Cover

Rache aus der Luft

 

 

 

 

-Frederic-

In jener stürmischen Vollmondnacht saßen wir, meine Mutter und ich, in unserem kleinen Haus bei einem Buch und einem Glas Wein. Während ich historische Reisebeschreibungen eines Kaufmannes aus dem Bremen zur Zeit der mittelalterlichen Hanse las, tat Mutter sich an einem Liebesroman der seichteren Art gütlich. Von solchen Schmachtschriften hielt ich gar nichts. In meinem jugendlichen Alter stand mir mehr der Sinn nach abenteuerlichen Geschichten und Erzählungen über ferne, unbekannte Kulturen und Kontinente, war ich doch bisher kaum über die Grenzen unseres Städtchens hinaus gekommen und träumte daher von langen, aufregenden Reisen.

 

Wir wohnten weit außerhalb einer kleinen Stadt auf dem Land und nannten einige Hektar Ackerland unser Eigen. Ein kleines Wäldchen in dessen Mitte umgab schützend unseren Hof. Kräftige, hoch gewachsene Bäume mit knorrigen Ästen verstanden es vorzüglich, Haus und Hof vor fremden Blicken zu verbergen. Die nächste für Kutschen leidlich befahrbare Straße war vom Haus aus nur über einen unbefestigten Weg zu erreichen, der querfeldein durch Buschwerk und dichtes Geäst führte.

 

So abgeschottet vom Rest des nächsten Ortes zu wohnen, konnte ebenso ruhig und beschaulich als auch von imensem Nachteil sein - wenn zum Beispiel die Kaufleute zum Markt in das Städtchen strömten. Da das zu keinen festen Zeiten geschah, waren wir darauf angewiesen, dass man uns Bescheid gab. Oder es hieß, Augen und Ohren immer offen zu halten.

 

An diesem Abend spielte das Wetter verrückt. Die einzige Laterne im Hof drohte zu erlöschen, Regentropfen begannen, gegen die Fensterscheiben zu prasseln. Das Feuer im Kamin wurde immer unruhiger. Mutter war dieses Wetter schon gewöhnt, mir aber ward unbehaglich zumute.

 

Schließlich war ich mit meinen dreizehn Jahren immer ein wenig ängstlich und von eher zierlicher Gestalt, so dass ich oft und immer wieder bevorzugtes Opfer von Hänseleien, Streichen und allerhand Schabernack Älterer wurde. Besonders tat sich da der Spross der Fleckmanns hervor, ein hoch aufgeschossener blasser Junge namens Roderich mit Zahnlücke und hähmischem Dauergrinsen, so sympathisch wie Cholera und Pest zusammen. Vater Fleckmann war ein ehrbarer Mann und seines Zeichens Schuster. Roderichs Mutter , unsere Dorfschullehrerin, hatte mit ihrem missratenen Sohn ihre liebe Not.

 

Die Dorfschule befand sich in einer umgebauten Scheune und besaß nur zwei Klassen, eine für jüngere Schüler und eine für die Älteren. Manche Eltern fanden das zu fortschrittlich, weil es in jeder Klasse sowohl Mädchen als auch Jungen gab. Doch die meisten Streitigkeiten heckten die Jungen untereinander aus - so wie der blöde Roderich immer wieder mich zu seinem Lieblingsopfer machte.

 

Darüber dachte ich gerade nach und hatte für einen Augenblick lang vergessen, dass ich ein aufgeschlagenes Buch in den Händen hielt, als

das laute Klappern der Fensterläden mich aus den Gedanken riss. Ich ging ans Fenster und sah besorgt hinaus. Gerade wollte ich etwas sagen, als von der oberen Etage ein lautes Bersten zu hören war. Erschrocken zuckte ich zusammen und starrte gebannt zur Treppe in Erwartung weiterer Seltsamkeiten. Mutter war ein wenig schwerhörig und las ungerührt weiter. Bevor ich mich überwinden konnte nachzusehen, bemerkte ich dieses kleine ferne Licht draußen im Regen. Was war das?

 

Meine Nase gegen die Fensterscheibe pressend bemühte ich mich vergebens, etwas zu erkennen.

"Frederic, lass das," sagte Mutter, die nur kurz aufgesehen hatte.

"Da draußen war ein Licht, Mutter."

"Wer soll da bei diesem Wetter unterwegs sein? Du hast dich bestimmt geirrt!" Damit war die Sache für sie erledigt.

Also nahm ich all meinen Mut zusammen, griff nach einem Kerzenleuchter und ging möglichst leise die Treppe hinauf.

 

Die hölzernen Stufen knarrten, als wollten sie da oben jemanden vor meinem Erscheinen warnen. Beinahe wären mir die Kerzen ausgegangen. Ich spürte einen kräftigen, eisig kalten Luftzug. Wieder hatte ich starkes Herzklopfen. Vater ist tot, ich bin der Mann im Haus, redete ich mir Mut zu.

 

Das Fenster in einem der Zimmer war vom Wind aufgedrückt worden, und ich wagte mich bis an die Fensterbank. Bedrohlich ragten mir die Äste des alten knorrigen Baumes entgegen. Einen Moment lang schien mir, die Äste wollten wie lange, dürre Arme nach mir greifen. Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück.

 

Der Wind und der Regen hatten nachgelassen, innerhalb eines Wimpernschlages kam der Vollmond hinter einer Wolke hervor und tauchte die bizarre Szenerie in ein seltsam schwaches Licht. Just in diesem Moment, als das passierte, flatterte eine schwarze Gestalt mit lautem Flügelschlag ungeheuer nah von links nach rechts am Fenster vorbei, noch zwischen Baum und Haus. Ich stieß einen Schreckensschrei aus, taumelte, verlor den Halt und fiel auf den Rücken.

"Frederic?" Mutter rief mich von unten aus dem Wohnzimmer. Schon war der Mond wieder hinter Wolken verschwunden, als hätte ich alles nur geträumt. Nur das offene Fenster und der Baum waren noch da. Plötzlich wurde der Wind wieder stärker. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Noch immer wie gebannt von diesem großen flatternden Wesen, das unmöglich ein Vogel gewesen sein konnte, tastete ich mich zitternd zur Treppe. Nur raus hier. Mein Herz raste immer noch, weil ich einfach keine Erklärung fand für das, was ich gesehen hatte.

"Junge, wo bleibst du denn?", empfing sie mich mit mißbilligendem Blick.

"Da...oben..."stotterte ich und muss wohl blass gewesen sein, denn Mutter war bei meinem Anblick auf das Äußerste besorgt.

Was denn da sei, fragte sie und hieß mich Platz nehmen, um sich dann mein blasses Gesicht aus der Nähe anzusehen und mir besorgt Puls und Stirn zu fühlen. Mir missfiel dieses fürsorgliche Getue, aber ich ließ es über mich ergehen. Viel zu sehr beschäftigte mich das Aussehen dieser entsetzlichen Kreatur.

