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Regel Nummer 1: Wissen ist Macht!

Wiktoria Janowska. Das war der Name, der alle erbleichen ließ. Denn das Mädchen, das darauf hörte, war bekannt für seine sehr schlechten Manieren. Darum entsetzte es alle, als sie an Schuljahresbeginn an unser Gymnasium kam – eine reine Mädchenschule mit Internat.

Hier kamen die Mädchen hauptsächlich aus gutem Hause und da war diese rebellische Abrissbirne eine Katastrophe, denn wenn wir eines wussten, dann war es die Tatsache, dass Wiktoria definitiv nicht aus der reichen Schicht des Landes kam, sondern von ganz unten. Daraus machte sie auch keinen Hehl, sie war sogar stolz darauf. Ihre Gründe dafür blieben uns allen schleierhaft. Wie konnte man ohne Geld glücklich sein? Ich war selbst mit Geld unglücklich.

Ja, auch ich stammte aus wohlhabendem Elternhaus, mein Name lautete Evelyn-Kathrina von Bergen. Ein viel zu protziger Name für ein Mädchen wie mich, darum stellte ich mich überall als „Lynn“ vor. Das war kurz und klang halbwegs normal.

Leider taten unsere Lehrerinnen mir nicht den Gefallen und auch meine Mutter – wenn sie denn daheim und anwesend war – nannte mich lieber bei vollem Namen. Für eine Siebzehnjährige wie mich eine Beleidigung. Wer wollte schon gern mit „Evelyn-Kathrina“ gerufen werden, wenn „Lynn“ viel sympathischer klang?

So wurde ich also aus meiner Unterrichtsträumerei geholt, als mir das Fräulein Niedermayer meine Kritzelei vom Tisch zog und sie mit hochgezogener Augenbraue betrachtete.

„Würdest du mir freundlicherweise erklären, was die Zeichnung eines Waldes mit der Mathematik zu tun hat, Evelyn-Kathrina von Bergen?“, fragte sie mich mit hoher und lauter Stimme, bereit, mich vor der gesamten Klasse bloßzustellen. Ich errötete vor Scham und ließ den Kopf sinken.

„Nichts, Fräulein Niedermayer.“

„Aha!“ Sie blickte sich triumphierend in der Klasse um; es war totenstill. „Und warum malst du in meinem Unterricht? Zu wenig Natur? Oder langweilt dich die Mathematik so sehr, dass du dich mit anderen Aktivitäten beschäftigen musst?“

„Nein, Fräulein Niedermayer“, wisperte ich beschämt und sank immer mehr in mich zusammen. Alle starrten mich an, ich war den Tränen nahe. Ein kleines Häufchen Elend.

Mit energischen Handgriffen zerriss sie das Bild und warf es weg. Ohne mit der Wimper zu zucken. Damit war ich für den Rest der Stunde Luft.

Es war mir sehr unangenehm, so behandelt zu werden, da war die alte Schulklingel eine wahre Erlösung.

Ich packte meine Sachen hastig zusammen und stürmte hinaus, doch hielt mich jemand an meiner Tasche fest. Das konnte nur Gabriella sein; sie war die Einzige, die mir dauerhaft das Leben schwer machte.

„Haben wir wieder einmal nicht aufgepasst, Evelyn-Kathrina?“, säuselte sie mit ihrer viel zu hohen und zuckersüßen Stimme, dass mir übel wurde. Aber ich konnte nichts machen, sie war eines der angesehensten Mädchen dieser Schule: schön, reich und beliebt bei allen. Mit ihrer Art schleimte sie sich überall ein, sie war jedermanns Liebling. Besonders geschätzt vom Fräulein Niedermayer.

„Wenn das deine liebe Mami wüsste, nicht wahr? Dass du im Unterricht malst und nicht darauf achtest, was Fräulein Niedermayer uns beibringt … sie wäre enttäuscht.“

„Bitte, sag ihr nichts. Und lass mich los, ich möchte nicht zu spät kommen“, bat ich leise. Gabriella kannte ich bereits von klein auf, ihre Mutter war mit meiner befreundet und die größte Klatschbase, die es gab. Schon damals hieß es immer „Ja also, meine Gabriella, ja, die kann wirklich hervorragend Ballett tanzen! Und wie sieht es mit deiner Kleinen aus, Susi?“, worauf meine Mutter mich musterte, als sei ich ein unbegabter Klotz. Sie schämte sich für mich, das wurde mir mit der Zeit bewusst und darum setzte ich alles daran, sie stolz zu machen. Und das schaffte ich auch mit meinen Zensuren. Bis auf Sport, aber da war die herzallerliebste Gabriella ja ein Ass.

„Warum kommst du denn nicht zu spät? Deine Mami freut sich sicher noch mehr, wenn –“

„L-lass Lynn endlich los!“, kam ein zögerlicher Ruf von Katinka, meiner wohl einzigen und besten Freundin. Sie stand neben mir und Gabriella, war rot wie eine Tomate und zitterte wie Espenlaub.

Gabriella ließ mich zischend los und ging von dannen, während meine Freundin den Tränen nahe war. Sie war noch schüchterner als ich und traute sich kaum, einmal laut zu werden. “Mauerblümchen“ traf auf sie zu hundert Prozent zu, denn so klein und unscheinbar, wie sie, war keines der Mädchen. Viele übersahen Katinka auch, da man sie einfach nicht registrierte.

„Danke. Das war sehr mutig von dir“, lobte ich sie lächelnd, worauf sie zu strahlen begann, wie der Sonnenschein. Ihre Augen leuchteten regelrecht.

„Meinst du wirklich? Es war nicht zu laut und nicht böse?“

„Nein, es war sehr gut. Du machst Fortschritte.“ Ich nahm ihre Hand und zog sie in Richtung Geschichtsraum. Währenddessen plapperte Katinka lächelnd von ihren Kaninchen, die Nachwuchs hatten und meinte plötzlich: „Aber weißt du, Lynn … ich wäre gern so mutig wie du! Dann würde man mich nicht immer überrennen oder wenigstens einmal wahrnehmen!“

Ich errötete. Dass meine beste Freundin mir das sagte, obwohl sie wusste, dass ich im Grunde genauso schüchtern war wie sie, machte mich nicht gerade stolz. Natürlich wollte auch ich ein wenig mehr aus mir heraus kommen und nicht immer nur das kleine graue Mäuschen in der Ecke sein.

Aber wer sollte mir schon helfen? Ich konnte schließlich niemanden ansprechen, ohne zu stottern und vor Scham zu erröten. Mir war es peinlich, jemanden um einen Gefallen wie diesen zu bitten. Einen Gefallen, der eigentlich totaler Quatsch war.

„Das schaffst du schon“, ermunterte ich Katinka daraufhin und erntete ein weiteres Leuchten ihrer Augen.

Ja, sie wollte so sein, wie ich, aber wie wollte ich sein? Beliebt jedenfalls nicht. Etwas hübscher vielleicht und offener gegenüber Menschen. Oder etwas begabter, damit meine Mutter stolz auf mich sein konnte? Ich war mir nicht sicher, wie genau ich werden wollte, doch eines war klar: Auf jeden Fall nicht so, wie Gabriella und ihre Modepüppchen! Das konnte ich niemals sein! Da wäre mir Wiktoria Janowska hundertmal lieber!

 

Und genau das war der glorreich schlechte Einfall, der mich in der Mittagspause auf dem Schulhof zu der Bank trieb, auf der besagte Rebellin saß, ein Bein über das andere geschlagen, die Arme lässig an der Lehne abstützend. Sie blickte in den wolkenlosen Himmel und wirkte fast ein wenig friedlich, mit diesem zufriedenen Lächeln auf den Lippen. An sich war sie auch ein sehr hübsches Mädchen mit blutrot gefärbtem Haar, das sie auf ihrer rechten Seite länger trug, als auf der linken. Dort wuchs der Sidecut heraus, sie band einfach ein dunkelgrünes Tuch darüber. Ihr rechtes Auge war von ihrem perfekt sitzenden Pony verdeckt. Auch ihr Gesicht war markant, es hatte zwar weibliche Züge, aber die kamen nicht so zur Geltung, hingegen jedoch ihr wirklich großer Vorbau. Ihr Busen fiel fast aus dem Ausschnitt ihres schwarzen Tanktops. Und ihre weiblichen Proportionen waren ein Traum …

„Na, macht dich mein Anblick so scharf, Süße, dass du mich anstarren musst?“

„B-bitte was?“ Überrascht blickte ich in ihr Gesicht, sie grinste mich schelmisch an und ließ ihr Bein leicht schaukeln.

„Bin ich so heiß, um als Objekt deiner Aufmerksamkeit zu dienen?“, wiederholte sie und brachte mich damit wieder zum Erröten, worauf sie in schallendem Gelächter ausbrach.

Mir war die ganze Sache sehr peinlich, ich wollte am liebsten vor Scham im Erdboden versinken.

„I-Ich … ich wollte dich um etwas bitten“, begann ich und sie nickte mir zu, dass ich fortfahren sollte. „Es ist etwas, was mich betrifft und ich wollte es eigentlich an einem Ort klären, wo man uns nicht so beobachtet.“

Die Blicke der anderen Mädchen waren regelrecht zu spüren, da sie sich in meinen Rücken bohrten. Das war zu viel Aufmerksamkeit.

