlich zurückgewichen war, doch nun gewann die Wut in ihr die Oberhand.

„Wenn ich mich recht erinnere, habe ich dieses Vieh vertrieben, während du bewusstlos im Laub gelegen hast du alter Zausel! Was fällt dir ein, mich so anzubrüllen?“

Empört stand sie auf, warf ihm das Schwert vor die Füße und stapfte davon, die kleine blaue Flamme vor sich haltend und suchte nach dem Pferd. Am Rand des Waldes fand sie zwei. Die braune Stute musste dem Fremden gehören. Bebend vor unterdrücktem Zorn packte sie die Zügel ihres Pferdes, das ihr zitternd entgegenkam. Sie setzte gerade an, sich in den Sattel zu schwingen, als sich eine große, schwere Hand auf ihre Schulter legte und sie herumdrehte. Sie blickte direkt in diese unheimlichen blauen Augen, die sich nun nachdenklich verengt hatten.

„Wer hat dich unterwiesen?“

Riva blinzelte verwirrt. Als sie den Mund öffnete, um zu fragen, wovon zum Teufel er sprach, unterbrach er sie:

„Das Gewitter, die Flamme, du bist eine Zauberin. Wer hat dich unterwiesen?“

Rivas Unbehagen verstärkte sich zu Misstrauen. Ihre Mutter hatte sie eindringlich gewarnt, dass die meisten Menschen gegenüber Magiern Vorurteile und Hass hegten. Sie versteifte sich und wischte seine Hand von ihrer Schulter. Sie versuchte, Abstand zwischen sich und den Mann zu bringen und schwang sich auf das Pferd.

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst, alter Mann. Du hast dir heftig den Kopf angeschlagen.“

Sie war selbst erstaunt darüber, wie kühl und distanziert ihre Stimme klang, doch sie ließ sich nichts anmerken und wendete das Pferd.

Der Fremde zuckte mit den Achseln und hob beschwichtigend die Hände.

„Nun, dann grüß‘ den alten Fjodor von mir, wenn du ihn siehst und achte nächstes Mal auf die Zeichen, bevor du irgendwo ein Lager aufschlägst!“

Sie brachte das Pferd abrupt zum Stehen und wandte den Kopf zu ihm zurück. Sie misstraute ihm über alle Maßen und wollte sich nicht anmerken lassen, dass sie mit Fjodor und der Enklave in den Bergen in Verbindung stand, daher fragte sie ein wenig ungeduldig:

„Was denn für Zeichen?“

Der Mann schritt in Richtung der Bäume, schlug die Hände zusammen und eine Kugel aus gelblichem Licht schwebte wie eine kleine Sonne über seinen nach oben gerichteten Handflächen. Er schlug die Hände erneut zusammen und die Kugel explodierte in tausende kleine Glühwürmchen, die emsig durcheinander schwirrten und sich dann über die Lichtung verteilten. Sie flogen erst chaotisch, dann hefteten sie sich wie magnetisch angezogen an die Stämme von sechs oder sieben Bäumen und beleuchteten so deutlich sichtbare, große Kratzer in der Rinde. Sie ähnelten den abgeschabten Stellen, wie Bären sie machten, um ihr Revier zu markieren, nur waren sie deutlich größer und tiefer. Riva stieg ab und betrachtete sich eine der beleuchteten Stellen genauer. Dann bewunderte sie die magischen Glühwürmchen, die bezaubernd glitzernd über die Rinde krabbelten oder um ihren Kopf tanzten.

Er war ein Magier, genau wie sie. Und er kannte Fjodor. Vielleicht hatte er auch einmal in der Enklave gelebt, bevor sie geboren wurde. Sie wandte sich ihm zu, ihr Gesicht sanft beschienen von einem Glühwürmchen, das sich auf ihrer Schulter niedergelassen hatte.

„Wie alt bist du?“

Er wirkte überrascht. Mit dieser Frage hatte er wohl nicht gerechnet. Genugtuung darüber, ihn überrumpelt zu haben, breitete sich angenehm warm in ihrem Inneren aus.

„Etwas über 100, ich weiß es nicht genau.“

Antwortete er gelassen und beraubte Riva damit ihrem Gefühl der Überlegenheit und ihr klappte der Mund auf. In den Augen des Alten zeigte sich ein amüsiertes Glänzen.

„Aber du… wie kannst du…“

Sie klappte den Mund wieder zu und deutete sprachlos auf sein Schwert. Er winkte ab. Dann wandten sich seine Gedanken offenbar praktischeren Überlegungen zu. Er machte eine drehende Handbewegung und aus allen Himmelsrichtungen kamen Reisig und kleine Zweige angeflogen und sammelten sich zu einem Häufchen vor seinen Füßen. Er wiederholte die Bewegung und größere Äste flogen herbei, teilten sich im Flug zu gleich langen Stücken und stapelten sich ordentlich über dem Reisighäuflein. Dann ließ er in seiner Handfläche eine Flamme entstehen und schleuderte sie mit einer lässigen Bewegung seines Handgelenks hinein in die so entstandene Feuerstelle. Es zischte und knackte und die Flammen breiteten sich gleichmäßig über Holz und Reisig und verbreiteten eine einladende Wärme und einen gemütlichen Schein. Ohne ein Wort setzte er sich ans Feuer, legte sein Schwert neben sich auf den Boden und kramte in einer Umhängetasche, die unter seinem langen Umhang verborgen gewesen war.