 

Am nächsten Morgen hatte ich den abendlichen Schrecken schon fast vergessen. Niemand war zu Schaden gekommen, und ich hatte in der Nacht trotzdem in den Schlaf gefunden. Zudem war Sonntag, das bedeutete, es stand natürlich der Gang zur Kirche auf dem Programm. Ich erzählte das Erlebte meinem besten Freund Sam, dem rotblonden und etwas untersetzten Sohn des Müllers, der ein Jahr jünger war als ich. Sam aß für sein Leben gern, und man sah es ihm an - deswegen war er auch nicht der Schnellste und wurde von den Anderen in der Dorfschule immer gehänselt und verspottet, ganz besonders natürlich von meinem Erzfeind, dem schlacksigen Fleckmann. Aber Sam war ein aufgeweckter, sehr erfindungsreicher Junge und über die Maßen neugierig.

Darin stand er seiner Schwester Anne und seinem Vater, dem hiesigen Müller, in nichts nach.

 

Offenen Mundes also hörte Sam mir zu. Auch Anne gesellte sich auf dem Weg zur Kirche zu uns und lauschte meinen dramatischen Worten. Spannend erzählen konnte ich gut, ich ließ nichts aus und gab mir Mühe, meine Zuhörer den kalten Schauer auf dem Rücken spüren zu lassen, der sich am Vorabend meiner bemächtigt hatte.

"Ich habe von fliegenden Menschen gehört, die schon lange tot sind und sich in Fledermäuse verwandeln", erklärte Sam. Seine Schwester schüttelte den Kopf. " Hör auf mit diesem Schauermärchen."

"Aber wenn es doch stimmt - und sie trinken heimlich Menschenblut, damit sie am Leben bleiben."

"Du spinnst, Brüderchen - wie kann jemand am Leben bleiben, der tot ist?"
"Wenn ich es doch sage", beharrte Sam.

Dann bat er mich das Wesen näher zu beschreiben, und Anne ging indessen schon voraus und leistete auf den letzten Metern zur Kirche Mutter Gesellschaft. Sie wollte das offensichtlich nicht hören, sicher war es zu gruselig für sie.

"Mir war so, als wenn es mich im Vorbeifliegen angefunkelt hat mit weit aufgerissenen Augen... Wenn ich es recht bedenke: Das Vieh war fast so groß wie ein Mensch mit Flügeln. Mit unheimlich großen Flügeln... Und der Baum streckte seine Äste nach mir aus, als wollte er mich aus dem Zimmer zerren." Sam staunte mich mit offenem Mund an. Sein Kopfkino lief wohl auf Hochtouren - ich konnte sehen, wie es in ihm arbeitete.

 

Wir waren inzwischen vor der Kirche angekommen und unterbrachen unsere Unterhaltung einstweilen, als wir das Gotteshaus betraten. Der Pastor predigte von Sündern, die als Verfluchte der Hölle und des Teufels ewiglich auf Erden wandeln würden und hoffte wohl so, uns Rechtschaffenheit und Folgsamkeit einzubläuen. Vor meinem geistigen Auge spielte sich abermals der Vollmondflug dieses Flatterwesens ab. War das am Ende auch so eine sündige Kreatur gewesen?


Mitten in der Predigt passierte dann etwas Seltsames, und sofort war ich wieder aufmerksam. Laut zerbarst ein Kirchenfenster, die Scherben fielen weit in die Kirche hinein und erreichten fast die Kanzel, auf der ein zu Stein erstarrter Priester fassungslos in das nun einfallende grelle Tageslicht starrte. Das Zerspringen des Fensters rief einen kollektiven Aufschrei des Publikums hervor, während der Priester sich fortwährend bekreuzigte, als könne er so Schlimmeres verhindern. Ich bemerkte als erstes ein schwarzes flatterndes Etwas unter der Kuppeldecke der Kirche, zeigte darauf und rief: "Da ist es ja! Da ist es!"

Alle Augen folgten meinem ausgestreckten Finger und voller Schrecken starrte die ganze Kirche auf eine Fledermaus, die da oben ihre Kreise zog und schließlich wieder aus dem kaputten Fenster verschwand. In diesem Moment ließ das einfallende Tageslicht merklich nach, weil die Sonne hinter einer dunklen Wolke verschwand. Die Predigt war gelaufen, das Kirchenvolk stürmte panisch zum Ausgang.


"Das war unheimlich!" Mutter nahm mich an die Hand und schob mich durch die Menge Richtung Tür. "Ach Mutter, das war nur eine Fledermaus", entgegnete ich. "Und das Gestern Abend nicht?"

"Nein, das war größer und bedrohlicher, das war niemals so ein Flattertier. Und dann der Mond dazu... Da konnte man mehr sehen, als einem lieb war." Sie glaubte mir scheinbar nicht, obwohl sie sich ebenfalls geängstigt hatte.

"Frederic?" Das war Annes Stimme. Sie stand draußen inmitten der herausstürmenden Menge und wartete scheinbar auf mich. Gerade wollte ich mich freuen, da sah sie mich besorgt an. " Hast du Sam gesehen?" Wir konnten ihn nirgends entdecken. In der inzwischen leeren Kirche war er auch unauffindbar. Gegen Mittag begaben wir uns schließlich ohne ihn auf den Heimweg, hielten aber Augen und Ohren offen.

Ich machte mir Sorgen und fragte mich, wo er abgeblieben sein könnte. Auf dem Heimweg tröstete ich seine Schwester. Anne war den Tränen nah und hatte große Angst vor der Reaktion ihrer Eltern. Sam und sie hatten Mutter und mich zur Kirche begleitet, während ihre Mutter krank das Bett hütete und ihr Stiefvater auf Feld und Hof zu tun hatte.


Das Wetter hatte sich zum Glück beruhigt, es war ein sonniger Herbstsonntag und nicht mehr so stürmisch und regnerisch wie am Abend zuvor. In der Dämmerung - ich war gerade in unserem Vorgarten beschäftigt - glaubte ich plötzlich zwischen den Bäumen des Wäldchens eine dunkle Gestalt zu sehen, die etwas Großes auf dem Rücken trug. Angestrengt sah ich genauer hin, blickte zum Haus, um Mutter zu rufen, und als ich wieder hinsah, war die Gestalt verschwunden. Hatte ich mir das nur eingebildet?

Vorsichtig, aber entschlossen ging ich auf die Stelle zu, an der ich die Gestalt gesehen hatte. Was hatte sie da mit sich geschleppt? Vielleicht waren das auf ihrem Rücken... Schwingen oder Flügel? Diesen Gedanken verwarf ich wieder und schrieb ihn meiner lebhaften Phantasie zu.

Nebel zog auf. Die Dämmerung war schon fortgeschritten, und von dem Vollmond war nichts zu sehen. Was für ein seltsames Wetter. An der Stelle, wo die Gestalt gestanden haben musste, fiel mir zunächst nichts auf. Dann kamen diese Rufe von irgendwoher, aus weiter Ferne... Sie klangen so voller Angst, als fürchte da jemand um sein Leben.