Wiktoria hob ihre Braue und seufzte augenrollend. „Na gut, ich bin ja kein Unmensch. Wo der Bunker ist, weißt du sicherlich, oder?“

„Der … Bunker?“

„Ja ja, der Bunker. Lebst du hinterm Berg, dass du die angesagteste Location der Stadt nicht kennst?“, fragte sie irritiert und schlug sich, auf mein Kopfschütteln hin, mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Herrgott nochmal, was sind hier nur für Weiber an der Schule? Du kennst doch sicherlich den Park in der Stadt, nicht wahr? Diese große Rasenfläche mit Bäumen, Wegen und Parkbänken? Wohin Menschen gehen, die einfach zu viel Langeweile haben oder einen Hund?“

„Ja …“

„Na also, ist doch schon die halbe Miete!“ Zufrieden lehnte sie sich wieder zurück. „Und genau da steht ein kleines Häuschen, das ist der Bunker. Da klopfst du an der Tür und sagst dem netten Herrn, der dir öffnet, dass du zu mir willst. Wieso und weshalb, ist egal, du kommst dann einfach zu mir und wir bereden die ganze Sache. Oder besser gesagt: dein Problem.“

Ich starrte sie noch etwa zehn Sekunden ungläubig an, dann gab sie mir mit ihrem Handschütteln zu verstehen, dass ich gehen sollte. Diese Begegnung hatte mich betäubt. Wiktoria schien eine recht nette Person zu sein – voraus gesetzt, sie hatte auch gute Laune.

Katinka wartete schon sehnsüchtig auf mich, als ich mich auf die Bank neben sie setzte und sie mir meine Schulbrote reichte.

„Wo warst du gerade? Ich habe mir Sorgen gemacht“, flüsterte sie betrübt und ich klopfte ihr beruhigend auf die Schulter.

„Ich hatte nur etwas Wichtiges zu besprechen.“

„Mit wem denn?“

„Mit Wiktoria Janowska!“, rief Gabriella und lachte ihr Püppchenlachen. Sie hatte anscheinend nur darauf gewartet, dass ich zu Katinka zurück kehrte, damit sie mir eins auswischen konnte.

„Du hast mit Wiktoria gesprochen?“, fragte sie nun mit großen Augen und Gabriella fiel mir ins Wort.

„Natürlich hat sie das! Sieht wohl so aus, als wenn die liebe Lynn nichts mehr mit dir zu tun haben will. Du bist ihr einfach nicht wild genug!“

„Lass Katinka in Ruhe und erzähl keine Lügen! Das stimmt doch gar nicht, was du erzählst! Ich mag Katinka so, wie sie ist! Und ich würde sie auch mögen, wenn sie wild wäre, aber sie ist nun mal nicht so!“, schrie ich Gabriella wütend an und blickte zu Katinka, die bitterlich weinte. „Hör nicht auf diese dumme Kuh, die hat doch gar keine Ahnung von Freundschaft.“

„Dumme Kuh? Dir fällt wirklich nichts Besseres ein als dumme Kuh?“, gackerte Gabriella und schritt lachend davon. Nun musste ich Katinka beruhigen. Sie ließ sich sehr leicht beeinflussen.

„Hör mal, das mit Wiktoria –“

„Ich will davon nichts hören, okay? Lass mich bitte einfach in Frieden“, schluchzte sie und ich seufzte traurig. Sie hatte sich also wieder einmal entschieden, Gabriella Glauben zu schenken und dagegen konnte ich nichts tun. Das war eben Katinka.

Regel Nummer 2: Erste Schritte sind kleine Schritte!

Ich war nie oft im Park gewesen, das war mir unangenehm. Lieber war ich daheim, las oder malte. Unter Menschen zu sein war nichts für mich. Aber da ich endlich etwas an meinem Charakter verändern wollte, musste ich über meinen Schatten springen.

Der Bunker war nicht zu übersehen. Er war, wie Wiktoria es gesagt hatte, ein Häuschen – obwohl das untertrieben war. Größer war dieses „Häuschen“ auf jeden Fall; ich fragte mich, wie man dort feiern konnte. Das hatte mir unser Hausmädchen erklärt.

Der Bunker war ein Ort, an dem morgens herumgehangen und abends getanzt und getrunken wurde, eine Art Jugendtreff und Diskothek.

Heruntergekommen war dieses Gebäude allemal, sicher würde ich mich dort drinnen nicht fühlen! Trotzdem, ich atmete einmal tief durch und dann ging es los!

Ich klopfte an der Tür und spürte, wie sich meine Brust zuschnürte, während ich darauf wartete, dass mir jemand öffnete.

„Was willst du denn hier?“, sprach mich jemand von der Seite an, ich schrie auf und brach in Tränen aus. Der Schreck fuhr mir durch Mark und Bein.

Der junge Mann mit hochgestylter Stachelfrisur, der mich so erschreckt hatte, verdrehte genervt die Augen.

„Mein Gott, beruhig dich, Prinzesschen! Was willst du überhaupt hier?“, maulte er mich an und ich wischte mir die Tränen weg.

„Ich … ich will …“

„Komm aufn Punkt!“

„Ich möchte … ich möchte zu Wiktoria …“, stammelte ich und der Typ riss die Tür auf, um meine Anwesenheit hinein zu brüllen. Es schien eine Antwort zu kommen, da er zur Seite trat und mich mit einer unwirschen Handbewegung aufforderte, einzutreten.

Dunkelheit empfing mich, es war fast vollkommen still, bis auf Geräusche, die von einer beleuchteten Treppe hinauf drangen. Männliches Lachen und das typische Poltern von Billard.

„Wik ist unten!“, erklärte der Typ mit der Stachelfrisur und ich schritt die Treppe hinab.

Mit einem Mal war es still. Etwa fünf junge Männer oder Jugendliche waren in diesem riesigen düsteren Raum, der mit ein paar gedämpften Lampen und Kerzen erhellt wurde.

„Hier hinten!“, rief es fröhlich aus einer Ecke, begleitet von einer winkenden Hand. Ich folgte ihr und erblickte Wiktoria, die in einem gewaltigen roten Kissenberg vor Spielkonsole und Fernseher saß.

„Hallöchen erstmal, setz dich. Willst du Kaugummi? Die liegen hier irgendwo herum – ah, gefunden!“ Sie hielt triumphierend die Packung in die Höhe und steckte sich selbst einen Kaugummi in den Mund. Ich lehnte dankend ab und ließ mich neben ihr nieder.

„Ich wollte dich um etwas bitten, aber es ist mir sehr peinlich …“, begann ich und sie schaute mich kurz an, während sie den Controller der Konsole in die Hand nahm, um weiter zu spielen.

„Um was geht es denn?“

„Es wäre mir sehr entgegenkommend, wenn du dich auf das Gespräch konzentrieren würdest und nicht auf das Spiel.“

„Ich hör dir zu, fang an.“

Dieses Mädchen war unverbesserlich; es ging um ein ernstes Thema und sie spielte lieber mit einem kleinen grüngekleideten Jungen, der Monster tötete. War sowas überhaupt erlaubt?

Es machte sowieso keinen Sinn sie vom Spielen abzuhalten, also redete ich drauf los. „Ich … weißt du … du bist so selbstbewusst und … ich will auch so sein.“

„Hey, kopiert wird aber nicht!“ Mahnend hob sie den Finger, doch ich schüttelte den Kopf.

„Nein, nein, das habe ich auch gar nicht vor! Ich möchte, dass du mir hilfst, nicht mehr so schüchtern zu sein.“

Wiktoria pausierte das Spiel und widmete ihre Aufmerksamkeit ihren schwarzlackierten Fingernägeln. Sie machte eine Blase mit ihrem Kaugummi, groß und rosa, und blickte mich dann an.

„Ich soll dir also helfen, Selbstbewusstsein aufzubauen?“, wiederholte sie und ich nickte.

„Ja, genau.“

„Hmm … lass mich überlegen.“ Sie schwieg kurz. „Kein Interesse.“

„Bitte?“ Ich starrte sie entsetzt an. Sie hatte kein Interesse?

Wiktoria machte erneut eine Blase und blickte mich schulterzuckend an. „Kein Interesse. Was soll man bei einem Mauerblümchen wie dir schon groß machen? Außerdem wäre der Aufwand viel zu hoch und heraus springt auch nichts für mich.“

Sie widmete sich wieder ihrem Spiel und ich war den Tränen nahe. Wie konnte man nur so kaltherzig sein? Ich wollte mich verändern, raus aus dieser Welt, in der ich lebte, unter Menschen, vielleicht auch mal einen netten Mann kennen lernen …

Aber Wiktoria war es einfach egal. Es ging ihr nur um materielle Dinge, sie wollte für ihre Hilfe bezahlt werden. Hieß es denn nicht, man solle ehrlich helfen und nichts dafür verlangen?

„Oh Gott, jetzt sag mir nicht, du heulst auch noch …“ Ihr Spiel war wieder nebensächlich geworden, man hörte, dass sie genervt war, weil ich weinte.

Sie verdrehte die Augen und drehte sich mir zu. Packte mich an den Schultern und rüttelte mich ordentlich durch, bis ich schrie, sie solle aufhören. Diese Gemeinheit wurde durch ein Lachen von den Männern kommentiert.