Riva stand immer noch verdattert und sprachlos wie eine Salzsäule in der Landschaft, als er aus den Tiefen seiner Tasche ein Stück Brot zum Vorschein brachte und es ihr entgegenstreckte. Immer noch etwas neben der Spur ließ sie sich mechanisch neben ihm auf die Erde plumpsen und griff nach dem Brot, aß es jedoch nicht. Das Pferd hatte sich entspannt ein paar Schritte entfernt und kaute seelenruhig an ein paar verstreuten Grashalmen.

„Ich bin Jarek.“

Sagte der Fremde völlig unvermittelt und kaute an einem Stück Trockenfleisch. Riva wandte ihm den Kopf zu und musterte ihn.

„Riva“

Sagte sie distanziert und wandte dann ihren Blick hinab auf das Stück Brot, dass in ihrem Schoß lag. Etwas beschämt fügte sie hinzu:

„Fjodor hat mich unterwiesen, das stimmt. Woher kennst du ihn?“

Er nickte abwesend und starrte in die Flammen, doch sein Ausdruck wirkte weniger abweisend.

„Wir sind alte Freunde. Wohin willst du denn?“

Er ließ den Blick über Pferd und Ausrüstung schweifen.

„Sieht so aus, als ob es eine längere Reise wird.“

Stellte er konsterniert fest und Riva schnaubte. Sie war nicht bereit, sich ins Verhör nehmen zu lassen, wenn er selbst kaum etwas preisgab.

„Und du? Wohin führt dein Weg dich?“

Völlig überraschend breitete sich ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht aus, das seine Erscheinung komplett veränderte. Riva war verblüfft über die Verwandlung. Eben noch hatte er wie ein grimmiger Einsiedler oder Straßenräuber gewirkt, dann war in seinem Blick plötzlich die Sonne aufgegangen und er wirkte herzlich und einnehmend, und schön, in gewisser Weise. Sein kantiges, scharf geschnittenes Gesicht mit den hohen Wangenknochen, dem stoppeligen, grauen Bart über dem ausgeprägten Kiefer hatte in seiner Jugend sicher haufenweise Mädchen um den Verstand gebracht. Ohne ihr Zutun breitete sich auch auf ihrem Gesicht ein Lächeln aus, als sie seine Antwort abwartete.

„Ich bin auf dem Weg nach Westen, nach Drachenfurt. Weißt du, wo das ist?“

Riva grübelte kurz über den Namen und zuckte dann die Achseln. Jarek kramte in seinem Umhang - was zur Hölle hatte er dort alles versteckt – und förderte nach wenigen Augenblicken eine zusammengefaltete Karte hervor, die er zwischen ihnen auf dem Boden ausbreitete. Sein Finger wanderte suchend über die Karte und verweilte dann zwischen aufgezeichneten kleinen Bäumchen weit rechts, nahe der kleinen hingekritzelten Berge.

„Wir sind etwa hier, siehst du, da ist der Fluss eingezeichnet.“

Riva nickte gedankenverloren, erleichtert darüber, dass ihre Orientierung sie bisher nicht im Stich gelassen hatte. Sein Finger wanderte weiter nach links, bis er auf einen großen See traf, in den der Fluss mündete, von da aus etwas weiter nach oben, einen anderen Fluss entlang, zu einem dicken Zwillingspunkt auf beiden Ufern mit der Beschriftung „Drachenfurt“. Er nahm den Finger weg, doch Rivas Blick folgte dem Fluss weiter bis zum Meer und einem noch größeren Punkt der mit „Freie Stadt Holmgard“ beschriftet war. Das war gut. Jetzt wusste sie, wie sie den Weg finden konnte.

„Ist das deine Richtung?“

Fragte Jarek unverbindlich, den Gesichtsausdruck betont neutral, so als wollte er möglichst desinteressiert wirken. Riva nickte.

„Nun, wenn es dir nichts ausmacht mit einem alten Vagabunden wie mir gesehen zu werden, können wir uns ein Stück des Wegs teilen. Riva fasste sich ein Herz und richtete sich auf.

„Ich will nach Holmgard, bis Drachenfurt können wir gemeinsam reisen.“

Jarek brummte zustimmend, dann wickelte er sich in seinen Umhang ein und legte sich ohne ein weiteres Wort zum Schlafen nieder. Riva, ein wenig überrascht von dem abrupten Ende dieser merkwürdigen Konversation, legte sich ebenfalls dicht an das Feuer und schloss die Augen, da ihr auch nichts Besseres einfiel.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.10.2019

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meine Hochachtung gilt Andrzej Sapkowski, der mich mit seiner Witcher-Reihe zu diesem Buch inspirierte.

Nächste Seite
Seite 1 /