Das konnte nicht sein. Es war schwer zu verstehen, aber der Rufer konnte mich unmöglich meinen... Sollte er mich sehen können? Unsicher blickte ich nach allen Seiten und fühlte mich beobachtet.

Plötzlich fiel der Groschen. Mir blieb das Herz stehen vor Schreck., als ich erkannte, wer da rief. Das war doch...

"Saaaaamm!! Saaa-haamm! Ich bins! Frederic! Ich bin da!" Das war alles, was mir einfiel... Wo in diesem Nebel sollte ich Sam suchen? Es war unheimlich. Schaudernd wollte ich eben umkehren und ins Haus gehen, als ein dunkles Etwas von oben aus dem Nebel zu mir herab stiess und mich fast mit einer seiner Schwingen berührte. Ein kalter Luftzug streifte mich.


Das Vieh hatte Sams Stimme! Es rief im Davonfliegen noch meinen Namen. Die Größe kam hin, war das am Ende etwa Sam selbst- mit riesigen Flügeln? Was sollte ich tun, wie konnte ich ihn retten... und wovor überhaupt? Meine Gedanken fuhren Achterbahn. Auf einmal stand Anne hinter mir. Sie schluchzte und hatte Tränen im Gesicht.

"Hast du mich erschreckt, wo kommst du her?" Das Gehöft ihrer Familie war immerhin einige hundert Meter von unserem entfernt. Sam habe sie gerufen, antwortete sie mit einer merkwürdigen Leere im Blick. Sie wirkte wie abwesend. Und warum rief er jetzt mich?

"Bist du denn doof, wir sollen ihm helfen, was denn sonst!" Endlich war sie wieder im Hier und Jetzt. Ich hatte schon Angst, sie stehe unter Hypnose und wollte sich eben anschicken, etwas Gefährliches zu unternehmen, etwa dem Geschöpf in die Dunkelheit folgen. Eine Zeit lang wollten wir noch warten, als etwas von oben auf mich herabstieß und mit sich fortriss. Sekundenlang blickte ich in Annes angstverzerrtes Gesicht, dann spürte ich einen Schmerz im Nacken und etwas trug mich davon.

**

-Sam-

Frederic war wie ein großer Bruder für mich. An jenem Sonntag in der Kirche beschäftigte ich mich in Gedanken mit jenem seltsamen Spuk, von dem Frederic mir berichtet hatte. Ich machte mir nichts aus der Predigt und dem Geschwafel, dass der Priester da von sich gab. Schon auf dem Hinweg war ich erstaunt und fasziniert von dem, was Frederic erlebt hatte. Er solle mir dieses unheimliche Wesen näher beschreiben, bat ich ihn.

"Sam, das glaubst du nicht", begann er. "Mir war so, als wenn es mich im Vorbeifliegen angefunkelt hat mit weit aufgerissenen Augen... Wenn ich es recht bedenke: Das Vieh war fast so groß wie ein Mensch mit Flügeln. Mit unheimlich großen Flügeln... Und der Baum streckte seine Äste nach mir aus, als wollte er mich aus dem Zimmer zerren."

Gebannt hing ich an Frederics Lippen. Nicht einen Moment lang zweifelte ich an seiner Schilderung. Wie konnte man der Sache auf den Grund gehen und feststellen, was das gewesen war? Ich hatte von blutsaugenden Fledermäusen gehört, aber meine Schwester Anne hielt das für Schauermärchen. Frederic hingegen glaubte mir. Ich vermisse ihn...


Aber ich wollte ja nicht allem vorgreifen.


Während der Predigt zersplitterte plötzlich ein Kirchenfenster, durch das eine Fledermaus geflogen kam, aber mit einer solchen Geschwindigkeit, als sei sie von etwas in das Fenster geschleudert worden. "Da ist es ja! Da ist es!" Frederic sprang auf und zeigte mit dem Finger auf das Tier und ich sah, wie blass er wurde.

Mir gelang es, da ich am Rande saß, mich aus der Kirche zu schleichen, denn ich wollte unbedingt wissen, was dafür verantwortlich gewesen war, dass die Fledermaus mit so einer Wucht und Härte durch das Fenster geschossen kam. Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu!

Es wäre alles nur halb so spannend gewesen, wenn mir Frederic nicht gerade seine gespenstische Begegnung vom Vorabend geschildert hätte.


Fledermäuse sind in der Nacht unterwegs, dachte ich immer. Als ich aus der Kirche kam, musste ich erkennen, das es offensichtlich Ausnahmen gab. Eh´ich mich´s versah, schoss ein riesiger Schwarm vom Himmel auf mich nieder, als hätten die Tiere mich als ihre Beute bereits erwartet. Ich stand eine wahnsinnige Angst aus, begann sogar zu zittern - aber sie umschwirrten mich nur und taten mir nichts. Was hatte das zu sagen? Ich fühlte mich kräftig am Schlafittchen gepackt und verlor den Boden unter den Füßen. Die ganze Erde kippte nach unten weg - was immer mich da gekrallt hatte, flog mit mir davon. Vor lauter Höhenangst befiel mich eine Ohnmacht.


Es war die leuchtende Scheibe des Vollmondes, die mich zu mir kommen liess. Ich erwachte und fand mich in einem überdimensionalen Vogelnest wieder, inmitten kräftig schaukelnder Baumwipfel. Erneut wurde mir schwindlig, als ich meine Lage erfasste, denn diese Bäume schienen ins Unermessliche gewachsen zu sein - als ich über den Nestrand blickte, meinen Brechreiz unterdrückend, fand ich mich oberhalb der Wolkendecke wieder! Daher also leuchtete Gevatter Mond so schön und klar. Zum Glück wehte kein Lüftchen.

 

Aber das sollte sich schnell ändern. Das Schaukeln der mächtigen Baumkronen nahm zu, denn es kam Sturm auf. Die Wolken waren verflogen, unter mir sah ich dafür dichte Nebelschwaden. Vielleicht war der Riesenbaum doch nicht so hoch? Der Wipfel mitsamt dem Nest schaukelte immer mehr und neigte sich so stark, dass ich mitunter den Boden erkennen konnte. Weil ich lieber nicht direkt nach unten schaute, bemerkte ich, dass mir die Gegend hier bekannt vorkam.

Ich glaubte, für einen Moment lang die Gestalt meines besten Freundes zu erkennen, und ich rief voller Angst Frederics Namen. Ich hoffte es inbrünstig und klammerte mich an den Gedanken. Die Silhouette des Hauses, welche ich undeutlich erkannte, konnte das seiner Mutter und seines Großvaters sein. Das würde bedeuten, ich war nicht allzu weit von meinem Zuhause weg. Na bitte, allmählich konnte ich wieder einen klaren Gedanken fassen...Das Geschaukel strapazierte meinen Gleichgewichtssinn dermaßen, dass ich mich übergeben musste.

Krampfhaft hielt ich mich fest und murmelte so etwas wie ein Gebet. Aber es half nichts. Ich stürzte aus dem Nest, das mir eben noch relativ sicher erschienen war....Der Aufprall aber blieb aus: Ein Windrausch, ein Flügelschlag - und abermals erhob sich dieses Geschöpf mit mir in die Lüfte.