„Wik, sei vorsichtig mit dem Prinzesschen, sonst machst du sie noch kaputt!“

„Halt deine Klappe, ich nehme meine Weiber so hart, wie ich will!“, entgegnete sie laut und ließ mich los. Sie blickte mich an, verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. Ich war sicherlich ein unansehnliches Häufchen Elend, weinend und erschrocken dieser groben Geste. Die Kerle hatten es auch nicht besser gemacht.

„Ehrlich, du siehst absolut beschissen aus. Du heulst wegen jeder Kleinigkeit, man kann dich anspucken und du würdest den Mund halten … du bist wirklich ein richtiges Opfer.“ Ihre Einschätzung traf mich, ich schluchzte und sie verdrehte die Augen. Mit einem Seufzen nahm sie mich in den Arm und strich mir über den Rücken.

„Das kann man sich ja kaum ansehen, dieses Elend. Ich glaube, ich werde dir helfen müssen, damit aus dir mal ‘ne anständige Lady wird und du nicht weiterhin so ein verweichlichtes Stück Etwas bleibst“, gab sie nach und wuschelte mir durch mein Haar.

Ich drückte sie dankbar an mich und schluchzte erneut, diesmal vor Freude. Von ihr kam ein überraschter Laut, sie hatte anscheinend nicht damit gerechnet, doch nach anfänglichem Zögern wurde auch ihre Umarmung fester.

Noch nie hatte ich eine solche Art der Zuneigung erhalten, selten eine so liebevolle Geste. Wiktoria war die Erste; nicht einmal meine Eltern hatten es auf die Reihe bekommen.

Es war totenstill, bis auf die Billardspieler, die lärmten, da zuckte Wiktoria vorsichtig, dann etwas grober.

„Würdest du freundlicherweise loslassen?“, murmelte sie gereizt in mein Ohr, verwirrt löste ich meine Arme von ihr und sie drehte sich weg. War sie etwa rot geworden?

Eine Entschuldigung war alles, was ich stammeln konnte, diese Situation war mir nun doch etwas zu peinlich. Doch Wiktoria winkte ab, vermied es immer noch, mich anzuschauen.

„Geh am besten, wir können morgen über den weiteren Verlauf der Dinge reden. Und komm ja nicht in der Schule angeschissen, darauf stehe ich gar nicht, verstanden?“

Ich nickte. „Verstanden.“

„Gut, dann zisch ab und halt deine Klappe, okay?“ Sie fiel in ihren genervten Tonfall zurück und ich entschied, dass es besser war, sie nicht noch weiter zu verärgern. Man konnte bei ihr nie wissen, wann sie schlechte Laune hatte und wann nicht.

Hastig stand ich auf und machte mich auf den Weg zur Treppe, als Wiktoria noch rief: „Hey, Schwester!“

Ich drehte mich um und sie grinste mich frech an. Ihre Stimmungsschwankungen waren übel.

„Was denn?“, wollte ich wissen. Wenn es jetzt nichts Wichtiges war …

„Beginnen wir am Wochenende mit den Vorbereitungen! Halb drei im Center unter der großen Uhr, okay?“

Ich nickte nur und verließ den Bunker. Also stand unser erster Treffpunkt fest: im Einkaufszentrum vierzehn Uhr dreißig.

Regel Nummer 3: Eine Lady zu sein bedarf Stärke!

Katinka kam am nächsten Tag wieder an und entschuldigte sich für ihr Verhalten. Ich konnte ihr nicht böse sein, sie war einfach so, ließ sich leicht beeinflussen und reagierte kopflos. Auch, wenn es oft nervig war – Katinka war meine beste und einzige Freundin, ich hatte sie zu gern.

Als ich mit ihr draußen in der Hofpause auf der Bank saß, suchten meine Augen ihn nach Wiktoria ab. Sie geriet immer wieder aus meinem Blickfeld, da Katinka mich dauernd anstupste und fragte, ob ich zuhöre. So sah ich Wiktoria überall – mal am Haupteingang, auf dem Weg zu ihrer Bank, dann irgendwo anders. Und immer mit einem Trinkpäckchen Kakao in den Händen.

Für eine Rebellin wie sie war das ziemlich untypisch. Sie wirkte eher, als würde sie Kaffee schwarz und Bier aus der Flasche trinken oder einen Eimer Chickenwings schmatzend und verschmiert zum Frühstück verspeisen. Aber dass sie Kakao trank …

„Schaust du Wiktoria nach?“, riss mich Katinka aus meinen Gedanken und ich zuckte zusammen.

„Wieso fragst du?“

„Du hörst nicht zu, starrst dauernd weg und immer zu Wiktoria.“ Misstrauen klang in ihrer Stimme nach. „Du bist nicht zufällig in sie verliebt?“

Ich errötete und schüttelte energisch den Kopf. „Nein!“

„Du kannst es mir sagen, wenn du lesbisch bist, das ist meine Tante auch. Also, stehst du auf Wiktoria?“ Katinka blickte mich auffordernd an. Sie steigerte sich gerade in etwas hinein.

„Hör zu, da ist nichts. Ich habe nur einmal mit ihr geredet, du machst dir falsche Gedanken!“, erklärte ich und sie kicherte.

„Stimmt, als wenn du auf Mädchen stehen würdest! Aber gut, ich habe es verstanden.“

„Danke.“ Ich seufzte erleichtert und stand auf. „Dann lass uns gehen, es klingelt gleich.“

 

Dass ich mich am Wochenende mit Wiktoria traf, um mit ihr Sachen zu kaufen, brauchte Katinka nicht wissen. Sonst verhärtete sich noch ihr Verdacht noch und Wiktoria wollte so oder so nicht mit mir gesehen werden. Ich allerdings auch nicht mit ihr. Ihr war es peinlich, mit einem Mauerblümchen wie mir zusammen unterwegs zu sein und mir war ihre Anwesenheit unangenehm.

Ich wartete am vereinbarten Treffpunkt im Einkaufszentrum auf sie, starrte auf die Uhr über mir. Mir hätte klar sein sollen, dass sie zu spät kommen würde. Dabei brauchte sie sich doch kaum aufstylen. Glaubte ich zumindest.

Irgendwann erblickte ich Wiktoria, sie hob den Arm zum Gruß und blieb neben mir stehen. Sie war etwa einen halben Kopf größer als ich.

„Hier bin ich. Musstest du lange warten?“, fragte sie und ich deutete auf die Uhr über uns.

„Du bist eine halbe Stunde zu spät.“

„Ach, geht doch noch. Geld hast du dabei?“ Ihr Themenwechsel irritierte mich, ich nickte langsam, worauf sie mir auf die Schulter schlug und an mir vorbei ging.

Sie kannte sich besser aus als ich, weswegen ich ihr wortlos folgte. Wenn sie etwas fand, dann sicherlich das Schlimmste vom Schlimmen. Hätte mich nicht gewundert, wenn sie auf diese Lack- und Ledersachen gestanden hätte.

Wiktoria drehte sich nach einer Weile zu mir um und blieb stehen. Zwischen uns herrschte ein recht bemerkenswerter Abstand.

„Beweg dich, Schwester, wir haben nicht ewig Zeit und ich auch ein Leben außerhalb von dir“, maulte sie und zog mich grob am Arm in einen Klamottenladen.

Musik erschlug mich fast, alles war voller Sachen, Pullover, Blusen, Kleider, Hosen, Röcken … es war zu viel, als das man es alles aufzählen könnte.

„Such dir etwas aus, was dir gefällt, ich schaue solange nach Klamotten, die dir stehen.“ Mit diesen Worten verschwand Wiktoria zwischen den Kleiderständern und ich blieb verdattert zurück.

Sachen, die mir stehen?“, wiederholte ich und stämmte beleidigt die Hände in die Hüfte. Das war definitiv nicht nett, ich gab mir immer Mühe, etwas Passendes zu finden. Aber das konnte sie ja nicht wissen.

Also schritt ich an den Kleiderständern entlang, schaute hier und dort, fand ein paar hübsche Oberteile, war mir aber nicht sicher, ob Wiktoria nicht genau diesen Geschmack meinte. Dass meine Kleiderwahl unmöglich war.

Wie gern hätte ich jemanden gefragt, ob mir die Bluse mit den kleinen, rosa Blümchen stand, doch ich traute mich nicht. Das konnte ich nicht.

Langsam zweifelte ich auch daran, dass Wiktoria mir überhaupt helfen wollte und im Grunde nur nach einem Diener suchte, der alles für sie tat. Aber warum wollte sie dann Sachen für mich suchen?

Mit einem Mal warf sich etwas in meinen Rücken, Wiktorias unverwechselbarer Haarschopf tauchte an meiner rechten Schulter auf, über der linken hing ihr Arm. Ihre Wange rieb an meiner, der Geruch von süßem Kaugummi lag in der Luft. Mir gefiel diese Nähe seltsamerweise.

„Nicht einschlafen; auf zur Umkleide, Schwester!“, sagte sie grinsend und ließ mich los. „Ich habe eine Menge gefunden, sollte dir eigentlich gefallen.“

„Bist du dir da sicher?“ Skeptisch blickte ich die Sachen an, die sie auf ihrem rechten Arm stapelte. Die Hälfte davon war doch sicher für sie!