"Frederic!"

Ich glaubte ihn erkannt zu haben und hatte daher seinen Namen gerufen. Er musste mich doch hören können! Wieder geschah etwas Absonderliches: Wir flogen eine Schleife; es war, als wollte das Tier, dass ich auf Rufweite an Frederic herankam. Da unten aber war niemand mehr. Ob ich nun abgesetzt werden würde?

Einen Augenblick später waren wir wieder oben. Das riesige Nest ähnelte von der Form her einem Trichter, damit es in den Bäumen genügend Halt fand. Unsanft landete ich in meinem Erbrochenem. Was für ein Albtraum! Jetzt erst sah ich das fliegende Riesengeschöpf in seiner vollen Größe und Hässlichkeit. Es sah angsteinflößend aus. Es glich einem überdimensionalen, finster dreinblickenden Menschenvogel mit riesigen Krallen und Hakenschnabel. Diese gespenstische Kreatur schien halb Mensch und halb Vogel zu sein. Wie war das nur passiert?


In Gedanken segnete ich das Zeitliche. Kein Zweifel - ich sollte seine Beute sein. Eine Sekunde lang dachte ich an das Herunterklettern. Das aber wäre mein sicherer Tod - entweder durch einen Sturz in die Tiefe oder durch meinen Enführer.

Da es weder Eier noch Jungvögel in dem Nest gab, würde er sich gleich mit seiner ganzen Aufmerksamkeit mir widmen. Das Biest flog also heran und ich erkannte, dass es eine Beute in seinen Krallen trug, die es offensichtlich mir zu bringen gedachte.

Die kalt blitzenden Augen fixierten mich, und ich erkannte in der Beute plötzlich Frederic, der offensichtlich auch ohnmächtig war. Doch welches Entsetzen packte mich, als das Vieh den Körper meines besten Freundes fallen ließ! Unterleib und Beine fehlten ihm, der Körper war in der Mitte durchtrennt worden. Sein Wams war blutgetränkt, und einige Gedärme hingen unterhalb des Rippenbogens heraus. Hatte ich ihn verraten, als ich nach ihm rief? Gewissensbisse plagten mich sofort, während ich erstaunt sah, wie das Vogelvieh den Leib in Stücke riss und diese vor mir drapierte, als gehe es um ein Festmahl für mich... Er ließ mich nicht aus den Augen, flog aber auf einen der nächsten Bäume um mich von dort aus zu beobachten. Was sollte ich tun?

Mittlerweile liefen mir die Tränen nur so das Gesicht herunter, ich fürchtete um mein Leben. Wenn ich das Mahl nicht annahm und stattdessen nun doch hinunter kletterte, was würde mit mir passieren? Und was war mit Anne und den anderen da unten?

Ich zitterte vor Angst am ganzen Körper. Langsam streckte ich die Hand aus und berührte das blutverschmierte Gesicht Frederics. Es war alles so unfassbar, so unwirklich... Bei dem Gedanken, ihn zu verspeisen, und das womöglich in rohem Zustand, drehte sich mir der Magen um. Aber da war nichts mehr drin, was ich hätte herausbringen können...


Der Menschenvogel beäugte mich aufmerksam. Guter Rat war teuer. Mir kam eine Idee. Demonstrativ griff ich zu einem Ast, pflückte eines der Blätter ab und aß es. Langsam kaute ich und sah den Vogel unverwandt an. Mein selbst gewähltes Mahl schmeckte scharf und seltsam, aber offensichtlich war es genießbar.

Das Vieh rührte sich nicht und starrte mich an. Ein zweites Blatt kauend hoffte ich, dass dieses Vieh lernfähig war und langsam begriff. Lange hielt ich das nicht mehr durch... Warum tötet es mich nicht?

Was will es von mir? Diese Fragen gingen mir wieder und wieder durch den Kopf.


Nachdem ich drei Blätter verspeist hatte, bekam ich mächtige Kopfschmerzen. So konnte das nicht ewig weitergehen. Schließlich tat ich so, als nehme ich etwas von Frederics Körper, indem ich meine Finger in eine seiner offenen Wunden tauchte und sie dann, blutverschmiert wie sie waren, zur Faust schloss. Langsam, damit das Vieh es mitbekam, führte ich die Faust zum Mund und machte Kaubewegungen. Das Geschöpf flog näher heran, was meinen Puls zum Rasen brachte.

Doch dann breitete es die gewaltigen Schwingen aus und verschwand in den vom Vollmond beleuchteten Nachthimmel. Bitte keinen Nachschub, dachte ich nur und sank vor Angst erschöpft zusammen.



-Roderich-

Schon als dieser Typ in die Klasse kam, sah er weinerlich aus. Den Bund seiner alten Hose trug er bis über den Bauchnabel, so dass sie im Schritt umso enger saßen. Seine Hemdsärmel hatte er mehrfach umgekrempelt, und das Hemd hing an ihm wie an einem Kleiderhaken. Von den Schuhen, die er trug, lösten sich die Sohlen. "Den machen wir fertig, Roderich, oder?", flüsterte mein Sitznachbar, der immer für Schabernack zu haben war. Das kriege ich alleine hin, dachte ich und schwieg. Der Neue hieß Frederic und war Halbwaise. Na und? "Muttersöhnchen!", rief ich ihm entgegen, als er in der Bankreihe vor mir Platz nahm. Er wich meinem Blick aus und wurde puterrot! Oh das würde ein Spaß werden, diese Vogelscheuche zu ärgern.... Dieser Junge mit dem komischen Namen - wer heißt denn schon Frederic? - war ein Künstler darin, Gewalt zu vermeiden. Man konnte ihn ungestraft boxen und erntete nur einen finsteren Blick oder ein Stirnrunzeln. Mit einer schnellen geschmeidigen Bewegung wich er einem dann aus und suchte das Weite. Diese Memme wehrte sich einfach nie, es war unglaublich. Einmal, als ich ihm Tee in seine Schulsachen gekippt hatte, sah er mich mit weinerlichen Augen an und flüsterte: " Roderich Fleckmann, das Schicksal wird sich eines Tages an dir so richtig austoben... Das wird die Rache sein."

"Was bist du, Hellseher? Ein Scharlatan? Hä?" Ich stupste ihn mehrmals mit dem Finger auf die Brust. Er musste sich so aufgeschaukelt haben, dass er sich plötzlich traute, mit der Hand zum Schlag auszuholen. Geschickt wich ich aus und rang ihn zu Boden. Wir wälzten uns unter den anfeuernden Rufen der Klassenkameraden hin und her, und schnell hatte ich ihn besiegt. Fortan wich er mir noch mehr aus, soweit das möglich war und schien froh zu sein, wenn der Unterricht vorbei war und ich ihm mal keinen Streich gespielt hatte.