Seufzend folgte ich Wiktoria zu den Umkleidekabinen. Sie winkte mich in eine und zog den Vorhang hinter mir zu.

„Zieh dein Kleid aus und probier das hier mal an“, meinte sie und hielt mir ein weißes Top hin, das ich an einen Haken hängte.

„Würdest du vorher bitte – was machst du da?“ Schockiert hielt ich mir die Hände vor die Augen, als Wiktoria ihr Oberteil auszog und in BH vor mir stand. Von ihr kam nur ein belustigter Laut, dann kicherte sie.

„Bist du wirklich so ein kleines prüdes Prinzesschen?“, zog sie mich auf und piekste mir in die Wange. Ich traute mich kaum, sie anzuschauen; wie konnte sie nur?

„Bitte, zieh dir etwas über!“, bat ich sie, doch sie verschränkte die Arme vor der Brust.

„Zieh du dich erstmal aus.“

„Ich ziehe mich nicht vor dir aus; das ist mir unangenehm!“

„Je weniger du jetzt Theater machst, desto schneller sind wir hier fertig. Also, zieh dich aus, ich hab auch Titten.“ Um diese Aussage zu unterstreichen, griff sie an ihren Busen und ließ ihn auf und ab hüpfen. Das machte die ganze Sache auch nicht besser.

„Bitte, Wiktoria …“ Meine Stimme war nicht mehr als ein Flehen, ich hielt es nicht aus, mit ihr in einer Umkleide zu sein. Dass Wiktoria das natürlich anders sah, konnte ich mir denken. Nein, ich wusste es.

Sie verschränkte erneut die Arme vor der Brust und blickte ins Leere. Fast so, wie ein kleines bockiges Kind. Stand da, schwieg und starrte vor sich hin.

„Weißt du, Schwester, du hast mich gefragt, ob ich dir helfe, damit du nicht mehr so schüchtern bist. Aber du stehst hier und genierst dich, dein Kleid auszuziehen, obwohl ich genau wie du – wenn auch im größeren Ausmaß – Brüste habe. Und Klamotten trag ich auch noch!“, begann sie nach einer Weile, schaute mich trotzdem nicht an. „Du redest davon, selbstbewusster werden zu wollen, aber gibst dir keine Mühe. Ich verlange ja nicht, dass du ganz nackt vor mir stehst, du sollst doch nur dein Kleid ausziehen, um etwas anzuprobieren!“

„Aber ich –“

„Es reicht!“ Wiktoria schnaubte wütend und griff nach dem Saum meines Kleides, um es mir mit einem Ruck über den Kopf zu ziehen. Ein Schrei entfuhr meiner Kehle, ich bedeckte mich so gut es ging mit den Händen und Armen.

„Alles in Ordnung?“, fragte jemand vor der Kabine und Wiktoria steckte ihren Kopf durch den Vorhang.

„Ja, alles klar; also bitte Ruhe!“, fauchte sie und wandte sich wieder mir zu. „Und du probier endlich was an! Sonst vergesse ich mich heute!“

Das war kein gutes Zeichen, wenn sie schon so sauer war, darum wühlte ich in dem Berg von Sachen, die Wiktoria herausgesucht hatte, fand aber nichts, was mir auf den ersten Blick sonderlich gefiel.

„Nimm die Jeans dort und das Shirt. Da, mit den Streifen!“ Sie deutete darauf und ich schlüpfte hinein. Normalerweise trug ich keine Hosen, ich mochte Röcke und Kleider mehr, sie wirkten viel weiblicher und harmonischer. Aber die enge Jeans und das gestreifte Oberteil sahen wirklich gut aus.

„Nicht schlecht, Schwester“, meinte Wiktoria und pfiff erstaunt. Ihr gefiel es also auch.

„Findest du?“, hakte ich nach und sie nickte grinsend.

„Klar, sieht viel besser aus als der komische Fummel, den du sonst trägst. Weiblicher. Begehrenswerter.“

„Wirklich?“

„Nein, du siehst immer noch so scheiße aus wie vorher.“ Ihr ernster Ton wich einem Prusten, dann lachte sie und schlug sich auf die Knie. „Mein Gott, natürlich sieht es toll aus!“

Ich drehte mich vor dem Spiegel und strahlte. Sie hatte wirklich ein Händchen für solche Dinge. Es traf meinen Geschmack und stand mir.

„Nimmst du es?“, fragte sie und ich nickte begeistert.

„Ja, es ist wunderbar!“

„Super, damit wären wir einen Schritt weiter.“ Wiktoria deutete mit dem Kopf auf den Sachenberg. „Jetzt noch die anderen.“

Ich schüttelte den Kopf und zog mich um. Meine Wahl hatte ich getroffen, da brauchte ich nichts mehr. Und ich wollte so schnell wie möglich aus der Umkleidekabine.

Wiktoria streifte sich ihr Top über und wartete gnädigerweise draußen auf mich, um schließlich mit mir zur Kasse zu gehen. Dann verließen wir den Laden und Wiktoria zog mich grinsend weiter.

„Na, war es so schlimm?“, wollte sie wissen und steckte sich noch einen rosa Kaugummi in den Mund.

„Nein, es war okay, aber müssen wir noch mehr kaufen?“

„Schuhe. Du brauchst passende Schuhe für das Outfit.“ Sie blickte meine Ballerinas an und biss sich auf die Lippe. „Etwa … sagen wir … drei neue Paar Schuhe.“

„Bitte? Wozu drei?“ Perplex blieb ich stehen, wurde jedoch durch die Tatsache, dass Wiktoria mich mit sich zog, nach vorn gerissen und stolperte hinterher.

Sie war definitiv übergeschnappt und nutzte wahrscheinlich mein wohlhabendes Elternhaus aus, um sich selbst noch etwas zu kaufen – auf meine Kosten. Ich sollte vorsichtiger sein bei der Wahl meiner Bekannten.

Mit diesen Gedanken im Kopf stieß ich mit Wiktoria zusammen, die plötzlich stehen geblieben war und ein Schaufenster anstarrte. Plüschtiere. Nicht gerade billig, aber zum Dahinschmelzen süß.

„Können wir da rein gehen? Oh, bitte, ich muss sie mir anschauen!“ Mit glänzenden Augen schaute mich meine nette Begleitung an, sie wirkte gerade wie ein kleiner Flummi. Klebte an der Scheibe und blickte immer wieder zu mir, um mir zu verdeutlichen, dass sie dieses Plüschtier haben musste, was im Grunde jedes war.

Mit einem Seufzen schüttelte ich den Kopf und zog an ihrem Arm. „Wir können später nochmal vorbei, erst wollten wir Schuhe kaufen. Außerdem, reiß dich bitte zusammen, du bist kein kleines Kind!“

„Aber für Plüschtiere ist man nie zu alt! Hattest du keins, als du klein warst?“

„Das gehört hier definitiv nicht hin, Wiktoria! Ich bin siebzehn, keine drei“, meinte ich energisch, worauf von ihr nur ein Murmeln kam, das ich nicht verstand. Sollte sie meckern, wie sie wollte.

Im Schuhgeschäft war sie dann endgültig abwesend. Auf meine Fragen, welche Schuhe denn am besten seien, reagierte sie nicht, sondern schaute hier und dort. Als würde sie schmollen oder mit den Gedanken bei den Plüschtieren sein.

„Hey, Wiktoria!“, riss ich sie aus ihrer Träumerei, sie stellte erschrocken einen Schuh zurück und blickte mich an. „Wir gehen zu dem Laden, aber bitte such mit mir vorher das richtige Paar raus.“

Sie strich ihren Pony glatt, machte eine Blase mit ihrem Kaugummi und schaute auf den Haufen Schuhe, der vor mir stand. Ein gezielter Griff, dann reichte sie mir Pumps.

„Die hier. Wahrscheinlich bist du noch nie mit hohen Haken gelaufen, also beginnen wir etwas kleiner.“

„Das ist doch viel zu hoch, damit macht man sich die Füße kaputt!“

„Sag mir das in ein paar Jahren, Schwester“, wies sie ab und ich wagte einen Blick auf ihre Füße. Stiefeletten mit hohem Absatz. Und das bei sommerlichen Temperaturen!

Wiktoria schien das nicht zu stören, ob ihre Füße kaputt gingen oder schlecht rochen, wenn sie die Schuhe auszog.

„Na gut, ich nehme die Pumps. Aber ich trage sie sicher nicht in der Schule! Genauso wenig wie die Sachen!“, stellte ich meine Bedingung, worauf Wiktoria unschuldig die Hände hob.

„Ich hab nichts gesagt. Aber mal zu was anderem; wie heißt du eigentlich?“

Verblüfft schaute ich sie an und suchte nach Worten. Sie wusste meinen Name nicht?

„Ist das ein schlechter Scherz?“, wollte ich wissen, doch sie schüttelte den Kopf.

„Nein, ich weiß ehrlich nicht, wie du heißt. Oder hab ich dich jemals mit ‘Gertrud‘, ‘Susanne‘ oder ‘Sabine‘ angesprochen oder wie auch immer ihr Bonzenkinder heißt?“ Sie wirkte genervt und ich musste mir eingestehen, dass sie recht hatte. Das Einzige, was sie momentan immer zu mir gesagt hatte, war „Schwester“.