Man konnte mit ihm alles machen - ihn in den Schrank einsperren, ihm von innen Mist in die Jackenärmel schmieren, wenn er sie mal über dem Stuhl vergessen hatte, oder dem Lehrer melden, er habe vorgesagt. In der Klasse mochten sie meine Streiche, denn die meisten Jungen und auch ein paar Mädchen lachten fast immer. Ich war angesehen und beliebt, im Gegensatz zu diesem Frederic. Dann kam so ein Fettwanst in die Klasse, der Sohn vom Müller, Sam hieß er wohl. Und von da an steckten die beiden Blödmänner immer ihre Bauernschädel zusammen, die hatten sich gesucht und gefunden. Der Dicke war ein Streber, und die Memme profitierte davon.


In der Nacht zum Sonntag hatte ich von der Schule geträumt und davon wie ich diesen Dorftrottel Frederic ärgerte. Das war schon sonderbar, denn seit vor einer Woche während dieses seltsamen Gottesdienstes ein Kirchenfenster durch eine Fledermaus zerstört wurde, war die Memme verschwunden. Auch der Sohn vom Müller wurde vermisst, und klar herrschte Trauer und Ratlosigkeit beim Müller und seiner Familie. Der andere, lustig gekleidete Trottel hatte, glaube ich, sowieso nur eine Mutter. Dass den sonst noch jemand vermissen würde, konnte ich mir nicht vorstellen. Aber im Ort war das Verschwinden der Beiden das Klatschthema Nummer eins. Ich hingegen glaubte, sie würden wieder auftauchen. So was war doch normal...

Ich träumte also davon, dass ich diesem Frederic mal wieder höllisch Angst machte. Sam, sein bester Freund war auch irgendwie dabei... Und im Traum sagte dieser Frederic dann wieder so etwas in der Art zu mir wie "Eines Tages wird die Rache dafür kommen und über dich herfallen, Roderich Fleckmann... wie ein Wolf über ein wehrloses Kaninchen!" Da war etwas eisig kaltes in seinem Gesichtsausdruck, dass mir meine Antwort im Halse stecken blieb. Schweißgebadet wachte ich auf, die Worte hallten in mir nach. Aber ich hatte doch noch nie Angst gehabt... ICH, Roderich Fleckmann, doch nicht!

Mit einem merkwürdigen Gefühl kleidete ich mich an und überlegte mir, wie ich mich vor dem Gang zur Kirche drücken könnte. Bestimmt würde nicht schon wieder so etwas Spannendes passieren, und dieses Herumgebete war langweilig und führte doch zu nichts... Sollte ich mich krank stellen? Würde ich dann daheim bleiben dürfen?


Ich gab vor, Fieber zu haben, aber mein Vater, ein strenger erzkatholischer Mann, der zu Hause eindeutig das Sagen hatte und mir nun einmal mehr Prügel mit dem Riemen androhte, setzte sich durch. Ich gab nach, nicht dass mir die Prügel etwas ausgemacht hätten, aber dabei wäre es nicht geblieben. Mama und er hätten sich gestritten, weil sie mich wieder in Schutz genommen und ihn um Milde gebeten hätte. Das wollte ich ihr zuliebe vermeiden.

Und so unterbreche ich an dieser Stelle, um meine Schuhe anzuziehen und mich zusammen mit meinen Eltern auf den Weg zur Kirche zu begeben. Hinterher setze ich meine Ausführungen fort.

-Sam-

Noch immer trauerte ich um Frederic, meinen besten Freund. Wie konnte ich mich an diesem fliegenden Vieh nur rächen für dessen grausamen Tod? Bis mir etwas einfiel, was mich dann zugleich auch aus meiner Lage befreien konnte, beschloss ich, Frederic einen letzten Gefallen zu tun: Ich würde seine Rache an Roderich Fleckmann, seinem Erzfeind übernehmen. Jahrelang hatte der ihn verprügelt, geärgert und mit äußerster Geringschätzung bedacht, so das es für mich mitunter schwer zu ertragen war, wie sehr Frederic darunter gelitten haben musste.

 

Ich gewöhnte mich nach und nach an den Geschmack der Blätter und konnte auf einfachste Art sogar mit dem Vogel kommunizieren. So verging ein ganzer weiterer Tag.

Ich hörte Kirchengeläut am anderen Morgen. Es musste also schon wieder Sonntag sein; an keinem anderen Tag läuteten die Glocken am Vormittag.

Ausgerechnet jetzt nahm mich das Vieh mit auf seinen nächsten Flug, und ich sah die Silhouetten der Menschen, die in Richtung Kirche pilgerten. Das Tier trug mich wieder mit seinem übermächtigen Schnabel und flog seitlich über unseren Ort hinweg.

 

Als uns der Flug über das kleine Häuschen des Schusters Fleckmann führte, erspähte ich jemanden vor der Haustür... Das war doch...Ich zeigte auf die menschliche Gestalt und rief so laut und so bedrohlich wie ich konnte Roderichs vollen Namen.

Das Vieh setzte zum Sinkflug an, flog zweimal knapp über dessen Kopf hinweg und ich wiederholte mein Rufen.

Gut, dass ich so getan hatte, als würde ich totes Menschenfleisch mögen...

 

Etwas später war dieser Flug beendet und ich landete unsanft wie immer im Nest. Und tatsächlich: Noch am Abend kehrte mein großer Mitbewohner mit einem Präsent besonderer Art zu mir zurück. Ich verspürte das erste Mal keine Angst, sondern Genugtuung.

 

"Heute abend gibt es toten Roderich", sagte ich zu dem Vogel und ließ es mir diesmal schmecken.

 

Vielleicht war das ein Fehler? Irgendetwas durchschoss meinen Körper, was mir höllisch brennende Schmerzen bereitete. Meine Muskeln verkrampften sich, und ich krümmte mich auf dem Nestboden. Meine Kleidung wurde zu eng und durch die Veränderung meines Körpers zerrissen.

Mir war, als würde ich wachsen. Dann wieder war mir, als schrumpften meine Beine. Meinen finsteren Entführer hatte ich aus den Augen verloren, denn ich war mit mir beschäftigt. Was ging hier vor? Ich muss dann irgendwann eingeschlafen sein.

 

Sonnenlicht kitzelte mich, aber ich konnte mir mit meinen Fingern nicht die Nase kratzen. Etwas Unförmiges war vor meinem Gesicht. Nachdem ich erwacht war, stellte ich mit Entsetzen fest, dass es sich um einen überdimensionalen Hakenschnabel handelte. Riesige Schwingen waren aus meinen Armen geworden.

 

"Na endlich!", schnarrte jemand neben mir. Der Menschenvogel! Plötzlich konnte ich verstehen, was er sagte. Die Laute, die er bisweilen von sich gab, entpuppten sich nun als Sprache. Das war mir egal, ich war unendlich traurig und allein. Ohne Frederic, ohne Anne... Womit nur hatte ich dieses Los verdient?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mikas Schreie

 

Mikas Schreie

 

„Wissen Sie, das Vernunftzentrum, so wie ich es nenne, ist darauf ausgerichtet, den Menschen glücklicher zu machen. Das ist der Teil im Gehirn, der für die Ausschüttung von Glückshormonen wie Endorphinen verantwortlich ist.“ Greta runzelte die Stirn. „ Und dieser Bereich ist bei mir blockiert durch einen … einen Traum?“ Doktor Weniger nickte und starrte nachdenklich auf seinen Notizblock. „Einen immer wiederkehrenden Albtraum, ja. Ihr Unterbewusstsein okkupiert diesen Bereich, würde ich sagen.“

Seit ihr Bruder Mika nicht mehr mit ihr das Zimmer teilte, weil er nun seine erste eigene Wohnung bezog, träumte das Mädchen schlimme Dinge, wobei die Träume sich von Nacht zu Nacht immer ähnlicher wurden. Und mehr noch: Wachte sie schweißgebadet auf, und glaubte, sich beruhigt zu haben, träumte sie an derselben Stelle weiter. Das war unerklärlich. „Es ist, als sei mein Aufwachen sowas wie ein Werbeblock und der ganze Albtraum nichts als ein Film“, erklärte sie dem Psychiater. Doktor Weniger kritzelte etwas auf seinen Block. „Bisher war Ihr Bruder da, und Sie fühlten sich sicher. Es ist ein Prozess der ….“ Der Arzt suchte nach Worten. „… Umstellung, der Abnabelung, wenn Sie so wollen.“

 

Das laute, schrille Klingeln des alten Telefons erschreckte Greta und ließ sie zusammenzucken. So hatte der Spuktraum in der letzten Nacht angefangen: Ein schrilles Klingeln von irgendwoher kam immer näher, plötzlich stand eine Telefonzelle mitten im plötzlich taghell erleuchteten Zimmer. Durch die offene Tür zog der Hörer die ganze Zelle auf sie zu, wobei er sich waagerecht in der Luft befand. Und aus dem Hörer waren klar Hilfeschreie zu hören. Mikas Schreie.

 

Greta besann sich und sah, wie Doktor Weniger umständlich den Notizblock ablegte und zum Hörer griff. „Praxis Doktor Weniger, hallo?“

Er nahm den Hörer vom Ohr, warf einen nachdenklichen Blick auf ihn und legte kopfschüttelnd auf. „Falsch verbunden, nehme ich an.“

 

Eine Sekunde lang war es Greta, als käme Rauch aus dem Hörer, nachdem er wieder auf der Gabel lag. Sie wischte sich über die Augen und zwang sich, den Blick woanders hin zu wenden. Wieder fiel ihr Mika ein. Er war immer ihr bester Freund, ihr großer Bruder und Beschützer gewesen, und er hatte diese Rolle gern übernommen. Dass er schon mit achtzehn Jahren ausziehen durfte, lag daran, dass er ein Junge war. Wenn sie so alt sein würde, da war Greta sich sicher, bestünde keine Chance, dass ihre Eltern sie auch gehen ließen. Sie würden klammern und ihr Nesthäkchen mit allen Mitteln am Ausziehen hindern. Verdammt, Mika fehlte ihr.

 

„Suchen Sie sich ein Hobby, das sie ablenkt und voll ausfüllt“, riet der Arzt. „Sie müssen damit so beschäftigt sein, dass Sie darin ganz aufgehen und Spaß dran haben. Dann wird das Unterbewusstsein irgendwann darauf reagieren.“ Leichter gesagt, als getan.

 

Was sollte ein vierzehnjähriges Mädchen in so einem Nest auf dem Lande für einen Zeitvertreib finden? Ameisenrennen? Rhabarberblätterrauchen? Die Leute in ihrer nur achtköpfigen Schulklasse waren Langweiler, und Greta drohte hier zu versauern.

Als sie nach Hause kam, fiel sie aus allen Wolken. Ihre Mutter lag weinend in den Armen ihres Vaters, der auch mit den Tränen kämpfte.

„Mika ist verunglückt. Er liegt im Krankenhaus“, schluchzte sie und zog Greta zu sich und ihrem Mann. Greta sackte der Boden unter den Füßen weg, sie fiel in Ohnmacht.

 

Als sie wieder zu sich kam, saßen die Eltern an ihrem Bett. „Er … lebt?“ , wandte sie sich flüsternd an die Beiden. Der Vater nickte stumm, die Mutter strich Greta übers Haar und bejahte es leise. Sollte Greta den Eltern von ihrem Traum mit den Hilfeschreien erzählen? War das eine Art übersinnliche Warnung gewesen? Wer oder was hatte die ausgelöst? Ihr Bruder vielleicht?

 

Mika war mit Freunden in einem Auto unterwegs gewesen, als das Fahrzeug mit überhöhter Geschwindigkeit von der Straße abgekommen war, ein Brückengeländer durchschlagen hatte und einen steilen Hang hinabrauschte. Kurz vor der Straße, die unter der Brücke hindurchführte, blieb das Wrack auf dem Dach liegen, unweit der Gehwegkante.

 

Und unweit dieser Telefonzelle, die nur ein paar Meter entfernt stand und die Greta in ihren Träumen erschienen war.

 



 

 

Die Abenteuer des Grafen Alwin von Albern-Abseits

 Zunächst ein zäpfchen-Vorwort ( zum Einführen)

 


In Witzingen, einer lustigen Stadt an der Grinse, torpedieren gleich zwei Flüsse das Stadtzentrum: Die Grinse und die Lachan. Letzterer Fluss mündet in einen gigantischen Wasserfall wenige Kilometer vor der Stadt, der demzufolge Lachanfall heißt. Klar, dass die Witzinger ausgemachte Spaßvögel sind. Einer von ihnen war Alwin von Albern-Abseits, ein verarmter Adliger mit einem heruntergekommenen Schloss, dessen Leidenschaft wohl deswegen das Reisen wurde, weil er seine Aristokratenruine nicht mehr ertragen konnte. A3, wie er von den Witzingern etwas respektlos genannt wurde, legte dazu Aufzeichnungen an. Diese chronologischen Gedanken erinnern an ein Tagebuch, von dem ein Bruchteil jüngst in meine Hände gelangte. Vielleicht finde ich ja irgendwo noch weitere Tagebücher…. :-)

 

 

 

31.Dezember. Habe mit einem Chinaböller den hinteren Westflügel zerschossen. War ein Versehen, aber der Schaden ist gering. Wer konnte auch ahnen, dass das Ding statt geradeaus durch die offene Außenwand zu fliegen, ins Trudeln gerät? Was tut man nicht alles, wenn man Silvester ohne Strom feiern muss, allein in so einem Geisterhaus. Nur mein treuer Diener Scherzfried von Sorgenfrei leistete mir mit Talglicht und Petroleumlampe treuen Beistand. Auch wenn er nach dem dritten Whisky mehr lag als stand, aber seine Anwesenheit allein beruhigt mich immer auf das Unerträglichste. Zerstreuung suchend spukte ich im alten, ruinösen Westflügel umher. Kurz vor Mitternacht sah ich nach dem alten Scherzfried, der friedlich schlummernd auf der Treppe im Vestibül lag. Auf dem Tablett neben ihm entdeckte ich ein kleines Päckchen. Darin fand ich den Chinaböller, den der Gute offenbar für den Jahreswechsel vorgesehen und für mich als Geschenk eingepackt hatte. Also begab ich mich damit zurück in den Westflügel mit der eingestürzten Außenwand und gab der unbändigen Versuchung nach. Das Ding tangierte die Wände im Kreis und flog so zischend in Richtung Außenwand, änderte plötzlich die Richtung, als wolle es zurück in die Packung, weswegen ich diese fallen ließ und mich an eine der Wände presste. Das gelblich leuchtende Etwas zerfiel im Vorzimmer des alten Flures in hunderte Sternschnuppen und verglühte mit einem mittellauten Puff. Fantastisch anzusehen. Es ließ mehr Qualm zurück als eine Hundertschaft paffender Golfspieler im Clubzimmer. Selten so gelacht. Und gehustet.