„Evelyn.“ Ich hielt ihr meine Hand hin und lächelte. „Aber bitte bleib einfach beim ‘Lynn‘.“

„Alles klar, Schwester, dann bleiben wir aber auch beim guten alten Wik. Diese Verniedlichungsscheiße kann ich nicht ab.“ Grinsend schlug sie ein. Fast wie eine Art Zeichen, dass wir nun Freundinnen waren. Dabei sollte sie mir nur helfen, selbstbewusster zu werden!

Wie ich versprochen hatte, nahm ich sie mit zum Plüschtierladen, nachdem wir die Pumps gekauft hatten. Dort erlebte ich eine Wiktoria, wie sie nicht in das Bild der einsamen Rebellin passen wollte.

„Schau mal, Lynn, dieser Teddybär! Und erst dieser Pinguin! Die sind so verdammt süß!“, rief sie durch den halben Laden und hielt besagte Tiere in die Höhe, nur um sie im nächsten Moment an sich zu drücken.

Ich sah seufzend zur Verkäuferin, die gequält lächelte. Gute Miene zum bösen Spiel.

„Wiktoria, du bist keine fünf mehr!“, ermahnte ich meine reizende Begleitung, doch sie zog einen Schmollmund.

„Aber diese Plüschis sind so süß!“

„Natürlich sind sie das, aber bist du nicht aus dem Alter raus?“

„Für Plüschtiere ist man nie zu alt!“, erwiderte sie beleidigt und griff sich das nächste unglückliche Opfer, diesmal einen Esel. „Der passt doch am besten zu dir, Fräulein Mauerblümchen!“

Wiktoria streckte mir die Zunge raus und verschwand hinter dem nächsten Regal. Über ihr Verhalten konnte ich nur den Kopf schütteln. Nicht nur, dass es wirklich peinlich war und sie mich da auch noch mit hinein zog, nein, ihr Niveau schien auch um Jahre zu sinken. Das war der Zeitpunkt, einen Schlussstrich zu ziehen.

„Ich mache das nicht mehr lange mit, du bist so kindisch und peinlich!“, sagte ich und sie steckte ihren Kopf hinter einem Regal hervor, grinste.

„Ach? Und du bist eine kleine Spießerin und Heulsuse, Fräulein Mauerblümchen!“

„Wiktoria, reiß dich zusammen, bitte. Mir ist das alles langsam unangenehm.“ Ich biss mir auf die Unterlippe und ging auf sie zu, um ihr energisch die Plüschtiere aus den Armen zu reißen. Es gab immer eine Grenze und die hatte sie überschritten.

„Jetzt reicht es wirklich! Such dir eins aus und dann gehen wir! Ich bezahl es dir auch, aber bitte reiß dich endlich zusammen und lass uns gehen!“, schimpfte ich und Wiktoria beugte sich zu mir hinab. Ihre Lippen berührten fast mein Ohr, ihr Atem bereitete mir Gänsehaut.

„Erst dann kriegst du die Klappe auf? Lynn, das ist fast schon süß, wie du versuchst, die Vernünftige zu spielen. Aber das ist mir egal. Geh doch, wenn ich dich störe oder warum wartest du auf mich, hm? Traust du dich nicht allein weg?“, hauchte sie mir zu und kicherte hämisch. „Oder willst du die wenige Zeit mit mir genießen?“

„Lass das, okay?“ Ich stieß sie von mir weg und stürmte aus dem Laden. Was erzählte sie da für Sachen? Sie war fast schon wie Katinka! Ich wollte nur ein normales Mädchen werden!

Mit Tränen in den Augen stand ich da wie bestellt und nicht abgeholt. Das war ein so mieses Gefühl, dass ich Wiktoria angemault hatte. Sie gab sich doch Mühe, mit mir klar zu kommen und mir zu helfen, also sollte ich ihr auch ein wenig Freiheit lassen.

„Du heulst doch nicht etwa?“ Wiktoria legte mir eine Hand auf die Schulter und ich nickte stumm, was sie seufzen ließ. „Reiß dich zusammen, eine Lady weint nicht, egal, wie schwer es sein mag. Eine Lady lächelt über alles hinweg, klaro? Also wisch die Tränen weg und schau mich an. Wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns!“

„Okay“, flüsterte ich und musste wirklich lächeln. Egal, wie hart sie manchmal war, sie hatte einen guten Kern und konnte verspielt sein. Und ein wenig schien sie sich mir geöffnet zu haben. Waren wir doch auf dem Weg, eine Freundschaft zu gründen? Sie, die Rebellin, und ich, das Mauerblümchen?

Regel Nummer 4: Frau muss sich trauen!

„Du kommst doch heute, nicht?“

Ich blickte erschrocken von meinem Buch auf. Wiktoria stand neben mir und kaute abwesend auf ihrem Kaugummi herum, machte ihre geliebten Blasen und schaute mich nicht an. Hingegen musste ich meinen Kopf in die Höhe recken, um halbwegs ihre Gesichtszüge zu erkennen.

„Schau wieder in dein Buch und tu so, als rede ich nicht mit dir“, wies sie mich an und ich blätterte hastig ein paar Seiten um.

„Wohin soll ich denn und was steht heute an?“

„Party im Bunker. Rein kann fast jeder.“

„Und was soll ich da?“

„Unter Leute vielleicht? Außer, das Fräulein Mauerblümchen traut sich mal wieder nicht und steht heulend in einer Ecke.“

Mir platzte fast der Kragen; musste sie auf den Geschehnissen im Kaufhaus rumhacken? Ich blickte sie an, sie mich und grinste frech.

„Ach ja, hab ich glatt vergessen. Danach redest du ja dann wieder zwei Wochen kein Wort mehr mit mir“, stichelte sie weiter und ich klappte geräuschvoll mein Buch zu.

„Weißt du, dass du manchmal ein richtig mieses Aas sein kannst?“

„Kann ich nicht nur – bin ich sogar.“ Kichernd strubbelte sie mir durch das Haar und schlenderte zurück zu ihrer Bank. Konversationen mit ihr führten nie auf ein sichtbares Niveau hinaus. Im Grunde war ich immer noch sauer auf sie wegen ihres Verhaltens im Einkaufscenter, auch, wenn das Ganze zwei Wochen zurück lag.

Ich wusste nicht, ob ich wirklich zum Bunker gehen sollte. Immerhin war ich noch nie auf eine Party gewesen und wie man feierte, wusste ich ebenfalls nicht. Natürlich würde mir Wiktoria schon helfen, aber ich konnte sie auch nicht immer um Rat fragen.

Katinka war meine Rettung, als sie sich endlich neben mich setzte, nachdem sie anscheinend noch ein ernstes Gespräch mit Fräulein Niedermayer geführt hatte. Wahrscheinlich war es dabei um mich gegangen.

„Sag mal, warst du schon mal auf einer Party?“, fragte ich so beiläufig, dass es mich verwunderte, als sie stumm nickte. Das hätte ich nicht von ihr erwartet.

„Beim Geburtstag meiner Oma. Da haben wir auch gefeiert!“, strahlte sie mich an und ich hätte mir am liebsten das Buch immer und immer wieder gegen den Kopf gehauen. Trotzdem lächelte ich weiter.

„Weißt du, Katinka, eigentlich meinte ich eher so Partys wie im Bunker oder in einer Diskothek.“

„Ach so … nein, da war ich noch nicht. Das sind mir viel zu viele Menschen dort. Es ist laut und stickig und einfach nur gruselig!“ Sie schüttelte sich und ich seufzte. Wenn sie das sagte, musste es stimmen. Dann würde ich wohl nicht gehen, egal, was Wiktoria von mir verlangte.

 

Punkt neunzehn Uhr stand sie bei mir auf der Matte. Ich traute meinen Augen kaum, als ich nach dem Sturmklingeln öffnete und mir diese grinsende Plage gegenüberstand. Im ersten Moment schlug ich die Tür zu, um durch den Spion zu schauen, ob ich mich getäuscht hatte, aber es war wirklich Wiktoria, die vor meinem Haus stand.

Mir blieb nichts anderes übrig, als zu öffnen und sie herein zu lassen. Sie draußen stehen zu lassen hätte hundertprozentig in einer Dummheit ihrerseits geendet, darum sicherte ich mich vorher ab, damit sie eben nicht auf diese Gedanken kam.

Ich führte sie in mein Zimmer, wo sie einen erstaunten Pfiff von sich gab. „Nicht schlecht, Schwester. Hätte ich nicht erwartet, dass es doch so kindisch bei dir aussieht.“

„Setz dich hin und sag mir bitte, was du hier machst und woher du weißt, wo ich wohne“, meinte ich gereizt, worauf sich Wiktoria auf mein Bett warf und grinste.

„Ich bin dir gefolgt. Von der Schule bis nach Hause.“

„Stalkst du mich etwa?“

„Ich doch nicht! Wo denkst du hin?“ Ironie schwang in ihrer Stimme mit, sie steckte sich einen Kaugummi in den Mund und schaute mich unschuldig an. Langsam wurde sie doch etwas unheimlich, wenn sie mich schon verfolgte.

„Übrigens, die Party beginnt in zwei Stunden. Du solltest dich langsam fertig machen.“

„Ich will da nicht hin“, wies ich sie ab, worauf sie einen Schmollmund zog.