 

1.Januar Oh, schon ein Uhr durch. Jetzt brauche ich die Feuerwehr auch nicht mehr rufen. Der Qualm hat sich gelegt. Werde auch schlafen gehen, kann die demolierten Wände des alten Flügels nicht mehr sehen. Die zerbröseln schon seit Jahrzehnten wie der Rest meines Schlosses mit einer derart würdevollen Gemächlichkeit, wie sie nur nobelsten adeligen Bauwerken zusteht. Das macht mich etwas schwermütig. Schnell noch einen Cocktail erfinden, den "Abseitser Anzünder" mit einem als Zündschnur getarnten Trinkhalm und auf das neue Jahr trinken. Scherzfried ist auch wieder wach, ich hingegen saufe mir den Schlaf herbei.

 

Als ich wieder aufwache, haben wir den 3. Januar. Scherzfried neben meiner Schlafstatt lächelt schelmisch und serviert mir mein geliebtes Stehaufkännchen mit diesem unvergleichlichen Mix aus Kaffee und Schokolade. Ich danke ihm für den Cubatschibo, und er korrigiert mich belehrend, es heiße Capuccino.

Er ist ein widerlicher Besserwisser. Aber die Dienerschaft kann man sich heutzutage nicht aussuchen, und Scherzfried von Sorgenfrei stammt aus gutem Hause, stets loyal und meiner Wenigkeit durchaus sehr zugetan, erweist mir Respekt, sich oft als nützlich, zeigt mir zwar manchmal einen Vogel, aber auch hier und da sympathische Züge.

Es ist eisig kalt, als ich meiner wärmenden kleinen Daunenburg aus zwei Unter- und einem Oberbett entsteige. Eisige Luft strömt durch den Westflügel, dem die Wand an der Stirnseite schon lange vor meinem Feuerwerk zu einem Teil fehlt, an den Wänden macht es sich Raureif bequem, erst zaghaft und vorsichtig als kaum wahrnehmbare Schicht, dann aber unübersehbar. Bin dieses alten Schlosses überdrüssig, das seit Jahren nur noch mich und Scherzfried in seinen Gemäuern zu dulden scheint. Jedweder Besuch nimmt innerhalb eines Tages Reißaus und ist der Ansicht, es spuke hier. Den Zerfall aufzuhalten, dazu bedarf es des schnöden Mammons, der uns längst asugegangen ist – abgesehen von ein wenig Geschmeide und ein paar Goldstücken, so dass wir mehr schlecht als recht davon essen, trinken und unskleiden können.

 

Während Scherzfried das Heizen übernimmt und gar zu großzügig mit unserem Brennholzvorrat umgeht, beschließe ich, dieser ruinösen Stätte meine haarigen Rücken zu kehren und in die Welt hinaus zu reisen.

 

4.Januar. Mein fleißiger Diener beteuert, er habe nun mindestens für zwei weitere Tage vorgeheizt und ein übereilter Aufbruch sei ein Frevel. Blut habe er geschwitzt beim Hacken und Verfeuern mehrerer Klafter Brennholz, das dürfe ich nicht mit Ignoranz strafen. „Bald wird sie sein, die letzte Stunde. Und vornehm geht die Welt zugrunde.“ Das pflegt er immer zu sagen, wenn er seine Dienste nicht ausreichend gewürdigt sieht – so wie jetzt. Ich bleibe hart, erwäge, vor der Abreise auch den Ostflügel mittels Feuerwerk offener zu gestalten und lasse Scherzfried die Kutsche vorbereiten. Als es Zeit ist, in allen Gemächern und Fluren Kerzen und Fackeln zu entfachen, steht er atemlos vor mir. Es sei alles vorbereitet, japst er und deutet hinaus in die Dämmerung. Ich bitte ihn, mich am anderen Tag zu begleiten, entlohne ihn vorab mit einem Teil des verbliebenen Familienschmuckes, da es mir an Münzen fehlt und begebe mich zur nächtlichen Ruhe.

 

5.Januar. Es ist noch Nacht, ich schrecke aus dem Schlaf auf. Von draußen klingt ein Wimmern an mein Ohr. Jemand scheint auf dem langen Korridor sein Unwesen zu treiben – mal ist das Jammern ganz nah, dann wieder scheint es weiter weg zu sein. Vergebens versuche ich, dieses unheimliche Wehklagen zu ignorieren. Meine Fantasie treibt mit mir einen Schabernack, mehr nicht. Ein Scheppern folgt. Etwas zerbirst in tausend Scherben, eine Vase etwa. Das Wehklagen verstummt für einen Augenblick. Verdammt. Sitze mittlerweile aufrecht im Bett, und aufrecht stellen sich auch meine Nackenhaare. Ach, wäre ich doch bereits in der Kutsche und fernab dieser meiner Lieblingsschlossruine mit dem schallverstärkenden Riesenflur. Es nähern sich Schritte meinem Gemach. Ich greife nach dem Kerzenhalter und leuchte in Richtung der Tür, bereit zum Wurfe. „Euer Armseligkeit? Ich bin es nur.“ Mein treuer Diener zwängt sich durch die sparsam geöffnete Tür und schließt diese flugs. Wir sputen uns, treffen letzte Vorkehrungen und bereiten den Aufbruch vor.

 

Als rassele ein ruheloser Geist mit Ketten, so klingt es plötzlich von draußen her. Sogar hier drinnen spüre ich einen eisigen Luftzug, und Scherzfried, noch immer im Gemache stehend, kriecht in sich zusammen, während ich im Bett Wärme suche. Als ein tosender Donner uns arg erschreckt und es scheint, als halte die massive Tür dem ganzen Bohei nicht stand, springt er zu mir ins Bett.

In einem Anflug von Tollkühnheit und Übermut entsteige ich dem Bett, greife mir eine Petroleumlaterne und begebe mich auf den Flur hinaus. Nächtliche Störenfriede machen mich wütend. Scherzfried ruft mir nach, er habe noch einen Chinaböller imVorzimmer auf das Fenstersims gestellt. Das ermutigt mich, und ich habe ein Ziel für meinen nächtlichen Ausflug durchs Schloss. Vielleicht waren diese Feuerwerkskörper auch der Auslöser dieses Spuks?