„Lynn, beweg dich, es wird dir gefallen. Zieh die Klamotten an, die wir gekauft haben, ich mach dich dann noch etwas hübscher. Hab extra nur für dich meinen Zauberkoffer dabei.“

Ablehnend schüttelte ich den Kopf. „Ich muss mich vorher noch duschen!“„Zieh dich um, wir vertuschen deinen Gestank mit Deo und Parfüm!“

„Wiktoria!“, fauchte ich sie an und schnaubte. So unhygienisch wollte ich nicht sein! Man duschte sich doch vorher, wenn man irgendwo hin ging. Anscheinend sie sich nicht.

Also ließ ich sie in meinem Zimmer warten, während ich ins Bad ging und mich frisch machte. Innerlich hoffte ich, dass sie nicht irgendwas anstellte, was mir später noch zum Verhängnis wurde.

Irgendwann rief sie nach mir, wie ein Kind nach seiner Mama, wenn es etwas von ihr wollte. Wiktoria war in diesem Falle das Kind und zwar ein sehr anstrengendes. Ich ahnte Schlimmes, als ich mein Zimmer leer vorfand, nachdem ich aus der Dusche kam, allerdings angezogen und frisch frisiert. Von meiner reizenden Bekannten keine Spur.

Das durfte nicht wahr sein. Ich hatte keine Lust, das gesamte Haus nach ihr abzusuchen, weshalb ich diesmal rief, allerdings mit überstrapazierten Nerven. Dieses Mädchen …

„Ach, bist du endlich fertig? Ich war nur eben eine Toilette suchen, aber keine gefunden, na ja …“ Mit diesen Worten kam sie mir nach einer Weile entgegen und öffnete ihre Tasche, die sie achtlos neben mein Bett geworfen hatte. „Setz du dich hin, am besten auf den Boden. Und mach die Augen zu. Ich schminke dich jetzt, nicht auffällig, sondern dezent. Du brauchst nicht viel Make-Up, du hast wenigstens natürliche Schönheit und die unterstreiche ich jetzt.“

Ich war mir nicht sicher, was sie vor hatte und was dezent bei ihr bedeutete, doch ich war auch etwas neugierig, was sie aus mir heraus kitzeln konnte. Schließlich trug ich nie Schminke.

Ihr Atem streifte mich, als sie zu mir robbte und sie seufzte. Es klapperte leise, als sie ihre Utensilien neben sich legte oder ausschüttete, dann fühlte ich etwas Feuchtes auf meiner Wange.

„Was ist das?“, fragte ich angewidert, doch Wiktoria beruhigte mich kichernd.

„Keine Sorge, das ist nur Creme. Eine meiner Lieblingscremes. Riecht gut, nicht?“

„Pfirsich?“

„Genau. Ich bin erstaunt, was du alles weißt.“ Sie verrieb die Creme in meinem Gesicht und wartete etwas, bevor sie begann, ein Auge von mir zu schminken. Aber etwas war komisch.

Ich griff nach ihrer Hand und öffnete die Augen. „Du bist Linkshänder?“

„Problem damit?“

„Nein, warum sollte ich?“

„Gut, dann mach die Augen zu und halt einfach den Mund.“ Sie klang verärgert, ich kam ihrer Bitte nach und schwieg. Ließ zu, dass sie mich vielleicht verunstaltete.

Es fühlte sich gar nicht so schlecht an, was sie da tat. Ich hätte mich dran gewöhnen können, von ihr geschminkt zu werden. Es verkörperte eine Art Nähe und war angenehm.

„Sag mal, Lynn“, begann Wiktoria nach einer Weile, „warst du jemals verliebt?“

„In der Grundschule in einen Jungen aus meiner Klasse. Er war keine Schönheit, aber so lieb und immer nett. Dann ist er weggezogen.“

„Erfahren hat er es nie?“

„Nein. Ich konnte es ihm unmöglich sagen. Alle hätten mich ausgelacht.“

„Meine erste große Liebe hat mich verprügelt, nachdem ich ihr meine Liebe gestanden hatte. Hat gemeint, ich sei das Widerwärtigste, was es auf dieser Welt gibt.“

„Bist du deswegen so abweisend Fremden gegenüber?“, fragte ich und es herrschte betretenes Schweigen, bis Wiktoria sagte, ich solle nun den Mund halten, sie wolle Lipgloss auftragen.

„So, fertig. Kannst die Augen aufmachen“, meinte sie nach einer gefühlten Ewigkeit und ich blickte mein Spiegelbild an.

„Bin … bin das wirklich ich?“

„Das ist Evelyn, wenn sie sich heraus putzt. Sieht doch gut aus, nicht?“ Wiktoria grinste mich zufrieden an und ich fiel ihr glücklich um den Hals, bedankte mich tausendmal. Natürlich war Schminke für mich ungewohnt, aber es sah wirklich toll aus!

„Wir sollten uns langsam mal auf den Weg machen, sonst kommen die VIPs zu spät“, meinte sie und drückte mich sanft von sich weg.

Ich tat ihr den Gefallen und brachte sie hinunter zur Tür, wo ich meine Pumps anzog und ihr zum Bunker folgte. Und schon auf dem Weg dorthin schmerzten meine Füße. Solch Schuhwerk war ich einfach nicht gewohnt. Wiktorias zügiges Lauftempo war somit eine wahre Tortur, doch ich biss die Zähne zusammen und blieb an ihr dran.

Vor dem Bunker wartete schon eine lange Schlange, doch Wiktoria zog mich zu einem Hintereingang und führte mich hinein.

„Da wären wir. Deine erste Party?“

„Ja.“

„Na dann bleib bei mir. Nicht, dass du mir noch verloren gehst.“ Sie zerrte mich regelrecht in eine Sitzecke, in der ich unauffällig meine Schuhe auszog und scharf einatmete. Das mussten riesige Blasen sein, wenn sie so brannten!

„Tut’s weh?“, fragte Wiktoria hämisch grinsend und ich stieß sie unsanft an. Das war nicht lustig, doch sie lachte und drückte mich kurz an sich.Langsam füllte sich der Raum, die Musik wurde angeschaltet. Laut. Man verstand sein eigenes Wort kaum. Ich brüllte Wiktoria halb an, dass ich gern etwas trinken würde, sie brüllte zurück, was ich denn wolle und brachte mich schließlich ein Wasser mit. Es hatte keinen Sinn, ein Gespräch zu führen, man schrie sich die Seele aus dem Leib für nichts.

„Willst du tanzen?“, fragte mich Wiktoria irgendwann, doch ich schüttelte den Kopf. Es waren mir zu viele Menschen im Raum, zu viele auf der Tanzfläche. Da wollte ich mich nicht noch mit rein quetschen. Allerdings verschwand meine liebe Bekannte in der Masse, ich suchte sie eine Weile, gab es jedoch auf, bis ich sie mit einem anderen Mädchen tanzen sah.

Ihre Körper berührten sich immer wieder, scheinbar unbeabsichtigt, aber ich wusste, dass es Taktik war. Sie flirteten miteinander und das so offensichtlich, dass mir fast schlecht wurde. Wiktoria ging mit diesem Mädchen auch weiter, stupste sie mit der Nase an und küsste sie schließlich; für mich der Gipfel. Warum tat sie das? Warum ausgerechnet so ein billiges Flittchen?

Ja, ich war eifersüchtig auf dieses Mädchen. Der Grund war mir nicht bekannt. Ich wollte nichts von Wiktoria und war nicht in sie verliebt. Aber ich wollte meine neugewonnene Bekanntschaft auch nicht einfach teilen. Es sollte nicht jeder wissen, wie Wiktoria sein konnte, wie lieb und chaotisch. Das war mein kleines Geheimnis.

Sie kam wieder, allein. Legte den Kopf schief und sah mich an.

„Alles okay mit dir?“, fragte sie laut in mein Ohr und ich schüttelte den Kopf, nahm sie bei der Hand und zog sie an einen ruhigeren, leeren Platz.

„Warum hast du das gemacht?“, fauchte ich sie an und sie blickte mich verständnislos an.„Was hab ich denn gemacht?“

„Du hast mit diesem Mädel –“

„Ach, darum geht es!“, unterbrach sie mich gereizt. „Du hast ein Problem damit, dass ich zufälligerweise auf Mädels stehe oder wie darf ich das verstehen?“

„Es geht darum, dass mich alle für dein Betthäschen halten werden, weil du dich nicht zurück halten kannst und im Mittelpunkt stehen willst! Willst du wirklich Aufmerksamkeit, nur weil du lesbisch bist?“

Empört schnappte Wiktoria nach Luft und ohrfeigte mich. „Hörst du dir mal zu? Du laberst einen Müll! Zwischen Freundschaft und Liebe ist ein himmelweiter Unterschied! Und nur wegen so einem Scheiß Aufmerksamkeit zu wollen – du hast sie echt nicht mehr alle, Lynn! Ich frage mich langsam echt, worauf ich mich da mit dir eingelassen habe, wenn du gleich so ausflippst!“

Ich war den Tränen nahe und starrte sie hasserfüllt an. Meine Wange brannte, meine Füße brannten, aber innerlich brannte es noch mehr. Sie hatte mich geschlagen.

„Ja, genau, heule! Du kannst ja sowieso nichts weiter! Heul doch, weil dich die böse, böse Lesbe gehauen hat!“, schrie sie mich an und stieß mich unsanft an der Schulter zurück. „Du hast es auch nicht anders verdient, dummes Bonzenpack! Verpiss dich doch, dann bist du mich los, wenn du so ein Problem hast!“

Ich schwieg und war froh, dass hier in der Ecke kaum einer war und die Musik soweit alles übertönte, aber ich noch alles verstand, was mein Gegenüber mir sagte. Sie war sehr wütend, ich war es auch, aber sie hatte mich falsch verstanden. Darum nahm ich meinen Mut zusammen und blickte sie sauer an.

„Ich hab eben kein Problem damit, aber ein wenig mehr Offenheit hätte es auch gebracht!“, sagte ich laut, was Wiktoria mit einem Schulterzucken kommentierte.

„Ja, ich bin lesbisch; Offenheit Ende. Bist du jetzt zufrieden?“

„Du verstehst es echt nicht.“ Kopfschüttelnd wandte ich mich ab, mir wurde das langsam zu viel. War es zu viel verlangt, dass sie mir sagte, was Sache war, mich vielleicht vorwarnte, wenn dies oder das geschah? Aber nein, daran dachte sie nicht. Es ging, mal wieder, nur um sie.

Wiktoria schaute mich verständnislos an und drehte sich beleidigt weg, bevor sie sich wieder unter die Masse mischte. Ich blieb stehen und spürte den Kloß in meinem Hals immer größer werden, aber ich durfte nicht weinen. Die Schminke würde verschmieren und ich aussehen, wie vom Strich abgehauen.

„Was macht denn ‘ne klasse Frau wie du allein hier auf so einer Party?“, kam es von der Seite, irgendein Typ quatschte mich an. Ich riss mich zusammen und blickte ihn an.

„Ich hab meine Freundin verloren. Sie muss hier irgendwo sein, nur … ich finde sie nicht …“

„Ach, komm mit mir mit. Ich wette, sie sucht dich auch. Ihr rennt wahrscheinlich aneinander vorbei und findet euch deshalb nicht. Also, wenn du an einem festen Ort bist, kommt die Sache von ganz allein.“ Er nahm mich zur Seite und lotste mich zu einem Tisch, an den er zwei Gläser brachte. „Hier, trink. Das hebt die Stimmung.“

„Was ist das?“, hakte ich misstrauisch nach, doch er prostete mir zu und leerte sein Glas in einem Zug. Ich nippte nur kurz daran und verzog das Gesicht. Alkohol …

Im ersten Moment wollte ich es ihm einfach zurück geben, dachte dann an Wiktoria mit ihrem „Fräulein Mauerblümchen“ und trank es aus.

„Nicht schlecht. Noch eins?“, fragte er, hielt aber schon die nächste Ladung bereit.

Was ich da genau trank, wusste ich nicht. Es brannte im Hals, es schmeckte scheußlich – aber es ließ mich für eine Weile Wiktoria vergessen.

Mein Gegenüber stellte sich als „Alex“ vor, er war nett und sah auch noch verdammt gut aus. Sogar Wiktoria würde er gefallen, mit seiner schicken Kurzhaarfrisur. Es war ein Wunder, dass er mich überhaupt bemerkt hatte.

Mit der Zeit, in der ich ein, zwei Gläser mehr trank, wurde ich benommener und klagte über Schwindel und Übelkeit. Alles drehte sich, mir ging es sehr schlecht. Alex half mir beim Aufstehen und stützte mich, als er mich an einen ruhigeren Ort brachte, wohin genau, wusste ich nicht. Ich wusste nur, ich war mit ihm allein, mit diesem schönen Jüngling … wäre es mir nicht so schlecht gegangen, hätte ich es genossen. Aber es war klar, dass wieder jemand stören musste.

Mit einem Mal baute sich Wiktoria vor uns auf, Hände in die Hüften gestämmt und mit einem sehr bösen Blick, der auf Alex gerichtet war.

„Du hast sie also, Penner! Ich suche mein Mädchen die ganze Zeit über und du mieser kleiner Drecksack machst dich an meine Freundin ran?“, grollte sie und ich schaute Alex an, der kreidebleich zusammen zuckte.

„Aber ich … ich hab doch gar nichts gemacht!“

„Natürlich nicht, warum liegt sie dann halb am Boden, hä?“ Sie packte ihn am Kragen und zog ihn auf ihre Augenhöhe. „Was hast du Pisser ihr gegeben, na wird’s bald? Vielleicht ein paar kleine Tröpfchen oder wie?“

„Es waren nur ein paar Gläser, nicht mehr! Ich schwöre!“, jaulte er und Wiktoria ließ ihn los. Dann wandte sie sich mir zu, schlug mir sanft gegen die Wange.

„Lynn, geht es dir gut? Kannst du aufstehen?“, fragte sie besorgt und ich umarmte sie. Das war, alles, was ich noch tun konnte. Sie hatte sich wirklich Sorgen um mich gemacht und mich gesucht. Ich war ihr doch etwas wert.

„Bring mich nach Hause, bitte“, flüsterte ich ihr zu und sie nickte, griff mir unter die Beine und hob mich hoch, damit sie mich tragen konnte. Ich weiß nicht, warum ich mich in ihren Armen geborgen fühlte, aber es hatte etwas. Etwas Magisches.

Regel Nummer 5: Es sind die kleinen Dinge des Lebens

Mir taten der Kopf und alle Glieder weh, als ich langsam wach wurde. Ich fühlte mich, als drehe sich die Welt, als lägen meine Organe schief und krumm in meinem Körper. Das war also die Macht des Alkohols.

Ich war froh, dass Wiktoria mich nach Hause gebracht hatte. Auch, wenn ich mich nicht mehr daran erinnern konnte, was genau danach geschehen war. Wahrscheinlich war ich eingeschlafen. Nur, wieso roch es hier so anders und warum war es so eng in meinem Bett?

Wiktoria, kochana, dzien dobry!“, rief es da und ich drehte mich erschrocken auf die andere Seite. Neben mir lag die friedlich schlafende Rebellin. Am liebsten hätte ich geschrien, doch über meine Lippen kam kein Laut.

Ich malte mir die schlimmsten Sachen aus, wer wusste, was sie mit mir gemacht hatte, während ich nicht bei vollem Bewusstsein war. Dass ich nicht mehr meine Sachen trug, sondern ein riesiges Zelt von Oberteil und nur meinen Slip, war schon peinlich genug. Wahrscheinlich hatte mich Wiktoria umgezogen und sich an meiner mickrigen Brust erfreut. Allein der Gedanke daran, dass sie mich unsittlich berührt haben könnte, bereitete mir eine Gänsehaut – vor Ekel.

Erneut wurde Wiktoria gerufen, wieder in dieser mir fremden Sprache. Klang wie Russisch oder irgendeine dieser slawischen Sprachen. Dann flog die Tür auf und eine recht korpulente Frau stapfte herein. Sie starrte auf das Bett, dann auf mich und wurde sehr rot im Gesicht. Sehr, sehr rot. Als würde sie platzen. Nein, explodieren.

Es folgte ein Brüller, dann stand sie auch schon vor uns und griff Wiktoria ins Haar, um ihren Kopf nach oben zu zerren, was die Gepeinigte aufwachen und schreien ließ.

„Verdammte Scheiße, was machst du da? Lass los!“

Es folgten wüste Beschimpfungen, die Frau keifte weiter und schüttelte Wiktoria grob, die ein wütendes Knurren von sich gab. Ich war überfordert mit dieser Sache, Gewalt schien an der Tagesordnung zu sein in diesem Haushalt, wie ich feststellen musste, als mich diese verrückte Tonne am Arm packte und aus dem Bett zerrte. Unsanft landete ich auf dem Boden und in diesem Moment geschah das, was ich mir nie getraut hatte, vorzustellen.

Wiktoria sprang mit einem Satz die Frau an, über mich rüber und klatschte ihr heftig eine. Es folgte eine zweite Ohrfeige, dann schrie sie ihr Gegenüber in der mir fremden Sprache an, deutete immer wieder auf mich und stieß die Frau anschließend mit einem Ruck aus dem Zimmer. Die Tür knallte ins Schloss, Wiktoria ließ sich daran hinab gleiten, heftig atmend, unfähig, einen Ton zu sagen. Ihr Körper zitterte, ihre Brust hob und senkte sich schnell, sie vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte auf.

Ich saß ratlos da und starrte sie an. Sie war es nun, die weinte. Die bitterlich eine Träne nach der anderen vergoss.

„Hey, Wik …“, flüsterte ich sanft und krabbelte zu ihr. „Du darfst nicht weinen.“

„Aber du hast den Freifahrtschein, was, Fräulein Mauerblümchen?“ Wiktoria schaute mit ihren tränennassen Augen auf, lächelte spöttisch. Selbst in dieser Situation blieb sie noch sarkastisch, taff, stark.

„Wer war diese Frau?“

„Meine Mutter. Eigentlich geht sie nicht so ab, sie ist total nett – allerdings nur solange, wie du die Gebote der Kirche einhältst und dich benimmst. Sie hat ein Problem mit … du weißt schon. Und darum glaubt sie, dass jedes Mädel, das ich anschleppe, meine feste Freundin ist.“ Ein Seufzen kam von ihr und sie schaute mich betreten an. „Vielleicht hätte ich dich vor ihr warnen sollen. Tut mir leid, dass sie dich angefasst hat.“

„Schon okay.“

„Weißt du, Lynn … ich mag dich echt. Du bist mir richtig ans Herz gewachsen in der letzten Zeit. Ich hatte nie wirklich so guten Kontakt zu einem Mädchen, abgesehen von meinen paar Beziehungen. Nein, sonst hatte ich immer Kontakt mit Jungs. Einen besten Freund, aber nie eine beste Freundin.“

„Bin ich denn für dich eine Freundin?“, fragte ich und sie grinste, strubbelte mir durch das Haar.

„Hallo, immerhin verbringe ich meine Zeit mittlerweile freiwillig mit dir! Klar bist du eine Freundin für mich. Vielleicht sogar die einzige.“ Sie schmunzelte und stand auf. „Willst du ‘nen Kaffee? Ich wollte eh noch mit meiner Mutter reden und da kommt die Küche mir gerade recht.“

Ich nickte nur und Wiktoria stand auf, verließ das Zimmer. Während sie also mit ihrer Mutter sprechen und einen Kaffee machen würde, konnte ich meine Sachen zusammen suchen und die letzten Geschehnisse Revue passieren lassen. Das Zimmer war nicht sehr groß, das Bett stand etwa drei Meter von der Tür entfernt, auf der einen Zimmerseite ein Regal, auf der anderen ein Schreibtisch mit einem Fotorahmen darauf.

Zwei junge Mädchen, eines mit rotblondem Haar und Sommersprossen, das andere war dunkelblond. Beide hatten ihre Haare zu zwei Zöpfen geflochten, beide trugen ein identisches Kleid. Sie lachten in die Kamera, ein schönes Bild. Waren das Wiktoria und eine Freundin? Oder ihre Schwester? Sie hatte nie erwähnt, dass sie eine Schwester hatte.

„Dein Kaffee – was schaust du dir da an?“, fragte mich Wiktoria sauer und ich deutete auf das Bild.

„Wer sind die Mädchen?“

„Das war noch in Polen. Geht dich nichts an.“ Sie drehte den Rahmen um und hielt mir eine von zwei Tassen hin. Ich bedankte mich und setzte mich zu ihr auf das Bett. Anscheinend ein dunkles Kapitel in ihrer Vergangenheit.

„Du kommst also aus Polen?“, hakte ich nach und sie nickte abwesend.

„Ja. Wir sind vor zwölf Jahren nach Deutschland gezogen, damit wir eine bessere Zukunft haben. Vorher lebten wir in so einem kleinen Bauerndorf, total abgeschottet von der Zivilisation. Dann haben meine Eltern den Entschluss gefasst, auszuwandern, damit ich auf eine gute Schule gehe und sie bessere Arbeit finden. Was daraus geworden ist, sieht man ja. Zwei fette, dumme Menschen, die daheim rum sitzen und der schönen Zeit in Polen nachtrauern. Deutsch können sie auch kaum, ich hasse das!“ Sie schlug sich mit der Faust auf den Oberschenkel und nahm einen kräftigen Schluck aus ihrer Tasse.

Ich konnte sie verstehen, da wollten ihre Eltern eine bessere Zukunft und taten nichts dafür. Außer, ihnen gefiel diese Art zu leben.

Wiktoria knallte ihre Tasse auf eines der Regalfächer und reichte mir meine Sachen, die sie aus einer Schublade unter dem Bett hervor holte.

„Bitte. Zieh dich an und geh heim. Dort kannst du duschen und dich fertig machen, das Badezimmer hier mute ich dir nicht zu. Außerdem … meine Mutter, weißt du …“

„Schon gut, ich hab verstanden. Darf ich das Oberteil erstmal behalten? Ich wasche es auch.“

„Tu dir keinen Zwang an, behalt es von mir aus ganz. Ich hab genug davon“, winkte sie ab und ich zog meine Hose an, als Wiktoria mich anstupste.

„Sag mal … diese Umgestaltung von dir, dass ich dir Selbstbewusstsein gebe und der ganze Spaß … hast du eine Deadline? Also, einen Termin, an dem ich es geschafft haben soll?“

Ich schaute sie verwundert an. „Da hab ich mir nie wirklich Gedanken darüber gemacht“, gab ich zu und sie lachte.

„Okay, dann wetten wir. Bis zum Ende des Schuljahres, ja?“

„Mal sehen, ob du das schaffst.“ Erneut ein Handschlag. Wir wetteten und versprachen viel zu viel.

 

Als ich das Tor zu unserem Grundstück öffnete, bekam ich einen Schreck – meine Eltern waren wieder da! Nicht, dass ich sie nicht mochte oder so, aber ich war die ganze Nacht weg geblieben und sie hatten nicht gewusst, wo ich war. Woher sollte ich auch wissen, dass sie kamen?

So leise es ging, schloss ich die Haustür auf und schlich hinein. Jedoch hätte ich mit dem äußerst guten Gehör meines Vaters rechnen sollen, der mit verschränkten Armen im Hauseingang auf mich wartete.

„Evelyn, schön, dich auch anzutreffen, nachdem wir die ganze Nacht über uns Sorgen um dich gemacht haben. Katinka wusste nicht, wo du warst, Gabriella auch nicht, niemand. Nicht einmal wir. Warum hast du keinen Zettel hinterlassen?“, begrüßte er mich streng und ich ließ den Kopf sinken. Es war zwecklos ihm zu erklären, dass ich nicht ahnen konnte, dass er und Mama wieder kamen. Seine Meinung dazu kannte ich bereits lange. Ich solle es trotzdem machen, man wisse ja nie.

Und dann kam das Highlight: meine Mutter. Sie warf sich mir um den Hals, kaum größer als ich und schluchzte.

„Gott sei Dank, es geht dir gut! Was machst du nur für Sachen?“

„Hör auf, das Mädchen zu verwöhnen. Sie hat eine Strafe verdient und nicht dein mitleidiges Gejammer!“

„Aber Liebling, wir waren doch alle mal jung. Sei nicht so hart zu ihr, es war das erste Mal!“ Mama klammerte sich an Papas Arm und schaute ihn unschuldig an, doch auch das ließ ihn kalt. Er zeigte selten Wärme, dafür meine Mutter umso mehr.

„Außerdem, was trägst du für Sachen, Evelyn? Warum bist du geschminkt und … Moment …“ Er schnupperte, beugte sich zu mir hinunter und drückte mein Kinn hoch. „Hauch mich an. Hast du etwa Alkohol getrunken?“

„Evelyn würde doch nie Alkohol trinken! Du steigerst dich da in etwas rein, Jonathan! Oder, Evelyn?“

Ich kaute auf meiner Unterlippe herum und sah betreten zu Boden. Dann gestand ich, dass ich auf einer Party gewesen war. Mit einer Freundin aus der Schule. Mama starrte mich entgeistert an, Papa ließ mich los und schnaubte.

„Ich glaube, du solltest auf dein Zimmer gehen, Kathrina. Sonst wirst du mich noch kennen lernen.“

„Hör auf deinen Vater, ja?“, fügte Mama hinzu und mir platzte der Kragen. Ich war siebzehn!

„Nein! Ich gehe nicht in mein Zimmer, behandelt mich nicht wie ein kleines Kind! Ich bin fast volljährig, versteht das doch! Darum will ich nicht mehr das süße brave Mädchen sein; ich will erwachsen werden!“

„Indem du auf Partys gehst, dich wie eine Prostituierte kleidest und Alkohol trinkst? Was kommt denn als Nächstes? Schleppst du dann einen dieser asozialen Jungen an, mit ihren Piercings und Tattoos und dieser grausigen Musik?“, fragte Mama leise und ich schüttelte den Kopf.

„Das Aussehen hat doch nichts mit dem Charakter zu tun! Das sind doch meist die nettesten Menschen! Ihr habt doch nur Vorurteile!“, schrie ich und von Papa kam ein wütendes Knurren.

„Es wäre das Beste für dich – und das rate ich dir auch – wenn du schleunigst in dein Zimmer gehst und dich ordentlich anziehst und wäschst. Ich verbiete dir, mit solchen Menschen Kontakt zu haben, ich werde dich in der nächsten Zeit immer von der Schule abholen und dich hin bringen, damit du nicht auf den Gedanken kommst, irgendwelche Dummheiten anzustellen! Mit dem Büro lässt sich alles regeln, aber nun geh mir aus den Augen, Kathrina!“

Ich hatte Papa noch nie so wütend erlebt, es war regelrecht angsteinflößend, darum flüchtete ich mich in mein Zimmer und warf mich auf das Bett. In mir stauten sich die Gefühle, ich war wütend, traurig, enttäuscht. Ich konnte es nicht beschreiben, ich dürfte Wiktoria nicht mehr sehen, Treffen wären unmöglich … ich war wieder gefangen in meiner Welt, die sich Oberschicht nannte.

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Kleine Anmerkung meinerseits: Falls das Polnisch oben falsch ist, könnt ihr mich gern auch berichtigen. Es ist schon eine Weile her, als ich es "gelernt" habe, darum bin ich für Ratschläge dankbar.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.06.2014

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