 

Die Gestalt flößt mir Angst ein, das sage ich unumwunden. Als ich die Laterne hebe, um den Flur etwas unter Licht zu setzen, steht ein einstmals gut gekleideter, bereits leichenblasser Mann vor mir, dem die zu seiner Zeit wohlhabenden und teuren Kleider vollgestaubt in Fetzen vom Leib hängen, und der blutleer und wankend auf mich zukommt, die Haare grau und wirr, die tiefliegenden Augen blutunterlaufen.

 

Mir gelingt es, wieder im Gemach Schutz zu suchen und die Tür zu verriegeln.

„Das war bestimmt Graf Kunibert, der Humorlose“, mutmaßt Scherzfried.

„Das kann nicht sein. Der wurde doch vor zweihundert und irgendwas an Jahren eingemauert.“

„Allerdings, Mylord. Lebendig. Hier im Westflügel.“

„Scherzfried, du meinst…“

„Ganz recht. Hinter einer Zwischenwand, die es nun nur noch ansatzweise gibt.“

Der Schock lähmt mich für einen Augenblick, aber ein von Albern-Abseits weiß sich seines Standes würdig zu verhalten, auch wenn er ein Armer von Albern-Abseits ist.

Also gebe ich das Zeichen zum Aufbruch, als es anfängt zu dämmern.

 

Die aufgehende Sonne sieht uns bereits eine Meile vom Schloss entfernt, und mir ist nur klar, dass es mich gen Süden zieht. Sehr zum Leidwesen Scherzfrieds, meiner treuen Seele, fehlt mir noch jegliche Idee, wo die Reise hingehen soll. Aber wir sind unterwegs, und das zählt.

 

 

 

6.Januar. Die Nacht verbrachten wir im Gasthof des Nachbarortes, der meiner Schlossruine am nächsten liegt. Als wir durchgefroren ankommen, liegen vier Stunden Kutschfahrt hinter uns, und auch die Pferde sind erschöpft. Wenigstens liegt kaum Schnee. Die Wirtsleute sind dem Geschlechte von Albern-Abseits gewogen, sie versorgen uns und die Pferde vorzüglich. Frühmorgens, noch während der Dämmerung, zieht es uns weiter.

Nun ja – mich, um ehrlich zu sein. Der gute alte Scherzfried fügt sich schließlich demonstrativ gähnend nach kurzer Diskussion.

 

Ach, der treue Scherzfried! Mir ist daran gelegen, dass er es mit dem Respekt und dem Gehorchen mir gegenüber nicht übertreibt, denn ich lege Wert auf geistvolle Kommunikation und kompromisslose Offenheit. Ich vertraue ihm, den ich schon mein Leben lang kenne, dass er sich nicht im Ton vergreift und mich in allem unterstützt. Niemand ist loyaler als Scherzfried.Und er akzeptiert sowohl meinen bisweilen kindlichen Spieltrieb, meine Neckereien und Witzchen wie auch meine Wünsche und Anordnungen. Unmut zu äußern, hat er mal als Privileg bezeichnet, das zu haben ich ihm gestatte. Nur gar zu selten schlüpft Scherzfried auch mal aus seiner Dienerrolle und schlägt etwas über die Strenge oder vergisst sich hier und da für einen Moment.

 

Einmal haben wir uns zusammen auf Rollschuhen durch das Schloss bewegt, und das ausgerechnet als die Terassentür an der Stirnseite des oberen Flures offenstand und die Brüstung an der Terasse erst halbfertig war. Ich sehe mich noch heute buchstäblich über das Ziel hinausschießen - aber zum Glück greift Scherzfried, die treue Seele von hinten beherzt zu und kriegt mich am Schlafittchen zu halten. Er zieht mich zur Seite weg, wir beschreiben einen Kreis, und als ich mit weniger Schwung nun wieder auf das Ende der Terasse zurolle, weiß ich mir nicht anders zu helfen und lasse mich auf den Allerwertesten fallen. So komme ich zum Sitzen, wobei die Füße bereits über die Terasse hinaus hängen. Was haben wir gelacht.

 

Seitdem fährt niemand von uns mehr rollenden Fußes durch offene Türen. Überhaupt gibt es ja noch anderen Schabernack in Ermangelung wichtiger Geschäftsangelegenheiten, mit denen man sich seine adlige Zeit vertreiben kann. Wie zum Beispiel China-Böller auf dem langen Korridor zu Neujahr. Feuerwerk im Schlossgarten kann ja jeder. Viel zu gewöhnlich.

 

Inzwischen ist es Mittag. Ein breiter Waldweg, der bestimmt mal eine gute Straße abgibt, lenkt uns einer reifbedeckten Hügelkette entgegen, auf deren Spitze eine kleine selbstbewusste Kirche das Haupt ihres Turmes stolz gen Himmel reckt. Als eine nahende Lichtung den Blick darauf freigibt, schätzt Scherzfried die Entfernung auf zwei bis drei Stunden mit der Kutsche ein. „Es mag sein, dass sich dort noch mehr Behausungen befinden, vielleicht ein Dorf sogar“, vermute ich.

„Es wird beschwerlich, das ansteigende Gelände zu bezwingen“, gibt Scherzfried zu bedenken. Also suchen wir uns einen Platz für eine Rast, machen ein Feuer um uns zu wärmen und entfalten die Landkarte. Die Dämmerung scheint nicht mehr fern, denn das Tageslicht verliert bereits an Kraft.

„Eure Pestillenz, wir sollten auf den guten Stil zumindest beim Reisen verzichten und den Zug nehmen.“ Scherzfried äußert mal wieder einen seiner Gedanken genauso, wie er ihm in den Kopf kommt. „Kutsche hin, Pferde her.“

Das ist einen Gedanken wert, vor allem wenn man in dieser Jahreszeit unterwegs ist und die Reise lang zu werden droht.

„Selbst Akademiker und Aristokraten nehmen die Eisenbahn“, pflichte ich ihm bei.

Noch immer gewillt, mehr von der Welt zu sehen, beschließen wir zweistimmig, die Kutsche und die Pferde entweder unterwegs zu verkaufen oder zum Schloss zurückzubringen, wo sie durch einen Knecht versorgt wären.

 

Hier enden die Aufzeichnungen in dem gefundenen Heftchen. Ich werde weiter suchen, ob ich etwas finde, das den Fortgang der Reise dokumentiert, und es an dieser Stelle vermelden, sobald meine Suche von Erfolg gekrönt war und ich das Material gesichtet und aufbereitet habe.  

© 2022


 

Impressum

Texte: Noah F Petzold
Bildmaterialien: Dirk Harms und pixabay.de
Cover: Dirk Harms
Lektorat: Dirk Harms
Korrektorat: Woandersmitesser
Tag der Veröffentlichung: 03.12.2022

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /