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Kapitel: 1

 


Sie erhöhen mir die Miete.

Mit diesem Satz begrüße ich meine beiden Schwestern, als sie sich endlich zu der von mir einberufenen Krisensitzung eingefunden haben. Die Krisensitzung findet in meiner Küche statt, wo ich Gläser und ein bisschen selbstgebrannten sowie handelsüblichen Schnaps bereitgestellt habe. Welchen davon ich in mich schütten werde, hängt davon ab, wie tief meine Stimmung aufgrund dieser furchtbaren Neuigkeiten noch sinken wird.

»Wie bitte?«, fragt Anja, die Älteste von uns dreien, und nimmt mir gegenüber am Esstisch Platz. Ihr blondes Haar hat sie hochgesteckt, an ihren Ohren baumeln funkelnde Kreolen.

»Ich habe euch doch erzählt, dass mein Vermieter vor ein paar Wochen dahingeschieden ist«, beginne ich und seufze sehr tief und lang. Seit Stunden mache ich scheinbar nichts anderes mehr, als meine Atemzüge in dieser aussagekräftigen Weise zu entlassen. »Nun, das Gebäude, in dem sich mein Café befindet, wurde von irgendeinem Immobilienhai aufgekauft, und da mein alter Vertrag in zwei Monaten ausläuft, habe ich heute einen Brief bekommen, in dem steht, dass meine Miete um dreißig Prozent erhöht wird. Ich habe keine Ahnung, wie ich dieses Geld auftreiben soll.«

»Hast du nicht immer gesagt, dass du bisher ziemlich günstig davongekommen bist?«, wendet Roni ein, unsere Dritte im Bunde und die Salami zwischen dem Sandwich, das Anja als älteste und ich als jüngste der drei Leimann-Schwestern bilden.

»Ja, bisher war die Miete recht niedrig, sodass ich gut ausgekommen bin und jeden Monat ein kleines bisschen Gewinn herausschlagen konnte, um mir auch mal etwas zu gönnen neben den ganzen Ausgaben. Aber wenn sie jetzt erhöht wird, dann muss ich mir schleunigst überlegen, wo ich die zusätzliche Kohle auftreiben soll. In letzter Zeit sind auch die Besucherzahlen leicht zurückgegangen, was nicht gerade förderlich fürs Geschäft ist. Erst recht nicht, wenn auch noch die Miete erhöht wird.«

Es ist immer schon mein Traum gewesen, selbstständig zu sein, und vor drei Jahren habe ich mir diesen Traum mit Hilfe meiner Familie, meiner Freunde und eines Kredits endlich ermöglichen können. Nach einer recht schwierigen Anlaufzeit, in der absolut nichts gelingen wollte, hat sich das Café SchLemma schließlich etablieren können und lief eine Zeit lang erstaunlich gut - bis die rückläufigen Besucherzahlen begonnen haben, mir etwas Kopfzerbrechen zu bereiten. Ich bin stolz auf meinen kleinen Laden und auf das, was meine Angestellten und ich bisher erreichen konnten. Aber ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll, wenn mein neuer Vermieter die Miete gleich so drastisch erhöht und ich meine Kundschaft nicht wieder aufstocken kann.

»Sie wollen mich raushaben«, lautet mein verzweifeltes Resümee. »Hier im Brief steht nämlich auch, dass sie meine Räumlichkeiten gerne übernehmen, wenn ich mit den Bedingungen nicht einverstanden bin.«

Anja nimmt mir den Brief, den ich die ganze Zeit in meinen unruhigen Fingern gehalten habe, aus den Händen und liest ihn durch. »Können sie das denn einfach so machen?«, fragt sie schließlich.

»Das Gebäude gehört ihnen, und mein alter Pachtvertrag läuft bald aus ... Ich bin mir sicher, dass sie das machen können«, bestätige ich leise und greife nach der Flasche Wodka hinter dem selbstgebrannten Schnaps. Die muss zuerst herhalten.

»So ein Mist!«, schimpft Roni, deren vollständiger Name Veronika lautet, nach unserer Großmutter benannt. Aber sie findet ihn furchtbar und köpft jeden, der sie so nennen sollte. Auch jetzt sieht sie so aus, als würde sie am liebsten einen unschönen Mord begehen. »Diese miesen Schweine.«

»Das kannst du laut sagen.« Ich nicke ihr zu.

»So ein Mist! Diese miesen Schweine!«, wiederholt sie lauter und hält mir ihr Glas hin, damit ich etwas von dem Wodka einschenken kann. Anja bedient sich lieber am Schnaps und verzieht sofort das Gesicht nach dem nächsten Schluck.

Die nächsten Minuten sitzen wir schweigend da, trinken den Alkohol in kleinen Schlucken und starren düster auf die Tischplatte. Die Ratlosigkeit, die neben dem Geruch des kräftigen Alkohols in der Luft schwebt, ist beinahe mit Händen zu greifen. Ich wünschte, ich könnte sie mit eben diesen einfach wegfedeln.

»Und wenn du Papa bittest, dir -«

»Auf gar keinen Fall!«, unterbreche ich Anjas Vorschlag, bevor sie ihn zu Ende vorbringen kann. »Ich werde unseren Vater nicht um Geld bitten. Das würde doch nur seine Meinung bestätigen, ich hätte mich mit dem Café übernommen. Und außerdem spreche ich seit drei Jahren kein Wort mehr mit ihm«, füge ich hinzu und leere den Rest aus meinem Glas in einem Zug. Das Teufelszeug brennt mir fast den Rachen weg.

Seit unser Vater unsere Mutter vor gut drei Jahren für eine jüngere Frau verlassen hat, nachdem Mama ihm fast dreißig Jahre treu zur Seite gestanden hatte, habe ich ihn komplett aus meinem Leben gestrichen. Ich konnte und kann ihm einfach nicht verzeihen, dass er seine Frau nach so langer Zeit einfach im Stich ließ. Und noch weniger kann ich ihm vergeben, wie viel Schmerz und Kummer er ihr mit seiner Sprunghaftigkeit verursacht hat. Die Nächte, in denen ich und eine meiner Schwestern bei unserer aufgelösten Mutter verbracht haben, kann ich gar nicht mehr zählen. Es waren unzählige, und eine schlimmer als die andere.

»War ja nur ein Vorschlag«, grummelt Anja. Sie und unser jüngerer Bruder sind die einzigen, die mit Klaus Leimann weiterhin im Kontakt stehen. Zwar gilt ihre Loyalität zum Großteil unserer Mutter, aber er ist immerhin ihr Vater und sie lieben ihn trotz seiner Fehler. Ich selbst liebe ihn natürlich auch noch, schließlich hat er mich dreiundzwanzig Jahre lang durchs Leben begleitet, auch wenn er die meiste Zeit nicht da war und gearbeitet hat. Doch mein Groll und meine Enttäuschung sind größer als die Zuneigung und die Familienbande. Dasselbe gilt für unsere Mutter und Roni, die ebenfalls kaum ein Wort mit ihm sprechen und ihn weitestgehend meiden.

»Und wenn du noch einmal mit den Leuten der Firma, die das Gebäude gekauft hat, sprichst?«, wendet Anja einen Augenblick später ein. »Vielleicht kommen sie dir noch ein wenig entgegen?«

»Das werde ich«, versichere ich ihr mit einem starrsinnigen Nicken. »Ich werde um meinen Laden kämpfen, das sage ich euch. Nichts und niemand wird mich dort vertreiben, selbst wenn ich zukünftig vierundzwanzig Stunden am Tag schuften muss, um die Miete aufzutreiben. Selbst wenn ich meine Seele an den Teufel verkaufen muss, es soll mir recht sein!«

»Wir finden schon eine Lösung, die dich nicht über deine Grenzen hinaus bringt.« Roni legt mir eine Hand auf den Unterarm und hält mir in der anderen erneut ihr leeres Glas hin.

Auch Anja legt einen Arm um meine Schultern und lächelt mir zuversichtlich zu. »Du hast es geschafft, dein Café aufzubauen und zum Florieren zu bringen, alles andere ist ein Klacks!«

 

 

***

 


Am nächsten Vormittag nehme ich den Brief der Investmentfirma Mynard INVEST zur Hand, um dort anzurufen und mich mit dem Chef verbinden zu lassen.

»Tut mir leid, aber Herr Mynard ist momentan in einer Besprechung«, werde ich von einer Sekretärin mit sehr nasaler Stimme informiert. »Soll ich ihm etwas ausrichten?«

»Ja, hier spricht Emma Leimann, die Inhaberin des Café SchLemma. Ich bitte um einen Rückruf, so schnell wie möglich, weil ich etwas äußerst Wichtiges mit Ihrem Chef besprechen muss.«

»Nun, Herr Mynard ist stets sehr beschäftigt ... Aber ich richte ihm Ihr Anliegen natürlich aus, und wenn er Zeit findet, wird er Sie zurückrufen.«

Ich umklammere den Hörer in meiner Hand ein wenig fester, sodass meine Knöchel weiß hervortreten. »Wenn er Zeit findet?«, wiederhole ich mühsam beherrscht und kann mir gerade noch ein entrüstetes Schnauben verkneifen. »Hier geht es um meine Existenz, verdammt nochmal! Er muss Zeit dafür finden!«

»Selbstverständlich, Frau ... äh … Leimann«, flötet sie unbeeindruckt von meinem dringlichen Tonfall. »Aber wie gesagt - Herr Mynard ist ein schwer beschäftigter Mann. Sie müssen sich gedulden.« Bevor ich noch etwas sagen kann, verabschiedet sie sich geschäftlich und legt auf.

Ungläubig starre ich auf mein Telefon und stampfe schließlich mit dem Fuß auf. »Blöder, geldgieriger Immobilienheini!«, schimpfe ich ausgiebig vor mich hin und stelle den Hörer zurück auf die Station. Dann nehme ich meine Tasche und verlasse meine kleine Wohnung, um zurück ins Café zu gehen, das sich nur zwei Straßen weiter befindet und in dem bereits der kleine Ansturm zur Mittagszeit losgeht.

Dort angekommen lasse ich meine ganze Wut und Enttäuschung an einem grade erst fertig gebackenen Kuchen aus, sodass die Küchenarbeitsplatte hinterher so aussieht, als hätte dort eine Schlacht stattgefunden. Ich fühle mich nur bedingt erleichtert und überlege, ob ich die Schweinerei jetzt essen oder lieber losheulen soll. Vielleicht kombiniere ich auch beide Optionen.

»Jesses, was ist denn hier passiert?« Daria, eine meiner zwei Angestellten, kommt durch die Schwingtüren und schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ist das eine deiner neuen Kreationen?« Sie deutet auf das Chaos auf der Platte.

»Aus der grenzenlosen Verzweiflung heraus entstanden«, murmele ich vor mich hin und atme tief durch, um mich wieder zusammenzureißen und meine gebeugten Schultern zu straffen. »Keine Sorge, ich räume das Schlachtfeld sofort wieder weg.«

»Brauchst du einen Muntermacher?«, erkundigt sich Daria lächelnd. »Einen Latte Macchiato mit extra viel Haselnusssirup?«

»Das wäre ein Traum«, entgegne ich mit einem Seufzen und schüttele gleich darauf den Kopf. »Aber du hast auch so schon genug zu tun. Geh und versorg unsere Gäste mit deinen charmanten Witzchen, ich beseitige das Chaos und mache mir den Kaffee selbst. In ein paar Minuten bin ich bei dir und gehe dir zur Hand.«

»Oho, Chefin, dieses Angebot werde ich kaum ablehnen können, was!« Sie wackelt anzüglich mit den Augenbrauen und verschwindet durch die Schwingtüren.

Daria steht auf Frauen und hat mir schon oft und nicht gerade subtil zu verstehen gegeben, dass sie mich gerne auf ihre Seite der lesbischen Macht ziehen würde, wenn ich sie nur machen ließe. Doch leider Gottes stehe ich auf Typen. Nun ja, besser gesagt: Männer. Richtige Männer, die mit beiden Beinen fest im Leben stehen und verlässlich sind. Männer, die einen nicht belügen und hintergehen. Doch solchen Exemplaren bin ich in letzter Zeit eher selten begegnet. Und des Weiteren fehlt mir auch die Zeit, um eine ernste Beziehung zu pflegen, was Dank der drohenden Mieterhöhung nun noch unwahrscheinlicher erscheint. Und damit sind wir wieder beim Punkt angekommen, der für das Chaos auf der Küchenplatte verantwortlich ist.

»Blöder, geldgieriger Immobilienhai!«, schimpfe ich erneut vor mich hin und mache mich daran, das Schlachtfeld aufzuräumen.

 


Am Nachmittag verziehe ich mich noch einmal in meine Wohnung, um die Nummer des schwer beschäftigten Herrn Mynard zu wählen. Ich lande erneut bei der näselnden Sekretärin, die entweder einen Schnupfen hat oder wirklich die nervigste Stimme, die ich je gehört habe. Ob er sie mit Absicht eingestellt hat, damit die Leute am Telefon ganz schnell wieder auflegen und ihn nicht mit ihren Problemen belästigen? Wäre zumindest ein kluger Schachzug.

»Hallo, hier ist erneut Frau Leimann. Ich muss dringend mit Herrn Mynard sprechen«, sage ich mit sehr viel Nachdruck in der Stimme.

»Ja, das müssen sie alle ...« Sie räuspert sich und nimmt ihren geschäftlichen Ton an. »Frau Leimann -«

»Nein, ich lasse mich nicht erneut von Ihnen abspeisen«, fahre ich ihr ins Wort und koche nur so vor Wut. Diese blöde Schnalle muss ja nicht um ihre Existenz fürchten! Sie sitzt in ihrem piekfeinen Dress hinter dem Schreibtisch und tippt auf ihrer Tastatur herum, während sie nebenbei lästige Anrufer wie mich abwimmelt. Ich dagegen stecke mächtig in Schwierigkeiten und bin verzweifelt. Deshalb vergesse ich meine gute Erziehung auch prompt. »Ich will jetzt sofort mit ihrem Chef sprechen! Und wenn Sie mich nicht verbinden, dann komme ich persönlich vorbei und campiere so lange vor seinem Büro, bis Sie mich zu ihm lassen oder mit einem Räumungskommando entfernen müssen. Haben Sie das verstanden?«

»Frau Leimann, bitte beruhigen Sie sich.«

Ich schwöre innerlich, dass ich gleich an die Decke gehen werde, wenn sie weiterhin mit mir spricht, als wäre ich geisteskrank. Gut, ich brülle rum und drohe ihr, aber es geht hier um mein Ein und Alles; mein Baby, wenn man es so sehen möchte. Und jede Mutter würde ihr Baby bis aufs Blut verteidigen!

»Ich schaue kurz, ob Herr Mynard Zeit für Sie hat. Bleiben Sie bitte dran.«

Erleichtert atme ich aus und tigere in meinem kleinen, aber sehr heimeligen Wohnzimmer auf und ab, wobei ich der grässlichen Musik in der Warteschleife lausche. Dann ist ein Klicken zu hören, und am anderen Ende erklingt die tiefe Stimme eines Mannes.

»Frau Leimann, wie kann ich Ihnen helfen?«

Ich bin so überrascht, weil ich tatsächlich endlich zu dem ach so schwer beschäftigten Chef der Firma durchgekommen bin, dass ich ein paar Mal nach Luft schnappen muss, bevor ich antworten kann. »Guten Tag, Herr Mynard. Es geht um das Café SchLemma in der Brennerstraße. Ich bin Emma Leimann, die Inhaberin.«

»Ja, richtig, unsere neueste Investition.«

Ich atme geräuschvoll aus und umklammere den Telefonhörer mit ganzer Kraft; muss mich an irgendetwas festhalten, um nicht durchzudrehen. »Gestern habe ich einen Brief von Ihnen erhalten, in dem unter anderem die Konditionen für einen neuen Pachtvertrag stehen. Es geht um die Mieterhöhung von dreißig Prozent.«

»Dreißig Prozent?« Er klingt überrascht, dann höre ich Blätter rascheln und ihn mit jemandem leise sprechen. »Frau Leimann, die Miethöhe, die wir Ihnen zukünftig anbieten können, ist vollkommen akzeptabel für die Größe Ihres Cafés und den Standort«, fährt er schließlich fort.

»Aber bisher habe ich -«

»Es tut mir leid, Sie unterbrechen zu müssen, aber ich habe noch wichtige Termine, die ich einhalten muss. Wenn Sie mit den Konditionen nicht einverstanden sind, dann kaufen wir Ihnen die Räumlichkeiten gerne ab.«

»Das könnte Ihnen so passen, Sie Geldgeier!« Erschrocken schnappe ich nach Luft, als ich die Worte, die schon die ganze Zeit durch meinen Kopf geistern, nicht mehr zurückhalten kann. Verdammt, mit dem zukünftigen Vermieter sollte ich es mir lieber nicht gleich beim ersten Gespräch verderben! Doch andererseits - er will mich schließlich aus meinem Laden vertreiben. Er ist das Böse, der Schuft, der meine Existenz gefährdet. Ich kämpfe bloß um das, was mir wichtig ist!

»Frau Leimann, wir können zu einem anderen Zeitpunkt weitersprechen«, sagt er nun, und ich bin erleichtert, dass er nicht einfach aufgelegt hat, nachdem ich ihn beleidigt habe. »Ich muss jetzt los.«

»Wann passt es Ihnen denn, Herr Mynard? Können Sie mich überhaupt noch in Ihren schwer beschäftigten Terminplan hineinquetschen?« Ich beiße mir auf die Unterlippe und ermahne mich selbst, es nicht zu übertreiben. Aber ich bin so wütend und verzweifelt und kurz vor einem Heulkrampf.

»In den richtigen Situationen kann Sarkasmus durchaus unterhaltsam sein«, bemerkt er auch schon im nächsten Augenblick und klingt jetzt nicht mehr ganz so gelassen, sondern leicht verstimmt. »Lassen Sie sich von meiner Assistentin einen Termin geben, und dann sehen wir weiter.« Er verabschiedet sich höflich und legt auf.

Ich knalle den Hörer zurück auf die Ladestation und stoße ein paar wilde Flüche aus, bevor ich tief durchatme und mich wieder beruhige. Meine böse Zunge und meine leicht impulsive Ader haben mich schon öfter in schwierige Situationen gebracht. Ich muss wirklich besser aufpassen, wie ich mit jemandem rede, der mich komplett in der Hand hat. Auf keinen Fall sollte ich unnötigen Ärger heraufbeschwören. Ich werde mir von seiner Assistentin einen Termin geben lassen und mir genauer anschauen, mit wem ich es da zu tun habe. Sobald ich ihn besser einschätzen kann, werde ich mir eine genaue Strategie überlegen. Doch eins steht von Vornherein fest: Mein Café gebe ich niemals her, koste es, was es wolle!

Fünf Minuten und ein weiteres Telefonat später ist meine Laune auf dem Tiefpunkt. Herr Mynard hat erst nächsten Monat einen Termin frei. Nächsten Monat! Mein Gott, so wichtig kann dieser Geschäftsheini doch nicht sein, oder? Und was geschieht bis dahin? Soll ich mir Tage und Nächte den Kopf darüber zerbrechen, wie zum Teufel ich die erhöhten Mietkosten aufbringen kann?

»Ich brauche dringend einen Plan«, murmele ich vor mich hin und mache mich auf den Weg zum Café. »Und zwar einen verdammt guten, und das auch so schnell wie möglich.«

Kapitel: 2

 


»Immer noch kein Licht am Ende des Tunnels?«

Anja betritt ein paar Tage später die kleine Küche meines Cafés und gesellt sich zu mir an die Arbeitsplatte, wo ich grade dabei bin, neue Schokotörtchen zu kreieren. Die Leidenschaft fürs Backen habe ich erst vor wenigen Monaten entdeckt und fröne sie seither so oft ich kann.

»Nein, nicht wirklich«, erwidere ich und verteile die süße und reichlich kalorienhaltige Glasur auf den runden Teigböden. »Der Termin beim Antichristen ist erst nächsten Monat, und wenn ich es nicht schaffe, eine niedrigere Miete herauszuhandeln, dann muss ich wohl zusätzlich abends meinen Körper verkaufen, um an mehr Geld zu kommen.«

Lächelnd streicht sie mir ein paar lose Strähnen meines blonden Haars hinter die Ohren und versteckt sie unter dem Haarnetz. »Vielleicht lässt der Antichrist ja mit sich reden. Immer positiv denken, weißt du doch.«

»Fällt mir momentan sehr schwer.«

Als das Törtchen fertig bestrichen ist, stopfe ich es mir beinahe im ganzen Stück in den Mund, damit der Schokoladengeschmack mir die abhanden gekommenen Glückshormone wieder herzaubert. Genießerisch schließe ich die Augen und seufze leise. Auf Schokolade ist eben immer Verlass.

»Ich könnte dich an etwas erinnern, das dich die Sorgen bezüglich des Cafés für eine Weile vergessen lässt«, setzt Anja an.

Überrascht schaue ich zu meiner großen Schwester und sehe das Funkeln in ihren haselnussbraunen Augen, die meinen so ähnlich sind. »Ach ja? An was denn?«

»An diesen Samstag zum Beispiel.«

»Was ist an diesem Samstag?«, hake ich zögernd nach. »Irgendein Geburtstag, den ich in dem ganzen Stress vergessen habe?«

»Kein Geburtstag, aber ein sehr denkwürdiges Ereignis.« Sie wartet noch einen Moment, um die Spannung zu steigern, und rückt schließlich mit der Sprache heraus: »Sandys Hochzeit.«

Sandys Hochzeit. Diese zwei Wörter reichen aus, um mir einen unangenehmen Schauer über den Rücken zu jagen. Sandy ist unsere Cousine, die früher immer zu unserem eingeschworenen Dreiergespann gehören wollte und furchtbar neidisch darauf war, dass wir ein so inniges Verhältnis zueinander hatten - und immer noch haben. Sie hat stets versucht, sich in den Mittelpunkt zu drängen, und bekam jedes Mal einen gehörigen Wutanfall, wenn es ihr nicht gelungen ist und die Leute sich eher nach den drei blonden Schwestern umgedreht hatten als nach einer schlecht gefärbten Ex-Brünetten. Nichts gegen braune Haare, ich selbst habe mir oft gewünscht, dunkle Haare zu haben, weil man als Blondine so schnell in irgendwelche Schubladen gesteckt wird, aber Sandy ist einfach ein eifersüchtiges Biest, für das man kaum nette Worte finden kann. Und obwohl wir stets so freundlich wie möglich zu ihr waren, weil wir nun mal verwandt sind und es auch nicht in unserem Naturell liegt, jemanden grundlos mies zu behandeln, hat sie sich nie auch nur ansatzweise dankbar oder loyal gezeigt und uns wo sie nur konnte schlecht dastehen lassen.

Eben dieses Biest hat es tatsächlich geschafft, einen armen Trottel an die Angel zu bekommen und sich einen Ring an den Finger stecken zu lassen. Und nun werden wir drei Leimann-Schwestern auf ihrer Hochzeit auftauchen und von ihr die Genugtuung ins Gesicht gedrückt bekommen, dass sie eine verheiratete Frau ist und wir scheinbar für immer ledig bleiben werden.

»Heute Abend ist die letzte Tanzstunde bei Clemens«, fährt Anja fort und holt mich aus den Gedanken. »Vergiss das bloß nicht, sonst reißt Tante Betty dir den Kopf ab.«

Tante Betty - oder auch Elisabeth, die Schreckliche - ist Sandys Mutter und hat jeden aus der Familie dazu verdonnert, am Standard-Tanzunterricht teilzunehmen, damit wir uns vor der Verwandtschaft des Bräutigams auf der Tanzfläche nicht blamieren.

»Ich habe noch so viel zu tun«, jammere ich und überlege, ob ich es riskieren soll, die Tanzstunde ausfallen zu lassen und mir den Zorn der Rachegöttin Betty aufzuhalsen. Ich entscheide mich dagegen, weil ich viel zu müde und ausgelaugt bin und kaum eine Chance hätte, mich zu wehren, wenn Tante Betty oder Sandy mich für mein Fehlen beim Unterricht in den Boden stampfen sollten. »Aber ich werde da sein. Ist ja eigentlich auch ganz lustig, Clemens in seinen engen Lederhosen beim Tanzen zuzuschauen.«


Und so befinden wir uns an diesem Abend zusammen mit einem Haufen anderer Leimanns in einer gemieteten Turnhalle und folgen Clemens' Anweisungen, während sein Lederhintern um uns herumtänzelt und sich hier und dort an einen Rücken drückt.

Mein Tanzpartner ist unser jüngerer Bruder. Leon ist extra den weiten Weg hierher gefahren, um sich das Ereignis auf gar keinen Fall entgehen zu lassen - oder sich vor Tante Bettys Zorn zu drücken, wie auch ich es tue. Er lebt eigentlich am anderen Ende der Stadt, in der Nähe unseres Vaters, in dessen Firma er sein studienbezogenes Praktikum absolviert. Leon fehlt mir sehr, weil ich ihn so selten sehe, denn wir beide haben schon von klein auf einen wahnsinnig guten Draht zueinander gehabt. Ich liebe meine Schwestern und könnte mich nicht besser mit ihnen verstehen, aber manchmal braucht man einfach die Meinung eines Mannes, und Leon scheut sich nie davor, geradeheraus zu sagen, was er denkt. Wir sind uns beide da ziemlich ähnlich, auch wenn er gründlicher überlegt, bevor er den Mund aufmacht, während ich viel zu oft mein Herz auf der Zunge trage.

»Du siehst ziemlich ausgewrungen aus, Em«, stellt Leon fest, als Clemens und Elisabeth, die Schreckliche, uns ein kleines Päuschen gönnen.

»Hört sich nicht nach einem Kompliment an«, erwidere ich lächelnd und nehme einen großen Schluck aus meiner Wasserflasche.

»Alles in Ordnung bei dir?«

Ich erzähle ihm von der Mieterhöhung und auch gleich von meinem wenig zufriedenstellenden Telefonat mit meinem aktuell auserkorenen Staatsfeind Nummer eins.

»Hört sich ganz danach an, als wäre dein Temperament ein wenig mit dir durchgegangen«, bemerkt Leon lächelnd, als ich meinen Monolog beendet habe.

»Ja. Scheiße. Das ist wohl keine allzu gute Basis für ein Verhandlungsgespräch in ein paar Wochen.«

»Du kannst immer noch hoffen, dass der Kerl kein impotentes Arschloch ist und sich von deinen äußeren Attributen besänftigen lässt.«

»Ich hatte eigentlich nicht vor, mich auf seinem Schoß zu räkeln und die Mieterhöhung mit irgendwelchen Naturalien zu bezahlen«, entgegne ich und verziehe das Gesicht bei diesem Gedanken. Ich stelle mir Herrn Mynard - dessen vollständiger Name übrigens Benjamin J. Mynard lautet, wie ich recherchiert habe - als einen knapp fünfzigjährigen, eiskalten Geschäftsmann mit Plauze vor, der solche kleinen Geschäftsleute wie mich zum Frühstück verspeist. Nein, bei der Vorstellung, auf seinen schwabbeligen Schenkeln zu sitzen und ihm Küsschen entgegen zu hauchen, geht mir keiner ab, sorry.

»Aber ein wenig Charme kann nie verkehrt sein«, wendet Leon ein und zupft an meinem Pferdeschwanz. »Zieh zumindest deine Krallen ein und lächele hin und wieder. Glaub mir, ein hübsches Frauenlächeln bewirkt wahre Wunder.«

»Mir gefällt die Vorstellung, den alten Sack zu bezirzen, überhaupt nicht.«

»Dann musst du dir überlegen, wie du die Miete in Zukunft aufbringen willst. Entweder das oder du fährst die Krallen ein und zeigst deine charmante, aber vor allem vernünftige Seite.«

»Ja, wenn es nur so einfach wäre ...«

Wir werden unterbrochen, als Clemens in die Hände klatscht und den Unterricht fortsetzt. Etwas Gutes hat Sandys Hochzeit und die dazugehörige Tanzfolter: Ich bin in dieser Zeit wenigstens so weit abgelenkt, dass ich mal nicht an die Mieterhöhung denken und mir den Kopf zerbrechen muss.



***


Am Donnerstag ziehen Anja, Roni und ich noch einmal los, um mir ein anständiges Kleid für die Hochzeitsfeier zu besorgen. Eigentlich wollte ich irgendeinen Fetzen aus meinem Kleiderschrank anziehen und mir gar keine großen Gedanken darüber machen, aber die beiden haben strikt darauf bestanden, dass wir alle superheiß aussehen, damit Sandy vor Neid ganz grün wird und einen hervorragenden Kontrast zu ihrem weißen Brautkleid bildet.

Und so befinden wir uns kurz darauf in einer schicken Boutique in der Innenstadt, und ich werde dazu gedrängt, unzählige Kleider, die die beiden mir bringen, durchzuprobieren. Nach einer knappen Stunde finde ich schließlich ein Kleid, das mir wirklich gut gefällt und auch von meinen Schwestern begeistert umjubelt wird. Es ist schlicht geschnitten, mit hautenger Taille, ebenfalls eng anliegendem miederähnlichen Oberteil und einem bauschigen Rock, der knapp über den Knien endet. Und weil es in einem wunderschönen Korallenrot ist, betont es auch noch meine leichte Sommerbräune.

»Dazu noch beige Schuhe sowie dezente Perlenohrstecker ... und es ist perfekt!«, sagt Roni und nickt ganz wild mit dem Kopf wie ein kaputter Wackeldackel.

»Ist es nicht ein wenig sehr superheiß?«, überlege ich laut und betrachte mich im Spiegel.

»Hast du etwa Anjas Kleid noch nicht gesehen?«, fragt Roni und grinst unsere große Schwester zufrieden an. »Wenn das nicht für einige Herzinfarkte bei den älteren Herren sorgt, dann weiß ich auch nicht. Dagegen gehen wir glatt als Nonnen durch.«

»Da sich eh jeder über uns das Maul zerreißen wird, möchte ich wenigstens für ordentlich Zündstoff sorgen.« Anja zuckt gleichgültig mit den Achseln und nickt mir durch den Spiegel zu. »Nimm es, Em. Du siehst unglaublich darin aus.«

Zehn Minuten später spazieren wir aus dem Laden; ich um ein Kleid reicher, die anderen begeistert von der Vorstellung einer vor Neid ganz grünen Sandy. Wir machen einen Abstecher in ein Schuhgeschäft, wo Roni mir ein Paar beiger Lack-Pumps aufschwatzt. Anschließend ruhen wir uns in einem kleinen Restaurant aus, essen etwas und gönnen uns eine Flasche Wein, aus der plötzlich zwei werden und wir ziemlich angeheitert.

»Sagt mal, habt ihr auf dieser Hochzeit irgendetwas mit mir vor?«, frage ich die beiden schließlich und merke, dass ich bereits ein wenig lalle. Also greife ich schnell zu meinem Wasserglas.

»Vielleicht.« Anja klimpert unschuldig mit den Wimpern.

»Darf ich auch erfahren, was?« Ich verenge die Augen und schaue zwischen den beiden Unschuldslämmern hin und her. »Soll ich Sandy den Bräutigam ausspannen und es mit ihm in einer Abstellkammer treiben, während ich die neuen Schuhe trage?«

Hinter uns ertönt ein Räuspern, als der Kellner eine neue Flasche Mineralwasser bringt. Anscheinend hat er meinen letzten Satz mitbekommen, denn er schaut mich plötzlich viel interessierter an als noch Minuten zuvor. Vorher galt sein Augenmerk hauptsächlich Roni in ihrem knappen Top und dem tiefen Ausschnitt, doch jetzt, wo er das Wort treiben aus meinem Mund vernommen hat, bin ich wohl die interessantere Schwester.

Sobald er wieder abgedüst ist, nachdem er auffällig oft gefragt hat, ob wir denn wirklich keinen weiteren Wunsch haben, beugt sich Roni grinsend zu mir vor. »Wir wollen, dass du nicht allein nach Hause gehst«, gesteht sie mir endlich den Grund für den ganzen Wirbel um mein Outfit. »Bist du da unten nicht schon längst eingerostet, so lange, wie du dich von jedem Kerl fern hältst, als hätten plötzlich alle Lepra?«

»So lange ist es nun auch noch nicht her«, brumme ich in mein Glas Wasser.

»Ist es«, stellt Anja klar. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass nach deinem Arschgesicht von einem Ex keiner mehr den Weg in dein Höschen gefunden hat.«

»Weil du diesen Weg hervorragend hinter einem Zaun aus Aggressionen und Kratzbürstigkeit versteckt hast«, fügt Roni hinzu und nickt mit altkluger Miene, als hätte sie eben irgendeine höchst poetische Weisheit von sich gegeben.

»Ich bin gestresst«, brumme ich weiter in mein Glas und schaue beide finster an. Sie haben sich eindeutig gegen mich und meinen Zaun aus Aggressionen und Kratzbürstigkeit verschworen. Wie gemein!

»Wohl eher untervögelt«, korrigiert Roni mich. »Ehrlich, Emmi, du musst ganz dringend wieder ausgehen und Spaß haben. Ich verstehe ja, dass das Café ein Fulltime-Job ist, aber du arbeitest dich noch zu Tode.«

»Dein Liebesleben hast du zumindest schon längst gekillt«, bestätigt Anja ihre Aussage.

»Ihr übertreibt.« Ich muss mein Glas Wasser nachfüllen, damit ich weiterhin daraus trinken und hineinbrummen kann.

»Findest du? Okay, wann hattest du denn das letzte Mal Sex?« Anjas stark geschminkten Augen schauen mich sehr eindringlich an.

»Das muss vor ... naja, vielleicht acht oder neun Monaten gewesen sein. Vielleicht ist es auch ein Jahr her«, rücke ich ganz leise mit der Sprache heraus und höre förmlich das Knacken, als ihre Kinnladen den Tisch berühren.

»Ach, du meine Güte! Emma, du könntest glatt wieder als Jungfrau durchgehen.« Roni schüttelt entsetzt den Kopf. Sie selbst pflegt einen sehr körperbewussten Lebensstil und hält sich mit Sex jung und ausgeglichen, wie sie stets behauptet. »Hast du uns nicht erst vor ein paar Wochen erzählt, dass du dich mit einem Mann getroffen hast?«

»Ja, aber beim Essen habe ich festgestellt, dass er ein engstirniger Vollidiot ist, der auf die Musik von Madonna steht, und habe ihn danach nicht mehr angerufen.« Das nächste Glas Wasser wird aufgefüllt, und meine Nase darin vergraben.

»Hängst du etwa immer noch an der Arschgeige?«, fragt Anja lauernd nach.

Die Arschgeige heißt eigentlich Eduard und ist der letzte Kerl, mit dem ich eine längere Beziehung geführt habe. Wir waren fast ein Jahr zusammen, als ich ihn eines Tages mitten in der Nacht angerufen habe und eine Frau an sein Handy gegangen ist. Später hat er mir gebeichtet, dass er sich von mir vernachlässigt gefühlt hat, weil ich nur noch im Café war und gearbeitet habe. Deswegen musste er seinen Kummer natürlich zwischen den Beinen einer anderen ertränken, schon klar. Daraufhin habe ich mich von ihm getrennt, tagelang geheult und den Entschluss gefasst, keine Zeit mehr für die Arschlöcher dieser Welt zu opfern. Bis heute schien mir das vollkommen legitim zu sein, aber scheinbar sehen es meine Schwestern ganz anders.

»Nein, ich hänge nicht an der Arschgeige«, beantworte ich Anjas Frage und betone jedes Wort, damit sie das auch wirklich begreift. »Ich bin bloß in letzter Zeit keinem Typen begegnet, dem ich sofort die Klamotten vom Leibe reißen wollte. Und wenn es nicht gleich knistert, dann knistert es nie.«

»Also, da muss ich widersprechen«, wirft Roni ein und hebt einen Finger, während sie an ihrem Weinglas nippt. »Ich habe euch doch mal von dem kleinkarierten Buchhalter erzählt, den ich bei der Geburtstagsfeier meiner Kollegin kennengelernt habe. Nun, da hat überhaupt nichts geknistert, aber irgendwann bin ich mit ihm im Bett gelandet und ... Mannomann, der Kerl hatte es vielleicht drauf! Ich konnte den ganzen nächsten Tag nicht sitzen.«

Ich halte mir die Ohren zu und schüttele den Kopf. »Bitte keine Details, Ron!«

»Sei nicht so zugeknöpft, Emma.« Lachend entfernt sie meine Hände von den Ohren. »Du musst wieder lockerer werden. Sex ist gut für Körper und Geist. Wir wissen doch alle, dass du vor ein paar Jahren noch genauso gedacht hast. Ich kann mich gut daran erinnern, wie deine ersten Freunde dir nach der Trennung monatelang hinterhergelaufen sind, weil sie dich unbedingt zurückhaben wollten. Und wenn man sie gefragt hätte, wieso sie dich nicht vergessen konnten, hätten sie sicher nicht deine Backstreet-Boys-Autogrammkarten aufgezählt.«

Ich verziehe das Gesicht. »Da war ich achtzehn, Ron. Achtzehn, experimentierfreudig, unabhängig und so ziemlich schamlos. Mittlerweile bin ich sechsundzwanzig, trage viel Verantwortung und kann es mir nicht leisten, einen Kerl von früh bis spät mit der Darbietung eines Pornostars bei Laune zu halten.«

»Es reicht auch die Hälfte des Tages oder ein nettes Wochenende, um Männer bei Laune zu halten«, meldet sich nach kurzer Sendepause auch Anja wieder zu Wort. Sie führt nun seit fast zwei Jahren so etwas wie eine Fernbeziehung mit einem Unternehmer, der in England lebt und immer wieder geschäftlich nach Deutschland kommt und es dann zusammen mit meiner großen Schwester in teuren Suiten krachen lässt. Anja ist glücklich damit, denn so behält sie ihre Freiheit, die ihr genauso wichtig ist wie uns anderen beiden, und bekommt an diesen Wochenenden jeden Wunsch von den Augen abgelesen, weil ihr Engländer völlig vernarrt in sie ist.

Ich gebe es auf, mich weiter zu verteidigen, und lehne mich resigniert zurück. »Und ihr glaubt also, meine Probleme lösen sich in Luft auf, wenn ich mich übermorgen gleich unter dem Brauttisch mit einem Typen vergnüge?«

»Nein, aber zumindest ist die Welt danach für ein paar Stunden rosarot, und du kannst Kraft tanken, um es mit jedem Antichristen aufzunehmen«, entgegnet Roni und grinst begeistert.

Sie denkt, sie hätte gewonnen, aber ich bin immer noch nicht überzeugt davon, dass ein Abenteuer mit einem Mann die Lösung aller Probleme ist. Viel eher bringen Männer bloß weitere Probleme mit sich. Doch gegen ein wenig Nähe und Vergnügen hätte ich nichts einzuwenden. Solange es unverbindlich bleibt.

Kapitel: 3

  


Der Samstag kommt viel zu schnell, und ich flitze am frühen Morgen noch einmal ins Café, um den Schlüssel an Else, eine robuste Dame in den Fünfzigern und meine zuverlässige rechte Hand, abzugeben.

»Viel Spaß, Liebes!«, wünscht sie mir und zwinkert mit einem Auge. »Amüsiere dich gut, du hast es dir verdient.«

»Ich werde es versuchen.«

Anschließend geht es zu Anja, die ein bisschen weiter weg wohnt und somit am nächsten dran zu der Kirche, in der Sandy ihrem Auserwählten das Jawort geben wird.

In Anjas hübscher Wohnung angekommen, gieße ich mir erst einmal einen Becher frisch gebrühten Kaffee ein und trinke ihn, während Roni meine langen und aalglatten Haare mit dem Lockenstab bearbeitet. Sie selbst hat ihre Mähne mit dicken Lockenwicklern gebändigt und muss sie nachher nur herausnehmen und das fertige Produkt mit einer Tonne Haarspray fixieren. Anja dagegen, die als einzige von Natur aus wunderschöne Wellen hat, hat ihr Haar zu einer einfachen Hochsteckfrisur zusammengebunden.

»Damit jeder mein Tattoo bewundern und darüber ablästern kann«, lautet ihre Begründung. Ihre linke Schulter wird nämlich von einem, wie ich finde sehr schön ausgearbeiteten, Totenkopf geziert. Eine Jugendsünde, hinter der sie bis heute steht. Wo sich meine Jugendsünde befindet, erwähne ich lieber nicht.

Nachdem Roni mit meiner Frisur fertig ist, helfen die beiden mir dabei, vorsichtig in mein Kleid zu schlüpfen, um das umwerfende Kunstwerk, das Roni da auf meinem Kopf zustande gebracht hat, nicht zu zerstören. Ich betrachte mich in dem mannshohen Spiegel in Anjas Schlafzimmer und mache große Augen.

»Ich sehe aus, als würde ich heute unbedingt flachgelegt werden wollen.« Meine Lippen verziehen sich zu einem breiten Grinsen, als ich zu meinen beiden Schwestern sehe, die sich, jetzt ebenfalls fertig angezogen, geschminkt und frisiert, zu mir stellen. »Mein Gott, Sandy wird uns noch mehr hassen als sonst!«

Roni verzieht ihre feuerrot geschminkten Lippen zu einem Kussmund und haucht ein Küsschen in Richtung Spiegel. »Aber wieso denn?«, fragt sie mit verführerischem Augenaufschlag. »Wir sind doch bloß drei naturblonde Sexbomben in kurzen Kleidern, mit langen, schlanken Beinen und verführerischen Kurven. Wer würde uns schon hassen?«

Kichernd begeben wir uns wieder in die Küche, machen noch einen Sekt auf und lästern ein bisschen, während wir die Flasche leeren. Eine Dreiviertelstunde später sitzen wir leicht beschwipst in einem Taxi und werden von einem Fahrer, der gar nicht weiß, wo er hingucken soll, und dabei ein paar kirschgrüne Ampeln überfährt, zur Kirche gefahren.

Anja bezahlt den Kerl und gibt ordentlich Trinkgeld, da wir heil am Zielort angekommen sind, und wendet sich anschließend an uns auf der Rückbank. »Bereit für alle Schandtaten?« Roni und ich strecken beide Daumen nach oben als Antwort. »Okay, dann lasst uns die Meute mal aufmischen!«

In einem Film würden wir jetzt höchstwahrscheinlich in Zeitlupe mit wehendem Haar und lasziven Blicken zu den wartenden Gästen marschieren, während im Hintergrund ein passender Song wie Justin Timberlakes >Sexy Back< läuft. In der Realität wehen Ronis und meine Haare zwar auch ein wenig in der leichten Sommerbrise, aber die lasziven Blicke sind zumindest von meiner Seite aus nicht vorhanden, und unser Schritttempo ist ebenfalls ganz normal, vor allem, weil ich mich höllisch darauf konzentrieren muss, auf den hohen Pumps nicht zu stolpern.

Vor der Kirche angekommen werden wir von allen Seiten begafft, als wären wir die lausenden rotärschigen Affen im Zoo. Erst nach ein paar Minuten löst sich unsere Mutter aus der Menge und kommt mit ausgebreiteten Armen auf uns zugestöckelt.

»Meine Süßen!«, begrüßt sie uns sehr erfreut und umarmt jede nacheinander innig. »Ihr seid so wunderschön.« Sie greift in ihr silberglänzendes Handtäschchen und holt ein Taschentuch heraus, um sich die Augenwinkel abzutupfen.

»Du siehst auch toll aus, Mama.« Anja legt Mutti einen Arm um die Schultern und wischt den Lippenstift, den Ronis rote Lippen auf ihrer faltigen Wange hinterlassen haben, vorsichtig weg.

»Ach, ich freue mich ja so sehr, dass Sandy heiratet. Sie ist so ein liebes Mädchen und hat endlich den Richtigen gefunden.«

Diese Aussage würden wir vielleicht nicht unterschreiben, aber wir nicken brav und bestätigen, dass wir uns ebenfalls für unsere Cousine freuen. Im Grunde stimmt es ja auch, denn obwohl wir Sandy nicht sehr mögen, wünschen wir ihr natürlich nichts Schlechtes. Vielleicht tut ihr die Ehe ja ganz gut und treibt ihr ein paar schlechte Eigenschaften ihres Charakters aus.

»Wo ist denn Leon?«, frage ich schließlich und schaue mich nach meinem Bruder um. Mein Blick gleitet über die vielen bekannten und unbekannten Gesichter und wird plötzlich von einem Paar sehr intensiver Augen eingefangen. Diese Augen, die wohl grau oder blau sein müssten, was ich aus der Entfernung von gut zehn Metern nicht genau erkennen kann, gehören zu einem Mann in einem maßgeschneiderten dunkelgrauen Anzug. Er lächelt mich an, und sein Blick wandert ungeniert über meinen gesamten Körper, bis er nach ausführlicher Betrachtung wieder bei meinen Augen ankommt. Er zeigt sehr deutlich, dass ihm gefällt, was er sieht. Und ich spüre plötzlich ein leichtes Flattern in der Magengegend.

»Emma?« Die Stimme meiner Mutter holt mich aus dem aufregenden Starrduell. Ich drehe mich zu ihr um und beende damit den Blickkontakt mit Mr. Unbekannt. »Euer Bruder kommt später zum Empfang, er schafft es leider nicht zur Trauung. Wirklich schade, es ist ja so romantisch.«

»Leon ist nicht grade der romantische Typ«, wende ich ein und schaue über meine Schulter, um mir den attraktiven Kerl, der mich gemustert hat, noch einmal anzusehen. Er spricht nun mit dem Mann, der neben ihm steht, sieht aber weiterhin in meine Richtung. Unsere Blicke treffen sich erneut, und ich atme zischend ein, weil ich ganz eindeutig ein Knistern in der Luft vernehme. Und wenn es nicht gleich knistert, dann knistert es nie, fallen mir meine Worte wieder ein. Verdammt, jetzt grade knistert es gewaltig!

»Na, wem schenkst du da deinen Schlafzimmerblick?«, flüstert Roni mir zu und lenkt damit meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie folgt meinem Blick und nickt anerkennend. »Heiß. Wenn, dann gehst du gleich aufs Ganze, was? Wir sind aber nicht mit dem verwandt, oder?«

»Keine Ahnung, aber hör auf, so auffällig zu geifern!«, erwidere ich leise.

»Du hast ihm mit deinen Blicken so einiges zu verstehen gegeben, aber ich geifere auffällig? Schon klar.«

»Ich habe ihm mit meinen Blicken gar nichts zu verstehen gegeben!«

»Nee, sicher nicht. Würde mich nicht wundern, wenn er dich in spätestens fünf Minuten anspricht oder dich gleich über die Schulter wirft und in bester Höhlenmensch-Manier mit dir abdüst.«

»Was tuschelt ihr beiden denn da so?« Unsere Mutter drängt sich in unser Sichtfeld und schüttelt ihren Zeigefinger tadelnd in der Luft. »Hört auf, zu lästern.«

»Wir lästern nicht«, stelle ich sofort klar.

»Wir schauen uns bloß an, was heute so im Sortiment vorhanden ist«, fügt Roni grinsend hinzu.

»Ist es eine Andeutung, dass du wieder allen Kerlen hier den Kopf verdrehen willst?« Mutti wirkt nicht sehr begeistert. Natürlich kennt sie die Sprunghaftigkeit ihrer mittleren Tochter und hofft wohl vergeblich, dass Roni endlich den Richtigen findet und aufhört, jede Woche einen neuen Kandidaten abzuschleppen.

»Nicht jedem«, erwidert diese nun geheimnisvoll und schaut mich wissend an. »Einer ist bereits für Emma reserviert.«

Die laute Stimme von Elisabeth, der Schrecklichen, ertönt und fordert die Gäste nun auf, sich in die Kirche zu begeben. Ich bin froh, dass ich damit um eine Ausrede herumkomme. Nur weil ich da ein bisschen Augenkontakt zu einem attraktiven Mann hergestellt habe, bedeutet das nicht gleich, dass ich mich später in seinen Laken wälzen werde, auch wenn mich der Gedanke daran doch ganz schön reizt. Immerhin soll ich ja laut meiner Schwestern heute nicht allein nach Hause gehen, und ich hätte nichts dagegen, von ihm begleitet zu werden. Vielleicht wäre ich dann wenigstens eine Nacht lang vom Grübeln abgelenkt.

In dem Gedränge des Verwandten-und-Freunde-Stroms, der sich durch die viel zu enge Tür ins Kircheninnere quetscht, falle ich ein wenig zurück und sehe die blonden Köpfe meiner Schwestern ein paar Meter vor mir aus der Menge herausragen. Hier und da spüre ich, wie mein Hinter betatscht wird, weil scheinbar einige Männer ihre Hände in dem Gedränge nicht unter Kontrolle behalten können. Als erneut jemand hinter mir meine Pobacke streift, wirbele ich herum und funkele die Person wütend an.

»Entschuldigen Sie.« Es ist mein Blickduell-Kontrahent, der direkt hinter mir steht und lächelt. Im nächsten Moment wird er von hinten angestoßen und prallt gegen mich, wobei er mich an den Oberarmen packt, damit ich nicht das Gleichgewicht verliere. »Man könnte meinen, da drin gäbe es etwas umsonst. Alles in Ordnung?«

Ich nicke und stelle fest, dass seine Berührungen mir einen Schauer über den Rücken jagen. Wow! Ich kann mich nicht erinnern, je so stark auf einen Mann reagiert zu haben. Zumindest nicht in den vergangenen fünf Jahren. Reaktionen auf Männer gab es durchaus - die ganze Palette von unglaublich scharf sein bis zum wahrhaftigen Graus. Aber knisternde Erotik und rieselnde Schauer waren bisher eher rar gesät.

»Geben Sie es ruhig zu«, sage ich schließlich und drehe mich nach vorne, um mich wieder in Richtung Tür zu bewegen. Über die Schulter schaue ich zu ihm und lächele. »Es tut Ihnen gar nicht leid.«

Er erwidert mein Lächeln und zeigt diesmal eine Reihe schöner Zähne. Seine Augen sind übrigens grau, wie ich jetzt feststelle. Ein warmes Grau, das in der Sonne funkelt. »Nein, überhaupt nicht, da haben Sie Recht«, sagt er geradeheraus. »Ich stelle mich gerne hinter Sie und beschütze Sie vor jeder weiteren Attacke gegen ihren hübschen Po.«

Obwohl ich normalerweise eher allergisch auf solche direkten Anmachen reagiere, finde ich es bei ihm nicht übel. Er wirkt nun mal nicht wie der Typ, der lange um den heißen Brei herumredet. Wieso soll er mir also nicht sagen, dass er meinen Po hübsch findet?

»Sie meinen, solange diese Attacken nicht von Ihrer Hand ausgeführt werden?« Gott, ist das lange her mit dem Flirten. Hoffentlich stelle ich mich nicht allzu blöd an.

In seinen Augen, deren dunkle und dichte Wimpern mich glatt neidisch machen, blitzt es vergnügt auf. »Es ist hier sehr eng«, sagt er schlicht.

»Ja, da bleibt der Körperkontakt wohl nicht aus.« Ich beiße mir auf die Unterlippe und senke den Blick, bevor ich mein Gesicht von ihm abwende.

»Ich nehme an, Sie kommen von der Seite der Braut?«, fragt er mich nur wenige Sekunden später.

»Richtig. Ich bin ihre Cousine. Und Sie?« Der Verkehr vor mir wird etwas stockender, und ich bleibe stehen, um mich erneut dem anziehenden Kerl hinter mir zuzuwenden.

»Ich bin ein Freund des Bräutigams. Be-«

»Emma? Emma Leimann, wo zum Teufel steckst du?«, ertönt die Stimme meiner Mutter und unterbricht ihn mitten im Satz.

»Mein Typ wird verlangt. Wir sehen uns dann drin.« Ich schenke ihm ein entschuldigendes Lächeln und bemerke, dass er mich auf merkwürdige Weise mustert. Wo eben noch großes Interesse zu sehen war, zeichnet sich jetzt Verwirrung ab. Ich wende mich zögernd ab und kämpfe mich durch die vielen Leute bis zu meiner Mutter und meinen beiden Schwestern durch, die bereits im Kircheninneren angekommen sind und auf mich warten.

»Kommt, wir wollen doch die guten Plätze abbekommen!« Mutti greift nach Anjas und meiner Hand und zieht uns recht unsanft durch den Mittelgang bis zu den Sitzbänken in zweiter Reihe. Sie rutscht bis zur Mitte durch, und wir drei ihr hinterher, sodass Anja direkt neben ihr sitzt, gefolgt von mir und Roni.

»Was hat er zu dir gesagt?«, fragt diese mich sogleich neugierig und beugt sich dicht zu mir vor.

»Was hat wer gesagt?«, entgegne ich verwirrt.

»Na, der Typ, auf den du ein Auge geworfen hast. Und der dich angesprochen hat, so wie ich es vorausgesagt habe«, fügt sie hinzu und grinst zufrieden. »Ich habe gesehen, dass ihr euch unterhalten habt.«

Diese alte Spannerin! Ich könnte sie noch ein wenig hinhalten und weiter vorgeben, keine Ahnung zu haben, was sie von mir möchte, doch dann würde Roni wahrscheinlich drastische Methoden anwenden, um es aus mir herauszupressen. »Er hat sich bloß hinter mich gestellt, damit mir keiner mehr an den Hintern grapschen kann.« An den hübschen Po, um es in seinen Worten zu sagen.

»Wie unglaublich aufopferungsvoll von ihm«, wendet Roni mit einem Hauch Sarkasmus ein. »Und sicher vollkommen uneigennützig.«

»Vielleicht sind die netten Männer ja doch noch nicht ausgestorben.«

»Nett ist langweilig«, entgegnet meine Schwester überzeugt und wird von unserer Mutter unterbrochen, die uns mal wieder ermahnt, mit dem Tuscheln aufzuhören.

Sobald alle Gäste Platz genommen haben, und Elisabeth, die Schreckliche, noch ein paar Mal hin und her geflitzt ist, beginnt die Zeremonie mit sehr viel Tamtam, Geheule und schmalzigen Ehegelübden. Ich bin vielleicht nicht der superromantische Typ, aber wenn ich jemals heiraten sollte, suche ich mir mein Gelübde sicher nicht aus einem schlechten Frauenroman aus, sondern verfasse etwas Persönliches, das meine Liebe zu dem Partner, den ich eheliche, widerspiegelt. Aber da mangelt es Sandy wohl an Kreativität - oder an der Liebe für eine andere Person als sich selbst.

Eine Ewigkeit später, in der Roni heimlich ihr Handy herausgeholt und im Internet die Scheidungsrate in Deutschland herausgesucht hat; in der Mama ununterbrochen in ihr Taschentuch schniefte und Elisabeth, die Schreckliche, wie ein Schlosshund heulte - nach dieser Ewigkeit dürfen Sandy und ihr Ehemann sich endlich die Zungen in den Hals schieben und ihre Ehe damit besiegeln.

»Ach, ist das romantisch!«, flötet Roni und wischt sich imaginäre Tränen aus den Augenwinkeln, während um uns herum das große Umarmen und Gratulieren losgeht.

Anja grinst sich einen ab, ermahnt Roni aber auch, nicht so laut zu sein, damit unsere Mutter nicht mitbekommt, dass wir das Spektakel hier ein wenig veräppeln. Stattdessen zwingt sie uns dazu, ihr nach vorne zu folgen und Sandy und ihrem Ehemann ebenfalls zu ihrem Glück zu gratulieren.

Wenn Blicke töten könnten. Als Sandy uns drei Leimann-Schwestern sieht, lächelt sie ihr scheinheiligstes aller scheinheiligen Lächeln und erdolcht uns hinterher mit heimlichen Blicken. Und als wir ihr zusammen mit unserer Mutter gratulieren, tätschelt sie unsere Schultern und sagt ganz großmütig: »Ihr werdet auch noch irgendwann den Richtigen finden, nicht wahr?«

»Oder auch mehrere«, murmelt Roni in ihren nicht vorhandenen Bart und nickt tapfer.

Danach sind wir entlassen und verlassen die Kirche, um uns zusammen mit den anderen Gästen zu dem Schlosshotel zu begeben, in dem die richtige Feier stattfinden soll. Und wo der Champagner in Strömen fließt und darauf wartet, von uns getrunken zu werden.

»Ganz eindeutig too much!«, bemerkt Roni, als wir uns in dem geschmückten Festsaal des Schlosshotels eingefunden haben. »Sandys Hochzeit gibt dem Wort überladen eine ganz neue Bedeutung.«

Ich stimme meiner Schwester mit einem stummen Nicken zu. Es ist wirklich zu viel. Zu viele Blumen in zu vielen Farben, zu viel Prunk und Glitzer, zu viele Kellner, die herumwuseln, und ganz sicher zu viel Prahlerei mit dem Geld, das Sandy scheinbar zusammen mit ihrem Mann geheiratet hat. Ihre Eltern sind nämlich nicht so vermögend, um sich all das hier leisten zu können. Die Hochzeit geht eindeutig auf Kosten des Bräutigams.

»Meine Süßen, ich weiß jetzt, wo unser Tisch ist.« Unsere Mutter kommt flötend von ihrer Erkundungstour zurück und winkt uns zu dem Tisch, an den Sandy oder Tante Betty uns gesetzt haben. An den Tisch, wo scheinbar jeder Verwandte über sechzig abgeladen wurde. Lauter Senioren mit Hörgeräten und Gebissen, die sie beim Essen einsetzen müssen. Und da soll einer noch behaupten, Sandy würde uns doch gar nicht hassen.

»Als Dank für die Plätze ganz hinten tanze ich nachher auf ihrem Tisch und zeige ihrem Ehemann meinen knappen, pinken Tanga«, flüstert Anja Roni und mir verschwörerisch zu, als wir Platz nehmen.

»Wenn ich betrunken genug bin, geselle ich mich zu dir«, sagt Roni daraufhin und grinst breit. »Und wie ihr beide wisst, trage ich unter diesem hautengen Fetzen keine Unterwäsche.«

Ich lege mir einen Zeigefinger auf die Lippen und gluckse leise. »Lass das bloß nicht Mutti hören.«

»Was darf ich nicht hören?«, fragte unsere Mutter sogleich und schaut uns neugierig an. »Was habt ihr denn schon wieder ausgeheckt?«

»Wir doch nicht, Mama.« Anja setzt sich neben sie und tätschelt ihren Arm. »Keine Sorge, wir halten uns so weit wie möglich zurück und stehlen Sandy am heutigen Tage ausnahmsweise nicht die Show.« Mit diesem sarkastisch angehauchten Kommentar spielt sie auf Sandys ständige Beschuldigungen an, wir würden sie absichtlich in den Hintergrund verbannen. Das hat sie zumindest früher immer im Nachhinein behauptet, wenn wir sie mit auf die Piste genommen hatten.

»Seid lieb, Mädchen, ja?« Unsere Mutter schaut uns flehend an.

»Wir machen dir keine Schande, keine Sorge«, sage ich sogleich.

»Ach, meine Lieben, das macht ihr doch nie.« Obwohl unsere Verwandten sehr gerne über uns herziehen und oft gemeine Dinge behaupten, sieht man in jedem Blick und hört in jedem Wort unserer Mutter den Stolz auf jede ihrer drei Töchter. Sie liebt uns abgöttisch und lässt nichts und niemanden auf ihre Kinder kommen.

»Ah, die schönsten Frauen im gesamten Raum sitzen also hier.« Hinter uns erklingt die Stimme eines Mannes, und wir jauchzen synchron auf, als Leon neben mir auftaucht. Er begrüßt zuerst unsere Mutter mit einer innigen Umarmung und anschließend uns der Reihe nach. »Ich sehe, Sandy hat ihren Hass auf euch noch nicht überwunden«, flüstert er mir dabei ins Ohr und deutet auf unsere Sitzplätze.

»Sie wird uns mit ihrem letzten Atemzug noch die Krätze an den Hals wünschen«, erwidere ich lächelnd und setze mich hin, als er meinen zugewiesenen Stuhl zurückzieht. Das gleiche wiederholt er bei Roni, Anja und unserer Mutter und nimmt anschließend links neben mir Platz.

Die ersten Servicekräfte erscheinen mit gefüllten Champagnerflöten, an denen wir uns reichlich bedienen. Sobald das Brautpaar sich mit sehr viel Tamtam ebenfalls im Festsaal eingefunden hat, richtet Tante Betty noch ein paar Worte an die Gäste, bedankt sich fürs Kommen und für die Geschenke, berichtet eine Ewigkeit darüber, wie stolz sie auf Sandy ist und wie glücklich, dass sie so einen wundervollen Schwiegersohn in der Familie begrüßen darf, und eröffnet endlich das Büffet.

Hat ja auch lange genug gedauert!

Während wir zusammen mit der fröhlichen Seniorenrunde futtern, erzählt Leon mir über sein Praktikum und erwähnt immer mal wieder unseren Vater, der nicht zur Feier erschienen ist, weil er geschäftlich verreisen musste, was ich jedoch gekonnt ignoriere. Stattdessen lenke ich kurze Zeit später auf ein anderes Thema ab und schwärme von den leckeren Kräutergarnelen, die ich in diesem Moment verspeise.

»Iss lieber nicht zu viele davon, sonst platzt noch dein Kleid auf«, zischt Roni mir von der rechten Seite zu. »Außerdem wirst du von einem gewissen Herren beobachtet, und der soll doch nicht denken, dass er später einen Fisch küssen muss.«

Ich ziehe meine Augenbrauen hoch und tupfe mir den Mund ab. »Von wem sprichst du?«

»Dein edler Ritter, der deinen Knackarsch beschützt hat. Schau nicht hin, aber er starrt sehr auffällig oft zu uns rüber.«

Ich verspüre erneut ein Flattern in meinem Bauch. »Wo sitzt er?«, frage ich leise und gebe mich möglichst gelassen.

»An dem Tisch direkt neben dem des Brautpaars. Hast du übrigens den Kerl neben ihm gesehen? Du lieber Scholli, was für ein Sahneschnittchen!«

»Schon wieder auf Männerjagd?«, mischt sich nun Leon in unsere Unterhaltung.

»Immer doch«, bestätigt Roni nickend.

Unauffällig schiele ich zu dem Tisch neben dem des Brautpaars und entdecke den attraktiven Kerl von vorhin dort. Er hat sein Jackett ausgezogen und trägt darunter eine hellgraue Weste über einem weißen Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hat. Und er schaut überhaupt nicht zu mir, sondern unterhält sich mit dem Mann neben ihm, den Roni als Sahneschnittchen bezeichnet hat.

»Du musst dich unbedingt irgendwo alleine hinstellen, damit er dich noch einmal anspricht«, wendet sich diese nun wieder an mich. »Sobald wir aufgegessen haben, gehen wir rüber zur Bar, und dann verziehe ich mich auf die Toilette.«

»Woher willst du wissen, dass er mich noch einmal ansprechen wird?«, zische ich zurück und schüttele den Kopf. »Hör auf, mich verkuppeln zu wollen, Ron. Konzentriere dich lieber darauf, dass du heute Abend nicht allein nach Hause gehst. Ich brauche es nicht ganz so dringend, ehrlich.«

Sie hebt spöttisch ihre Augenbrauen und gibt mir ohne Worte zu verstehen, dass ich das wohl selbst nicht glaube. Na schön, ich hätte wirklich nichts dagegen, mich nach ellenlanger Durststrecke mal wieder verwöhnen zu lassen. Und dann wahlweise von dem Kerl, der meinen hübschen Po vor jeglichen Attacken verteidigt hat. Aber wer garantiert mir bitte, dass das auch in seinem Interesse liegt? Nur weil wir vorhin geflirtet haben, bedeutet das nicht gleich, dass er mir den ganzen Tag hinterherlaufen wird, um mich später über die Schulter zu werfen und in Höhlenmensch-Manier abzuschleppen.

Ein weiterer Blick zu seinem Tisch, und diesmal wird er von seinen grauen Augen und einem sehr attraktiven Lächeln erwidert. Nun, vielleicht gibt es ja doch die Chance, dass er es tut. 

Kapitel: 4

 


Eine Weile später, nachdem das Büffet wie von wilden Heuschrecken abgegrast und die Champagner-Vorräte von durstigen Kehlen geleert wurden, tanzen Sandy und ihr reicher Bräutigam den Eröffnungstanz und geben anschließend die Tanzfläche für alle anderen frei.

Anja, Roni, Leon und ich haben uns mittlerweile an die Bar in der Nähe der Tanzfläche begeben und schauen unseren Verwandten dabei zu, wie sie die von Clemens einstudierten und von Elisabeth, der Schrecklichen, eingeprügelten Tanzschritte umsetzen.

»Oho, wen hat sich Mutti denn da aufgerissen?« Anja blickt begeistert in eine Richtung, und wir sehen unsere Mutter mit einem älteren, adretten Herren über das Parkett schweben.

»Zumindest keinen Leimann«, wende ich ein und nippe an dem Champagner in meiner Hand. Obwohl ich gut gegessen habe, steigt mir das Sprudelzeug bereits zu Kopf und kribbelt durch meine Venen.

»Darf ich um diesen Tanz bitten?«

Ich fahre herum, als neben mir eine mittlerweile bekannte tiefe Stimme ertönt, und blicke in die schönen Augen meines bisher namenlosen Po-Verteidigers.

Roni nimmt mir hastig die Champagnerflöte ab und schubst mich nicht grade subtil in seine Arme. Ich werfe ihr über die Schulter einen bösen Blick zu und folge ihm auf die Tanzfläche, wo er sogleich die Führung übernimmt, wofür ich ihm sehr dankbar bin, da plötzlich jeder hart erlernte Tanzschritt wie von Zauberhand aus meinem Gedächtnis gelöscht worden ist. Liegt wahrscheinlich am Champagner - oder an meinen mittanzenden Hormonen.

»Wieso sind Sie so nervös, Emma?«, fragt mein Tanzpartner dicht an meinem Ohr, was mir ein aufregendes Prickeln im Nacken verursacht. Anscheinend hat er meinen Namen mitbekommen, als meine Mutter vor der Kirche lautstark nach mir gerufen hat, und sich diesen gemerkt.

»Bin ich das? Liegt wahrscheinlich an dem Champagner. Alkohol macht mich immer ziemlich kribbelig«, entgegne ich und passe mich seinem präzisen und erregend dominanten Führungsstil an.

»Schade. Ich hatte gehofft, es würde an mir liegen.«

Da ist sie wieder, seine sympathisch direkte Art. Lächelnd hebe ich meine linke Augenbraue und schaue ihn an. »Wieso sollten Sie mich nervös machen? Wie wäre es damit, dass Sie mir erst einmal Ihren Namen verraten? Meinen wissen Sie ja bereits.«

Er zögert kurz und lächelt dann wieder. »Joe.«

»Joe?«, wiederhole ich überrascht. Der Name passt irgendwie nicht zu ihm. Das klingt eher nach einem älteren Mann mit Vollbart und einem Cowboyhut auf dem Kopf. »Einfach nur Joe?«

»Es ist eine Ableitung von Giuseppe, aber nicht ganz so extravagant. Mein Großvater stammt aus Italien, und ich bin nach ihm benannt. Da ich die ersten dreizehn Jahre meines Lebens in den Staaten verbracht habe, und niemand diesen Namen aussprechen konnte, wurde daraus Joseph oder kurz Joe«, fügt er hinzu.

»Sie sehen nicht aus, als wären Sie zu einem Teil Italiener«, sage ich auch prompt und blicke hoch an seiner großen Statur zu seinem Gesicht, gleite tiefer über die grauen Augen bis zu seinen vollen, sinnlichen Lippen, die sich zu einem Grinsen verziehen. Das sind Lippen, die Frauen küssen wollen. Nun, zumindest würde ich es gerne tun, wenn wir jetzt irgendwo allein wären.

»Wie sehen denn Ihrer Meinung nach Zum-Teil-Italiener aus?«, fragen die sinnlichen Lippen, und in Joes Stimme klingt Belustigung mit. Ganz plötzlich überkommt mich ein Gefühl des Wiedererkennens, aber das kann gar nicht sein. Ich habe Joe bis zum heutigen Tage noch nie gesehen, ansonsten würde ich mich ganz sicher daran erinnern. Diesen Mann vergisst man nicht eben mal so.

»Südländisch«, entfährt es mir. »Nicht so groß wie Sie. Und wenn die ganzen Klischees stimmen, ein wenig schleimig und machomäßig.«

»Ach!« Er zieht beide Augenbrauen hoch und versucht gar nicht erst zu verbergen, dass meine Beschreibung ihn amüsiert. »Und ich dachte immer, Frauen halten Italiener für romantische Verführer, die gut im Bett sind.«

»Das sind dann wohl Frauen aus Umfragen in gewissen Frauenzeitschriften.«

»Und Sie sind eine Frau, die sich an Klischees aus diesen Frauenzeitschriften bedient. Wie war das eben? - Ein wenig schleimig und machomäßig«, wiederholt er meine Worte.

Ich senke verlegen den Blick und ärgere mich sogleich darüber, dass er mich in Verlegenheit bringt. Schnell schaue ich wieder hoch in seine intensiven Augen und funkele ihn herausfordernd an. »Ich bin eine Frau, der es scheißegal ist, welche Wurzeln ein Mann hat, solange der Rest stimmt.«

»Und mit dem Rest beziehen Sie einen hervorragenden Charakter mit ein?«, fragt Joe nach, und ich werde das Gefühl nicht los, er würde mich ganz schön veräppeln.

Das kann ich auch. »Nein, damit beziehe ich eine hervorragende Ausstattung mit ein«, entgegne ich und hebe einen Mundwinkel an. »Wenn Sie verstehen, was ich meine.« Mal sehen, wie er mit meiner direkten Art umgehen kann.

»Durchaus.« In seinen Augen blitzt es auf, und die Hand, die auf meinem unteren Rücken ruht, presst mich ein wenig näher an seinen Körper heran, sodass ich zumindest halbwegs zu spüren bekomme, wie es um seine Ausstattung steht.

Herrje, wir befinden uns wohl gerade in einer Art Vorspiel. Ich fühle mich ziemlich stark zu ihm hingezogen, und ihm muss es ähnlich gehen, wenn ich seine Körpersprache und seine glühenden Blicke richtig deute.

»Was machen Sie beruflich, Emma?«, wechselt Joe plötzlich das Thema, und ich überlege, ob er das wohl tut, um die aufgeheizte Stimmung zwischen uns ein wenig abzukühlen, da wir uns in der Öffentlichkeit befinden.

»Ich bin Inhaberin eines Cafés.« Bilde ich es mir ein oder wird sein Griff um meine Hand ein wenig fester? Vielleicht hat er ja damit gerechnet, dass ich Pornosternchen raushaue, wenn ich mich schon so unverfroren an seine muskulöse Brust drücke, und ist jetzt enttäuscht.

»Das muss ein ziemlich zeitraubender Job sein.«

»Ja, vor allem dann, wenn ein geldgieriger Immobilienhai daherkommt und mich aus meinen Räumlichkeiten vertreiben will«, grummele ich vor mich hin, bevor ich diese verbitterte Feststellung zurückhalten kann. Meine Worte scheinen ihm zu missfallen, wenn ich den verkniffenen Zug um seinen Mund richtig deute.

»Sind Sie sicher, dass man Sie aus Ihren Räumlichkeiten vertreiben möchte?«, hakt er nach und klingt ein wenig verstimmt. Wahrscheinlich bereut er es bereits, mich nach meinem Beruf gefragt zu haben, und wäre lieber beim Thema Ausstattung geblieben.

»Wenn man bedenkt, dass man mir die Miete gleich um dreißig Prozent erhöht und nicht einmal eine Minute seiner kostbaren Zeit für mein Anliegen entbehren kann - Ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass da ein herzloses Arschloch in der Chefetage sitzt und solche Kleinunternehmer wie mich zum Frühstück verspeist.«

Toll, bis eben war meine Laune noch recht gut und ich konnte tatsächlich für ein paar Stunden meine ganzen Sorgen vergessen. Doch jetzt schweben über mir die Mieterhöhung und der drohende Existenzverlust, sodass meine Laune von dem ganzen Gewicht in den Keller gedrückt wird.

»Entschuldigen Sie mich, ich brauche etwas zu trinken.« Mit diesen Worten löse ich mich von meinem Tanzpartner und gehe zurück an die Bar, wo jetzt nur noch Roni sitzt und mir mit gerunzelter Stirn entgegensieht.

»Was ist denn passiert?«, fragt sie aufgebracht, als ich mich auf den Hocker neben sie setze. »Was hast du ihm denn bloß gesagt?«

»Hm? Wieso?«, erwidere ich verwirrt.

»Er hat so ausgesehen, als hättest du ihm mitgeteilt, du wärst vor deiner Operation vor ein paar Monaten noch ein Mann gewesen. Worüber habt ihr denn bloß gesprochen?«

Ich zucke mit den Achseln und schaue zurück zur Tanzfläche, aber Joe befindet sich nicht mehr dort. Dann drehe ich mich wieder nach vorne und bedeute dem Barkeeper, mir noch ein Glas Champagner zu geben.

»Emma, mach es doch nicht so spannend!«

Ich verdrehe genervt die Augen. »Zuerst habe ich ihm die Klischees über Italiener aufgezählt, anschließend habe ich ihm gestanden, dass es mir bei Männern auf die hervorragende Ausstattung ankommt, und zum Schluss haben wir über mein Café und den drohenden Verlust gesprochen. Das war's. Keine Ahnung, was du da hineininterpretiert hast.«

»Und du bist bei diesem Thema natürlich wieder an die Decke gegangen und hast ihn einfach stehen lassen«, führt Roni meine wenig detaillierte Erklärung aus. »Mensch, Emmi, jetzt gönn dir doch wenigstens für einen Tag eine kleine Pause vom ganzen Stress.«

»Das möchte ich ja, und das ist mir in den letzten drei Stunden auch gelungen, aber als Joe sich nach meinem Beruf erkundigt hat, ist alles wieder hochgekommen.« Ich leere die Champagnerflöte und verlange nach einer zweiten.

»Joe? Heißt er wirklich Joe?«, wundert sich Roni laut.

»Joe-seppe oder so. Italienische Wurzeln, ist aber in Amerika geboren und hat da gelebt«, füge ich erklärend hinzu. »Deshalb auch die Klischees. Ach, er ist übrigens recht gut ausgestattet, soweit ich es bisher feststellen konnte.«

Meine Schwester grinst sich einen ab. »Entweder hat der gute Joe dich etwas durcheinander gebracht oder du bist leicht betrunken«, stellt sie amüsiert fest.

»Wohl beides.«

»Und ist das gut?«

»Das weiß ich noch nicht. Aber was ich weiß, ist: Wir beide trinken jetzt noch etwas, amüsieren uns zusammen mit Anja, Leon und Mama, geben Sandy noch ein paar Gründe, uns zu hassen, und später beende ich, wenn alles glatt läuft und ich Joe noch nicht verschreckt habe, meine Sex-Durststrecke.«

Roni macht große Augen und nickt begeistert. »Das klingt nach einem verdammt guten Plan, Em. Ich bin dabei.«

»Sorry, aber ich stehe nicht so auf Dreier mit meiner Schwester.«

»Ach, halt die Klappe!« Sie boxt mir sanft gegen den Oberarm und zieht mich lachend auf die Tanzfläche, wo wir uns zu Leon und Anja gesellen.

Eine Stunde und viele Tänze mit betrunkenen Verwandten sowie männlichen Gästen von der Seite des Bräutigams später verziehe ich mich in die Damentoilette und werde erst einmal den reichlich getrunkenen Champagner wieder los. Als ich anschließend in den Vorraum trete, werde ich dort von zwei etwa siebzehnjährigen Mädels angegafft, die mir lautstark mitteilen, wie affenscharf ich und meine beiden Schwestern aussehen.

»Alle Typen hier stehen auf euch«, sagt das Mädchen mit dem abstrakt geschnittenen dunklen Bob, der auf einer Seite länger ist als auf der anderen. »Und alle Weiber hassen euch!«

»Na, das ist doch sehr beruhigend«, murmele ich lächelnd und wasche mir die Hände.

»Seid ihr echt blond?«, fragt jetzt das andere Mädchen und verengt ihre Augen, um auf meinen Haaransatz zu schielen.

»Alles echt«, bestätige ich und zupfe an meinem Ausschnitt, der sich zur Begeisterung aller männlichen Anwesenden beim Tanzen großzügig vergrößert hat.

»Ich wünschte, ich wäre auch blond ...« Die Kleine mit dem Bob-Schnitt seufzt wehmütig, und ihre ebenfalls brünette Freundin nickt ihr zustimmend zu.

»Ihr seid auch so sehr hübsch«, sage ich und ernte dafür zwei leicht übertriebene Umarmungen. Schnell wünsche ich den beiden noch viel Spaß beim Feiern und schlüpfe eilig aus der Tür, bevor es zu weiterem beängstigenden Körperkontakt kommt.

In dem schwach beleuchteten Flur atme ich erleichtert aus und blicke zur Seite. Direkt in die Augen eines viel zu attraktiven Kerls, der mit der linken Schulter an der Wand lehnt und scheinbar hier auf mich gewartet hat.

»Alle klar?«, fragt Joe und mustert mich eindringlich, wobei er sich von der Wand abstützt und einen Schritt auf mich zu macht.

Ich winke mit einer Hand ab und nicke. »Bloß ein wenig zu viel Champagner.«

»Bist du betrunken?« Dass er mich plötzlich duzt, schafft eine neue Ebene zwischen uns. Intimität.

»Nur leicht beschwipst. Und für alle Schandtaten bereit«, füge ich lächelnd hinzu und bleibe direkt vor ihm stehen, lege meinen Kopf in den Nacken, um zu ihm hochzusehen. »Also, Joe, was fangen wir jetzt damit an, hm?«

»Was schwebt dir vor, Emma?«, erwidert er und gleitet mit seinem Blick über mein Gesicht, liebkost jeden Zentimeter, wie mir scheint. Das gefällt mir, macht mich an. Und der Alkoholanteil in meinem Blut verleiht mir zusätzlichen Mut.

»Wenn ich dich betrachte, ein paar unanständige Dinge, die ich hier nicht laut aussprechen werde. Hältst du mich für ein leichtes Mädchen, weil ich so denke?«

»Nein, ganz und gar nicht. Bist du denn ein leichtes Mädchen?«, gibt er meine Frage zurück.

»Nein, bloß untervögelt.« Ups, das war wohl etwas zu direkt. Ich möchte nicht verzweifelt wirken und ihn auch nicht verschrecken. Er scheint mir nicht der Typ zu sein, der auf allzu offenherzige Frauen steht. Ich schätze ihn als Jäger ein, der erobern möchte. Ich sollte ihm ein wenig mehr Spielraum lassen, damit er sich herausgefordert fühlt, auch wenn ich das Hin und Her gerne weglassen würde, weil ich dafür keine Zeit habe.

Bevor Joe etwas zu meiner Aussage äußern kann, halte ich meinen Zeigefinger an die Lippen und bringe ihn damit zum Schweigen. »Du hast das überhört, klar?«

»Was überhört?« Er tut, als wüsste er nicht, was ich meine.

Ich erwidere sein Lächeln und schaue über die Schulter, als die Tür der Damentoilette geöffnet wird und die beiden Mädels herauskommen. Sie kichern und mustern uns neugierig, als sie an uns vorbeigehen.

»Du und deine Schwestern seid ja eine richtige Attraktion hier«, stellt Joe fest, sobald sie um die Ecke gebogen sind. »Und das ist euch sicher bewusst.«

»Wir sind es gewohnt, in Schubladen gesteckt zu werden. Es ist witzig, an welchen Klischees sich die Leute bedienen, wenn sie uns sehen. Blondinenwitze sind da noch harmlos.«

»Aber da steht ihr doch locker drüber.«

»Klar. Entweder mag man uns oder nicht. Und wer uns unterschätzt, der verbrennt sich halt die Finger.«

In seinen Augen flackert es kurz auf, dann lächelt er und streckt eine Hand aus, um mir eine lockige Haarsträhne hinters Ohr zu streichen. »Ich würde dich gerne näher kennenlernen, Emma. Und ich möchte, dass auch du mich richtig kennenlernst.«

Ich verspüre ein aufregendes Kribbeln im Bauch. Sein Blick ist so intensiv, dass sich meine Zehen leicht krümmen und ich mich schwer beherrschen muss, um mich weiterhin völlig cool und gelassen zu geben. Der Kerl, seine Ausstrahlung und seine selbstbewusste Art hauen mich ganz schön um. Jedoch fürchte ich, dass wir beide nicht dasselbe wollen. Er scheint wirklich darauf aus zu sein, Emma, den Menschen, zu ergründen, ich dagegen suche bloß nach einem Abenteuer, das mich für ein paar Stunden alle Sorgen vergessen lässt. Keine tieferen Gefühle, nur ein wenig Spaß. Für alles andere fehlt mir einfach die Zeit. Auch wenn der Mann vor mir mich schwer in Versuchung führt.

»Joe«, setze ich an und beiße mir auf die Unterlippe. »Ähm ... wollen wir etwas trinken?« Vielleicht ist es keine gute Idee, noch mehr Alkohol in mich hineinzuschütten, aber ich möchte ein wenig Abstand zwischen uns schaffen und ihm schonend verklickern, dass mein Interesse bloß in einer einzigen Nacht liegt.

»Gerne.« Er lässt mir den Vortritt und folgt mir zurück in den Festsaal.

Ich sehe natürlich die Blicke, die auf uns ruhen, und auch Ronis hochgereckte Daumen, während sie von einem viel zu eifrigen Trauzeugen über die Tanzfläche gewirbelt wird. Ich wette, hinter meinem Rücken wird bereits eifrig darüber gelästert, dass ich mich so offensichtlich an einen der attraktivsten Kerle hier im Raum ranschmeiße.

Joe und ich setzen uns an die Bar und bestellen etwas zu trinken. Sein Arm streift immer wieder meinen und beschert mir eine Gänsehaut. Ich fliege total auf diesen Kerl und ich hoffe, dass wir uns später an diesem Abend einig sind und die Feier gemeinsam verlassen. Wenn man mir eh das Schlimmste andichtet, dann kann ich auch zugreifen bei so einem Prachtexemplar, oder? Ich lebe seit etwa einem Jahr keuscher als eine Nonne, ich habe mir ein wenig Leidenschaft und ein paar Orgasmen verdient! Und Joe sieht so aus, als könnte er mir genau das geben. Er schwitzt Sex, und er riecht verdammt gut dabei.

Ich stütze mich mit dem rechten Ellbogen auf dem Tresen ab und beuge mich zu ihm vor. Er zieht seine linke Augenbraue hoch und synchron dazu seinen Mundwinkel. Wir schauen uns ein paar Sekunden einfach nur an, und ich genieße das Knistern in der Luft, die Verheißungen in dem Grau seiner Iris.

Oh, ja, Joe wird mir genau das geben, was ich brauche!

»Was geht in deinem Kopf vor, hübsche Frau?«, fragt er schließlich leise und lehnt sich auch ein Stück zu mir rüber.

»Zu viel. Genau deswegen möchte ich am liebsten ein paar Stunden einfach gar nichts denken«, erwidere ich und nippe an meinem Champagner. Ich bin ziemlich gut beschwipst, das merke ich, und es ist okay. So selten, wie ich trinke, kann ich heute ruhig einmal über die Stränge schlagen. Trinken, feiern, vögeln - Ronis Devise. Sie fährt diese Schiene und ist glücklich damit, ich dagegen bin meist die Vernunft in Person, und was bringt mir das? - Spinnweben zwischen den Beinen und einen gehörigen Kopffick ohne die gewünschte Erleichterung im Nachhinein. Also werde ich heute einfach nicht denken, sondern lediglich handeln und fühlen. Wenigstens für ein paar Stunden.

»Du möchtest Sex«, stellt Joe schließlich fest. Er spricht so leise, dass nur ich die Worte mitbekomme. »Mit mir, nehme ich an.«

»Richtig erkannt. Und zwar nur Sex«, füge ich gleich hinzu. »Keinen langwierigen Smalltalk, keine falschen Versprechungen - nur Sex. Liegt das auch in deinem Interesse?«

»Du bist eine umwerfend schöne Frau, wieso sollte ich nein sagen?«, entgegnet er und nimmt einen Schluck von seinem Wasser.

»Vielleicht ist es dir zu langweilig. Du siehst aus wie jemand, der sich gerne ins Zeug legt. Vielleicht törnt es dich nicht an, Sex auf einem Teller gereicht zu bekommen, bei dem du einfach nur zugreifen musst.«

»Du magst ja einiges sein, Emma Leimann, aber sicher nicht langweilig«, sagt er schlicht und entlockt mir damit ein Lächeln.

Langweilig bin ich wohl nicht, aber mein Leben besteht hauptsächlich aus der Verantwortung für mein Café. Ich stehe jeden Tag in der Küche und kreiere Törtchen, Muffins und allerlei Gebäck, während ich mich nebenbei um die Buchhaltung und anderen lästigen Mist kümmere. Kaum jemand würde das als aufregend bezeichnen. Aber soll Joe ruhig glauben, dass ich interessant bin, das macht ihn nur noch wilder darauf, mich unter sich zu begraben.

»Dann sind wir uns ja einig«, stelle ich schließlich fest und genehmige mir noch ein Gläschen Champagner. Nach einem Jahr Zölibat bin ich etwas aus der Übung, was den Teil der körperlichen Vereinigen angeht, deshalb schadet es nicht, wenn ich mir noch ein wenig Mut antrinke. Ich habe mich immer noch gut unter Kontrolle und bin Herr aller Sinne, das passt schon.

Ich leere die Flöte in einem Zug und stelle sie zurück auf den Tresen. Dann springe ich vom Hocker und greife nach Joes Hand. »Lass uns ein wenig tanzen, Joe-seppe. Der aufregende Teil dieses Tages hat erst begonnen.«

Kapitel: 5

 


Ich drücke mich eng an Joes gestählten Körper, genieße die Empfindungen, die diese Nähe in mir auslöst; das Begehren, das in kribbelnden Wellen durch meine Adern fließt und sich in meinem Unterleib sammelt. Und ich stelle fest, dass mir dieses Gefühl in den vergangenen Monaten - oder gar Jahren - doch sehr gefehlt hat. Mein Café und meine Arbeit machen mich zwar glücklich, und ich möchte sie auf keinen Fall gegen etwas anderes eintauschen, aber zufrieden bin ich nur selten. Ausgeglichen so gut wie nie.

»Emma.« Joes Stimme holt mich aus den Gedanken. Ich blicke hoch in seine Augen, die auf mir ruhen. »Ich muss dir gestehen, dass One Night Stands nicht mein Fall sind.«

»Jeder Mann steht auf unverbindlichen Sex«, entgegne ich überzeugt.

»Ich sage ja gar nicht, dass ich die Frau, mit der ich das Bett teile, erst heiraten muss, aber ich finde Sex befriedigender, wenn er persönlicher ist.«

»Keine Sorge, du wirst befriedigt werden, das verspreche ich dir«, sage ich lächelnd und registriere zufrieden, dass seine Augen sich ein wenig verdunkeln. »Mach für mich eine Ausnahme, Joe.«

»Wieso gehen wir nicht erst zusammen etwas essen und schauen dann weiter?«, schlägt er stattdessen vor.

Ich seufze enttäuscht, weil ich bis eben noch gedacht habe, dass wir alles geklärt hätten. »Dafür habe ich keine Zeit. Ich arbeite viel und bin momentan überhaupt nicht auf etwas Festes aus.«

»Ich bin ebenfalls oft geschäftlich eingebunden, aber es ist auch wichtig, ein Leben neben der Arbeit zu haben, sonst ist man irgendwann völlig ausgebrannt.«

Mir fällt auf, dass ich überhaupt nicht weiß, was Joe beruflich macht, weil wir hauptsächlich über mich gesprochen haben. Aber ich werde ihn jetzt nicht danach fragen, denn es ist nicht wichtig, solange er sich nicht abends in Glitzerkleidchen quetscht und Tonnen von Make-up aufträgt, um später auf der Bühne im Pulverfass rumzuhopsen, oder sich eine Sturmhaube überzieht und Banken ausraubt.

»Joe, wenn unsere Interessen keine Übereinkunft finden«, setze ich an und halte in der Bewegung inne, »dann sollten wir das Ganze einfach lassen.« So bedauerlich ich das auch finde, es geht nicht anders. Er will keine One Night Stands - und ich will nur das. Ich bedanke mich höflich für den Tanz und lasse ihn stehen, um mich nach meinen Schwestern oder jemandem, der mich nicht abschätzig taxiert, umzusehen.

Ich entdecke Anja, Leon und Roni an einem der Tische, wo sie gemeinsam mit ein paar jungen Leuten einen kleinen Vorrat an Alkohol killen. Schnell geselle ich mich zu ihnen und nehme auf dem Stuhl neben Roni Platz.

»Gott, Emma, willst du den armen Kerl eigentlich völlig fertigmachen?«, zischt sie mir zu und schüttelt den Kopf. »Erst heizt du ihm ein, dann lässt du ihn einfach auf der Tanzfläche stehen. Das zweite Mal!«

»Er will mit mir Essen gehen«, erwidere ich genervt und greife nach dem Glas in ihrer Hand.

»Ja, und? Was zum Teufel ist dein Problem? Wenn ein heißer Typ mich zum Essen einlädt, sage ich begeistert zu und mache ihn zum Nachtisch.« Roni greift nach einem anderen Glas und gießt sich rosa Sekt ein.

»Dafür habe ich keine Zeit. Ich habe Joe angeboten, mich gleich heute Nacht zu vernaschen, ohne vorher diesen Spießrutenlauf des besser Kennenlernens und Annäherns absolvieren zu müssen. Er scheint sich damit nicht zufrieden zu geben, deshalb ist er wohl nicht der Richtige für ein kurzes, unverbindliches Abenteuer.« Ich nippe an dem Sekt in meiner Hand und verziehe das Gesicht, weil er widerlich süß schmeckt.

»Manchmal ist dir wirklich nicht mehr zu helfen, Em«, stellt sie seufzend fest.

»Cheers.« Ich stoße mein Glas gegen ihres.

Eine Weile später bin ich ganz schön betrunken und fühle mich beschissen. Ich hasse es, betrunken zu sein, und ich verstehe nicht, wieso ich es überhaupt so weit kommen lassen habe. Früher haben wir fast jedes Wochenende irgendwo gefeiert, und ich habe am nächsten Tag stundenlang mit Kopfschmerzen und Übelkeit gekämpft. Vor ein paar Jahren war diese wilde Zeit endlich vorbei, und ich bin ruhiger geworden, habe die Tanz- und Saufnächte hinter mir gelassen und festgestellt, dass es mir überhaupt nicht fehlt. Wieso zum Teufel sitze ich also jetzt auf einem Stuhl, habe Schluckauf und kann mich kaum gerade halten?

»Hey. Wie geht es dir?« Joe zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich neben mich. »Soll ich dich nach Hause bringen?«

Vielleicht gibt es heute ja doch noch Leidenschaft und wenigstens einen Orgasmus, wenn wir allein sind.

Ich nicke und wühle in meiner Handtasche nach meinem Handy, um Anja anzurufen.

»Em, was ist los? Wieso kommst du nicht einfach rüber, wenn du mit mir sprechen möchtest?«, geht sie nach kurzem Klingeln ran.

Ich grinse dümmlich in ihre Richtung und winke ihr zu. Sie sitzt nur wenige Meter von mir entfernt an einem Tisch und unterhält sich mit einem unserer Onkel. »Zu weit«, sage ich schließlich. »Hey, ich haue jetzt ab«, füge ich hinzu und befeuchte meine trockenen Lippen mit der Zunge. »Sagst du Mama und den anderen Bescheid, ja? Ich bin zu fertig dafür.«

»Und wie kommst du nach Hause?«

Mein Kopf dreht sich in Joes Richtung, der mich wiederum mit gerunzelter Stirn mustert. »Hier ist ein viel zu netter und überfürsorglicher Kerl, der mich nach Hause bringen wird. Soll er sich vorher bei dir ausweisen, damit du es der Polizei weitergeben kannst, falls ich nicht zu Hause ankomme?«

Joe greift nach dem Handy in meiner Hand, legt auf und packt es zurück in meine Handtasche. »Warte hier«, weist er mich an und steht auf, um zu Anja rüber zu gehen. Die beiden unterhalten sich kurz, dann nickt sie und holt ihr Handy hervor, um sich wahrscheinlich seine Nummer zu notieren. Anschließend kommt er zurück zu mir und hält mir eine Hand hin. »Komm.«

Ich richte mich mühsam auf und halte mich krampfhaft an ihm fest, um einigermaßen koordiniert aus dem Festsaal zu gehen. Wenn ich den Kerl heute noch abschleppen will, sollte ich langsam wieder ausnüchtern. Er wird wohl kaum über eine stockbesoffene Frau herfallen, die nicht mehr geradeaus gucken kann.

Wir erreichen die Türen eines Fahrstuhls, und Joe drückt auf den Knopf. »Wo willst du denn hin?«, frage ich verwirrt.

»Mein Wagen steht in der Tiefgarage, die zum Hotel gehört«, erklärt er und legt einen Arm um meine Taille, um mich zu stützen.

»Hm ...« Ich gleite mit den Fingern über das Revers seines Jacketts. Dann beuge ich mich vor und drücke meine Lippen sanft auf die warme Haut seines Halsansatzes. Mmh, er riecht so gut. So männlich.

»Emma ...«

»Nimm mich mit zu dir nach Hause, Joe«, sage ich, bevor er etwas äußern kann, was mir wahrscheinlich nicht gefallen würde.

»Du bist betrunken.«

»Ich bin untervögelt.«

»Das habe ich nicht gehört.«

Lächelnd fahre ich mit meinen Fingern in das kurze Haar in seinem Nacken. »Ich will mit dir schlafen, Joe-seppe. Du bist sehr sexy, weißt du das?«

Die Fahrstuhltüren gleiten auf, und ich werde sanft von ihm hineingedrängt. »Ein anderes Mal, Emma«, erwidert er und drückt auf einen der Knöpfe. »Wenn du nüchtern bist.«

»Es gibt kein anderes Mal«, stelle ich klar und schüttele den Kopf, was keine gute Idee ist, weil sich sofort alles um mich herum zu drehen beginnt. Ich kneife die Augen zusammen und massiere mir die Schläfen.

»Hast du Kopfschmerzen?«, erkundigt sich Joe.

»Alles gut«, wiegele ich ab und schaue wieder hoch zu ihm. »Also, was sagst du? Spielst du hier weiterhin den edlen Retter oder lässt du diesen Quatsch endlich sein und vögelst mich?«

»Ich werde es nicht ausnutzen, dass du betrunken bist«, entgegnet er, und seine Augen verengen sich leicht. Es ist das erste Mal an diesem Tag, dass ich ihn wirklich gereizt erlebe. Dieser Joe gefällt mir gleich noch besser als der überkorrekte Kerl, der um meine Ehre besorgt ist.

»Man kann wohl kaum vom Ausnutzen sprechen, wenn ich mich dir an den Hals werfe«, bemerke ich sarkastisch.

Wir kommen in der Tiefgarage an, und Joe dirigiert mich schweigsam zu seinem Wagen: einem riesigen, blank polierten, schwarzen Ungetüm. Während er mich behutsam auf den Beifahrersitz befördert, überlege ich, ob Transvestiten oder Bankräuber so viel Kohle scheffeln, dass sie sich so ein Prachtauto leisten können. Ich sinke in das butterweiche Leder und atme den sauberen Geruch ein, gemischt mit Joes dezentem Aftershave.

Derweil setzt sich Joe ans Lenkrad und beugt sich zu mir rüber, um mich anzuschnallen. Ich nutze diese Gelegenheit, um sein Gesicht zu packen und meine Lippen auf seine zu drücken. Er scheint kurz schwach zu werden und öffnet sogar seine Lippen, um meiner Zunge Einlass zu gewähren. Ich seufze, als sein herber Geschmack meine eh schon beanspruchten Sinne noch mehr berauscht, und küsse ihn hungrig und verlangend.

Leider hat er sich viel zu schnell wieder unter Kontrolle und löst sich sanft, aber bestimmend von mir. »Verdammt, Emma, du machst es mir wirklich nicht leicht«, flucht er dabei, und ich grinse in mich hinein. Diese harte Nuss werde ich noch knacken. Ich will ihn und ich bekomme ihn, koste es, was es wolle!

Joe schnallt sich nun ebenfalls an und blickt zu mir. »Wie lautet deine Adresse?«, fragt er, und der raue Unterton, der in seiner Stimme mitschwingt und seine Erregung offenbart, lässt es in meinem Magen flattern.

»Habe ich vergessen«, antworte ich mit einem unschuldigen Lächeln.

Er seufzt leicht verzweifelt und fährt sich mit einer Hand über das schattige Kinn. »Emma, ich glaube wirklich nicht, dass du das hier nötig hast«, wendet er sich nach ein paar Sekunden wieder an mich. »Du bist eine wunderschöne, kluge Frau und -«

»Ich hatte schon seit bestimmt einem Jahr keinen Sex mehr«, unterbreche ich ihn barsch. »Man könnte behaupten, dass ich praktisch wieder Jungfrau bin. Entschuldige also bitte, dass ich es ein wenig nötig habe«, füge ich etwas zickig hinzu. Es ärgert mich, dass er mir so hartnäckig widersteht. Und noch mehr ärgert es mich, dass ich scheinbar wirklich verzweifelt bin, um mich so würdelos einem Mann aufzudrängen. Mein Gott, dann will er halt keinen Sex - Pech gehabt! Ich werde ihn ganz sicher nicht länger darum anbetteln. »Ich hätte jeden verdammten Typen abschleppen können, aber ich musste ausgerechnet an denjenigen geraten, der kein bisschen Arschloch-Potenzial in seinem Blut hat. Prima!«, füge ich murmelnd hinzu.

»Emma ...«

»Fahr schon los, Joe«, unterbreche ich ihn erneut und verschränke die Arme vor der Brust. »Mein Café befindet sich in der Brennerstraße, dort kannst du mich absetzen.«

Er startet den Motor, und ich lehne mich zurück. Das leise Surren des Wagens und der Blick aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Häuser lullen mich ein, bis ich resigniert die Augen schließe und einnicke.



Als ich wieder zu mir komme, befinde ich mich in einem dunklen Raum und habe absolut keine Ahnung, wo ich bin. Es ist nicht mein Schlafzimmer, das kann ich an den Umrissen der Möbel erahnen. Mein Kopf dröhnt ein wenig, und mein Mund fühlt sich pampig an. Ich richte mich vorsichtig auf und blicke zur Seite. Neben mir liegt noch jemand, und ich brauche ein paar Sekunden, um mich an die vergangenen Stunden zu erinnern.

Ich habe zusammen mit Joe die Hochzeitsfeier verlassen und bin in seinem Wagen eingeschlafen. Er muss mich mit zu sich nach Hause genommen haben, anstatt mich zum Café zu bringen, so wie ich es eigentlich verlangt habe. Ich kann mich schwammig daran erinnern, wie er mich aus dem Auto gehoben und getragen hat ... hierher. In sein Bett. Aber er hat mich nicht angefasst. Zumindest nicht mehr, als nötig war, um mir die Schuhe auszuziehen. Mein Kleid habe ich immer noch an.

Ich lasse meinen Blick über seinen Körper gleiten. Er ist nicht zugedeckt, schläft seelenruhig auf dem Rücken, während ein Arm unter seinem Kopfkissen verborgen ist und der andere auf seinem Bauch ruht. Er muss sich umgezogen haben, denn jetzt trägt er ein T-Shirt und eine lockere Boxershorts, soweit ich das in der Dunkelheit ausmachen kann.

Mein Blick fällt auf seinen Schritt. In meinen Brüsten und in meinem Unterleib breitet sich eine süße Schwere aus, die meine leichten Kopfschmerzen in den Hintergrund drängt. Bevor ich weiter erörtern kann, was zum Teufel ich hier überhaupt mache, krabbele ich zu ihm und gleite auf seinen Schoß, wohl wissend, dass er davon aufwachen wird.

Joe murmelt etwas Unverständliches und bewegt sich, als ich mich runterbeuge und sein T-Shirt hochstreife, um meine Lippen auf die freigelegte Haut zu drücken. Warme, samtweiche Haut, unter der ich steinharte Muskeln fühlen kann. Ein schmaler Streifen feines Haar führt vom Bauchnabel bis zum Bund seiner Boxershorts und verschwindet darunter. Ich schicke meine Zunge auf Wanderschaft und berausche mich an seinem angenehmen Geruch und erregenden Geschmack.

»Was ...?« Joe hat sich auf einen Ellbogen gestützt und schaut zu mir runter. »Emma, was machst du da?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass du ganz genau weißt, was ich hier mache«, erwidere ich und richte mich ein wenig auf, um mit meinem Mund nach oben zu gleiten, wobei ich meine Brüste an ihn presse. Ich küsse ihn am Hals und vergrabe meine Finger in seinem vom Schlafen verwuschelten Haar. Dann wandere ich noch ein Stück höher und küsse ihn. Verdammt, wenn ich nicht mehr sturzbetrunken bin, fühlt sich das noch besser an!

Joes Widerstand verebbt schnell, und nur wenige Sekunden später spüre ich seine Finger, die sich in meine Oberschenkel krallen, während er meinen Kuss mit derselben Gier erwidert, wie auch ich sie verspüre.

Ich lecke und sauge an seiner Zunge, zupfe an seiner vollen Unterlippe und reibe mich dabei schamlos an ihm. Joe stöhnt leise, und dieses Geräusch zwiebelt durch meinen ganzen Körper, lässt meine Erregung und meinen Puls weiter in die Höhe schnellen.

»Emma ...«

Ich ersticke seinen Protest mit meinem Mund, küsse ihn immer und immer wieder und lege ihm schließlich einen Finger auf die Lippen. »Ich bin nicht mehr betrunken, Joe. Genieße es einfach.«

Langsam lasse ich mich an seinem sündigen Körper heruntergleiten, ziehe ihm das T-Shirt über den Kopf aus und erkunde seine herrlich definierte Brustpartie, wobei ich ihm spielerisch in eine Brustwarze beiße. Joe holt zischend Luft, und seine Finger bohren sich noch tiefer in mein nachgiebiges Fleisch. Der leichte Schmerz stimuliert mich zusätzlich und schlägt wie ein Blitz durch meinen Schoß.

»Emma, ich muss dir noch etwas sagen.«

Genervt lasse ich von ihm ab und richte mich erneut auf. »Joe, wenn du jetzt nicht deine Klappe hältst, fessele ich dich ans Bett und stopfe dir den Mund mit meinem Höschen. Verstanden?«

Ich kann seine weißen Zähne in der Dunkelheit ausmachen, als er kurz lächelt. »Du würdest es wissen wollen«, fügt er leise hinzu und klingt nun wieder ernst.

»Alles, was ich jetzt will, ist, dir deinen Verstand rauszuvögeln. Kapiert?« Ich küsse ihn noch einmal so heftig, dass wir beide anschließend nach Luft schnappen. Dann setze ich meine Erkundungstour fort und hake meine Finger schließlich in den Bund seiner Boxershorts, um sie nach unten zu schieben. Sein vollständig erigierter Schwanz ragt wie eine Lanze in die Luft, und ich umschließe ihn mit einer Hand, während ich ihn so begierig lecke, als wäre er ein köstliches Eis am Stiel an einem brütend heißen Sommertag. Zufrieden lausche ich Joes Geräuschen, die seine Wonne sehr deutlich zum Ausdruck bringen, und treibe ihn mit meinem gierigen Mund und meiner flinken Zunge fast bis an den Höhepunkt. Kurz davor lasse ich von ihm ab und komme wieder nach oben.

»Hilfst du mir mit dem Kleid?«, flüstere ich an Joes Lippen und knabbere an seinem Kinn, das ein wenig rau geworden ist.

Anstelle einer Antwort atmet er noch ein paar Mal hörbar ein und wieder aus,  dreht mich dann blitzschnell auf den Rücken und nagelt mich unter sich fest. Sein angenehm schweres Gewicht, seine steinharten Muskeln und seine heiße Haut lassen meine Nervenenden vor Vorfreude vibrieren.

»Sehr gerne«, murmelt er schließlich mit dunkler Stimme und beginnt nun mit mir dasselbe Spiel, mit dem ich ihn eben in den Wahnsinn getrieben habe. Seine geschickten Finger öffnen meinen Reißverschluss am Rücken und befreien mich von dem Oberteil und halterlosen BH. Sein wundervoller Mund saugt und leckt abwechselnd an meinen um Aufmerksamkeit bettelnden Brustwarzen, was mir ein tiefes Stöhnen entlockt. Ich bin so verdammt scharf, dass ich jeden Moment allein davon kommen werde!

»Lauter, Emma«, fordert Joe mich auf und saugt unermüdlich an meinen harten Knospen. »Ich möchte hören, wie sehr es dir gefällt.«

Ich stöhne und keuche ungeniert, während ich meine Beine weiter spreize, um ihm deutlich zu machen, wo ich seinen Mund jetzt gerne hätte; wo ich mich so verflucht leer fühle, dass ich schier wahnsinnig vor Verlangen werde.

Joe lässt von meinen Brustwarzen ab, schiebt mein gerafftes Kleid weiter runter, wobei er jeden freigelegten Zentimeter nackter Haut mit brennenden Küssen bedeckt, und zieht es mir endlich vollständig aus, sodass ich nur noch mit einem sehr knappen Slip aus schwarzer Spitze daliege. So gerne ich beim Sex auch die Initiative ergreife und das Ruder an mich reiße - es gefällt mir fast noch besser, wenn der Kerl sein Handwerk versteht und mich ordentlich verwöhnt. Und Joe versteht sein Handwerk, das habe ich gleich gewusst. So viel geballte Ladung Testosteron muss schließlich für etwas gut sein.

»Verdammt, Emma, du bist ja völlig ausgehungert.« Während er diese Worte flüstert, streichelt er mit seinen Fingern bedächtig über meinen feuchten Schritt, schiebt den Stoff beiseite und führt diese Bewegung auf meinen geschwollenen Schamlippen aus. »Ein Piercing?«, fragt er überrascht und hält kurz inne.

»Meine kleine Jugendsünde«, erkläre ich und lege ihm eine Hand in den Nacken, um seinen Kopf heranzuziehen und seinen Mund zu attackieren, während ich die andere Hand zu seinen Fingern lege und sie in mich schiebe. Wir stöhnen beide in unsere Münder und verwöhnen mich nun gemeinsam. Ich verliere den Verstand dabei und jegliche noch vorhandenen Hemmungen - falls sie in den letzten Stunden überhaupt vorhanden gewesen sind.

»Emma, du zerfließt regelrecht.« Joe fingert mich mit anbetungswürdiger Effizienz, findet zielsicher den Punkt, der mich erbeben lässt, und ahmt die Bewegungen seiner Finger mit seiner Zunge nach, während er auch meinen Mund ausfüllt.

Ich komme mit einem erstickten Schrei, wobei ich mich in seine Schultern kralle und meine Brüste gegen seinen Oberkörper presse. »Gott, das war ... wirklich nötig!«, keuche ich schwer atmend und spüre noch die letzten krampfartigen Zuckungen, während sein Daumen über meinem Kitzler und dem Piercing kreist, um meinen Orgasmus zu verlängern.

Joe lacht leise und umklammert meine Taille, hält mich fest und zieht langsam seine Finger aus mir heraus. Ich schiebe mich auf seinen Schoß und spüre seinen Ständer an meinem Bauch. Groß, pulsierend ... unbefriedigt. Und obwohl ich eben erst von meiner immensen Anspannung befreit worden bin, sehne ich mich danach, Joes harten Schwanz zu reiten. Ich will endlich wieder richtig ausgefüllt werden!

Mit den Lippen fahre ich über seine Ohrmuschel. »Wo sind deine Kondome?«, frage ich ihn und reibe mein Becken an seinem mehr als bereiten Unterleib. »Hol sie und lass mich dir einen Ritt verpassen, denn du so schnell nicht wieder vergisst.«

Joe umklammert mich noch ein wenig fester und schaut mir in die Augen. »Mit deinen blonden Locken siehst du aus wie ein Engel«, sagt er mit schwer beherrschter Stimme. »Aber wenn du den Mund aufmachst ...«

»Eben hast du dich nicht über mein Mundwerk beschwert«, fahre ich ihm ins Wort und grinse. »Holst du jetzt die Kondome oder willst du noch ewig quatschen?«

Schnaubend schüttelt er den Kopf. »Dir kann es wohl gar nicht schnell genug gehen, was?«

Ich kann mich nicht entscheiden, ob er enttäuscht oder zufrieden klingt. Doch das ist eh nebensächlich. Hier geht es um Sex, nicht mehr und nicht weniger, es ist nicht wichtig, was er von mir hält.

»Ich will dich, und du willst ganz offensichtlich auch mich.« Langsam streiche ich über seinen erigierten Penis, der zwischen uns in die Luft ragt. »Wozu Zeit verschwenden?«

Joe legt mich nicht mehr ganz so sanft zurück aufs Bett und steht auf. Ich beobachte seine große, beeindruckende Gestalt, als er durch das Zimmer zu einer Tür geht und in dem Raum dahinter verschwindet. Ein Lichtstreifen fällt herein und erhellt einen Teil des Zimmers. Ein mächtiger Schrank, ein dominanter Schreibtisch und das riesige Bett, auf dem ich liege, sonst sind keine Möbel darin vorhanden. Doch diese Einrichtung sieht sehr teuer aus, und ich frage mich noch einmal, was Joe wohl beruflich macht. Dann geht das Licht im Bad wieder aus, und er kommt zurück, wobei er an einer knisternden Folie in seinen Händen zerrt. Jeder Gedanke an Möbel und Jobs ist sofort verflogen.

»Lass mich das machen«, sage ich und rutsche zum Bettrand, um ihm das Kondom abzunehmen und seinen Schwanz an der Wurzel zu umfassen. Das ist ein Tick von mir, um mich zu vergewissern, dass das Kondom auch richtig sitzt. Ich habe keine Lust auf irgendwelche Pannen, die immense Auswirkungen mit sich bringen könnten. Bevor ich Joe das Kondom überstreife, schaue ich noch einmal zu ihm hoch und lecke spielerisch über seine glatte Eichel.

Er bekommt das volle Emma-die-Granate-Programm. Den wildesten Ritt seines Lebens. Ich füge mich schnell ein in die Rolle der hemmungslosen, willigen Verführerin, die ich für so lange Zeit abgelegt habe - bis zu dieser Nacht. Ich sollte Joe wohl danken, dass er das alte Feuer in mir entfacht hat. Oder sollte er sich bei mir bedanken, dafür, dass ich ihn bis zur Besinnungslosigkeit vögele?

Wir genießen die Erkundung unserer Körper bis in die frühen Morgenstunden. Völlig erschöpft und befriedigt schlafe ich schließlich mit einem Lächeln auf den Lippen ein. Oh, ja, das habe ich wirklich dringend gebraucht!

Kapitel: 6

  


Als ich aufwache, liege ich allein im Bett. Durch die schweren Vorhänge fällt dumpfes Licht ins Zimmer und zeigt mir, dass der Tag längst begonnen hat. Ein sonniger Tag, wie es scheint. Mühsam drehe ich mich auf den Rücken und spüre jeden einzelnen beanspruchten Muskel und Knochen in meinem Körper. Und ich spüre zusätzlich völlige Zufriedenheit und Erleichterung. Ja, diese Nacht habe ich wirklich gebraucht. Die mit Leidenschaft gefüllten Stunden sind mehr als nötig gewesen!

Nach ein paar Minuten, in denen ich einfach an die weiße Decke gestarrt und mich an die nächtlichen Aktivitäten erinnert habe, was mein Verlangen erneut hochkochen ließ, stehe ich auf und suche nach meiner Unterwäsche. Die liegt zusammen mit meinem Kleid auf dem gepolsterten Stuhl vor dem Schreibtisch gegenüber. Während ich mich anziehe, schaue ich mich noch einmal im Zimmer um.

Joe nagt ganz eindeutig nicht am Hungertuch, das steht fest. Ich bin zwar keine große Kennerin, was Möbel betrifft, aber das sehe ich sofort. Jetzt fällt mir auch das fast schon gigantische Gemälde an einer freien Wand auf, das eine wunderschöne Landschaft zeigt und wahrscheinlich von irgendeinem berühmten Maler aus dem Handgelenk geschüttelt worden ist. Ich würde meinen Hintern darauf verwetten, dass es mehr gekostet hat als meine gesamte Wohnungseinrichtung.

Mein Weg führt mich ins angrenzende Badezimmer, wo meine Vermutung bestätigt wird. Keramikfliesen, zwei blank polierte Waschbecken und zusätzlich zu der großen Duschkabine auch ein eingelassener Whirlpool in der Ecke. Verdammt, mit wem bin ich da ins Bett gegangen? Einem Ölscheich?

Mein Blick fällt auf den breiten Spiegel über den beiden Waschbecken, und ich verziehe das Gesicht. Zerzaustes Vogelnest auf dem Kopf und Waschbäraugen - sexy! Schnell wasche ich mir das Gesicht und trockne es an dem zwischen den Waschbecken hängenden Handtuch ab. Da ich nirgendwo eine Bürste sehen kann und nur ungern Joes Schränke durchsuchen möchte, kämme ich mein Haar so gut es geht mit den Fingern durch, damit es nicht mehr wild von meinem Kopf absteht.

Einigermaßen hergerichtet gehe ich zurück ins Schlafzimmer und schnappe mir meine Handtasche, die auf dem Schreibtisch liegt. Meine Schuhe stehen neben der Tür und haben ihre Aufgabe gestern prima erfüllt. Ich schlüpfe hinein und verziehe erneut das Gesicht, weil meine Füße bei der stundenlangen Tanzerei am Vortag ganz schön beansprucht worden sind und nun wehtun. Jetzt sollte ich aber schnell nach Hause fahren und den Rest des Tages nur noch barfuß rumlaufen.

Doch bevor ich das tun kann, muss ich mich erst noch meinem Spielgefährten von heute Nacht stellen. Vielleicht könnte ich auch lautlos verschwinden, wie man es häufig nach One Night Stands so macht, aber das ist nicht mein Stil. Ich werde mich bei ihm für eine schöne Nacht bedanken, Tschüss sagen und dann gehen. Eventuell werde ich ihm noch meine Nummer dalassen. Nur so, falls uns beiden nach einer weiteren unverbindlichen Nummer der Sinn steht. Zumindest hoffe ich, dass Joe unser Stelldichein als unverbindlich ansieht, so wie ich es tue.

Leider habe ich keine Ahnung, wo Joe steckt, und schleiche deshalb durch den Flur wie eine Einbrecherin. Dann höre ich seine leise Stimme von unten und begebe mich über eine geschwungene Treppe ins untere Stockwerk.

Ein Handy klingelt, und dann ertönt seine Stimme erneut, als er abnimmt: »Benjamin Mynard.«

Zwei Wörter, die mich abrupt innehalten lassen. Ich stolpere fast über meine Füße, kann mich aber noch am Geländer festhalten. Was zum ...?!

Die nächsten Minuten spricht Joe, wie er scheinbar überhaupt nicht heißt, über einen wichtigen Termin, und ich versuche krampfhaft zu verarbeiten, was ich da eben gehört habe. Mein Verstand weigert sich noch, das Offensichtliche zu akzeptieren. Er wehrt sich vehement gegen das, was meine Ohren zu hören glauben.

Benjamin Mynard? Benjamin J. Mynard, der Oberboss der Investmentfirma Mynard INVEST? Staatsfeind Nummer eins? Der Antichrist?

»Oh, mein Gott!«, stoße ich krächzend aus und lasse mich langsam auf die unterste Stufe sinken. Das kann doch wirklich nicht wahr sein, oder? Joe ist ... OH, GOTT! Was zum Teufel hat er auf Sandys Hochzeit zu suchen gehabt? Welcher Zufall hat ihn dorthin geführt? Wieso hat er mich mit zu sich genommen?

Die Fragen in meinem Kopf überschlagen sich. Ich weiß nur eins: Er hat mich belogen, mir einen anderen Namen genannt. Warum?

»Weil er die ganze Zeit gewusst hat, wer ich bin«, beantworte ich mir die Frage flüsternd und halte mir eine Hand vor den Mund, um nicht aufzuschreien. Er hat meinen Namen mitbekommen, als meine Mutter vor der Kirche nach mir gerufen hat. Vielleicht ja auch schon davor. Und dann hat er sich mit einem falschen Namen vorgestellt, als ich ihn nach seinem gefragt habe.

Es ist eine Ableitung von Giuseppe, aber nicht ganz so extravagant. Mein Großvater stammt aus Italien, und ich bin nach ihm benannt. Da ich die ersten dreizehn Jahre meines Lebens in den Staaten verbracht habe und niemand diesen Namen aussprechen konnte, wurde daraus Joseph oder kurz Joe.

Ich erinnere mich an seine Erklärung, während wir beide das erste Mal getanzt haben. Joe. Dafür steht wohl das J in seinem vollständigen Namen.

Vielleicht nennt er sich ja immer so und hat gar nicht vorsätzlich gelogen, überlege ich und schüttele sogleich den Kopf. Nein, er muss gewusst haben, wer ich bin, immerhin kennt er meinen vollständigen Namen. Ich habe ihm von meinem Café erzählt; von der Mieterhöhung und dem Geldgeier, der meine Existenz bedroht. Und er ist ganz sicher nicht so dumm, um eins und eins nicht zusammenzählen zu können.

»Scheiße«, hauche ich und vergrabe den Kopf in den Händen. Er wusste, wer ich bin, und er hat es schamlos ausgenutzt. Wahrscheinlich hat er sich dabei auch noch prächtig amüsiert. Und ich habe mit ihm geschlafen. Mich ihm würdelos an den Hals geschmissen. Oh, Gott, ich habe ihn stundenlang auf alle möglichen Arten befriedigt und mich von ihm befriedigen lassen!

Hastig springe ich auf, schaue nach rechts und links und erblicke eine Tür nur wenige Meter von mir entfernt auf der linken Seite des Flurs. So leise wie möglich ziehe ich meine Schuhe aus und schleiche rüber, um sie zu öffnen. Erleichtert atme ich aus, als ich mich in einer Art Vorraum wiederfinde, und laufe weiter zu der nächsten Tür, die mich aus dem Luxusapartment führt. Sobald ich draußen bin, streife ich mir hastig meine Pumps über und blicke in alle Richtungen, bis ich die Türen eines Fahrstuhls entdecke. Es ist mir egal, dass mein Reißverschluss am Rücken nicht ganz zu ist und ich völlig wirr aussehe, Hauptsache, ich komme hier schnell weg!

Als die Fahrstuhltüren hinter mir schließen, lehne ich mich gegen die kühle Stahlwand und schließe die Augen. Ich habe die Nacht mit Benjamin J. Mynard verbracht. Mit dem Mann, der dafür verantwortlich ist, dass ich seit über einer Woche kein Auge zubekommen habe, weil die Sorgen um meine Zukunft mich nicht zur Ruhe kommen ließen. Mit dem Mann, der mich belogen hat. Mit einem miesen Arschloch!

Während ich nach unten fahre, steigere ich mich in eine immense Wut und verfluche mich selbst dafür, dass ich gestern nicht einfach ein Taxi genommen habe und nach Hause gefahren bin. Unten angekommen trete ich zu dem älteren Herren hinter einem massiven Empfangstresen. »Ich würde gerne eine Nachricht für Benjamin Mynard hinterlassen«, sage ich und lächele ein diabolisches Lächeln. Vielleicht ist es auch hysterisch, ich weiß es nicht. Wahrscheinlich wirke ich völlig gestört auf ihn. »Schreiben Sie es auf?«

»Natürlich.« Er  greift nach einem Stift und holt einen Zettel aus einer Schublade hervor.

Während ich ihm meine mit Schimpfwörtern ausgeschmückte Nachricht diktiere, schaut er immer wieder auf und wirkt leicht verlegen, aber er schreibt alles brav mit und versichert mir anschließend, dass er Herrn Mynard die Nachricht übermitteln wird.

»Vielen Dank.« Ich schenke ihm noch ein letztes Lächeln und verlasse dann das Gebäude durch den verglasten Eingang.

In meiner kleinen Wohnung angekommen stelle ich mich sofort unter die Dusche und schrubbe mich so lange, bis meine Haut rot leuchtet und unangenehm brennt. Die Spuren, die dieser Mistkerl mit seinem rauen Kinn und den kräftigen Fingern auf meiner Haut hinterlassen hat, bekomme ich nicht weg, was mich noch wütender macht. Er hat mich markiert! Ein weiterer Grund, ihn zu hassen. Anschließend stopfe ich meine Unterwäsche und das aufreizende Kleid in den Wäschekorb und schlüpfe in frische Sachen.

»Dieses miese, heuchlerische Arschloch!«, schimpfe ich ununterbrochen vor mich hin, während ich in die Küche gehe, Kaffee aufsetze und schließlich Roni anrufe.

»Du wirst es nicht glauben«, schmettere ich los, kaum dass sie abgehoben hat. »Dieses verdammte, miese -«

»Gott, Em, nicht so laut«, unterbricht mich Roni stöhnend. »Mein Kopf ...«

»Scheiß auf deinen Kopf!«

»Iiih, eine eklige Vorstellung.«

Unwillkürlich breche ich in leicht hysterisch klingendem Gelächter aus und vergesse für etwa fünf Sekunden, dass ich mit meinem Feind höchstpersönlich geschlafen habe. Mehrere Male. Doch dann sind die Erinnerungen daran wieder da, und ich sprudele los und erzähle meiner Schwester, was geschehen ist. 

»Oh, wow!«, lautet ihr Resümee, nachdem ich geendet habe. »Wenn alle Teufel so sexy sind, dann nur her mit dem ewigen Fegefeuer, was?«

»Du siehst den Ernst der Lage nicht«, zische ich verzweifelt. »Der Kerl will mich zerstören! Er will mich in den Ruin treiben, mir mein Café wegnehmen!«

»Hat er das gesagt?«

»Ja, stell dir vor. Als ich gerade dabei war, die Eis-am-Stil-Nummer abzuziehen, hat er nebenbei erwähnt, dass er Benjamin Mynard ist und mir eine Mieterhöhung von dreißig Prozent aufdrücken wird«, sage ich mit unverhohlenem Sarkasmus in der Stimme. Dann erinnere ich mich daran, dass er wirklich nebenbei erwähnt hat, er müsse mir noch etwas sagen, das ich wissen wollen würde. Was mag das gewesen sein? Vielleicht ein Anflug von schlechtem Gewissen? Wollte er mir endlich die Wahrheit sagen, als ich nackt und mehr als bereit vor ihm lag? - Nein, er ist ein riesen Arschloch und hat sicher nicht daran gedacht, mich aufzuklären, und es stattdessen genossen, mich und meine Unwissenheit zu vögeln!

»Emma, ich springe jetzt schnell unter die Dusche und komme anschließend zu dir rüber«, spricht Roni in meine Gedanken hinein. »Mach keinen Unsinn, ja?«

»Welchen Unsinn? Du meinst nicht etwa die Rakete in meinem Keller, die ich gleich so programmieren werde, dass sie in sein verficktes Luxusapartment kracht?«

»Ich bin sofort da. Lass die Finger von deiner Rakete!«

Sie legt auf, und ich wähle sofort die nächste Nummer. Anja klingt nicht ganz so verkatert wie Roni und hört mir ruhig zu, als ich ihr die News nun ebenfalls brühwarm serviere. Jede Minute, die vergeht, lässt meine Wut weiter anschwellen. Ebenso meine Scham.

»Das klingt sehr kompliziert«, sagt Anja schließlich, als ich fertig bin und nach Luft schnappe.

»Was ist daran kompliziert? Er ist ein mieser Dreckskerl und hat mich ausgenutzt!«

»Er hat einen anständigen Eindruck auf mich gemacht, als er mir versichert hat, dich nach Hause zu bringen. Und immerhin hat er die Finger von dir gelassen, als du völlig dicht warst.«

Ja, sie hat recht, aber in meiner blinden Wut sehe ich darüber hinweg. »Wie kannst du ihn überhaupt verteidigen, Anja?«, fahre ich sie stattdessen vorwurfsvoll an.

»Das mache ich nicht, aber du darfst nicht einfach vergessen, dass du dich mehr als nur bereitwillig auf ihn eingelassen hast, Emma.«

»Weil ich keine Ahnung hatte, wer er wirklich ist. Meinst du denn, ich wäre mit ihm ins Bett gestiegen, wenn ich gewusst hätte, dass er ein geldgieriger Immobilienhai ist, der mich plattmachen will? Nein, dann hätte ich mir lieber die verdammte Vagina zugenäht!«, schiebe ich die Antwort gleich hinterher.

»Okay, jetzt komm wieder runter und beruhige dich. Ich bin in einer Stunde da.«

Sie legt auf, und ich schmeiße mein Handy auf den Küchentisch, um zur Kaffeemaschine zu eilen und mir einen Becher mit der jeden Kummer lindernden Flüssigkeit einzugießen. Dazu noch Milch, Zucker und Haselnusssirup, und nach dem ersten Schluck verspüre ich bereits eine angenehme Wärme in der Brust, die das blanke Entsetzen und die Wut aus meinem Körper nach und nach vertreibt.

Als Roni schließlich bei mir auftaucht, bin ich soweit wieder beruhigt, dass ich ihr ebenfalls einen Kaffee anbieten kann. Anja kommt nur wenige Minuten später, und wir setzen uns wie zivilisierte Menschen an den Küchentisch und unterhalten uns in gemäßigter Lautstärke.

»Okay, du hast mit ihm geschlafen und wahnsinnig guten Sex gehabt«, fasst Roni zusammen und zuckt mit den Achseln. »Was soll's? Wahrscheinlich wird er es sich jetzt zweimal mit der Mieterhöhung überlegen und dir womöglich mehr entgegenkommen.«

Ich reiße erschrocken die Augen auf. »Du meinst, ich hätte ihn mit meinem Körper bezahlt? Gott, ich bin eine Nutte ...«

»Emma!« Roni stöhnt genervt. »Jetzt verdreh mir nicht die Worte im Mund. Ich meine damit, dass du ihm wahrscheinlich gefällst und er irgendeinen Narren an dir gefressen hat, weil er sonst wohl kaum den ganzen Tag an dir geklebt hätte wie ein Kaugummi. Und wenn man einen Menschen mag, dann treibt man ihn nicht in den Ruin. Also, sieh das doch positiv.«

»Ich soll es positiv sehen, dass ich mich von einem Arschgesicht verarschen lassen habe?«, quietsche ich, und meine Stimme wird leicht Schrill.

»Ich gebe auf. Anja, übernimmst du?« Roni wirft unserer großen Schwester einen flehenden Blick zu.

Die nickt und legt mir eine Hand beruhigend auf den Unterarm. »Ich finde, dass du in Ruhe mit ihm sprechen solltest. Ich hatte wirklich den Eindruck, er wäre ein anständiger, vernünftiger Mann.«

»Aber ihr irrt euch!«, beharre ich stur auf meiner Meinung. »Er ist ein durchtriebener, geldgieriger Arsch. Er hat gewusst, wer ich bin, und mich belogen. Wie kann ein Mann, der so dreist lügt, anständig sein?«

Darauf können die beiden nichts erwidern und bestätigen damit meine Aussage umso mehr. 

»Nein, ich werde nicht mit ihm reden«, sage ich schließlich und erhebe mich von meinem Stuhl. »Ich werde mir etwas einfallen lassen, um diese verdammte Mieterhöhung bezahlen zu können und mein Café zu retten. Und wenn es das letzte ist, was ich in diesem verdammten Leben tun werde!«

»Oje, sie wird wieder fanatisch«, bemerkt Roni und verdreht die Augen.

»Vielleicht kommen die Vernunft und die Erkenntnis noch mit dem Alter«, fügt Anja hinzu und nickt zustimmend.

Blöde Ziegen! Ich drehe den Wasserhahn auf und bespritze die beiden Lästerschwestern mit einem Schwall eiskalten Wassers, was sie schreiend hochfahren lässt. Und zum ersten Mal an diesem beschissenen Vormittag kann ich aus vollem Halse lachen.

Klitschnass, aber mit einem fetten Grinsen auf den Lippen tritt Roni ein paar Minuten später zu mir und legt mir einen Arm um die Schultern. »Jetzt, wo dein Gemüt etwas abgekühlt ist, verrate uns doch ein paar Details über den heißen Geldgeier.«

Ich strecke ihr die Zunge raus und zwicke sie in die Seite. »Ich möchte diese Nacht gerne so schnell wie möglich aus dem Gedächtnis streichen, und ich wäre dir dankbar, wenn du deine Neugierde zurückhältst. Ansonsten muss ich eine Lobotomie an mir durchführen lassen.«

»Mann, Emma, du bist wirklich grausam. Du weißt doch, wie sehr ich es liebe, über Sex zu reden.« Sie seufzt frustriert und schiebt ihre Unterlippe nach vorne.

»Fast noch mehr, als ihn zu praktizieren«, fügt Anja hinzu und erscheint mit einem Handtuch wieder in der Küche, nachdem sie es aus meinem Badezimmer geholt hat.

»Ich verrate nur so viel: Sein Schwanz ist genauso groß wie seine Geldgier. Das muss dir reichen, Ron.« Ich grinse sie schadenfroh an, bevor ich mich aus ihrer halben Umarmung winde und die Küche verlasse, um den Schrubber zu holen und die Überflutung zu beseitigen.

»Mist, wieso habe ich ihn mir nicht geschnappt?«, höre ich sie noch hinter mir sagen. »Mir wäre es vollkommen egal, wie viel Prozent mehr Miete er mir aufdrückt - immer her mit diesem Mistkerl!«

Kapitel: 7

 


Am Montagvormittag rufe ich bei Joes Sekretärin an und teile ihr mit, dass ich meinen Termin mit Herrn Mynard nicht einhalten werde. Ich bitte sie freundlich, mir einfach nur den neuen Pachtvertrag zuzuschicken, und lege wieder auf. Anschließend begebe ich mich ins Café und lasse mir von Else erzählen, wie es am Samstag ohne mich gelaufen ist.

»Deine neueste Törtchenkreation war im Nullkommanichts ausverkauft«, berichtet sie lächelnd und zeigt mir den letzten Eintrag im Geschäftsbuch. »Viele Leute wollten etwas davon nachbestellen, und ich musste sie leider vertrösten, weil ich nicht wusste, ob du noch einen Vorrat hast oder gedenkst, noch eine Menge davon zu backen.«

»Sollte ich wahrscheinlich tun«, murmele ich, und in meinem Kopf beginnen die Rädchen sich zu drehen. »Lass mich bitte noch mal die Einträge der letzten Wochen sehen«, fordere ich sie auf und nehme ihr das schwere Buch ab. »Und erinnere mich bei Gelegenheit daran, demnächst auf den elektronischen Datenspeicher umzusteigen. In meinem Büro ist bald kein Platz mehr für die ganzen Bücher.« Ich wollte eigentlich längst damit beginnen, alles, was das Café betrifft, in einem Computer abzuspeichern, weil das schneller und praktischer ist, bin aber nie dazu gekommen, das auch umzusetzen. Doch wenn ich in Zukunft Zeit sparen möchte - und diese Zeit kann ich wirklich gut gebrauchen - muss ich mich allmählich ranhalten.

»Was schaust du denn?«, fragt Else neugierig nach.

»Wieso habe ich das nicht schon früher bemerkt?«, überlege ich laut und blättere die Seiten durch. »Schau doch nur, wie viele Anfragen wir in letzter Zeit hatten, wenn es um meine neuesten Rezepte ging. Wenn ich es irgendwie schaffen könnte, zusätzlich noch in Massenproduktion zu backen, um all die eingegangenen Bestellungen auch annehmen zu können, dann könnte ich damit gutes Geld machen. Geld, das wir so dringend brauchen.«

Else weiß über die drohende Mieterhöhung Bescheid, da ich es ihr ein paar Tage nach dem erhaltenen Brief von Mynard INVEST erzählt habe.

»Wir würden zusätzliche Öfen benötigen«, stimmt sie in meine Überlegungen mit ein. »Platz dafür ist ja vorhanden.«

»Und auch eine zusätzliche Arbeitskraft«, fahre ich fort und runzele die Stirn. »Jemanden, der backen kann und am besten auch darin ausgebildet ist.«

»Du hast auch keine Bäckerlehre gemacht und zauberst die köstlichsten Dinge«, wendet Else ein und lächelt liebevoll.

»Das ist wohl eins meiner verborgenen Talente.« Ich schlage das Geschäftsbuch wieder zu und nicke. »Ich verziehe mich jetzt ins Büro und rechne ein wenig nach, um zu schauen, ob die Idee umsetzbar ist. Wenn was ist, findet ihr mich dort.«

Mein Büro befindet sich nur eine Tür weiter. Es ist sehr klein und beherbergt gerade mal einen winzigen Schreibtisch sowie ein riesiges Regal, das vollgestopft mit Büchern ist und fast aus den Nähten Platz. Ja, ich brauche ganz dringend einen Computer, auch wenn ich diese Dinger nicht ausstehen kann. In der Hinsicht bin ich wohl ein wenig zurückgeblieben und gehe nicht mit der Zeit. Ich habe ein Handy mit Internet, wo ich mir schnell benötigte Informationen besorgen kann. Und wenn ich mal länger und umfangreicher recherchieren möchte, fahre ich zu Roni oder Anja, um mich hinter ihre Laptops zu klemmen. Mir einen eigenen Computer oder Laptop zu besorgen, würde ja einen wahren Meilenstein in der Geschichte der Emmschen Zivilisierung bedeuten.

Die nächsten Stunden verbringe ich damit, meine Idee von vorne bis hinten durchzurechnen und herauszufinden, ob ich damit wirklich das so dringend benötigte zusätzliche Geld herzaubern könnte. Einen Dämpfer bekomme ich, als ich zu der Stelle gelange, mir weitere Öfen besorgen zu müssen. Die Dinger wachsen leider Gottes nicht auf Bäumen und sind teuer. Selbst wenn die Idee mit den Törtchen und Küchlein, die ich außer Haus liefern würde, nach gewisser Anlaufzeit Früchte tragen sollte, müsste ich ebenfalls Geld für die Öfen und für eine zusätzliche Arbeitskraft mit einplanen. Das würde mir den Anfang sehr erschweren. Und leider habe ich bisher nie sehr viel Gewinn aus dem Café herausschlagen können, um mir ein schönes Polster für neue Investitionen oder schlechte Zeiten anzulegen. Immerhin zahle ich auch noch einen Kredit ab.

»Oh, Mann, das ist aussichtslos«, seufze ich und lege meine Unterarme verschränkt auf dem Tisch ab, um meinen Kopf darauf zu betten. Ich bin verzweifelt, ich habe heute Morgen meine Periode bekommen und ich komme einfach nicht aus dem Teufelskreis heraus, der aus positiven Einfällen und negativen Rückschlägen besteht. Ich möchte jetzt wirklich sehr gerne heulen und würde es sicher auch tun, wenn es mir denn irgendwie weiterhelfen würde.

Es klopft an der Tür, und ich richte mich schnell wieder auf, um hier nicht wie ein Häufchen Elend dazusitzen. Nach meiner Aufforderung kommt Else herein und sagt mir, dass ein Herr Mynard mit mir sprechen möchte.

»Er ist hier?« Mein Herz beginnt zu rasen, und ich schwanke zwischen dem Bedürfnis, rauszulaufen und ihn vor aller Welt zur Sau zu machen, und Else darum zu bitten, ihn in die Wüste zu schicken, um mich hier vor ihm zu verbarrikadieren. Letztendlich entscheide ich mich dafür, ihr bis zur Küche zu folgen und sie zu bitten, ihn hierher zu bringen. Sie verschwindet im Kundenbereich, und ich schlüpfe durch die Schwingtüren in die Küche, um tief durchzuatmen und mich innerlich zu fassen.

Ich werde mir anhören, was die Arschgeige zu sagen hat, mich nicht aus der Fassung bringen lassen und ihn im Nachhinein mit einem freundlichen Arschtritt rausschmeißen. Ja, das klingt nach einem verdammt guten Plan. Und ich brauche auch gar nicht so nervös zu sein, also wirklich! Er ist bloß ein Kerl, mit dem ich geschlafen habe. Mehrere Male.

»Emma.«

Ich wirbele herum und verschränke automatisch die Arme vor der Brust. Sein Anblick bringt mich kurz aus dem Konzept. Verdammt, ich habe mir wirklich erfolgreich eingeredet, er hätte nicht so wahnsinnig attraktiv ausgesehen, wie ich ihn in Erinnerung hatte, doch vor mir steht der lebende Beweis für ein Übermaß an Testosteron in einer verführerischen Hülle. Gestriegelt von Kopf bis Fuß in einem teuren Designeranzug. Aber davon lasse ich mich jetzt sicher nicht beeindrucken!

»Herr Mynard, Sie konnten ja doch schon so schnell einen Platz in Ihrem ach so vollen Kalender finden, um mich mit Ihrer Anwesenheit zu beehren«, spotte ich los. »Wie kann ich Ihnen helfen? Wollen Sie mal nachschauen, welche Räumlichkeiten sie sich unter den Nagel reißen werden, falls ich die Miete nicht aufbringen kann?«

»Lass das«, erwidert er unbeeindruckt und bleibt direkt vor mir stehen. »Wir müssen uns dringend unterhalten.«

»Und wie nennen Sie das, was wir gerade tun?«, frage ich in zuckersüßem Ton und hebe eine Augenbraue, während ich seinen intensiven Blick erwidere.

»Du führst dich auf wie ein gekränktes kleines Mädchen. Etwas albern, meinst du nicht?«

»Albern?«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und funkele ihn wütend an. So viel zu gelassen bleiben. »Und wie nennst du es, wenn ein geldgieriges Arschloch ein Gebäude aufkauft und die Miete des sich darin befindenden Cafés gleich um dreißig Prozent erhöht? Ach, und dann lockt er die Inhaberin des Ladens auch noch mit dreisten Lügen in sein Bett.«

»Soweit ich mich erinnere, bist du nur allzu willig gewesen, in dieses Bett zu steigen«, entgegnet Joe - oder wie auch immer er sich nennt - und seine grauen Augen funkeln zurück.

»Ich kann mich nicht einmal erinnern, wie ich in dieses gottverdammte Bett gekommen bin!«, fahre ich ihn an und pike ihm meinen Zeigefinger in die harte Brust. »Du solltest mich vor meinem Café absetzen und hast mich stattdessen direkt in dein scheiß Bett gebracht!«

»Und als du wieder nüchtern warst, konntest du es kaum erwarten, dieses Bett auch ausgiebig auf seine Stabilität zu testen«, fährt er fort, und wenn die Situation nicht so verdammt ernst wäre, könnte ich mich wegen dieser Äußerung sogar zu einem Lachen hinreißen.

Doch stattdessen schubse ich ihn von mir und schaffe es sogar, dass er einen Schritt nach hinten macht. »Verschwinde, Joe! Oder wie auch immer du wirklich heißt.«

»Ich heiße Benjamin Joseph Mynard«, sagt er leise und rührt sich nicht vom Fleck. »Freunde nennen mich Ben.«

»Wie gut, dass ich keine Freundin von dir bin. Du weißt, wo die Tür ist.« Ich wende ihm demonstrativ den Rücken zu.

»Emma, ich wollte es dir sagen ...«

»Hast du aber nicht!«, fahre ich ihm ins Wort und starre weiterhin stur geradeaus. »Du hast mich belogen und zugelassen, dass ich ...« Den Rest des Satzes verschlucke ich und dränge auch die Erinnerungen an unsere gemeinsame Nacht vehement zurück. »Geh jetzt. Ich werde die Miete schon irgendwie auftreiben, und wenn ich dafür Blut und Wasser schwitzen muss. Du bekommst dieses Café nur über meine Leiche!«

»Ich will dir dein Café überhaupt nicht wegnehmen. Und wenn du für ein paar Minuten deine engstirnige, von Vorurteilen überladene Meinung vergessen würdest, könnten wir uns in Ruhe über deinen Vertrag unterhalten.«

Ich kann seine Schritte hören, als er sich mir nähert, und weiche sogleich von ihm weg, wobei ich wieder zu ihm herumwirbele und eine Hand hebe, um ihn zum Stehenbleiben zu bewegen. »Ich will von dir keine Almosen, bloß weil du mich gevögelt hast«, sage ich wütend und schüttele den Kopf. »Ich lasse auf keinen Fall zu, dass mein Körper die Miete für mein Geschäft übernimmt.«

»Verflucht, darum geht es doch überhaupt nicht! Selbst wenn zwischen uns nichts gelaufen wäre, hätte ich mir dein Anliegen angehört und wäre dir entgegengekommen. Denn auch wenn du es wahrscheinlich nicht glauben magst, bin ich kein geldgieriges, herzloses Arschloch und lasse durchaus mit mir verhandeln.«

Ich nicke bedächtig und befeuchte meine trockenen Lippen mit der Zunge. »Du hast Recht«, äußere ich schließlich langsam. »Ich glaube dir nicht. Und jetzt geh bitte. Das Gebäude mag ja dir gehören, aber das Café ist immer noch mein Eigentum - und in der Küche hast du nichts zu suchen.«

Joe - oder wohl eher Benjamin - presst seine Lippen aufeinander und schaut mich noch einen Augenblick so an, als würde er mir am liebsten an die Gurgel gehen, dann dreht er sich um und verlässt mit schnellen Schritten die Küche.

Erleichtert atme ich aus und lasse mich nach hinten gegen die Arbeitsplatte sinken. Verdammt nochmal, da ist mal wieder der Starrsinn mit mir durchgegangen! Habe ich nicht vorhin noch beschlossen, ihm ruhig zuzuhören? Aber sobald er dann vor mir aufgetaucht ist, so verflucht gut aussehend und männlich, so entschlossen und verlockend, da bin ich furchtbar wütend geworden und habe nur noch rot gesehen. Wieso hat er mir nicht von Anfang an gesagt, wer er ist, und mich stattdessen in dem Irrglauben gelassen, er wüsste ebenfalls nicht, wer ich bin? Wenn wir nicht miteinander geschlafen hätten, wäre alles vielleicht ganz anders gekommen.

Wir haben auch nicht miteinander geschlafen, korrigiere ich mich sofort. Wir haben wie die Wahnsinnigen gevögelt. Und jetzt fühle ich mich wie ein billiges Flittchen, was wahrscheinlich gar nicht so verkehrt ist, wenn man bedenkt, wie ich mich an dem Abend und in der Nacht verhalten habe. Ein Flittchen, das mit seinem Körper Männer dazu bringt, nett zu ihm zu sein.

»Ach, ist doch alles Scheiße!«, fluche ich leise und fahre mir mit den Fingern durch den lose gebundenen Zopf.

Die Schwingtüren gehen auf und Else lugt herein. »Alles in Ordnung, Liebes?«, fragt sie und schaut mich besorgt an.

»Nein«, erwidere ich ehrlich und stoße mich von der Arbeitsplatte ab. »Aber es wird schon wieder. Ich backe jetzt noch ein paar Törtchen und überlege mir dabei, wie wir unsere Idee am besten umsetzen könnten.«

»Hört sich nach einem guten Plan an. Soll ich dir helfen?«

»Nein, bleib du mit Daria vorne und bezaubere die Gäste mit deinem lieben Wesen.«

»Ach, Emma, du bist so ein lieber Schatz.« Sie tippelt schnell zu mir rüber und drückt mir ein Küsschen auf die Wange, bevor sie wieder aus der Küche verschwindet.

»Das würde ich nicht unterschreiben«, brumme ich vor mich hin und befördere ein paar Zutaten aus den Schränken. Im Moment benehme ich mich wie eine Furie, die ihre langen Krallen ausgefahren hat. Ich hoffe, dass ich in ein paar Tagen etwas objektiver an die ganze Sache mit Benjamin Mynard herangehen kann.


Am Abend sitze ich bei Anja im Wohnzimmer auf der urgemütlichen Couch und erzähle ihr von Benjamin Mynards Besuch bei mir im Café.

»Emma, dein Stolz wird dich irgendwann noch umbringen. Anstatt dich mit diesem Mann auszusprechen und euch einig zu werden, zickst du ihn an und riskierst damit, dass du pleite gehst«, fasst sie anschließend zusammen. »Was ist denn los mit dir? Ich weiß zwar nur zu gut, dass du einen wahnsinnigen Dickschädel hast, aber wenn es um dein Café geht, solltest du doch wenigstens über deinen Schatten springen können.«

»Ich weiß doch, dass ich mich total albern verhalten habe«, gebe ich kleinlaut zu und sinke noch tiefer in die Kissen um mich herum. »Aber bei mir hat einfach alles ausgesetzt. Ich schäme mich so sehr dafür, dass ich mich ihm wie eine notgeile Nymphomanin an den Hals geworfen habe!«

»Ich bezweifle, dass ihn das so sehr gestört hat. Er war von Anfang an vollkommen auf dich fixiert. Und ihr seid zwei erwachsene Menschen, die Sex hatten. Das bedeutet doch nicht, dass ihr euch danach wie Hund und Katz aufführen müsst, nur weil ihr euch zufällig auch auf der Geschäftsebene gegenübertretet.«

»Ich wa-heiß«, wiederhole ich genervt. »Anja, das weiß ich, aber ich kann dieses Schamgefühl einfach nicht abstellen.«

»Dann lerne, damit anders umzugehen. Du musst ja nicht gleich die Krallen ausfahren, sondern es vielleicht in die andere Richtung probieren und dich zurückziehen.«

»Genau das habe ich vor. Ich werde Joe ... Ich meine: Benjamin, komplett aus dem Weg gehen und darauf warten, dass seine Firma mir den Vertrag zusendet. Und dann werde ich ihn akzeptieren und mir den Arsch aufreißen, um die zukünftige Miete aufzutreiben. Ich habe übrigens über eine neue Geschäftsidee nachgedacht.« Ich erzähle Anja von der hohen Nachfrage nach meinen Eigenkreationen und erläutere ihr meine Sorgen bezüglich der Investition in neue Öfen.

»Gespart hast du auch nichts«, überlegt sie dabei laut, und ich bestätige ihre Worte mit einem Kopfschütteln.

»Es blieb nie etwas übrig, das sich zu sparen gelohnt hätte. Von dem kleinen Gewinn habe ich mir hin und wieder etwas gegönnt und den Kredit abbezahlt.«

»Ich habe ein Sparkonto, das ich bisher noch gar nicht angetastet habe ...«

»Nein«, unterbreche ich sie kopfschüttelnd. »Ich kann dir dein Erspartes doch nicht einfach abknüpfen.«

»Nun, du gibst es mir doch zurück, oder nicht?«, entgegnet sie lächelnd und nippt an dem Glas Sekt in ihrer Hand.

»Ja, aber ich habe keine Ahnung, wann das möglich sein wird.«

»Du bist meine Schwester, Em. Und wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann mache ich es. Wie gesagt, ist das Sparkonto seit Jahren unangetastet. Es wird Zeit, dass das Geld einen guten Zweck erfüllt. Und dir wird es den Hintern retten.«

Ich rappele mich aus den vielen Kissen auf und lasse mich nach vorne in ihre Arme plumpsen, wobei der Sekt in ihrem Glas über den Rand schwappt und sich prickelnd über meine Schulter ergießt. Ich quietsche und knutsche Anja dabei lachend auf beide Wangen. »Du bist die Beste! Oh, Mann, wenn ich die Idee wirklich umsetzen kann und sie sich rentiert ... Anja, das wäre so toll!«

»Es wird schon«, erwidert meine große Schwester lächelnd, befreit sich aus meinem Klammergriff und steht auf, um einen Lappen zu holen. »Wir packen alle mit an, und bald schon werden deine Hammertörtchen in aller Munde sein. Wortwörtlich!«

Kurz darauf kommt auch endlich Roni von der Arbeit, um ein Feierabend-Gläschen Sekt mit uns zu trinken. Die neue Geschäftsidee wird auch ihr offenbart, und sie versichert mir, genauso wie Anja es zuvor getan hat, dass sie mit anpacken und helfen wird, wo sie nur kann.

»Danke. Ich bin so froh, dass ich euch habe!« Gefühlsduselig umarme ich die beiden abwechselnd.

Den Rest des Abends verbringen wir damit, uns Liebeskomödien anzusehen und dabei darüber zu philosophieren, welche Klischees in diesen Filmen am häufigsten verwendet werden. Dabei werden wir hin und wieder von Ronis Handy unterbrochen, das eine Nachricht ankündigt. Jedes Mal, wenn das geschieht, versucht sie viel zu bemüht vorzugeben, als wäre es gar nicht wichtig, nur um ein paar Minuten später auffällig oft auf Toilette zu verschwinden.

Als sie nach dem vierten Mal wieder zurückkehrt und sich neben mich setzt, nagele ich sie fest. »Okay, entweder hast du bereits in deinem Alter eine Blasenschwäche oder an deiner Angel baumelt der nächste Liebeskandidat. Raus mit der Sprache!«

Sie grinst über das ganze Gesicht und schüttelt den Kopf.

»Was soll das heißen?« Ich ahme ihr Kopfschütteln nach und runzele die Stirn. »Du willst nicht über deine Eroberung reden? Bist du krank?« Mit einer Hand befühle ich ihre Stirn.

»Ich bin nicht krank«, erwidert Roni und schiebt meine Hand weg. Das Grinsen in ihrem Gesicht wirkt immer beunruhigender. So habe ich sie ja noch nie gesehen.

»Ach, du Schreck!« Anja starrt sie mit offenem Mund an. »Ich glaub's ja nicht.«

Ich beginne zu ahnen, was sie damit meint, und reiße nun ebenfalls die Augen auf. »Ron, ist das dein Ernst?«

»Hört auf damit!« Kichernd hält sie sich ein Kissen vors Gesicht.

»Sie kichert wie ein verknalltes Schulmädchen.« Anja legt sich eine Hand auf die Brust und seufzt. »Dass ich das noch erleben darf!«

»Wer hat es dir denn so schwer angetan?«, erkundige ich mich neugierig und nehme Roni das Kissen weg.

»Ihr kennt ihn nicht«, weicht sie mir aus und zuckt mit den Schultern. »Ich kenne ihn ja selbst kaum, aber das wird sich bald ändern.«

»Wo hast du ihn aufgegabelt?«

»Ähm ... auf der Straße getroffen. Wir haben scheinbar einen gemeinsamen Lieblingsbäcker.«

Die nächste halbe Stunde quetschen Anja und ich sie abwechselnd über ihr momentanes Zielobjekt aus und sind sehr überrascht, wie bedeckt sie sich dabei hält. Es scheint also wirklich ernster zu sein, als wir es von unserer Schwester gewohnt sind. Und da sage noch einer, Wunder gäbe es nicht!

»Wann lernen wir ihn kennen?«, hakt Anja schließlich nach.

»Das überlege ich mir noch.« Roni bekommt das Grinsen wohl gar nicht mehr aus dem Gesicht.

»Auf jeden Fall wird Mama dem Herrn auf Knien danken, dass ihre abtrünnige Tochter endlich zur Vernunft gekommen ist«, wende ich ein.

»Behaltet es bloß für euch. Vielleicht entpuppt er sich bald schon als Reinfall, und wir wollen ihr doch keine falschen Hoffnungen machen.« Kaum hat Roni den Satz beendet, beginnt sie erneut zu kichern.

Kapitel: 8

 

 
In den nächsten Wochen bekommen wir Roni kaum noch zu Gesicht, doch das merke ich so gut wie gar nicht, denn ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, mein Café vor dem Untergang zu bewahren. Ich schufte von früh bis spät in der Küche, setze das neu erarbeitete Konzept bald um und bete, dass ich und mein verdammter Dickschädel uns kein Grab geschaufelt haben, als wir beschlossen, Benjamin Mynard mit Verachtung zu strafen und aus der Küche zu werfen.

Die Bilanz am Ende des ersten Monats nach der Mieterhöhung fällt alles andere als positiv aus. Zwar kommen meine neuen Törtchen sehr gut an, und wir können uns einige neue Stammkunden sichern, doch das reicht bei Weitem nicht aus, um die neue Miete aufzubringen. Ich muss den Rest von Anjas Erspartem hinblättern, um mich über Wasser zu halten und den Untergang noch ein wenig hinauszuzögern.

»Nicht aufgeben, Liebes«, versucht Else mich am Abend aufzumuntern, als wir zu zweit in meinem winzigen Büro stehen und ich die neuen Zahlen ins Buch eintrage. »Wir brauchen bloß etwas mehr Zeit.«

»Die haben wir aber nicht«, entgegne ich flüsternd und kämpfe mühsam darum, nicht loszuheulen. »Die nächste Monatsmiete bekommen wir nicht zusammen, auch wenn sich der Verkauf der Törtchen auf wundersame Weise verdoppeln sollte.« Ich sehe, dass sie noch etwas sagen möchte, schüttele den Kopf und bringe sie damit zum Verstummen.

Später fahre ich zu Anja und heule ihr Lieblingskissen voll, während ich mich zuerst fluchend über Benjamin Mynard beschwere und dann im Selbstmitleid – und in meinen Tränen – bade.

»Sprich doch noch einmal mit ihm«, schlägt Anja daraufhin vor und versorgt mich mit einem Kilo Kummer-Schokolade. »Spring über deinen Schatten und handle einen neuen Vertrag aus.«

»Und dann? Soll ich den Rest meines Lebens damit verbringen, mich dafür zu schämen, dass ich mir das Café mit meinem Körper erkauft habe?« Ich ziehe die Nase hoch und schüttele den Kopf. »Ich würde mich mein Leben lang hassen und womöglich irgendwann auch mein Baby, weil es mich dazu getrieben hat, diesen Schritt zu gehen. Nein, ich muss jetzt zusehen, dass ich den Karren aus dem Dreck hole und mir einen Job suche, um meinen Kredit abzubezahlen. Und dein Erspartes zurückzugeben.«

»Ach, Emmi, das alles ist so verzwickt!« Sie nimmt mich fest in den Arm und drückt mich, bis ich endlich aufhöre zu schluchzen.

 

 

***



In der nächsten Zeit muss ich die schwersten Schritte meines Lebens gehen. Ich berichte meinen Angestellten mit feuchten Augen, dass ich sie bald nicht länger beschäftigen kann, kündige schweren Herzens meinen Vertrag und bemühe mich, das Geld für den Verlauf der Kündigungsfrist, die zum Glück nur einen Monat beträgt, noch zusammenzukriegen, ohne mich vorher aus Verzweiflung von der Brücke zu stürzen.

Als Leon eines Tages im Café auftaucht, stürze ich mich stattdessen in seine Arme und suche etwas Trost bei meinem kleinen Bruder, der mich um fast zwei Köpfe überragt.

»Em, wieso gehst du nicht zu Paps und bittest ihn um Hilfe?«, fragt er, nachdem ich ihm berichtet habe, was los ist.

Ich seufze übertrieben tief und schüttele den Kopf. »Ich werde ganz sicher nicht bei ihm angekrochen kommen, sobald ich Geld brauche!«

»Er vermisst Roni und dich, das habe ich euch schon oft genug erzählt. Er wird es dir garantiert nicht übel nehmen, dass du ihn aus einer Notsituation heraus endlich kontaktierst.«

»Aber ich nehme es ihm übel, was er bei Mama abgezogen hat«, halte ich dagegen. »Und jetzt lass mich damit in Ruhe, ich habe auch so schon genug Probleme. Hilf mir lieber dabei, die Sachen hier in die Kartons zu packen.«

Abends heule ich mich wieder in den Schlaf, morgens stehe ich in aller Frühe auf und gehe ins Café, um zu backen und nebenbei die Räume zu leeren. Und das jeden Tag. Auch am Wochenende. Im Grunde bestehe ich nur noch aus Eiern, Mehl und einer ungesunden Portion Trauer und Wut.

»So kann das doch nicht weitergehen«, sagt Roni, als wir uns zwei Wochen vor der Schließung meines Ladens bei Anja zusammenfinden. »Du siehst furchtbar aus, Emma! Wer auch immer dir erzählt hat, dass dunkle Ringe unter den Augen als Smokey Eyes durchgehen, sollte gehängt werden. Du brauchst ganz dringend Urlaub!«

»Ich kann mir keinen Urlaub leisten«, erwidere ich lustlos und lege meinen müden Kopf auf meinen verschränkten Armen ab. »Wenn ich nicht bald einen neuen Job finde, muss ich auf der Straße betteln. Und den anderen Obdachlosen sind meine Smokey Eyes scheißegal«, brumme ich in die kleine Kuhle zwischen meinen Unterarmen.

»Anja, jetzt hilf mir doch mal!«, fordert Roni unsere ältere Schwester auf. »Sag Emma, dass sie dringend Erholung von dem ganzen Stress braucht.«

»Ich denke, Ronis Vorschlag ist gar nicht so schlecht«, meldet sich nun Anja zu Wort. »Wir legen zusammen und lassen es uns für eine Woche gut gehen. Last Minute wird es auch nicht so teuer.«

Ich schüttele den Kopf, und meine Stirn reibt dabei schmerzhaft über meine knochigen Unterarme. In letzter Zeit bin ich kaum zum Essen gekommen und habe ordentlich an Gewicht verloren, was meinen sonstigen weiblichen Rundungen alles andere als gutgetan hat.

»Überlasse es einfach mir«, vernehme ich Roni erneut. »Du brauchst dich um nichts zu kümmern, lediglich am vorgegebenen Datum pünktlich am Flughafen zu erscheinen.«

Es klingt so verlockend, all meinen Problemen und dem Kummer für eine kurze Weile zu entfliehen, dass ich nichts mehr dagegen einwende. Vielleicht hilft es mir sogar, neue Energie zu tanken und anschließend mein Leben aus dem riesigen Haufen Scheiße, in den ich es gesetzt habe, zu ziehen. Schlimmer kann es durch den Urlaub zumindest nicht mehr werden.

 

 

***



Am letzten Tag unserer Zusammenarbeit sitzen Else, Daria und ich lange in den nun geschlossenen Räumen und betrinken uns mit einem Likör, den Else mitgebracht hat. Immer wieder laufen meine Augen über, und ich bekämpfe die Tränen mit einem weiteren Kurzen. Am Ende des Tages bin ich betrunken und todtraurig, während ich nach Hause torkele. Ich bemerke das riesige Monstrum von einem Wagen vor meiner Haustür erst, als ich beinahe dagegen laufe. Die Fahrertür geht auf und Benjamin Mynarsch steigt aus.

»Das hat mir heute noch gefehlt«, brumme ich vor mich hin und eile weiter zum Eingang.

»Emma!« Er kommt mir nach und holt mich an der Tür ein. »Warte doch bitte.«

»Nicht auf dich.« Ich ramme den Schlüssel ins Schloss, bin froh, dass ich es auf Anhieb schaffe, und drehe ihn herum.

»Wir können neu verhandeln«, setzt er an, und ich unterbreche ihn mit einem tödlichen Blick.

»Ich habe es dir schon einmal gesagt: Ich brauche deine Almosen nicht. Also scher dich zum Teufel damit!«

»Wieso bist du so stur? Ich gebe dir die Möglichkeit, dein Café zu behalten.«

»Nein, du gibst mir die Möglichkeit, ewig in deiner Schuld zu stehen, bloß weil ich so dumm und notgeil war, mit dir in die Kiste zu steigen.«

»Damit hat es nichts zu tun«, entgegnet er. »Ich lasse mich nicht mit Sex kaufen.«

»Ja, klar! Bevor wir uns auf der Hochzeit begegnet sind, konntest du nicht einmal fünf Minuten deiner kostbaren Zeit für mich erübrigen. Und danach willst du auf einmal neu mit mir verhandeln. Jeder Idiot würde dort einen Zusammenhang sehen.« Ich öffne die Tür und schlüpfe hindurch. »Ein schönes Leben noch, Arschgesicht!« Hastig knalle ich ihm die Tür vor der Nase zu und schließe ab, bevor ich die Stufen nach oben zu meiner Wohnung laufe.

Die Begegnung mit dem Mann, der mein Leben zerstört hat, hat auch etwas Gutes bewirkt: Ich bin nicht länger deprimiert und todtraurig, sondern wütend. Ja, fuchsteufelswild sogar. Fluchend arbeite ich mich bis zu meinem Bad und anschließend ins Schlafzimmer vor. Ich beschimpfe Benjamin Mynard und belege ihn mit den schlimmsten Flüchen, die mir einfallen, bevor ich ins Bett plumpse, mein Gesicht ins Kissen presse und losheule. Wann ist dieser scheinbar unendlich tiefe Quell an Tränen endlich aufgeschöpft? Hat er überhaupt ein Ende? Ich hoffe es sehr, denn dieses ständige Heulen kotzt mich tierisch an.

 


Am nächsten Morgen tauchen meine Schwestern viel zu früh bei mir auf, und Roni schaut mich entsetzt an. »Em, du siehst furchtbar aus!«

»Kein Wunder, wenn ihr mich so früh aus dem Bett holt«, erwidere ich und lasse Kaffee durchlaufen.

»Der Tag gestern war übel, hm?« Sie stellt sich zu mir und nimmt mich einmal fest in den Arm.

Ich löse mich schnell von ihr und schüttele den Kopf. »Lass uns nicht darüber reden, ja? Denn sonst fange ich an zu heulen und höre nie wieder damit auf.«

»Okay. Sprechen wir über etwas Schönes – unseren Urlaub.«

Sie und Anja haben tatsächlich etwas gebucht und verraten mir nicht, wohin es gehen soll. Ich weiß nur, dass wir bereits in drei Tagen fliegen, ich keine warmen Klamotten einpacken soll und stattdessen heiße Dessous, wenn es nach Roni geht. Ein Trip an den Nordpol wird es wohl nicht werden. Schade eigentlich, dort hätte ich mich wenigstens in dem eiskalten Wasser schnell ertränken können.

»Wollt ihr mich wirklich mitnehmen?«, erkundige ich mich nun zum wiederholten Male. »Ich werde euch bloß mit meiner miesen Laune den Spaß verderben.«

»Nein, wir werden dich schnell aufheitern«, entgegnet Roni lächelnd. »Und vielleicht lernst du einen tollen Kerl kennen, der dich alle Sorgen vergessen lässt.«

Ich setze eine finstere Miene auf. »Mir können alle Kerle dieser Welt gestohlen bleiben!«

Wir werden von dem Klingeln meines Handys unterbrochen. Ich bedeute Roni mit einem Finger an den Lippen, leise zu sein, und gehe ran.

»Hi, Em. Na, was machst du?« Es ist Leon, und er kling viel zu fröhlich. In meiner momentanen Stimmung erwarte ich etwas mehr Finsternis, von jedem.

»Im Selbstmitleid baden«, erwidere ich.

»Klingt aufregend. Ich unterbreche dich nur ungern dabei, aber ich habe mit Paps gesprochen und er möchte dir -«

»Ich unterbreche dich sehr gern, bevor du noch mehr sagst«, fahre ich ihm ins Wort. »Leon, wir haben doch darüber gesprochen. Ich möchte keine Hilfe von ihm.« Ich ignoriere die Blicke meiner Schwestern und wende mich ab.

»Komm, jetzt vergiss doch mal deinen Stolz.«

»Es hat nichts mit Stolz zu tun.« Okay, das entspricht nicht ganz der Wahrheit, aber vordergründig geht es hierbei wirklich um etwas anderes. »Ich habe unserem Vater nicht verziehen. Jetzt sein Geld anzunehmen, wäre heuchlerisch. Und außerdem ist es zu spät.«

»Wie meinst du das?«

»Das Café ist verkauft. Gestern war der letzte Tag. Ich habe es nicht mehr.«

Am anderen Ende bleibt es kurz still. »Oh, Em, das tut mir leid«, sagt Leon dann, und der mitfühlende Ton in seiner Stimme treibt mir die Tränen in die Augen.

»Ist ja nicht deine Schuld«, entgegne ich. Nein, es ist die Schuld von einer anderen Person. Und vielleicht auch ein wenig meine, aber darüber möchte ich jetzt nicht nachdenken.

»Kann man da gar nichts mehr machen?«, fragt er einen Moment später.

»Nein. Das Projekt Café SchLemma ist gescheitert. Ich muss mir jetzt einen neuen Job suchen und den Haufen Schulden abbezahlen, den ich angehäuft habe.« Allein an den horrenden Kredit zu denken, bereitet mir Kopfschmerzen. »Du, Leon, Roni und Anja sind hier, wir telefonieren ein andermal, ja?«, fahre ich schnell fort.

»Ja, okay. Lass den Kopf nicht hängen, Em. Wir sind alle für dich da.«

»Ich weiß, danke.«

Wir verabschieden uns, und ich drehe mich wieder zu meinen Schwestern um. »Das war Leon. Er wollte mir Vaters Geld andrehen. Und bevor du, Anja, mir sagst, wie doof es ist, Vaters Angebot auszuschlagen, sage ich gleich: Ich will nicht mehr über dieses Thema sprechen.«

Ohne ein Wort zu äußern, reicht Roni mir ein Taschentuch.

»Danke.« Ich schniefe los und tupfe mir die feuchten Augen ab. »Werde ich irgendwann wieder aufhören zu heulen?«

»Ja, sobald du deinen Verlust akzeptiert hast und damit anfängst, nach vorne zu blicken. Es ist nicht einfach, ich weiß, aber auch nicht unmöglich. Vielleicht kannst du ja eines Tages ein neues Café eröffnen. Nichts ist unmöglich, Emma.« Anja, wie sie leibt und lebt. Praktisch veranlagt, lässt sie sich selten von ihren Gefühlen leiten. Wenn etwas nicht so ist, wie sie es haben möchte, dann ändert sie es oder akzeptiert es, falls es nicht zu ändern ist. Ich wünschte, ich könnte das auch, aber leider werde ich meist von meinen Emotionen übermannt und handle kopflos. Dann gerate ich in Schwierigkeiten, die mich zu ersticken drohen.

»Was auch immer ...« Seufzend lasse ich mich auf einen der Stühle plumpsen. »Also, wann fliegen wir?«



***

  


Ich habe beinahe vergessen, wie es ist, dem potenziellen neuen Arbeitgeber schöne Augen zu machen, um ihn davon zu überzeugen, dass ich die Richtige für die Position bin, für die sich wahrscheinlich unzählige andere beworben haben. Und ich hasse es. Jedes Mal vor einem Bewerbungsgespräch schwitze ich wie verrückt und bete zu einer höheren Macht, dass ich mich nicht bis auf die Knochen blamiere. Nach dem sechsten solchen Termin, deren Vorgänger allesamt mit demselben Satz endeten: »Vielen Dank, wir melden uns«, bin ich so deprimiert, dass ich kurz überlege, zu Benjamin Mynard zu fahren und meinen Stolz ganz tief zu begraben, um ihn um eine zweite Chance zu bitten. Letztendlich entscheide ich mich dagegen. Dieser Zug ist abgefahren, und sollte ich dem Typen irgendwann wieder begegnen, kann ich ihm getrost die Augen auskratzen, denn ich brauche nicht länger Rücksicht auf ihn und seine Position zu nehmen.

Als hättest du es auch nur einmal getan, stichelt meine innere Stimme. Vielleicht hätte ich es tun sollen, dann wäre ich jetzt nicht arbeitslos, verschuldet und unglücklich.

Später am Abend ruft Roni an und erinnert mich zum tausendsten Mal daran, dass ich meinen Koffer packen soll, da wir bereits am nächsten Tag losfliegen. Ich konnte bis jetzt nicht herausfinden, wohin die Reise geht. Trotz aller Versuche - von großartigen Versprechungen bis hin zu schrecklichen Drohungen - schweigen meine beiden Schwestern wie das sprichwörtliche Grab.

»Es ist doch kein Party-Urlaub auf irgendeiner Insel, wo an jeder Ecke besoffene Jungs sitzen und laut Titten brüllen?«, habe ich mich mehrmals versichert und glücklicherweise jedes Mal ein Kopfschütteln als Antwort erhalten. Das hat mich ungemein beruhigt, denn was ich jetzt am wenigsten gebrauchen kann, sind irgendwelche auch nur ansatzweise männlichen Wesen um mich herum.

»Ich bin so gut wie fertig«, erwidere ich auf Ronis Anweisung hin und betrachte den noch komplett leeren Koffer, der aufgeklappt auf meinem Bett liegt.

»Super! Vergiss die heißen Dessous nicht«, kommt es am anderen Ende zurück.

»Wozu brauche ich heiße Dessous?«, hake ich skeptisch nach. Ich habe eigentlich angenommen, dass es ein Scherz gewesen ist.

»Man braucht immer heiße Dessous, Emmi.«

»Nicht, wenn man sie niemandem zeigen möchte. Und glaub mir, meine Unterwäsche bekommt niemand so bald zu Gesicht. Kann es sein, dass du irgendeinen Unsinn planst, Ron?«

»Entspann dich, Schwester.« Sie lacht ausgelassen. »Pack ein, was auch immer du brauchst. Der Urlaub wird dir guttun, vertrau mir.«

»Jedes Mal, wenn jemand vertrau mir sagt, bekomme ich ein ganz komisches Gefühl. Vor allem bei dir.«

Sie lacht erneut. »Du bist schon paranoid. Und jetzt pack deinen Koffer zu Ende und geh früh schlafen. Wir sind morgen um kurz nach sieben bei dir.« 

Wir verabschieden uns, und ich lege auf. Dann verdränge ich das ungute Gefühl, das mich eben beschlichen hat, und öffne die Türen meines Kleiderschranks. 

Zwei Stunden später bin ich fertig mit Packen und leider immer noch nicht müde genug, um, wie von Roni befohlen, früh ins Bett zu gehen. Stattdessen werde ich mal wieder von einem Heulanfall heimgesucht und verkrieche mich mit einer Tafel Schokolade auf dem Sofa unter der Decke, während im Fernsehen ein übertriebener Action-Streifen mit viel Blut-Gespritze läuft, der meine Fantasie ordentlich beflügelt.

Kapitel: 9

 


Roni und Anja sitzen im wartenden Taxi, als ich am nächsten Morgen mit meinem schweren Koffer und notdürftig überschminkten Augenringen aus der Haustür trete. Der Taxifahrer steigt aus und hilft mir, mein Gepäck zu dem meiner Schwestern in den Kofferraum zu legen. Anschließend setze ich mich zu Anja auf die Rückbank.

»Morgen«, grüße ich murmelnd.

»Guten Morgen, Sonnenschein«, erwidert Roni lächelnd vom Beifahrersitz her. »Wie ich sehe, hast du meinen Rat nicht befolgt. Das wird nur entschuldigt, wenn ein männliches Objekt dich vom Schlaf abgehalten hat.«

»Verliebte, gut gelaunte Menschen sind so widerlich«, brumme ich in meinen Schal.

»Ich bin nicht verliebt!«

»Ja, sicher, dein Macker ist bloß so gut im Bett, dass du ihn gleich behältst.«

Roni schaut zu Anja. »Wir sollten den Brummbären zu Hause lassen.«

»Habe ich euch ja gesagt«, wende ich nickend ein. »Aber ihr wolltet nicht hören.«

»Wir werden Emma schon noch aufheitern.« Unsere große Schwester lächelt zuversichtlich.

Ich sage nichts mehr dazu, auch wenn ich mir ziemlich sicher bin, dass mich in nächster Zeit nichts und niemand aufheitern kann. Erst muss sich die blutende Wunde, die der Verlust meines Babys hinterlassen hat, schließen. Und das wird lange dauern.

Wir brauchen eine knappe halbe Stunde bis zum Flughafen, und die ganze Zeit versuche ich, mehr über diesen Trip herauszubekommen. Leider sind meine beiden Schwestern verdammt gut darin, ihre Münder zu halten. Nun, zumindest dann, wenn man es nicht braucht.

Im riesigen Gebäude des Flughafens geht es recht schnell. Wir geben das Gepäck ab, trinken noch einen Kaffee und nehmen schließlich unsere Plätze im Flugzeug ein. Da die beiden den Brummbären friedlich stimmen wollen, darf ich am Fenster sitzen. Ich liebe das Fliegen und genieße das heftige Kribbeln im Bauch, sobald die Maschine in die Luft steigt. Roni, die neben mir sitzt, geht es da ganz anders: Sie krallt ihre langen Fingernägel in die Armlehne und sieht so aus, als würde sie sich in die Hosen machen.

»Schau doch mal aus dem Fenster, Ron«, sage ich fies grinsend.

»Amüsierst du dich gerne über das Leid anderer?«, entgegnet sie und atmet tief ein und aus.

»Manchmal. Dann, wenn diese Personen mich an einen Ort schleppen, den sie mir nicht verraten möchten, und mich die Ahnung beschleicht, dass sie etwas Übles im Schilde führen.« Mittlerweile weiß ich lediglich, dass es nach Spanien geht, nichts weiter.

Jetzt lächelt Roni ganz unschuldig. »Moi?«

»Nein, du ganz bestimmt nicht.« Ich schaue aus dem Fenster und erfreue mich am Anblick der immer kleiner werdenden Häuser und Straßen. Ach, wenn ich doch für immer hier oben in den Wolken bleiben könnte, weit weg von allen Problemen und Sorgen.

»Ich verrate dir etwas, Em«, meldet sich Roni wieder zu Wort, als wir die maximale Flughöhe erreicht und ihre Krallen sich aus der Lehne gelöst haben. »Du wirst schon bald meinen Neuen kennenlernen.«

Überrascht blinzele ich sie an. »Tatsache?«

»Ja. Ihm gehört das Haus, in dem wir die nächste Woche bleiben werden.«

»Er lebt in Spanien?«, hake ich nach.

»Nein, aber er hat dort ein Ferienhaus.«

»Hast du dir einen reichen Macker geschnappt?« Ich rümpfe leicht die Nase. Das passt eigentlich so gar nicht zu meiner freiheitsliebenden, unabhängigen, rebellischen Schwester, die keinen Mann braucht, der sie verwöhnt.

»Er ist vermögend, aber ich lasse mich garantiert nicht von ihm aushalten«, entgegnet sie nachdrücklich.

»Was macht er beruflich?«, frage ich weiter.

»Irgendwas mit Finanzen ... Buchhaltung.«

»Wieder ein Buchhalter? Oder etwa der Hengst, von dem du uns schon mal erzählt hast?«

»Gott, nein. Elias siehst du seinen langweiligen Job nicht gleich an.«

»Elias heißt er also.« Ich lächele zufrieden. So langsam setzt sich das Puzzle des rätselhaften Mannes, der meine unbeständige Schwester erobern konnte, zusammen.

»Ja, Elias.«

»Wie alt? Wie sieht er aus?«

»Dreiunddreißig. Wie er aussieht, wirst du selbst sehen können, sobald wir da sind.«

»Dann verbringen wir den Urlaub mit deinem Neuen?« Ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll.

»Mit ihm und ... ein paar Freunden.«

Das ungute Gefühl beschleicht mich erneut, und ich ziehe die Augenbrauen in der Mitte zusammen. »Mit ein paar Freunden? Ich hoffe doch, die sind allesamt weiblich, verheiratet oder über siebzig.«

»Zwei weibliche Personen sind dabei.«

»Und wie viele männliche?«

Roni tut so, als müsste sie schwer überlegen.

»Ron!«

»Neben Elias noch drei weitere. Ich werde dich nicht verkuppeln«, fügt sie schnell hinzu, als ich meinen Mund bereits öffne, um loszuwettern.

»Schwöre mir, dass keiner dieser Typen da ist, damit ich mich mit ihm ablenken kann!«, fordere ich sie auf und spüre, wie schnell mein Herz klopft. Im Moment ist mir wirklich nicht danach, Männer kennenzulernen. Nicht nach dem riesigen Reinfall mit ... Hab-den-Namen-vergessen.

»Keiner von diesen Typen ist da, damit du mit ihm in die Kiste steigst.« Roni schaut mir fest in die Augen. »Das schwöre ich dir.«

»Gut.« Ich lehne mich etwas entspannter zurück. »Dann sind zwei von ihnen hoffentlich an die beiden Frauen vergeben und der Dritte schwul.«

Jetzt lächelt sie. »Lass dich einfach auf diesen Urlaub ein, Emmi. Und es wird sicher alles nicht mehr so schwarz aussehen, sobald wir zurück sind. Du musst es nur zulassen.«

Das glaube ich nicht, aber ich nicke. Einen Urlaub kann ich wirklich gut gebrauchen nach dem Trubel der letzten Wochen. Für meine Schwester hoffe ich, dass sie mich nicht anlügt. Denn sollte sie nicht ehrlich sein und doch etwas planen, wird mein Vertrauen zu ihr einen ganz schönen Knacks abbekommen.

Vier Stunden später sitzen wir in einem Taxi und fahren zu dem Haus von Elias. Wenn ich die in mir tobenden Gefühle wie Wut, Trauer und Misstrauen ausblende, dann verspüre ich sogar wahrhaftige Vorfreude, da wir uns am Meer befinden und ich bald den Mann kennenlernen werde, der Roni für sich gewinnen konnte. Er muss etwas Besonderes sein und sollte in einem Museum ausgestellt werden.

Das Haus, vor dem wir schließlich halten, ist von außen schon mal wunderschön und sehr einladend. Eine richtige Finca im mediterranen Stil, wie ich sie schon oft verträumt und sehnsuchtsvoll in Reisekatalogen betrachten konnte.

Der Taxifahrer hilft uns, das Gepäck aus dem Kofferraum zu hieven, bevor er davonfährt. Einen Moment später ertönt die Stimme eines Mannes hinter uns, und als ich mich umdrehe und zu der kurzen Treppe schaue, die zur Haustür führt, durchfährt mich ein kleiner Adrenalinstoß, sobald ich ihn sehe. Ich kenne diesen Mann, auch wenn ich nicht einordnen kann, woher.

Mit gerunzelter Stirn beobachte ich, wie er auf uns zukommt und Ronis Gesicht in die Hände nimmt, um sie zu küssen. Anschließend wirft sie mir einen Blick zu, den ich nicht deuten kann, der das flaue Gefühl in meinem Magen jedoch verstärkt.

»Da seid ihr ja endlich!«

Verwirrt schaue ich erneut zur Treppe, als dort eine Person auftaucht, mit der ich nie im Leben gerechnet hätte.

»Was macht denn Sandy hier?«, murmele ich vor mich hin, während sie uns strahlend zuwinkt. Ein Urlaub mit Sandy ... Ist das Ronis Ernst? Hat sie unsere Cousine eingeladen, um mich aufzumuntern? Ehrlich?

Und plötzlich macht es Klick.

Ich starre noch einmal zu Elias, der seine Finger nicht von meiner Schwester lassen kann, und schüttele den Kopf, in dem meine Erinnerung in schnellen Bildern abläuft.

Der Trauzeuge auf Sandys Hochzeit. Das Sahneschnittchen. Der Kerl, der neben Benjamin Mynard gesessen und sich oft mit ihm unterhalten hat.

Mein Herz beginnt zu rasen, sobald ich eins und eins zusammengezählt habe.

»Emma?« Anja sieht mich besorgt an.

»Ist er auch hier?« Meine Stimme ist leise und kalt.

Roni tritt zu mir und greift nach meinen Händen. »Ben ist Elias' bester Freund. Sie arbeiten zusammen und ...«

»Ist er auch hier?«, unterbreche ich sie scharf und sehe sofort, wie sie sich windet. Da habe meine Antwort. »Ich kann es nicht glauben, Ron!« Hastig schüttele ich ihre Finger ab und greife nach meinem Koffer. Dann drehe ich mich um und laufe los.

»Emma, wo willst du denn hin?«, erklingt es sogleich hinter mir.

»Du kannst mich mal, Veronika!«

»Emmi ...« Sie holt mich ein und versperrt mir den Weg.

Ich knurre förmlich, während ich sie mit den mörderischsten Blicken, die ich zustande bringe, erdolche. »Du weißt genau, wie sehr ich diesen Kerl verachte, und dann soll ich meinen Urlaub ausgerechnet mit ihm verbringen? Hat Elias dir das Hirn rausgevögelt?«

Roni zuckt leicht zusammen. Die Male, bei denen wir uns richtig gestritten haben, kann ich an einer Hand abzählen, daher trifft es sie auch, dass ich jetzt so wütend auf sie bin. Und, bei Gott, das bin ich!

»Süße, geh doch schon mal ins Haus.« Plötzlich taucht ihr Neuer neben ihr auf und streichelt ihr liebevoll über die Wange. Ich verziehe sofort das Gesicht.

Nachdem Roni gegangen ist, richte ich meine ganze Wut auf mein neues Gegenüber. »Es freut mich wirklich sehr, den Mann an der Seite meiner Schwester kennenzulernen, aber leider ist sein bester Freund ein mieses Arschloch, und deshalb möchte ich nichts mit ihm zu tun haben«, zische ich und dränge mich an ihm vorbei, um meinen Weg in unbestimmte Richtung fortzusetzen.

»Die nächste Ortschaft liegt rund fünf Kilometer von hier entfernt«, bemerkt Elias neben mir. »Das wird ein langer Weg.«

Ich bleibe stehen und schließe kurz die Augen, atmete einmal tief durch. »Dann rufe ich mir eben ein Taxi.« Ich greife in meine Handtasche und hole mein Handy hervor.

»Emma, bitte, bleib hier.«

»Nein.« Ich rufe das Internet auf und warte, bis meine Verbindung funktioniert. Dabei halte ich meine Hand in die Luft, in der Hoffnung, den Vorgang zu beschleunigen.

»Ich kann mir vorstellen, dass diese Situation nicht einfach für dich ist, aber ich würde dich wirklich gerne kennenlernen. Roni hat mir so viel über ihre Schwestern erzählt -«

»Und Joe ... Benjamin hat dir bestimmt auch einiges über mich erzählt«, fahre ich ihm ins Wort und gehe ein paar Schritte weiter.

»Durchaus. Unter anderem, wie leid es ihm tut, dass es zwischen euch so schiefgelaufen ist.«

Ich stoße ein Schnauben aus. »Ja, sicher.«

»Er ist kein übler Kerl, Emma.«

»Du bist sein bester Freund, also verzeih mir, dass ich deine Meinung für ziemlich subjektiv halte.« Seufzend schüttele ich mein blödes Handy, das hier scheinbar keinen Empfang hat. »Wo sind wir hier überhaupt? Kannst du mir eine Taxi-Nummer geben?«

»Möchtest du nicht wenigstens einen Tag bleiben und sehen, ob ihr nicht doch miteinander klarkommt?«, entgegnete er anstelle einer Antwort.

»Nein, ich verzichte.«

»Roni ist mir sehr wichtig«, fährt er fort. »Ben ist mein bester Freund, du ihre Schwester ... Wir sollten einen Weg finden, damit das funktioniert. Ich weiß, dass das ganz schön schwer für dich sein muss, aber wäre es möglich, dass du es wenigstens versuchst?«

Obwohl ich verdammt wütend auf meine Schwester bin und sie im Moment am liebsten im Meer ertränken würde, kann ich den Kern seiner Aussage nicht ignorieren. Scheinbar hat er es Roni wirklich angetan. Sie wird viel Zeit mit ihm verbringen, was sie ja bereits die letzten Wochen getan hat. Wenn ich ihr also irgendwann vergeben habe, dass sie mich so hintergangen hat, werde ich Elias öfter zu Gesicht bekommen. Und dann jedes Mal zu verlangen, dass er seinen besten Freund wegschickt, wäre ziemlich egoistisch. Vielleicht auch gar nicht möglich. Es muss also eine andere Lösung geben.

Das zumindest sagt mir der vernünftige Teil meines Hirns. Der andere Teil klammert sich an der Wut und Scham fest, die ich empfinde, wenn ich an Benjamin Mynard denke. Wie soll ich ihm je unter die Augen treten, ohne im Boden zu versinken oder ihm an die Gurgel zu gehen? Das erscheint mir unmöglich.

»Er hat einen großen Fehler begangen, das streitet keiner ab, aber vielleicht kann er ihn wiedergutmachen, wenn du ihn lässt.«

Ich schüttele den Kopf. »Er soll sich einfach von mir fernhalten.«

»Ihr müsst nicht in einem Bett schlafen«, macht Elias einen lahmen Scherz, woraufhin ich die Augen zu kleinen Schlitzen verziehe. »Okay, dafür ist es wohl noch etwas zu früh, sorry!« Er lächelt entschuldigend und streckt mir eine Hand hin. »Also, wir fangen von vorne an, ja? Hallo, Emma, es freut mich sehr, dich endlich kennenzulernen.«

Ich schlage ein. »Ich würde das wirklich gerne erwidern, aber da ich weiß, mit welchen Leuten du so verkehrst, lasse ich mir noch etwas Zeit für eine endgültige Meinung über dich.«

»Das ist vernünftig.«

»Wenn ich jetzt in dieses Haus gehe, kann ich nicht versprechen, dass ich ruhig und vernünftig bleibe«, warne ich ihn vor. Ich kann selbst nicht glauben, dass ich nachgebe, aber ich liebe meine Schwester nun mal, und sie ist scheinbar in Elias verknallt. Er kann ja nichts dafür, dass sein bester Freund ein blödes Arschgesicht ist.

»Ben wird dich in Ruhe lassen«, versichert er mir im nächsten Moment. »Du entscheidest, wann du bereit bist, mit ihm zu reden.«

»Gut.« Ich würde nie im Leben jemals wieder mit ihm reden. Das einzige, was Benjamin Mynard von mir bekommt, ist die kalte Schulter. Und vielleicht auch ein paar bitterböse Blicke, wenn ich es nicht schaffe, ihn komplett zu ignorieren.

Elias greift nach meinem Koffer. »Dann komm.«

»Das schaffe ich schon allein.« Entschlossen nehme ich ihm mein Gepäck wieder ab und stapfe zurück zum Haus.

Durch die Eingangstür betreten wir kurz darauf einen hellen, mit glänzenden Fliesen ausgelegten Flur, ganz in Braun gehalten.

»Dein Zimmer ist oben«, sagt Elias und deutet zur Treppe. »Soll ich es dir zeigen?«

»Habe ich ein eigenes Zimmer?«

»Wir dachten, du teilst es mit Anja ... Ist das in Ordnung?«

Ich seufze. »Sie hat wahrscheinlich auch gewusst, wen ich hier antreffen werde, oder?«

»Sie hat eindeutig ihre Bedenken geäußert«, entgegnet er lächelnd. Es ist ein äußerst sympathisches Lächeln, aber ich kann es nicht genügend würdigen. Immerhin bin ich schon einmal auf ein falsches Lächeln hereingefallen.

»Welches Zimmer ist es?«, möchte ich wissen.

»Das letzte auf der rechten Seite.«

»Okay.« Ich gehe zur Treppe und schleppe meinen Koffer hoch.

Oben im Zimmer treffe ich auch schon auf Verräterin Nummer zwei. Ich ignoriere ihren erleichterten Blick - und die atemberaubende Aussicht aus dem großen Fenster - und stelle meinen Koffer neben dem noch freien Bett ab. Da ich nicht weiß, wie lange ich es in der Nähe von Größter-Fehler-meines-Lebens aushalten werde, packe ich meine Sachen nicht gleich aus.

»Emma, sprichst du noch mit mir?«, fragt Anja nach ein paar Minuten des bedrückenden Schweigens.

»Ich kann nicht glauben, dass ihr das wirklich getan habt.« Ich schüttele den Kopf und trete zum Fenster.

»Roni hat sehr lange überlegt, ob sie das hier einfädeln sollte.« Anja stellt sich neben mich. »Elias ist ihr sehr wichtig. Er und Ben stehen sich so nahe ...«

»Elias hat es mir schon erklärt«, fahre ich ihr ins Wort. »Ich verstehe es, aber ich bin trotzdem wahnsinnig wütend.«

»Und das verstehen wir.«

»Ich glaube nicht, dass der Hass auf diesen Mann sich je verflüchtigen wird«, fahre ich fort. Allein an ihn zu denken, lässt einen Feuerball in meinem Bauch aufglühen. »Aber Roni zuliebe werde ich versuchen, ihn zumindest nicht umzubringen. Auch wenn sie es nach dieser Aktion nicht verdient hat.«

Anja lächelt und legt einen Arm um meine Schultern. »Sie ist zum ersten Mal verliebt, Em. Du kannst nicht erwarten, dass sie noch vernünftig denkt.«

Diese Aussage bringt nun auch mich zum Lächeln. Vielleicht hat Anja nicht ganz unrecht. Unsere Schwester hat noch nie solche Gefühle für einen Mann empfunden, wenn man mal von den Schwärmereien als Teenager absieht, bei denen sie dachte, ohne den Popstar, in den sie gerade verknallt war, sterben zu müssen. Natürlich möchte Roni den Mann, der es ihr so sehr angetan hat, nicht verlieren, und genauso wenig möchte sie mich in den Hintergrund drängen. Deshalb versucht sie das Problem auf ihre Weise zu lösen. Keine besonders gute Weise, aber eine wirklich bessere fällt mir spontan auch nicht ein. Wenn ich vorher gewusst hätte, dass Benjamin Mynard hier ist, wäre ich nie im Leben mitgereist. Sie hat mich ins kalte Wasser geschmissen, weil sie sich nicht anders zu helfen wusste, und Anja hat es zugelassen.

»Wollen wir runtergehen und uns dem Unvermeidlichen stellen?« Meine große Schwester drückt mich an sich.

In meinem Magen wird es ganz flau. »Vielleicht sollte ich vorher ein paar Beruhigungspillen einwerfen.«

Sie lächelt und lässt mich los. »Komm schon, Emma Leimann, du lässt dich doch nicht von irgendeinem Typen aus der Ruhe bringen!«

Von irgendeinem Typen nicht, aber derjenige, mit dem ich eine ziemlich wilde Nacht verbracht habe und der mich belogen und hintergangen hat, ist durchaus dazu in der Lage, mir die Laune zu verderben.

Seufzend löse ich mich vom Fenster und gehe zur Tür. »Sobald ich es nicht mehr aushalte, verziehe ich mich aufs Zimmer. Und wenn er mich auch nur einmal blöd anguckt, schmeiße ich ihn die Klippen runter!«

Kapitel: 10

  


Die Treppenstufen sind mit zähem, klebrigem Sirup beschmiert - so fühlt es sich zumindest an, als ich Anja nach unten folge. Ich hätte so gerne jeden Zentimeter dieses traumhaften Hauses bewundert, aber ich bin zu sehr damit beschäftigt, mich auf das bevorstehende Wiedersehen mit dem Mann, den ich in den letzten Wochen auf jede erdenkliche Weise gehasst habe, vorzubereiten. Ich wünschte, ich wäre nur wütend und beschämt, aber ich bin auch furchtbar nervös. Denn obwohl ich es so gut wie möglich verdränge, ist da immer noch die Erinnerung an das, was ich gefühlt habe, als wir zusammen waren. An das verfluchte Knistern, das ich vorher nie so intensiv empfunden habe. Ausgerechnet bei diesem Mann!

Wir durchqueren das große Wohnzimmer und treten durch die breiten Türen auf die Terrasse. Ich sehe Benjamin sofort, wende aber demonstrativ den Blick ab. In meinen Ohren rauscht es leise, da mein Herz das Blut in einem schnellen Tempo durch meinen Körper pumpt.

»Emmi!« Roni kommt auf mich zu und umarmt mich schnell, und so fest, dass ich mich nur mit Anwendung von Gewalt aus ihrem Klammergriff befreien könnte. »Bitte, bitte, bitte hass mich nicht! Du weißt doch, dass ich dich ganz doll lieb habe und dir nicht schaden wollte.«

Ich kann Roni nicht länger böse sein, auch wenn sie es verdient hätte, noch eine Weile von mir mit Schweigen bestraft zu werden. Aber ihren Verrat werde ich nicht so schnell vergessen. In Zukunft werde ich stets auf der Hut sein. »Schon gut«, sage ich gepresst, weil sie mir die Luft abdrückt. »Ich bin noch hier, wie du siehst.«

»Ja, und ich bin so froh darüber!« Sie lässt mich los und lächelt breit. »Wir können immer noch einen schönen Urlaub haben, weißt du?«

Ich widerstehe dem Drang, zu dem Stuhl zu sehen, auf dem ein gewisser Störenfried sitzt. »Das Haus ist schön«, ringe ich mir ab.

»Und das Meer, und der Markt, den wir besuchen wollen«, zählt Roni auf. »Möchtest du etwas trinken? Jordan macht echt klasse Caipirinhas.« Sie deutet zu einem großen Kerl mit schokobrauner Haut und Glatze, der zusammen mit Sandys Ehemann am Grill steht.

Ach, da war ja noch etwas ...

Unsere Cousine und Phillipp gehören scheinbar zu der Clique von Elias und Arschloch, sonst wären sie wohl nicht hier. Es gibt also gleich zwei Personen, die mich in meinem sogenannten Urlaub auf die Palme treiben können. Wunderbar!

»Ich denke, ich nehme einen dieser klasse Caipirinhas«, sage ich und folge Roni rüber zu einem Tisch, auf dem die bereits zubereiteten Getränke stehen. Nach dem ersten Schluck nicke ich anerkennend. »Sehr lecker.«

Da Roni mich nun auch noch der letzten Frau im Bunde vorstellen möchte, komme ich nicht drumrum, in die unmittelbare Umlaufbahn des Mannes, den ich verabscheue, zu gelangen. Selina ist Jordans Freundin und sitzt zufälligerweise auf dem Stuhl neben ihm. Die Zähne fest zusammengebissen, reiche ich ihr kurz die Hand und spüre dabei seinen Blick auf meinem Gesicht, als würde er mich verbrennen. Gott, das hier wird ganz schön anstrengend!

Nachdem ich auch Jordan Hallo gesagt habe, kann ich mir endlich einen Platz möglichst weit weg von Benjamin Mynard suchen. Ich lande neben Anja auf einer Liege und streife die offenen Pumps von den Füßen ab.

»Schau dir diesen Ausblick an«, sagt meine Schwester verträumt und deutet mit dem Kinn zur niedrigen Mauer, die die Terrasse umgibt, und das Bild dahinter. Ein unendlich weites, in der Sonne glitzerndes Meer erstrahlt in seiner ganzen herrlichen Pracht.

»Wunderschön«, bestätige ich lächelnd.

»Hier lässt es sich aushalten, was?«

»Ja, wenn man sonst von ein paar lästigen ... Mücken absieht«, entgegne ich.

»Ich habe Insektenspray dabei.«

»Das hilft nicht gegen so große Blutsauger.«

Sie lächelt. »Du schlägst dich super, Emmi.«

»Noch. Solange diese fette Mücke mich in Ruhe lässt, werde ich sie nicht erschlagen.«

Sandy gesellt sich zu uns. »Wer hätte gedacht, dass sich unsere Wege wieder kreuzen würden? Nachdem wir uns auseinandergelebt hatten, dachte ich nicht, dass wir je wieder in denselben Kreisen verkehren würden.«

»In denselben Kreisen?«, wiederhole ich mit gerümpfter Nase. »Sind wir in einem historischen Roman gelandet?«

»Früher haben wir in Parks aus Pappbechern getrunken, heute sind wir in einer bezaubernden Finca und trinken aus Gläsern. Das nenne ich eine Steigerung.« Sandy kichert ihr affektiertes Kichern.

»Ja, wie praktisch, wenn man sich einen reichen Kerl angelacht hat.«

»Em.« Anja legt ihre Hand auf meine und drückt sie leicht.

Ich bin fies, ich weiß, aber ich mag Sandy einfach nicht. Und ich mag es nicht, dass eine gewisse andere Person so verflucht präsent ist, obwohl ich sie mit aller Macht zu ignorieren versuche. Des Weiteren geht mir meine schlechte Laune dermaßen auf den Senkel! Ich bin so unzufrieden, so traurig, verletzt, beschämt und wütend. Ich weiß nur leider nicht, wie ich mich aus diesem Teufelskreis herausholen soll.

Laute Musik erklingt von irgendwoher. Spanisch, wie ich schnell feststelle. Sanfte, melodische Klänge, untermauert von einer schönen weiblichen Stimme. Der Tumult in meinem Inneren wird von dem Klimpern der Gitarre ummantelt und wie eine Welle langsam aus meinem Körper gespült. Ich schließe die Augen und gönne mir einen Moment der Ruhe und des Friedens.

Leider Gottes dauert dieser Moment viel zu kurz, denn ich vernehme seine Stimme. Er unterhält sich mit Elias über etwas Geschäftliches. Augenblicklich ist der Frieden vorbei und ich sehe mein verlorenes Baby vor mir. Wahrscheinlich wurde es bereits an jemanden verkauft, der Büroräume daraus machen wird. Ich kann diesen Gedanken kaum ertragen. Und erst recht nicht das Lachen, das Benjamin Mynard im nächsten Moment verlauten lässt.

»Ich brauche noch einen Drink«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Alles okay?«, fragt Anja sofort.

»Nein, nichts ist okay, aber ich versuche, mich zu beherrschen.«

»Meinst du denn, dass Alkohol da wirklich die beste Lösung ist?«

Nein, das ist höchstwahrscheinlich die dümmste Lösung, aber was soll ich sonst tun? Wie soll ich sonst den Schmerz in mir betäuben? Womit? Ich könnte Benjamin natürlich auch den Mund stopfen, um seine Anwesenheit für mich so weit wie möglich auszulöschen, aber das würde er sich wohl kaum einfach gefallen lassen.

»Ich denke, du solltest noch einmal in Ruhe mit ihm sprechen«, sagt Anja in meine Gedanken hinein.

»Nein.«

»Warum nicht? Nenn mir einen guten Grund. Und ich meine einen wirklich guten. Verletzter Stolz ist keiner. Das zählt vielleicht für den Augenblick, aber nicht langfristig.«

Ich verschränke die Arme vor der Brust und schiele zu Sandy. Vor ihr werde ich garantiert nicht über so etwas Persönliches sprechen. Keine Ahnung, inwieweit sie bereits informiert ist, aber von mir bekommen ihre Langohren garantiert kein weiteres Futter.

»Emma, du musst jetzt nach vorne schauen ...«

»Anja, lass gut sein«, unterbreche ich sie.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«, bietet Sandy an und bringt mich damit beinahe zum Lachen.

»Das bezweifle ich sehr.«

»Ja, wir hatten in den letzten Jahren kaum noch Kontakt, aber ich bin jetzt eine verheiratete Frau und kenne mich in Liebesangelegenheiten aus.«

Ich schnaube. Klar, sie muss mir jetzt natürlich unter die Nase reiben, dass sie verheiratet ist und ich es nicht bin. »Es geht nicht um Liebesangelegenheiten«, entgegne ich genervt.

»Es hat etwas mit Ben zu tun, oder nicht?«

»Gott, jetzt lasst mich doch mal alle mit diesem Idioten in Ruhe!« Ich stehe auf und gehe zurück ins Haus. Weiß die halbe Welt, dass ich auf Benjamin Mynard hereingefallen bin? Steht es in irgendeinem Klatschblatt? Auf Facebook, Twitter und Instagram - oder wie diese Netzwerke im Internet heißen.

»Emma.«

Ich fahre herum und funkele mein Gegenüber wütend an. »Nein!«

Vor mir steht der Übeltäter und hebt seine Hände an als Zeichen der Beschwichtigung. Aber es beschwichtigt mich nicht, ganz und gar nicht. Es macht mich rasend vor Wut.

»Bitte, hör mir zu«, sagt er dann.

»Ich will nichts mehr hören. Versteht ihr das denn nicht?«

»Vielleicht möchtest du es nicht, aber ich schulde dir zumindest eine Entschuldigung.« Ich öffne den Mund, doch da fährt er schnell fort: »Entschuldige, dass ich dich belogen und benutzt habe. Ich habe mich wie das größte Arschloch der Welt verhalten und das tut mir leid. Ich hätte dir gleich sagen sollen, wer ich bin, als ich erfahren habe, wer du bist. Das habe ich nicht getan und das war ein Fehler. Entschuldige. Und das meine ich aufrichtig.«

Ich drehe mich um und laufe weiter zur Treppe und dann nach oben in Anjas und mein Zimmer. Wieso musste sich dieser Mistkerl entschuldigen, verdammt nochmal! Er soll sich gefälligst wie das Arschloch verhalten, das er ist. Ich möchte seine Entschuldigung nicht, er kann sie sich sonst wohin stecken! Sie bringt mir mein Café auch nicht zurück.

Seufzend lasse ich mich auf die Bettkante sinken und vergrabe den Kopf in den Händen. Der Sturm in mir wütet und wütet, bringt alles durcheinander. Ich möchte mich beruhigen, aber ich schaffe es nicht. Der Verlust meiner heißgeliebten Existenz hat mich völlig aus dem Gleichgewicht gebracht, und jetzt taumele ich am Abgrund und hänge mit einem Fuß bereits in der Luft.

Die Tür geht auf und Anja kommt herein. Schweigend setzt sie sich neben mich und nimmt mich in den Arm.

»Ich kann nicht, Anja«, murmele ich schniefend in ihren Hals. »Die Wunde ist noch zu frisch und blutet.«

»Ich weiß, Süße. Niemand erwartet, dass du sorglos durch die Gegend hüpfst und dich am Leben erfreust.«

»Er hat sich bei mir entschuldigt ... Wieso entschuldigt sich dieser Idiot?«

Ich spüre ihr Lächeln an meiner Stirn. »Weil er kein übler Kerl ist und es ihm leidtut, nehme ich an.«

»Ich hasse ihn trotzdem. Er hat mir mein Baby weggenommen.«

»Mmh. Und genau das tut ihm wohl leid. Vielleicht lösen sich die Probleme nach und nach, wenn du aufhörst, ihn als skrupelloses Monster zu sehen, und ihn stattdessen als einen Menschen betrachtest, der einen Fehler gemacht hat.«

»Ich will nicht.«

»Warum? Weil du ihn gern hattest, bevor du herausgefunden hast, wer er ist?«

Brummend löse ich mich von ihr. »Wir hatten bombastischen Sex, mehr nicht.« Ich verziehe das Gesicht. Es ist nicht leicht, das auszusprechen, aber es ist die Wahrheit. »Und vielleicht war er mir ein wenig sympathisch, sonst wäre ich ihm wohl kaum an die Wäsche gegangen.«

»Auch auf die Gefahr hin, dass du mich ebenfalls hassen wirst ... Ich konnte Elias bereits vor ein paar Tagen kennenlernen, als Roni mich in ihren Plan eingeweiht hat«, erzählt Anja und lächelt entschuldigend. »Ben war auch da, und wir haben uns lange unterhalten. Wenn ich nicht gemerkt hätte, dass er im Grunde ein echt guter Kerl ist, hätte ich hierbei niemals mitgemacht. Wenn ich wirklich das Gefühl hätte, dass er ein Arschloch ist, wäre ich die Erste, die dir ein Streichholz reicht, um seine Bude anzuzünden.« Sie zwinkert verschwörerisch, und ich muss tatsächlich kurz lachen. »Verdient nicht jeder eine zweite Chance?«

Ich beiße mir auf die Unterlippe. »Mag sein, aber ich kann nicht. Sobald ich ihn sehe, kommt alles hoch, und dann möchte ich ihm gemeine Dinge sagen und ihm wehtun.«

»Du brauchst einfach mehr Zeit.«

»Ja, eine Million Jahre wahrscheinlich.«

»Na, das ist doch wenigstens ein Anfang.« Mit den Daumen streicht sie mir unter den Augen entlang und wischt die verschmierte Schminke weg. »Fühlst du wirklich nichts anderes, wenn du ihn siehst? Etwas ... Positives?«

Ich winde mich unter ihrem eindringlichen Blick. Auf keinen Fall will ich an dieses Kribbeln im Bauch denken, das ich so mühsam unterdrücke. Es ist vollkommen fehl am Platz. Mal ehrlich, da muss ein masochistisch veranlagter Teil in mir sein, der sich zu dem Mann hingezogen fühlt, der mir ganz übel mitgespielt hat.

»Schön, wir vergessen diese Frage«, lenkt Anja ein und klopft mir sanft gegen die Wangen. »Okay, wir müssen uns überlegen, was du stattdessen tun könntest, wenn du wieder kurz davor bist, Ben an die Gurgel zu gehen.«

»Einen Rosenkranz beten?«

»Ich habe leider keinen dabei. Glaubst du, es würde etwas bringen, wenn du innerlich bis zehn zählst und tief durchatmest?«

»Keine Ahnung. Wenn nicht, singe ich ein Lied, dann weißt du Bescheid und kannst mich außer Reichweite bringen, bevor etwas Schlimmeres geschieht.«

»Hm ...« Anja tippt sich ans Kinn. »Welches Lied?«

»Alle meine Entchen?«

»Das könnte leicht verstörend auf nicht eingeweihte Außenstehende wirken.«

Ich kichere, als ich mir vorstelle, dass ich plötzlich aus dem Nichts ein Kinderlied losträllere und alle um mich herum mich doof angucken.

»Gehen wir wieder nach unten?« Meine große Schwester steht auf und hält mir eine Hand hin.

»Ich muss erst mein verheultes Gesicht herrichten, dann komme ich nach.«

»Das Bad ist gleich nebenan. Ich warte unten.«

Nachdem Anja gegangen ist, krame ich mein Schminktäschchen aus dem Koffer und begebe mich eine Tür weiter. Kurz inspiziere ich das kleine, aber wunderschöne Badezimmer in hellen Braun- und Gelbtönen, bevor ich mich ans Waschbecken stelle und in den Spiegel darüber schaue. Ganz so verheult, wie ich erwartet habe, sehe ich zum Glück nicht aus, dennoch schminke ich mich schnell ab und noch einmal neu. Wenn ich einer gewissen Person nach meiner peinlichen Flucht wieder gegenübertreten möchte, dann sicher nicht mit Spuren von Schwäche auf dem Gesicht.

Zehn Minuten später bin ich wieder unten auf der Terrasse und sehe Roni dabei zu, wie sie mit Elias schmust. Dieser Anblick ist einerseits verstörend, da er so ungewohnt ist, doch andererseits auch schön, denn sie wirkt sehr glücklich dabei. Verliebt. Gott, dass Roni sich tatsächlich in einen Mann verliebt hat! Aber ausgerechnet in den besten Freund von Will-ich-nicht-kennen? Da erlaubt sich jemand einen üblen Scherz mit mir, ganz klar.

Als sie mich scheinbar vollkommen gefühlsduselig umarmt, drücke ich sie fest an mich und nehme mir vor, es irgendwie zu schaffen, Benjamin Mynard in meiner Nähe zu dulden. Für meine Schwester. Weil Elias scheinbar Wunder vollbringen kann und ich nicht zulassen sollte, dass dieser Mann verloren geht, bloß weil er einen schlechten Geschmack hat, was beste Freunde angeht.

Ich erinnere mich an Anjas Worte vorhin im Zimmer. Dass sie Benjamin für einen guten Kerl hält, nachdem sie sich lange mit ihm unterhalten hat. Ich kann mich nicht dazu aufraffen, ihm eine zweite Chance zu geben und ihre Meinung womöglich zu bestätigen. Dafür ist zu viel passiert. Wenn wir uns anders kennengelernt hätten ... Tja, wer weiß schon, was dann geschehen wäre?

»Morgen besuchen wir auf jeden Fall den Markt«, erklingt Sandys laute Stimme hinter mir.

Selina pflichtet ihr begeistert bei, ich vernehme auch Jordans Stimme. Und Benjamins. Sofort kralle ich meine Finger in die Armlehnen der Liege. Innerlich zähle ich bis zehn und atme tief ein und aus. Ich werde es schaffen, ihn in meiner Nähe zu dulden. Es ist ihm erlaubt, dieselbe Luft zu atmen, die auch meine Lunge mit Sauerstoff füllt. Ich bin eine erwachsene Frau, die in der Lage ist, mit einer schlimmen Erfahrung fertigzuwerden, wenn es dabei um das Glück der eigenen Schwester geht.

»Emma?« Elias steht plötzlich vor mir und hält mir ein Glas hin. »Noch etwas zu trinken?«, fragt er lächelnd.

Er scheint wirklich nett zu sein. Nett, aufmerksam und offensichtlich verrückt nach Roni. Ich erwidere sein Lächeln. »Ja, vielen Dank.«

So ein netter, anständiger Mann wird wohl keinen komplett verdorbenen besten Freund haben, auch wenn es mir schwerfällt, das zu glauben.

Kapitel: 11

 


Abends wird es kühl draußen, und wir verlagern die übersichtliche Runde, zu der sich noch Elias' in der Nähe lebende Cousine Maria und ihre Freundin gesellt haben, nach innen. Mittlerweile bin ich auf Wasser umgestiegen, da der Alkohol in den leckeren Caipirinhas mir etwas zu Kopf gestiegen ist. Ich habe mich dabei erwischt, wie ich hin und wieder bewusst zu ihm geschaut habe - und das geht ja wohl gar nicht! Er existiert nicht für mich.

Dass er nun anbietet, etwas zu essen zu machen, hilft mir nicht gerade dabei, sein Dasein zu leugnen. Ich habe riesigen Hunger, aber mein Stolz wird es mir nicht erlauben, das zu essen, was bereits nach einigen Minuten, in denen er in der Küche verschwunden ist, das große Wohnzimmer mit seinem köstlichen Duft durchströmt.

»Ich helfe Bennilein«, sagt Maria neben mir auf Englisch und verschwindet ebenfalls in der Küche.

Ich schaue ihr mit gerunzelter Stirn nach und bemerke erst, dass Roni mit mir spricht, als sie meinen Namen laut ruft.

»Hm?«, frage ich verwirrt.

»Warum starrst du ihr so nach?«

»Mache ich doch gar nicht.«

»Doch, tust du.«

Habe ich getan. Wieso, kann ich nicht sagen. Und ich möchte auch nicht darüber nachdenken. »Also, erzähl doch mal, wie das zwischen dir und Elias angefangen hat«, fordere ich meine Schwester stattdessen auf. »Schon auf Sandys Hochzeit?«

»Du hast Glück, dass dieser Ablenkungsversuch zieht, weil ich gerne darüber rede«, entgegnet Roni grinsend. »Ja, es hat schon auf der Hochzeitsfeier angefangen. Ich war laut ihm leider viel zu betrunken, um ihn bereits da abzuschleppen. Er wollte mich einfach nicht mitnehmen.«

Ich schlucke. Scheinbar haben Elias und sein bester Freund einiges gemeinsam, was betrunkene Frauen angeht.

»Er hat sich geschickt meine Nummer erschlichen und mich am nächsten Tag angerufen«, fährt meine Schwester fort.

Wieso hat der Blödmann Benjamin sich nicht meine Nummer erschlichen und mich am nächsten Tag angerufen, um mir mitzuteilen, wer er wirklich ist? Nein, stattdessen hat er mich mit zu sich genommen und ... Habe ich vergessen. Aus meinem Gedächtnis ausgelöscht!

»Wir haben uns abends getroffen und sehr gut unterhalten.«

»Und dann hast du festgestellt, dass er dein Seelenverwandter ist, und dich unsterblich in ihn verliebt«, führe ich aus, natürlich mit einem deutlichen ironischen Unterton.

Roni mustert mich mit leicht verengten Augen. »Gönnst du mir mein Glück nicht?«, fragt sie schließlich geradeheraus.

Ich seufze. »Natürlich gönne ich dir dein Glück, Ron. Tut mir leid, ich ... ich bin einfach nicht die beste Gesellschaft für eine frisch verliebte Frau. Das hat nichts mit dir zu tun.«

»Höchstens mit dem Mann, den ich mir ausgesucht habe. Der ist zufällig der beste Freund von deinem auserkorenen Feind.«

»Dafür kann er ja nichts. Und du auch nicht.«

»Ist es denn wirklich so schlimm, ihn zu sehen?«, möchte sie nun ganz leise wissen.

»Ja, ist es. Und noch schlimmer ist es, ihn zu hören. Wenn er lacht ... Ihn glücklich zu sehen, während ich so leide ...«

Roni lächelt mitfühlend. »Ich verstehe schon. Aber vielleicht tröstet dich der Gedanke, dass er ein furchtbar schlechtes Gewissen hat? Und das weiß ich ganz genau, weil er es mir gesagt hat.«

Ich erwidere nichts darauf. Nein, ich bin noch nicht bereit, Benjamin menschliche Gefühle wie Reue zuzusprechen. In meinem Kopf soll er weiterhin der böse Antichrist bleiben, der mir mein Café weggenommen hat. Alles andere würde bloß zu Komplikationen führen, die ich in meinem Leben nicht auch noch gebrauchen kann.

»Lass uns über etwas anderes sprechen. Wie kommt es, dass Sandy und ihr Goldesel hier sind?«, wechsele ich erneut das Thema.

Roni schaut zu unserer Cousine, die sich auf der anderen Seite des Wohnzimmers befindet. Sie sitzt auf Phillipps Schoß und streicht ihm mit den Fingern durch das kurze Haar. Ob diese liebevolle Geste nur gespielt ist? Ich glaube schon. Phillipp hat nichts an sich, was Sandy mögen könnte - bis auf sein Geld. Er sieht weder besonders gut aus noch scheint er denselben Charme zu versprühen wie die anderen Kerle im Raum.

»Phil, Elias und Ben kennen sich seit der Schulzeit. Elias war auch Phils Trauzeuge, wie du dich vielleicht noch erinnern kannst? Die drei sind gut befreundet, und Sandy gehört nun mal zu Phil dazu«, erzählt Roni auf meine Frage hin. »Auch wenn du es nicht glauben magst, aber sie ist gar nicht so ätzend, wenn sie mit ihm zusammen ist«, fügt sie am Ende lächelnd hinzu.

»Vor ein paar Wochen haben wir noch über die beiden auf deren Hochzeit gelästert«, erinnere ich sie.

»Ich weiß. Aber die Ehe tut ihr gut. Phil tut ihr gut.«

Ich verdrehe die Augen. »Das sind mir zu viele verliebte Pärchen auf einmal. Ich fühle mich hier ganz schön fehl am Platz. Fehlt nur noch, dass Anjas Engländer auftaucht.«

»Ach, Emmi ...«

»Was soll ich machen, Ron? Ich gönne euch euer Glück. Ehrlich. Aber ich kann es im Moment einfach nicht ertragen. Tut mir leid.« Ich stehe auf. »Ich bin müde und lege mich schon mal hin. Habt noch einen schönen Abend.«

Sie hält mich nicht auf, ebenso niemand sonst, und dafür bin ich dankbar. Ich möchte wirklich niemandem auf den Schlips treten, sondern einfach nur allein sein. So viel Harmonie, Glück und Liebe bringen mich an den Rand des Wahnsinns. Und das macht mir bewusst, wie wenig empfänglich ich im Moment für positive Gefühle bin. Hass oder Wut - immer her damit! Aber bei ein wenig Glückseligkeit hole ich sofort den Kruzifix raus, um mich davor zu schützen. Ich bin eine Person, mit der niemand zusammen sein möchte, weil sie einem die Laune verdirbt. Und wenn ich könnte, würde ich mich selbst meiden. Leider ist das unmöglich, also muss ich darauf hoffen, dass mein Zustand sich irgendwann wieder bessert. Am besten noch, bevor ich alle vergrault habe.

 

***

 


Anja kam erst sehr spät ins Bett, und ich tat so, als würde ich bereits schlafen, während ich noch viel zu lange wach lag und mein Hirn mit unzähligen Gedanken folterte. Dementsprechend müde bin ich nun am nächsten Morgen, als ich in die Küche schlurfe, um Kaffee zu machen. Alle anderen schlafen noch, was mir nur recht ist, denn ich würde sie sicher zu Tode erschrecken, so furchtbar, wie ich aussehe.

»Morgen.«

Ich fahre herum und fasse mir an die Brust, unter der mein Herz galoppiert. Dann sehe ich, wer mich da hinterrücks angesprochen hat, und verenge die Augen. »Ich bin jetzt in der Küche. Verschwinde.«

»Eine unschöne Weise, einen freundlichen Gruß zu erwidern.«

»Ha, ha. Ich hatte total vergessen, wie witzig du bist.« Ich starre Benjamin wütend an. »Lass mich in Ruhe.«

»Ich möchte mir bloß eine Flasche Wasser holen«, entgegnet er unbeeindruckt und tritt an mir vorbei zum Kühlschrank.

Ich sehe die dunklen Flecken auf seinem grauen T-Shirt, den feuchten Ansatz seiner Haare. Wahrscheinlich war er joggen. In meinem Magen wird es ganz flau, vielleicht auch kribbelig. Verdammt, was soll das denn jetzt? Ich kann unmöglich etwas erregend an ihm finden!

»Du solltest duschen gehen, um deine Mitmenschen nicht mit deinem Gestank zu belästigen«, sage ich gehässig. Nicht besonders erwachsen, ich weiß, aber naja, ich hasse ihn und so, da darf ich auch mal zu einer kleinen Zicke mutieren. Oder großen.

»Das habe ich gleich vor. Vielen Dank für den Hinweis, Emma.«

Mit vor der Brust verschränkten Armen schaue ich ihm dabei zu, wie er mit der Flasche in der Hand die Küche verlässt. So gelassen und selbstgefällig ... Gott, ich möchte ihm hinterherlaufen und ihm die schönen Augen auskratzen!

»Seine Augen sind nicht schön!«, zische ich sofort und schüttele über mich selbst den Kopf.

»Wessen Augen sind nicht schön?« Selina betritt die Küche und lächelt mich freundlich an.

»Was? Ach, vergiss es. Ich habe eben an einen Film gedacht ... und da war so ein Typ ... der war so arrogant, aber alle fanden ihn toll ... war er aber gar nicht«, stammele ich und drehe mich wieder der Kaffeemaschine zu. Ich bin wirklich völlig durch.

»Aha, okay.«

»Möchtest du auch einen Kaffee?«

»Ja, gerne. Ich habe gestern etwas zu viel getrunken. Kopfschmerzen.«

»Und Kaffee allein hilft bei einem Kater?« Ich reiche ihr einen Becher.

»Mir schon. Danke.« Sie nimmt einen Schluck und seufzt zufrieden.

Ich setze mich neben sie an die Frühstückstheke und nehme einen Schluck von meinem Lieblingsgetränk. »Ich habe einen Kater früher mit ungesundem Fraß vom Mc Donalds bekämpft«, erzähle ich ihr dabei. »Schön fettig, und dazu noch ein Glas frisch gepressten, kalten Orangensaft.«

»Allein daran zu denken ...« Selina schüttelt sich.

»Es hat geholfen.«

»Vielleicht probiere ich das mal aus, wenn mir nicht so übel ist.«

Wir schweigen kurz, dann erkundigt sie sich danach, wieso ich am Vorabend so früh gegangen bin.

»Ähm ... Jetlag?«

»Nach nicht mal ganzen drei Stunden Flug?«

»Ich bin sehr empfindlich.« Und eine furchtbar schlechte Lügnerin. Aber wahrscheinlich weiß Selina eh, was wirklich Sache ist. Ich frage mich, ob es überhaupt noch jemanden gibt, der nicht darüber Bescheid weiß, wieso ich seit Wochen mit einer sauertöpfischen Miene herumlaufe. Vielleicht sollte ich einen Film darüber drehen und auf Youtube hochladen. Könnte ja ein paar Zuschauer anlocken, und ich würde durch die Klicks ein wenig Kohle verdienen, die ich so dringend brauche.

»Guten Morgen, ihr Süßen!« Roni kommt beinahe tänzelnd zur Tür herein, gefolgt von ihrem Seelenverwandten.

Ich verdrehe automatisch die Augen bei so viel guter Ich-bin-frisch-verliebt-Laune.

»Ach, Brummbärchen, lächele doch mal.« Sie stellt sich neben mich und drückt mir einen schmatzenden Kuss auf die Wange.

»Elias, wie hältst du es bloß mit ihr aus?«, richte ich an ihren Schatten.

»Er ist noch viel schlimmer als ich«, antwortet Roni an seiner Stelle. »Morgens steht er singend auf, trällert ein paar Liebesballaden unter der Dusche, summt ununterbrochen vor sich hin ...«

Ich greife nach einem Brotmesser und tue so, als würde ich mir die Pulsadern durchschneiden, was meine Schwester und Selina zum Kichern bringt.

»Ich mache Frühstück«, sagt Roni einen Moment später. »Worauf habt ihr Lust? Rührei? Brötchen?«

»Selina hätte gerne etwas besonders Fettiges«, sage ich und zwinkere ihr zu, woraufhin sie ihren Kopf stöhnend in die Hände legt.

»Hat hier etwa noch jemand einen Kater?« Anja ist die nächste, die sich zu uns gesellt. »Diese verdammten leckeren Caipirinhas!«

»Gib's zu, du würdest es jederzeit wieder tun«, entgegnet Roni grinsend.

»Definitiv. Jordan macht wirklich köstliche Cocktails.«

»Er hat ja auch eine eigene Bar, die viele, viele Stammkunden hat«, erzählt Selina. »Und die kommen nicht nur wegen des sexy Geschäftsführers.«

»Er hat eine eigene Bar?«, hake ich nach und runzele die Stirn, während meine Gedanken kreisen. »Sucht er zufällig noch Personal?«

»Ich weiß nicht. Soll ich ihn mal fragen?«

»Ich frage ihn einfach selbst.«

»Suchst du etwa einen Job?«, möchte Selina wissen.

»Ja. Bin seit Kurzem arbeitslos und habe Schulden bis zur Decke.« Ich stehe von meinem Hocker auf und gieße mir Kaffee nach.

Kurz darauf ist unsere Runde vollständig. Während ich eine gewisse Person komplett ihrer Existenz beraube, indem ich so tue, als wäre sie gar nicht da, erkundige ich mich bei Jordan, ob er zufällig noch jemanden zur Verstärkung seines Teams sucht.

»Ich habe viel Erfahrung im Service«, erzähle ich dabei. »Vielleicht hast du ja schon mitbekommen, dass ich bis vor Kurzem ein eigenes Café hatte? Jedenfalls ... Ich brauche einen neuen Job. Bisher haben meine Vorstellungsgespräche nichts ergeben, und ich bin erfahren, zuverlässig und ziemlich verzweifelt, sodass ich zu Beginn ordentlich katzbuckeln werde.«

Jordan nimmt diese Aussage mit einem Lächeln auf. »Du hast Glück, Emma. Eins meiner Mädels hinter dem Tresen geht demnächst in Mutterschaftsurlaub. Ist eine befristete Stelle auch in deinem Interesse?«

»Ja, auf jeden Fall. Ich muss arbeiten und Geld verdienen - und aus meiner Wohnung rauskommen, damit mir die Decke nicht auf den Kopf fällt. Wann kann ich anfangen?«

Er lacht. »Ich gebe dir meine Karte, und dann kommst du am Wochenende vorbei, um dir anzusehen, was auf dich zukommen würde.«

»Okay. Super!«

»Das war das kürzeste Bewerbungsgespräch, das ich je geführt habe«, bemerkt er.

»Ich fand es auch viel angenehmer als die letzten, zu denen ich mich hinschleppen musste«, bestätige ich nickend. »Zumindest gibst du mir eine richtige Chance. Alle anderen haben mich bisher nicht einmal zurückgerufen. Oh, doch, eine Absage habe ich vor ein paar Tagen erhalten.«

»Wir schauen mal, ob das funktioniert.«

»Ich bin ein Arbeitstier. Ich werde dich von mir überzeugen«, sage ich entschlossen. Auch wenn die Stelle nur befristet ist, ist es schon mal ein Anfang. Ich muss schließlich Miete zahlen, etwas essen und habe einen horrenden Kredit bei der Bank. Wenn ich nicht bald damit anfange, wieder etwas Geld auf mein Konto fließen zu lassen, muss ich mich mit Betonklötzen an den Füßen in die Elbe stürzen.

»Emma, wir gehen gleich auf den Markt«, werde ich von der Seite von Roni angesprochen. »Shoppen!«

Oh, super, shoppen, denke ich ironisch.

»Ich möchte unbedingt ein großes, buntes Tuch haben«, sagt Sandy begeistert. »So einen Pareo oder wie die heißen.«

Während sie sich nun darüber unterhalten, was man alles auf diesem tollen Markt erwerben kann, überlege ich, wie viel Geld ich noch ausgeben könnte, bevor meine Bankkarte explodiert.

»Ich denke, ich bleibe einfach hier und genieße ein wenig die Sonne«, sage ich schließlich und ernte dafür vorwurfsvolle Blicke.

»Rede keinen Unsinn!« Roni schüttelt tadelnd den Kopf und stellt sich neben mich.

»Ich bin hier, um mich zu entspannen. Das kann ich am besten auf einer Liege mit einem Eistee in der Hand.«

»Ich leihe dir etwas Geld«, sagt sie nun leise.

»Brauchst du nicht«, entgegne ich in deutlich warnendem Ton. Obwohl sie leise spricht, bin ich mir sicher, dass die anderen sie hören können. Und das ist mir verdammt unangenehm!

»Emmi, komm schon. Es wird so viel Spaß machen - auch ohne Geld«, drängt sie dennoch weiter.

»Warum lässt du es nicht einfach gut sein? Ich möchte hier bleiben.«

»Ja, und ich weiß auch, warum du das möchtest. Aber du musst nicht.«

Ich spüre, wie meine Kopfhaut zu kribbeln beginnt, als die Scham sich durch meinen Körper ausbreitet. Ich weiß ganz genau, dass er alles mitbekommen hat, und das lässt alle unschönen Gefühle wie einen Feuerball durch meinen Bauch wüten.

»Roni, wenn Emma nicht mitkommen möchte, dann lass sie doch hier bleiben«, mischt sich endlich Anja ein und rettet mich davor, erneut an die Decke zu gehen.

»Soll sie sich jetzt andauernd zu Hause verkriechen, bloß weil ihre Lebensumstände nicht so prickelnd sind?«, fragt Roni aufgebracht.

Gott, ich möchte im Erdboden versinken! Ohne ein weiteres Wort stehe ich auf und sehe zu, dass ich aus der Küche komme, bevor ich etwas sage, was ich im Nachhinein definitiv bereuen werde.

»Roni, lass sie in Ruhe, bitte«, höre ich Anja noch sagen und spüre bereits Tränen in meinen Augen.

»Wir müssen sie aus diesem Teufelskreis bekommen, in den sie sich hineinmanövriert hat«, kommt es von meiner anderen Schwester zurück.

Dann habe ich endlich die Haustür erreicht und kann nach draußen verschwinden, um dem demütigenden Gerede über mich zu entkommen. Ich habe keinen Schimmer, wohin ich laufe, und steuere blindlings eine Richtung an, die runter zum Strand führt.

Das Brennen meiner Wangen wird von den Tränen gelöscht, die ich nicht länger zurückdrängen kann. Ich lasse sie laufen und wische sie dann mit wütenden Bewegungen wieder weg. Am liebsten würde ich schreien, schimpfen und um mich schlagen, aber ich renne lediglich runter zum Wasser und lasse mein erhitztes Gemüt von der salzigen Meeresbrise abkühlen.

Ich hasse Roni dafür, dass sie das gemacht hat. Dass sie mich dazu gebracht hat, mich so erbärmlich zu fühlen. Wieso musste sie in der Wunde herumstochern, bis sie wieder zu bluten angefangen hat? Und dann auch noch vor ihm! Wahrscheinlich hat er wieder ein schlechtes Gewissen bekommen. Oder noch schlimmer: Mitleid. Ich brauche sein verfluchtes Mitleid nicht. Ich will, dass er aus meinem Leben verschwindet!

»Fuck you, Roni!«, rufe ich dem Wasser entgegen. Dann pule ich einen kleinen Stein aus dem Sand und werfe ihn mit voller Wucht in die Wellen. Es befriedigt mich nur minimal, dass ein paar Tropfen aufspritzen.

»Emma.«

Ich wirbele herum, und der Feuerball in meinem Bauch explodiert regelrecht zu tausend kleine Bälle, die durch meine Adern schießen. Als würde eine Sicherung bei mir durchbrennen, stürze ich nach vorne und schlage mit den Fäusten auf mein Gegenüber ein.

Kapitel: 12

 


Blind vor Wut lasse ich meine Fäuste auf seine Brust regnen, treffe ihn aber kaum, da er meine Handgelenke zu fassen bekommt und mich davon abhält.

»Hör auf«, sagt er sanft, aber bestimmend.

»Hör du auf, mich zu verfolgen!«, schreie ich ihn an und versuche, mich aus seinem Griff zu befreien. »Hör auf, dich in mein Leben einzumischen!«

»Ich mische mich nicht in dein Leben ein.«

»Doch, das tust du! Du bist hier und siehst mir dabei zu, wie ich von meiner Schwester fertiggemacht werde. Wahrscheinlich weidest du dich an diesem Anblick ...«

»Schwachsinn!«, unterbricht er mich scharf, seine Augen starren mich wütend an.

»Dann bemitleidest du mich? Das ist noch viel schlimmer!«

»Emma, beruhige dich doch. Lass uns diese verflixte Sache aus der Welt schaffen. Komm schon, das bekommen wir hin. Ich habe nicht gewollt, dass du wegen mir dein Café verlierst. Wieso glaubst du mir nicht?«

»Weil du mich die ganze Zeit belogen hast. Wieso sollte ich dir irgendetwas glauben?«

Er hält mich noch einen Moment lang fest, dann lässt er meine Hände los, sodass sie kraftlos nach unten sinken. »Du hast recht.« Mit einer Hand fährt er sich über den Mund. »Wir hatten keinen guten Start.«

»Du hast mich bewusst getäuscht«, zische ich.

»Ja, das stimmt. Als ich vor der Kirche deinen Namen hörte, konnte ich mich noch an das Telefonat mit dir erinnern. Du warst nicht begeistert von mir, das war nicht zu überhören gewesen.«

»Aber du wolltest mich ins Bett kriegen, deshalb hast du verschwiegen, wer du bist.« Ich presse die Lippen aufeinander, als das Schamgefühl sich erneut in mir ausbreitet.

»Ich war an dir interessiert, das streite ich nicht ab. Und ich wollte, dass du mich besser kennenlernst, bevor ich dir sage, wer ich bin. Damit du siehst, dass ich kein Geldgeier bin - oder wie hast du mich nochmal betitelt?«

Schnaubend verschränke ich die Arme vor der Brust.

»Du warst diejenige, die das nicht wollte«, fährt er fort. »Du wolltest bloß ...«

»Einmal vögeln«, führe ich seinen Satz aus und bin entsetzt, dass mich eine Welle des Verlangens erfasst. Verdammt, die Erinnerung an die Nacht mit ihm soll doch nicht solche Gefühle in mir auslösen! Ich sollte mich davor ekeln, vor ihm. »Ich war damit beschäftigt, meine Existenz zu retten, da hatte ich keine Zeit für etwas ... Ernsteres«, füge ich murmelnd hinzu.

»Emma, das alles sollte nicht so laufen«, wendet Benjamin ein. »Du hast mich einfach umgehauen.«

Ein weiterer Stoß, diesmal stärker. »Spar dir das«, sage ich warnend.

»Es ist die Wahrheit. Du hattest mein Interesse bereits geweckt, bevor ich gehört habe, wie du heißt.«

»Das ist mir egal. Ich möchte nichts mehr mit dir zu tun haben!«, stelle ich mit sehr viel Nachdruck in der Stimme klar.

Benjamin hebt beide Hände an. »Okay, in Ordnung. Wir müssen auf der persönlichen Ebene nicht mehr als nötig miteinander zu tun haben, aber lass mich dir dein Café zurückgeben.«

»Nein. Ich kann die Miete nicht aufbringen.«

»Wir verhandeln neu.«

Ich schüttele den Kopf. »Ich bezahle nicht mit meinem Körper.«

»Verflucht, Emma!« Er stößt einen tiefen Seufzer aus. »Ich schreibe in den Vertrag sicher nicht rein, dass du jedes zweite Wochenende in mein Bett hüpfen musst.«

»Das hatten wir doch bereits. Ich lasse mich nicht auf bessere Konditionen ein, bloß weil ich mit dir im Bett war. Vergiss es. Das würde ich nie ertragen können.«

»Wir hatten einen Termin. Wenn ich dich nicht auf der Hochzeitsfeier getroffen hätte und du ihn eingehalten hättest, wäre ich dir entgegengekommen. Ich bin kein Unmensch.« Er sieht aufrichtig aus, aber ich weigere mich trotzdem, ihm zu glauben.

»Du bist ein Unternehmer, Benjamin Mynard. Du wärst nicht so erfolgreich, wenn du jedem entgegenkommen würdest. Vielleicht bist du kein Unmensch, aber du bist ein Blender. Du hast mich mit deinem Aussehen und deinem Charme geblendet.« Ich lache freudlos. »Ich schäme mich zutiefst, wenn ich daran denke, wie ich mich dir an den Hals geschmissen habe. Und jedes Mal, wenn ich dich sehe, werde ich daran erinnert. Da du der beste Freund des Mannes bist, der es auf wundersame Weise geschafft hat, meine Schwester zu erobern, wird es nicht vermeidbar sein, dir hin und wieder zu begegnen. Aber bitte tu mir den Gefallen und lass mich einfach in Ruhe. Wenigstens das bist du mir schuldig.« Ich drehe mich um und gehe davon. Erleichtert registriere ich nach ein paar Schritten, dass er mir nicht folgt.


Ich bleibe mindestens eine Stunde fort, und als ich später ins Haus zurückkehre, ist keiner da. Sie sind wahrscheinlich zum Markt aufgebrochen.

Nachdem sich der Sturm in meinem Inneren wieder gelegt hat, schaffe ich es sogar, etwas Ruhe und Entspannung zu finden. Mit einem Buch und einem Glas gekühlten Eistees lege ich mich auf der Terrasse auf eine Liege. Die Sonne ist selbst später am Tag noch ziemlich heiß, sodass ich mir einen Schirm heranhole, um nicht zu verbrennen.

Nach einer Weile lege ich das Buch weg und starre einfach nur raus auf das offene Meer. Meine Gedanken kreisen weiterhin, aber es fühlt sich nicht mehr so schlimm an. Der Spaziergang am Strand hat mir gutgetan. Vielleicht auch das kurze Gespräch mit Benjamin. Oder die wenigen Schläge, die ich auf seiner Brust landen konnte. Was auch immer es war - das tonnenschwere Gewicht auf meinen Schultern ist ein wenig leichter geworden.

Später gehe ich zurück ins Haus und bereite mir einen frischen Salat zu, den ich im Anschluss draußen verdrücke. Solange ich ausblende, dass die Zeit hier an diesem wundervollen Ort begrenzt ist und sich eine unerwünschte Person in der Nähe befindet, geht es mir gut. Ich kann den vielfältigen Geschmack auf meiner Zunge genießen, die Wärme auf meiner Haut, die sanfte Sommerbrise.

»Emma? Wo bist du?«

Ich unterdrücke ein Seufzen, als Roni mit zwei Tüten in den Händen auf die Terrasse kommt und die friedliche Stille durchbricht.

»Hier bist du!«

Ich wende ihr demonstrativ den Rücken zu und esse meinen Salat weiter.

»Bist du immer noch sauer auf mich?« Sie setzt sich neben mich. »Mensch, Emmi, sei nicht mehr sauer. Tut mir leid, dass ich vorhin so hartnäckig war, aber ich habe es nur gut gemeint. Ich habe dir etwas mitgebracht.«

»Kannst du behalten«, entgegne ich stur.

»Das ist nicht mein Stil. Hier.«

Ein riesiger, geflochtener Hut taucht vor meinem Gesicht auf. Ich ziehe die Nase kraus. »Und das soll mein Stil sein?«

»Ich habe ihn gesehen und musste sofort an dich denken, Em. Er passt perfekt zu deinem herzförmigen Gesicht. Setz ihn auf. Bitte.«

Sie wird mich so lange nerven, bis ich ihr verziehen habe, das weiß ich ganz genau. Das hier ist ihre Art, Entschuldigung zu sagen. Ich stelle den Teller weg und nehme den Hut, um ihn auf meinen Kopf zu setzen.

Roni strahlt über das ganze Gesicht. »Ich wusste doch, dass er dir stehen wird. Anja, komm her!«, ruft sie in Richtung Tür. »Guck mal, der Hut sieht klasse aus.«

Unsere ältere Schwester gesellt sich zu uns und nickt anerkennend. »Lass die Haare offen, dann sieht es noch besser aus.«

»Oh, ja, genau! Mach die Haare auf, Em.« Roni zieht mir den Hut ab und löst das Haargummi, bevor sie ihn wieder aufsetzt. »Du siehst so hübsch aus.«

»Gleich rutschst du auf deiner Schleimspur aus«, gifte ich, muss aber gleichzeitig lächeln. Ich kann diesem Miststück einfach nicht lange böse sein. Im Grunde möchte sie mir nichts Schlechtes tun, sie hat bloß fragliche Methoden, ihre guten Absichten in die Tat umzusetzen.

»Es tut mir leid, dass ich heute morgen so blöd war«, entschuldigt sie sich auch schon und umarmt mich kurz.

»Ja, das warst du. Ist schon okay.«

»Wir bekommen dich schon noch aus dem Tief«, sagt sie überzeugt. »Wir halten zusammen, in guten und in schlechten Zeiten.«

Im Hintergrund summt Anja die Melodie der Soap, die unsere Mutter seit zwei Jahrzehnten jeden Abend guckt, und bringt uns zum Lachen.

»Sandy möchte mit uns Yoga machen.« Roni steht wieder auf und hebt ihre Tüten vom Boden auf. »In fünfzehn Minuten unten am Strand.«

Ich schaue sie entgeistert an. »Gruppenzwang, oder was?«

»Es wird bestimmt spaßig«, erwidert sie begeistert. »Ich habe mal eine Zeit lang Yoga gemacht. Hier mit dem Wasser als Hintergrund ... Komm, das wird dir guttun!«

Obwohl ich am liebsten ablehnen würde, willige ich schließlich ein. Roni würde keine Ruhe geben, bis sie mich überzeugt hätte, dass es im Moment das Beste wäre, sich in der Sonne in einen Baum zu verwandeln und dabei in den Bauch zu atmen. Dann quäle ich mich lieber eine Stunde durch die Übungen und Sandys Stimme, um danach hoffentlich Ruhe zu haben.

Fünfzehn Minuten später befinden wir uns unten am Wasser auf speziellen Matten, die Sandy auf wundersame Weise von irgendwoher aufgetrieben hat.

»Wieso seid ihr alle so verdammt gelenkig?«, frage ich keuchend, während ich meinen Hintern in die Luft strecke, um einen herabschauenden Hund darzustellen. »Wie weit soll ich meinen Arsch noch der Sonne entgegen strecken? Bis er verbrennt?«

»Emma, hör auf zu quatschen!«, zischt Sandy mir zu. »Du musst richtig atmen.«

»Ich bitte vielmals um Verzeihung. Scheinbar bin ich anatomisch nicht korrekt, denn ich atme mit der Lunge und nicht mit dem Bauch.«

»So geht das nicht. Entweder du bist jetzt leise oder du machst nicht mit!«

Ich richte mich auf und zucke mit den Achseln. »Sag das doch gleich. Viel Spaß noch.« Schnell laufe ich zurück zum Haus, bevor meine Schwestern mich wieder überreden, Sandys Folter weiter zu ertragen. Aber das, was mich auf der Terrasse erwartet, ist noch viel schlimmer.

Elias und das personifizierte Graus. Oben ohne. Ehrlich, der Typ sollte sich mal bedecken, diesen Anblick hält ja keiner aus!

»Schon fertig?«, erkundigt sich Elias, bevor ich die Tür erreiche.

»Ziemlich fertig, ja. Wer behauptet, Yoga sei gut für Körper und Geist, hat sich bereits das Hirn verrenkt.«

Beide lachen. Ich funkele Benjamin wütend an. »Der Witz war nicht für dich bestimmt.«

»Oh, entschuldige vielmals.« Er greift sich an die Brust. Diese verfluchte durchtrainierte Brust. »Ich habe mein Drehbuch verlegt. Könntest du mir noch einmal sagen, wann ich lachen darf und wann nicht?«

»Wenn ich etwas sage, dann betrifft es dich nie. Also darfst du auch nicht darüber lachen, geschweige denn überhaupt hinhören. Halte dich doch einfach daran, ja?«

»Und das, was du jetzt sagst, soll ich auch überhören?«

Bevor ich noch etwas Pampiges erwidern kann, geht Elias dazwischen. »Leute, ist gut jetzt.« Er und Blödmann tauschen Blicke aus, die ich nicht verstehe, die aber bewirken, dass letzterer sich achselzuckend zurücklehnt und die Augen schließt.

Ich verbuche diesen Sieg einfach mal für mich, schenke Elias dennoch ein Lächeln. »Die anderen brauchen noch eine Weile. Ich mache etwas zu essen. Hast du einen Wunsch?«

»Wir wollten eigentlich außerhalb essen, bevor wir eine der Strandbars besuchen, die sich im nächsten Küstenort befinden«, erzählt er.

»Ach so. Okay, dann ... mache ich irgendetwas anderes.«

»Setzt dich doch zu uns«, schlägt er vor.

Mein Blick in Benjamins Richtung muss Bände sprechen, denn Elias lächelt auch schon verstehend. Dann fällt mir ein, dass ich in Zukunft öfter auf seinen besten Freund treffen werde, wenn ich meine Schwester und ihn nicht komplett meiden möchte. Irgendwie muss ich lernen, seine Nähe zu ertragen.

»Weiß du was? - Ich bleibe ein paar Minuten hier.« Die Zähne fest aufeinander gebissen, nehme ich auf der Liege neben dem Mann, der mein Leben zerstört hat, Platz. Ich schaffe es, ich schaffe es, spreche ich mir dabei Mut zu.

»Und, Elias, du bist also Buchhalter?«, frage ich Ronis Lover, um die peinliche Stille zu durchbrechen.

»Ja, richtig. Ich arbeite für Ben und seinen Vater.«

»Aha. Bist du etwa auch ein Geldgeier?«

»Einspruch«, kommt es von der anderen Liege, die ich mit aller Macht aus meinem Blickfeld verbanne.

»Du sollst nicht zuhören!«, keife ich Benjamin Blödmann an. »Sendepause. Verstehst du? Oder soll ich es dir buchstabieren?«

»Ja, schreib mir das doch einfach auf.« Er öffnet leicht die Augen. »Am besten alle Regeln, an die ich mich halten muss, um deinen Unmut nicht zu erregen.«

»Leute, ihr macht mich fertig.« Elias seufzt tief. »Ich dachte, ich würde neben zwei Erwachsenen sitzen, und bin wohl im Kindergarten gelandet.«

»Er soll einfach den Mund halten«, brumme ich und verschränke die Arme vor der Brust.

»Ich habe nichts gesagt, bis du angefangen hast, mich zu beleidigen.« Benjamin richtet sich auf und lockert kurz seinen Nacken, indem er den Kopf hin und her drehte. »Ich akzeptiere es, dass ich mich in deiner Nähe etwas zurückhalten muss, aber ich lasse mich nicht grundlos von dir beleidigen, Emma.«

»Ich habe Gründe«, sage ich stur.

»Und ich habe mich bereits mehrmals für mein Verhalten entschuldigt. Ich habe dir auch angeboten, meinen Fehler wiedergutzumachen. Akzeptiere es oder lass es bleiben, aber wühl den Dreck nicht immer wieder auf.« Er steht auf und geht ins Haus.

Wütend starre ich ihm nach. Verdammt, wieso habe ich plötzlich ein schlechtes Gewissen? Ich darf ihm meine Abneigung zeigen, er hat es verdient!

»Ich hoffe wirklich, dass ihr das irgendwann aus der Welt schaffen könnt«, bemerkt Elias neben mir. »Es belastet ihn sehr. Und dich auch, wie man nur unschwer erkennen kann.«

Verlegen streiche ich mir über den Arm. »Ich weiß nicht, wie ich je vernünftig mit ihm umgehen könnte«, erwidere ich leise. »Sobald ich ihn sehe, ist alles in mir auf Krawall gebürstet.«

»Du könntest versuchen, auch seine guten Eigenschaften zu sehen«, schlägt er vor. »Vielleicht fällt es dir mit der Zeit leichter, dich an ihnen festzuklammern, anstatt an dem Fehler, den er gemacht hat.«

»Was sind denn seine guten Eigenschaften?« Bis auf seine Fähigkeiten im Bett, geht es mir durch den Kopf, was ich schnell wieder verdränge.

»Er ist freundlich und charmant.«

»Wenn er eine Frau ins Bett kriegen möchte«, merke ich an.

Elias lächelt nachsichtig. »Nicht nur dann. Ben ist kein Casanova, der sich Kerben in den Bettpfosten ritzt.«

Dem kann ich nicht widersprechen, denn dieses Gefühl hatte ich auch nicht, als ich ihn kennengelernt habe. Er wollte sich mit mir treffen, ausgehen, etwas Ernstes, keinen einfachen One Night Stand. Auch diesen Gedanken schüttele ich hastig ab, da ich noch nicht bereit bin, ihm etwas Positives zuzusprechen.

»Er ist sehr loyal und fair«, fährt Elias fort.

»Ach ja? Er war nicht so fair, mir die Entscheidung zu überlassen, ob ich mit ihm ins Bett gehe, sobald ich weiß, wer er wirklich ist.«

»Das stimmt. Ich glaube, er hatte etwas Angst.«

»Angst?« Ich schnaube.

»Vielleicht ist das nicht das richtige Wort ... Du hast ihm gefallen, und dann hat er erfahren, wie du heißt. Wahrscheinlich wollte er dich erst von sich überzeugen, bevor er dir die Wahrheit sagt.«

»Dafür musste er mich nicht erst in sein Bett zerren.«

»Zerren?«

Ich winde mich unter seinem wissenden Blick. Scheiße, hat Benjamin Elias etwa von unserer Nacht erzählt? Wie schamlos ich mich ihm an den Hals geworfen habe. Von der Eis-am-Stiel-Nummer?

»Emma, ich möchte hier niemandem die Schuld geben«, wendet Elias schließlich ein. »Eure erste Begegnung hat alles kompliziert gemacht, woran jeder von euch auf seine Weise beteiligt gewesen ist. Mir ist nur wichtig, dass sich das mit der Zeit aus der Welt schaffen lässt. Roni bedeutet mir viel, wie du vielleicht schon feststellen konntest. Ich möchte nicht auf Ben verzichten, wenn ich mit ihr zusammen bin. Genauso wenig gefällt mir der Gedanke, sie müsse ihre Schwester in den Hintergrund drängen, wenn sie mit mir zusammen ist.«

Langsam beginne ich zu nicken. »Ich werde mir mehr Mühe geben«, versichere ich ihm mit einem Seufzer. »Räumliche Distanz wäre für den Anfang ganz gut. Er muss sich nicht jedes Mal aus dem Raum verziehen, wenn ich komme, aber vielleicht könnten wir ein paar Möbelstücke oder Menschen zwischen uns stellen, damit ich ihm nicht an die Gurgel gehe.«

Elias lacht. »Das bekommen wir sicher hin.«

Wir werden unterbrochen, als die Yoga-Ladys von ihrem Workout zurückkommen.

»Wir duschen noch schnell, dann können wir los zum Essen«, sagt Roni strahlend, bleibt neben Elias stehen und gibt ihm einen langen Kuss.

Ich stehe auf und glätte die Falten meines Tops. »Super. Ich bin schon halb am Verhungern. Mann, Yoga ist wirklich anstrengend!«

Während Sandy giftet, dass ich es überhaupt nicht beurteilen könne, da ich mich so schnell verdrückt habe, flitze ich ins Haus und besetze eins der zwei Bäder, um sie noch ein wenig mehr zu ärgern.

Kapitel: 13

 


Die Strand-Bar liegt nur wenige Meter vom Wasser entfernt, ist gut besucht und beschert mir ein schönes Gefühl mit ihrem mediterranen Flair. Ich betrachte die bunten Lampions am Zaun, der das Grundstück umgibt, und lächele vor mich hin.

»Was sehen meine Augen denn da? Ein zufriedenes Lächeln?« Anja rückt zu mir auf und stößt mich sanft mit der Schulter an.

»Es gefällt mir hier«, erwidere ich. Wenn ich mich ganz doll anstrenge, kann ich sogar das Rauschen des Wassers trotz der Musik vernehmen. Die salzige, frische Luft rieche ich allemal. Und für einen Augenblick bin ich einfach nur eine junge Frau, die den Urlaub mit ihren Schwestern genießt, ohne all die Probleme, die zu Hause und in der Nähe auf sie warten.

»Denkst du manchmal an Papa?«, fragt Anja plötzlich in die friedliche Stille hinein.

Ich runzele die Stirn. »Oft sogar. Meist denke ich an die schöne Zeit, die wir zusammen hatten.«

»Und vermisst du ihn?«

Adé schöner Augenblick. »Natürlich vermisse ich ihn manchmal«, gebe ich zu.

»Wieso kannst du dann nicht über deinen Schatten springen und dich mit ihm aussprechen?«

Es ist nicht das erste Mal, das wir dieses Gespräch führen, aber warum muss sie ausgerechnet jetzt davon anfangen?

»Irgendwann werde ich es schon tun«, weiche ich aus.

»Das hast du schon vor einem halben Jahr gesagt«, merkt Anja an.

»Ich bin eben noch nicht soweit. Und im Moment habe ich genug andere Probleme.«

»Die du ebenfalls im Handumdrehen aus der Welt schaffen könntest, wenn du nicht so stur wärst.«

Ich schaue sie verwirrt an. »Was soll das denn jetzt? Habe ich dir etwas getan, dass du mich auf einmal so anmachst?«

»Ich mache dich nicht an«, entgegnet sie. »Ich wünsche mir nur, dich öfter so wie eben zu sehen. Mit einem Lächeln auf den Lippen. Leider stehst du dir selbst dabei im Weg.«

Sie mag ja recht haben, aber ich nehme es ihr übel, dass sie meinen friedlichen Moment einfach zerstört hat. Normalerweise ist das doch Ronis Job, aber die ist wohl zu sehr damit beschäftigt, Elias die Mandeln mit der Zunge zu kitzeln.

»Emma, sei nicht wieder eingeschnappt. Du weißt, dass ich es nicht böse meine.«

Ich nicke, ohne meinen Blick von dem grünen Lampion neben mir abzuwenden.

»Das Leben läuft nicht so, wie du es gerne hättest, also musst du etwas ändern. Es ist nicht falsch, bei sich selbst zu beginnen«, fährt meine Schwester fort.

»Ich weiß, dass ich meine Fehler habe«, murmele ich leise. »Immerhin bin ich vierundzwanzig Stunden am Tag mit mir zusammen und muss mich ertragen. Das ist eine Leistung, die durchaus honoriert werden sollte.«

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sie lächelt. »Du hast auch gute Eigenschaften, weißt du? Die solltest du bloß öfter mal zeigen. Nicht nur uns, sondern auch anderen Menschen.«

Ich verziehe das Gesicht. »Du meinst Menschen, die bei mir verschissen haben?«

»Ja. Jemandem zu verzeihen, zeugt von wahrer Größe.«

»Meinst du damit Papa oder den ach so tollen Benjamin Mynard?«

»Beide?« Sie lächelt mich hoffnungsvoll an.

»Etwas viel auf einmal verlangt, findest du nicht? Ich meine, man sollte mir wirklich hoch anrechnen, dass ich schon seit rund drei Stunden nicht mehr daran gedacht habe, ihn im Meer zu ertränken.«

»Du gehst ihm auch die ganze Zeit aus dem Weg«, wendet sie ein.

»Und was ist so schlimm daran? Er scheint meine Gesellschaft nicht sonderlich zu vermissen. Das letzte Mal, als ich ihn da drin gesehen habe, hat er in Marias Ausschnitt gesteckt.« Ich deute mit dem Kinn ins Innere der Bar. »Ich bin mir ziemlich sicher, er fühlt sich rundum wohl.«

»Du klingst nicht erfreut darüber«, bemerkt Anja.

Ich zeige ihr mit einem eindeutigen Blick, was ich von dieser Aussage halte. »Glaub mir, es ist mir völlig egal, welche Frau Benjamin Blümchen als nächstes abschleppt.«

»Wen wird Ben abschleppen?« Roni setzt sich auf den Sessel uns gegenüber. Scheinbar hat sie meinen letzten Satz mitbekommen.

»Elias' Cousine«, erwidere ich, woraufhin sie den Kopf schüttelt.

»Die beiden sind seit Ewigkeiten befreundet. Da läuft nichts.«

»Für Emma sieht das anders aus«, bemerkt Anja mit einem gewissen Unterton, der mich die Augen verengen lässt.

»Ich bin nicht eifersüchtig«, wiederhole ich noch einmal. »Von mir aus kann er jede beliebige Frau in dieser Bar abschleppen.«

»Ich denke, Elias hätte etwas dagegen, wenn Ben mich abschleppen würde«, wendet Roni ein und blickt zu Anja. »Was ist mit dir? Hättest du Lust, von dem Mann mit der grandiosen Ausstattung abgeschleppt zu werden?«

»Ich habe nichts dagegen, aber Will womöglich schon«, entgegnet diese.

»Ihr seid ja so witzig!« Ich nehme ein Kissen, das sich neben mir auf dem Sofa befindet, und werfe es in Ronis Gesicht, was sie zum Lachen bringt.

»Lasst uns tanzen«, schlägt sie im nächsten Moment vor. »Wenn man schon so gute Musik geliefert bekommt, muss man sie auch mit ordentlichem Körpereinsatz würdigen!«


Ich versinke vollkommen in den rhythmischen Wellen der Musik, schließe die Augen und gebe mich ganz dem Augenblick hin. Das habe ich schon ewig nicht mehr getan - einfach im Augenblick leben. In den vergangenen Jahren bin ich meist von Stress und Sorgen umgeben gewesen. Sobald es im Café nicht gut lief, konnte ich nachts nicht mehr schlafen und habe mich stundenlang damit beschäftigt, eine Lösung zu finden. Und es ist mir stets gelungen - bis zu der verdammten Mieterhöhung.

Seufzend öffne ich die Augen wieder. Der unbeschwerte Augenblick ist vorbei. Schon wieder. Ich kann mich einfach nicht loseisen von meinen bedrückenden Gedanken. Sie haben zu viel Macht über mich, fallen mich immer wieder heimtückisch von hinten an und machen mir das Leben schwer.

»Ich hole mir noch etwas zu trinken!«, rufe ich meinen Schwestern über die Musik hinweg zu und verlasse die Tanzfläche.

An der Bar verdrehe ich die Augen, als Benjamin sich neben mich stellt. Scheinbar möchte er auch etwas zu trinken bestellen, aber ich vermute eher, dass er mir auf den Senkel gehen möchte. Während der Barkeeper meinen Drink mixt, schaue ich überall hin, nur nicht zu ihm.

»Darf ich dich einladen?«, fragt Benjamin mich plötzlich.

Ich bedenke ihn mit einem tödlichen Blick. Meint er das ernst? »Nein, sicher nicht.«

»Okay.« Er wendet sich ab und spricht mich auch nicht mehr an.

Kurz darauf nehme ich mein Glas entgegen und verziehe mich schnell. So lange neben ihm zu stehen, sein Aftershave einzuatmen - das hat mich ganz wahnsinnig gemacht! Wieso benutzt der Kerl auch so viel Parfüm? Das ist doch total feminin. Und es riecht nicht mal gut.

Ich stelle mich an den Tisch, an dem Elias und Jordan sitzen, und beobachte meine Schwestern auf der Tanzfläche. Sie haben sichtlich viel Spaß, und ich beneide sie ein wenig darum. Roni ist frisch verliebt und nimmt das Leben sowieso stets locker, Anja hat ihren Engländer, einen guten Job, keine Schulden und ist zufrieden. Und ich bin arbeitslos, muss einen horrenden Kredit abbezahlen, habe keinen Partner - was völlig okay ist, da ich momentan auf alle Männer gut verzichten kann - und nerve die Menschen um mich herum mit meiner schlechten Laune.

Das Leben ist manchmal echt zum Kotzen!

Mein Blick schweift weiter zu Sandy und ihrem Mann. Die beiden stehen in einer Ecke und knutschen. Ich bin überrascht, wie echt die Hingabe wirkt, die meine Cousine da an den Tag legt, während sie Phils Gaumen erkundet. Vielleicht unterstelle ich ihr etwas, wenn ich glaube, dass sie ihn nur wegen des Geldes geheiratet hat?

Seufzend wende ich mich ab und schaue wieder zur Tanzfläche. Automatisch nehmen meine Gesichtszüge einen ablehnenden Ausdruck an, als ich Benjamin und Maria erblicke. Sie tanzen zusammen, ohne sich zu berühren, trotzdem wirken sie sehr vertraut. Laut Roni sind sie bloß Freunde, aber mir kommt es eher so vor, als würden sie aufeinander stehen. Ich meine, Männer und Frauen können nicht einfach nur befreundet sein - außer sie sind miteinander verwandt. Maria ist hübsch, Ben sieht auch ... annehmbar aus. Wieso sollten sie nicht aufeinander stehen?

Und wieso zum Teufel juckt mich das? Es sollte mir egal sein, was er mit wem auch immer treibt. Ist es aber irgendwie nicht. Am liebsten würde ich zu Maria gehen und ihr erzählen, was der Arsch getan hat, damit sie ihm den Laufpass gibt. Keine Frau sollte je wieder auf diesen Kerl hereinfallen!

Ronis Arme holen mich aus den Gedanken, als sie wild mit ihnen herumfuchtelt. Sie starrt zu mir rüber und gibt deutliche Signale, dass ich zu ihnen kommen soll.

Ich leere den Drink in einem letzten Zug, stelle das Glas ab und ergebe mich meinem Schicksal. Trotz der Tatsache, dass mein Leben ein furchtbares Chaos ist, muss ich mein Bestes geben, es weiterhin zu leben. Ich kann mir keinen Strick nehmen und mich an irgendeinem Balken aufhängen. Erstens bin ich viel zu feige dafür und zweitens habe ich noch nie gekniffen, wenn es mal schwieriger wurde. Emma Leimann ist eine Kämpferin. Wenn mir das verdammte Leben Zitronen hinschmeißt, verlange ich nach Tequila und Salz!

 

 

***

 


Am nächsten Morgen quäle ich mich sehr früh aus dem Bett und mache etwas, dass ich noch nie zuvor getan habe: Ich ziehe mir Shorts, ein Top und Turnschuhe an und verlasse das Haus, um runter ans Wasser zu gehen. Um diese Zeit ist es noch recht kalt draußen, aber ich hoffe, dass mich die körperliche Betätigung bald aufheizen wird. Nachdem ich mich in alle Richtungen umgesehen habe, um keiner ungebetenen Person zu begegnen, laufe ich los.

Bereits nach wenigen Minuten merke ich, dass ich eine totale Niete bin, was Sport angeht, aber ich beiße die Zähne fest zusammen und quäle mich weiter. Jeder Meter, den ich bezwinge, ist ein riesen Erfolg. Und von Erfolgserlebnissen konnte ich in letzter Zeit nun wirklich nicht oft berichten.

Es sind gerade mal zehn Minuten vergangen, als ich bereits im Gesicht glühe und das Gefühl habe, meine Lunge jeden Moment auszuhusten. Völlig aus der Puste bleibe ich stehen und beuge mich vor, um die Hände auf den Oberschenkeln abzustützen.

»Du läufst zu schnell.«

Das kann doch jetzt echt nicht wahr sein! Ich richte mich auf und wirbele herum. Es ist wahr. Da steht dieser Idiot und lächelt selbstgefällig. Ich balle die Hände zu Fäusten, drehe mich wieder um und laufe weiter. So schnell ich kann.

»Emma, wenn du gleich umkippst, weil du dich übernommen hast, werde ich Erste Hilfe bei dir anwenden müssen. Mund-zu-Mund-Beatmung ist ein Teil davon«, erklingt es viel zu nah hinter mir.

Ein Adrenalinstoß durchzuckt mich. Ich stolpere und falle fast auf die Nase. Im letzten Moment fange ich mich noch auf und bleibe stehen. »Verpiss dich, Joe-seppe!«, knurre ich ihm zu.

»Du übernimmst dich, das kann ich nicht mit ansehen.«

»Oh, entschuldige, dass ich Laie deine Expertenaugen beleidige, indem ich hier halb krepiere.«

»Wenn du mit dem Laufen beginnst, solltest du es langsamer angehen«, erklärt er, ohne auf meine Stichelei einzugehen. »Kurze Runden, langsameres Tempo. Dein Gesicht ist ganz rot, weil du viel zu schnell rennst.«

Ich fasse mir an die Wangen und funkele ihn wütend an.

»Ich meine es nur gut«, fährt er fort und hebt die Hände beschwichtigend an. »Aber ich laufe auch erst seit zehn Jahren - was weiß ich denn schon.« Er lässt mich stehen und joggt davon.

Dass sein perfekter Hintern mich dabei verhöhnt, trägt nicht gerade dazu bei, dass sich die Wut in meinem Bauch wieder legt. Wut und etwas anderes, das ich nicht weiter ergründen möchte.

Ergeben mache ich mich auf den Weg zurück zum Haus und versuche dabei, die Scham darüber, dass er mich bei meinem Versagen erwischt hat, zu verdrängen. Wieso bin ich überhaupt joggen gegangen? Das war die dümmste Idee seit langem!

In der Finca treffe ich Jordan und Selina in der Küche. Ich setze mich auf einen freien Stuhl und nehme den dargebotenen Kaffee dankend entgegen.

»Ich wusste gar nicht, dass du auch läufst«, bemerkt Jordan neben mir. »Bis auf Ben verbringt doch niemand freiwillig seinen Urlaub damit, so früh aufzustehen und viele Kilometer zu laufen.«

»Tu ich normalerweise auch nicht. Aber ich dachte, es könnte mir guttun, mich mal sportlich zu betätigen.« Ich nehme einen Schluck und füge dann hinzu: »Falsch gedacht.«

»Da ist mir Yoga lieber«, wendet Selina ein. »Ich bin nicht gerade der sportliche Typ, aber hin und wieder raffe ich mich dazu auf, mehr Bewegung in mein Leben zu bringen. Jordan geht ins Fitnessstudio. Das könnte ich gar nicht, ist viel zu einseitig.«

»Ich habe früher nie Zeit für Sport gehabt, weil ich so viel gearbeitet habe«, erzähle ich. »Im Moment muss ich meine Freizeit füllen, um nicht ständig nachzudenken und zu verzweifeln.«

Jordan schenkt mir ein mitfühlendes Lächeln. »Ich bin mir sicher, du wirst dich gut in meiner Bar machen. Dann hast du auch wieder einen Job, der dich ablenkt.«

»Ist das eigentlich eine Vollzeitstelle? Ansonsten müsste ich mir noch etwas zusätzlich suchen«, entgegne ich.

»Ich habe jeden Tag geöffnet. Allerdings herrscht nicht immer Hochbetrieb, und es sind noch einige andere Personen eingestellt.« Er erzählt mir etwas über seinen Laden und meine möglichen zukünftigen Kollegen. Dann nennt er die Bezahlung und wie viele Stunden ich im Schnitt arbeiten könnte. Das ernüchtert mich so ziemlich. Die Bezahlung ist gut, wenn man auch noch Trinkgeld miteinbezieht, aber es reicht nicht, um meine Ausgaben zu decken.

»Dann brauche ich definitiv noch einen zweiten Job, wenn ich meine Rechnungen zahlen möchte.« Seufzend stelle ich den Kaffeebecher ab. »Schade.«

»Ich kenne noch ein paar Leute, die immer jemanden suchen. Soll ich denen deine Nummer geben?«, bietet Jordan im nächsten Moment an.

»Könntest du mir lieber deren Nummern geben? Dann könnte ich sie so lange nerven, bis sie mich zumindest zu einem Vorstellungsgespräch einladen.«

Er lächelt und holt sein Handy hervor.

Eine Weile später kommt Benjamin zurück und holt sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Mein Blick bleibt an seiner Brust hängen, an der das durchgeschwitzte T-Shirt klebt. Nur zu gut erinnere ich mich noch daran, wie sich seine steinharten Muskeln angefühlt haben, als ich auf ihm saß und ... Hastig wende ich mich ab und stehe auf.

»Ich geh mal duschen«, murmele ich vor mich hin, während ich den Becher in die Spüle stelle und dann die Küche verlasse.

Es ist ganz schön nervig, dass mein Körper immer noch auf diesen Kerl reagiert, obwohl ich ihn nicht leiden kann. Zum Glück lässt sich mein Verstand nicht von irgendwelchen durcheinandergeratenen Hormonen beeinflussen. Ich habe jetzt weiß Gott Wichtigeres zu tun, als mich zu jemandem hingezogen zu fühlen, der mein Leben so sehr beeinträchtigt hat.

Zuerst werde ich diesen Urlaub hinter mich bringen. Dann überzeuge ich Jordan von mir und suche mir zusätzlich einen zweiten Job. Und wenn ich meine Schulden so weit abbezahlt habe, dass ich nicht mehr unter ihnen zu ersticken drohe, muss ich mir überlegen, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen soll.

Meinen einstigen Traum durfte ich ja jetzt endgültig begraben. Es wird dauern, bis diese Wunde vollständig verheilt ist, aber ich kann mich nicht länger in meinem Schmerz und Leid suhlen. Ich muss weitermachen, von vorne beginnen und es diesmal richtig machen. Wie genau ich das anstellen soll, weiß ich noch nicht, aber ich werde es schon herausfinden. Und irgendwann wird dieser Abschnitt meines Lebens nur noch eine kleine Narbe sein, die hin und wieder schmerzhaft pocht, mich aber nicht länger beeinträchtigt, weil ich etwas Neues haben werde, das mich glücklich macht. An diese Hoffnung klammere ich mich mit aller Macht. Alles andere wäre viel zu deprimierend.

Kapitel: 14

 

D
en letzten Tag des Urlaubs verbringen wir an einem schönen Strandabschnitt ein paar Kilometer von Elias' Haus entfernt.

Auf dem Bauch liegend lese ich in einem Buch, das Sandy mir geliehen hat. Ein historischer Liebesroman, der mich bei der ersten Liebesszene laut aufstöhnen lässt - und das sicher nicht vor Wonne.

»Was ist los?«, fragt Anja, die neben mir auf ihrem Handtuch liegt.

»Sandys Buch ist kacke«, erwidere ich und lege es zur Seite. »Mal ehrlich, wer nennt den Penis eines Mannes Schwert?«

»Du etwa nicht?« Anja macht ein geschocktes Gesicht.

»Ich bevorzuge Speer oder Lanze«, erwidere ich grinsend. »Das klingt beeindruckender.«

»Jeder Mann möchte hören, dass er einen Speer in der Hose hat«, erklingt es hinter uns. »Oder eine Lanze. Dann fühlen wir uns wahnsinnig mächtig.«

Ich zucke leicht zusammen und spüre, dass meine Wangen sich erhitzen. Wie konnte ich nicht bemerken, dass Benjamin hinter uns sitzt?

Anja kichert. Sie richtet sich auf und schaut zu dem ungebetenen Lauscher. Neben ihr taucht Roni auf und setzt sich auf ihr Handtuch. »Was ist hier los?«, fragt sie neugierig.

»Ben hat uns eben mitgeteilt, dass er einen Speer in der Hose hat«, erzählt unsere große Schwester belustigt.

»Oh, ein interessantes Thema.« Roni grinst mich wissend an, und ich erröte noch mehr, da ich plötzlich unerwünschte Bilder vor Augen habe. »Ich fürchte jedoch, Elias könnte etwas dagegen haben, wenn ich es weiter vertiefe.«

»Elias hat akzeptiert, dass er mit mir nicht mithalten kann. Er nimmt es gelassen«, bemerkt der Witzbold.

Während meine Schwestern sich einen Ast ablachen, verdränge ich die FSK-18-Bilder aus meinen Gedanken und setze eine kühle Miene auf. »Ich habe schon wesentlich größere Exemplare gesehen.«

Augenblicklich sind zwei Augenpaare auf mich gerichtet. Ich wette, Benjamin durchbohrt mich ebenfalls mit seinem Blick, aber ich kann es nicht sehen, da ich ihm den Rücken zugedreht habe. Gott, wir sitzen tatsächlich hier und unterhalten uns über die Größe seines ... Speers! Wieso habe ich nicht die Klappe gehalten, sondern ihn noch weiter provoziert?

»So etwas soll es tatsächlich auch geben«, sagt er schließlich und klingt völlig gelassen dabei. »Aber Menschen behaupten auch, schon mal Ufos gesichtet zu haben.«

»Ufos?« Elias hat sich nun ebenfalls zu uns gesellt. »Redet ihr über Verschwörungstheorien?«

»Nein, über Bens Speer.« Roni bekommt sich gar nicht mehr ein und hält sich bald den Bauch beim Lachen.

»Ah. Werden hier jetzt die nackten Tatsachen ausgepackt?«

»Ich habe nicht vor, irgendetwas auszupacken«, entgegnet Benjamin Blödmann.

»Emma hat behauptet, Ben sei nicht so gut bestückt wie ihre anderen Lover.«

Ich werfe Roni einen mörderischen Blick zu. Sie lächelt bloß und zuckt mit den Achseln.

»Emma spricht also über das Tabuthema Nummer eins?«, fragt Elias hörbar erstaunt.

»Nein, tut Emma nicht!«, zische ich. »Wir haben uns über das Buch unterhalten.« Schnell fische ich Sandys Roman aus dem Sand und halte ihn hoch.

»Das Buch ist klasse, oder?« Wie aufs Stichwort taucht unsere Cousine samt Ehemann neben uns auf. Sie ist noch ganz nass vom Wasser, in dem sie sich bis eben aufgehalten hat.

»Ja, richtig toll, ich lese gleich weiter«, bestätige ich und vergrabe meine Nase zwischen den Seiten.

»Bist du schon dort angekommen, wo Lady Lundgren die beiden in der Scheune erwischt? Das ist eine der heißesten Szenen, die ich je in einem Buch gelesen habe.« Sandy seufzt verträumt.

»In der Scheune?« Roni klingt, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie lachen oder mich weiter ärgern soll. »Wie erotisch! Emma sollte diese Szene laut vorlesen.«

»Ja, Em, wir wollen mehr über das Schwert hören«, bestätigt Anja.

»Schwert? Ging es nicht eben noch um Speere?«, wundert sich Elias laut.

Obwohl mir das Ganze furchtbar peinlich ist, kann ich es nicht länger zurückhalten und pruste los. Ganz objektiv betrachtet ist dieses Gespräch wirklich witzig. Ziemlich unreif, aber witzig. Nur leider hat es eine unschöne Wirkung auf mich - den Rest des Vormittags verbringe ich damit, immer wieder dagegen anzukämpfen, mich an Bens Speer zu erinnern.


Den Abend verbringen wir im Haus bei einem schönen Essen und anschließend mit leckeren Cocktails und spanischer Musik. Zu meinem Erstaunen bin ich so entspannt wie schon lange nicht mehr. Ich habe es mir auf einer Liege gemütlich gemacht, nippe an dem superguten Caipirinha made by Jordan und genieße das Geplauder und Gelächter um mich herum.

Zu schade, dass wir schon am nächsten Morgen zurück in die Realität kehren werden. Ich hätte gerne noch mehr Zeit fernab meiner Probleme verbracht, jetzt, wo ich es auch einigermaßen würdigen kann und mich nicht mehr gegen alles und jeden auflehne.

Ja, mittlerweile ertrage ich sogar die Nähe einer gewissen Person, ohne sofort an die Decke zu gehen. Ich ignoriere ihn weitestgehend und vermeide jegliche Konversation, aber ich akzeptiere, dass er nun mal dazu gehört und ich ihn nicht einfach loswerden kann, obwohl ich gerne würde. Das ist ein Fortschritt, und dafür darf ich mir ruhig auf die Schulter klopfen.

Anja quetscht sich zu mir auf die Liege und lehnt ihren Kopf an meine Schulter. »Es ist so schön hier«, murmelt sie versonnen.

»Ja. Menschen, die hier leben dürfen, müssen echt glücklich sein«, bestätige ich nickend.

»Würdest du hier dauerhaft leben wollen?«

»In diesem Haus? - Klar. Wenn ich auch noch einen Job hätte, um mich zu versorgen, und keine Schulden ...«

»Nicht daran denken«, sagt sie schnell. »Das verdirbt dir bloß die Laune.«

Ich lehne mich noch etwas zurück und schließe die Augen. »Hast recht. Morgen ist das alles hier vorbei, bis dahin kann ich es auch noch genießen, ohne mir den Kopf zu zerbrechen.«

Wir bleiben eine Weile so sitzen und lauschen dem leisen Rauschen der Wellen. Dann wird die Stille von Ronis lauter Stimme durchbrochen, als diese vorschlägt, schwimmen zu gehen.

»Im Urlaub muss man mindesten einmal nachts nackt schwimmen gehen!«, sagt sie voller Elan.

»Nackt?«, hakt Sandy nach und klingt nicht sonderlich begeistert, was ich gut nachvollziehen kann.

»Ja, klar. Da unten ist es stockdunkel, wir werden eh nichts sehen können. Kommt schon, Leute, seid doch nicht so prüde.«

»Ich gehe ganz bestimmt nicht nackt schwimmen«, sage ich kopfschüttelnd. »Elias, zieh die Zügel an«, richte ich an den Lover meiner Schwester.

»Ihr seid richtige Spielverderber.« Roni schmollt. »Dann eben in Unterwäsche. Aber ins Wasser gehen wir auf jeden Fall!«

Ich weiß nicht, wie sie es schafft - ob es ihre Drohungen oder ihr Flehen und Drängen bewerkstelligen - jedenfalls befinden wir uns fünfzehn Minuten später unten am Wasser. In Unterwäsche.

»Sie hat uns eine Gehirnwäsche verpasst«, brumme ich vor mich hin und reibe mir über die von Gänsehaut überzogenen Arme. Es ist unfassbar kalt um diese Uhrzeit.

»Nicht lang schnacken, beweg deinen Arsch ins Wasser!« Roni stößt einen begeisterten Schrei aus und rennt ins Meer. Elias folgt ihr, ebenso sein bester Freund, den ich jedoch weiterhin ignoriere.

»Komm, Em.« Anja streckt mir eine Hand hin, die ich in der Dunkelheit gerade noch so ausmachen kann. »Lass uns noch einmal verrückt sein, bevor wir in die Realität zurückkehren.«

Ich hole noch einmal tief Luft, ergreife ihre Hand und ergebe mich meinem Schicksal.

»Ach, du heilige Scheiße!« Wir kreischen beide laut, als unsere Zehen das Wasser berühren. Ich hatte mir ja gewünscht, an den Nordpol zu reisen und mich dort im eiskalten Wasser zu ertränken - das hier kommt dem ganz schön nahe.

Irgendwo vor uns ist Ronis Lachen zu vernehmen, hinter uns schreit Sandy sich die Seele aus dem Leib. Ich drücke Anjas Hand und hüpfe auf und ab, um mich irgendwie zu erwärmen. »Gleich fallen mir die Beine ab«, sage ich dabei und kann nicht verhindern, dass meine Zähne klappern.

»Solange es nur die Beine sind.« Roni steht plötzlich vor uns und spritzt uns furchtbar kaltes Wasser entgegen.

Ich lasse Anjas Hand los, um mich vor dieser heimtückischen Attacke zu schützen, und werfe Roni die wildesten Flüche an den Kopf.

Eine wilde Wasserschlacht bricht aus, und obwohl ich es nie für möglich gehalten hätte, habe ich kurz darauf den Spaß meines Lebens. Ich bin klitschnass, zittere wie Espenlaub und lache, bis mir der Bauch wehtut. In meiner Ausgelassenheit vergesse ich sogar kurz, dass eine Person für mich nicht existiert, und attackiere Benjamin mit einem Schwall Wasser, woraufhin er in die Wellen taucht und mich einen Moment später am Fuß packt und ebenfalls unter Wasser zieht.

Prustend komme ich wieder hoch und streiche mir das Haar aus dem Gesicht.

»Rache ist süß«, erklingt Benjamins Stimme neben meinem Ohr und lässt die Härchen in meinem Nacken zu Berge stehen. »In diesem Fall wohl salzig.« Er spuckt das Wasser aus.

Ich stoße ihn weg, weil seine unmittelbare Nähe die wildesten Dinge mit meinem Inneren anstellt, und schwimme ans Land.

Wir kehren zurück zum Haus und hüpfen nacheinander unter die Dusche. Die ganze Zeit verdränge ich das Gefühl, das ich eben im Wasser empfunden habe, muss mir aber schließlich eingestehen, das mein verfluchter Körper weiterhin extrem heftig auf meinen Erzfeind reagiert. Ein Glück bin ich ein Kopfmensch und lasse mich nicht von Empfindungen in die Irre führen. Benjamin Mynard konnte mich einmal um den Finger wickeln, ein zweites Mal gelingt es ihm nicht!

 

 

***



Sobald das Flugzeug gelandet ist, ist jede Unbeschwertheit des vergangenen Tages verschwunden und hat Platz gemacht für all die unschönen Empfindungen, die mich seit Wochen im Griff haben. Das ist ätzend!

Ich verabschiede mich von meinen Schwestern und den anderen, wobei ich Benjamin lediglich ein Kopfnicken gönne, und fahre in meine Wohnung, die mir plötzlich viel zu klein und leer vorkommt, weil ich die vergangene Woche in einem großen Haus verbracht habe, stets umgeben von anderen Menschen.

»Tja, das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert«, murmele ich vor mich hin, während ich den Koffer auspacke. »Wäre es das, wäre ich jetzt nicht hier, sondern auf einer tropischen Insel ... in meinem Café. Mit Leuten, die ich liebe, und mit Kunden, die nicht genug von meinen Kreationen bekommen können.«

Nachdem ich die Schmutzwäsche in die Waschmaschine geladen habe, gieße ich meine wenigen Pflanzen, die sowieso bald eingehen werden, und mache mich anschließend auf den Weg in den Supermarkt, um meinen leeren Kühlschrank aufzufüllen.

Als ich vor der Käsetheke stehe, ruft Leon an. »Hallo, Lieblingsschwester. Wie war der Urlaub?«, fragt er interessiert.

Ich erzähle ihm, wie hinterhältig ich in eine Falle gelockt worden bin, und füge am Ende hinzu, dass es nach anfänglichen Schwierigkeiten trotzdem noch schön geworden ist.

»Du hast also wirklich eine ganze Woche mit dem Mann, der dich deiner Meinung nach zerstört hat, auf engstem Raum verbracht?« Er pfeift durch die Zähne. »Und er lebt noch?«

»Ja. Mein Versuch, ihn gestern Abend im Meer zu ertränken, ist leider missglückt.«

Leon lacht. »Hey, vielleicht könnt ihr das ja noch klären, und du bekommst dein Café zurück?«

»Nein, das wird nicht passieren.« Ich packe meinen Lieblingskäse in den Einkaufskorb und laufe weiter. »Aber ich habe schon einen neuen Job, für den Anfang. In einer Bar. Leider wird das nicht reichen, um meine Rechnungen zu decken. Ich brauche noch einen zweiten.«

»Du könntest mit mir zusammen ein Praktikum machen«, schlägt er vor.

»In Papas Firma? Ja, genau. Fang nicht wieder damit an!«

»Okay, okay, nicht an die Decke gehen. Wo hast du dich noch beworben?«

»Überall. Keiner will mich.«

»Das glaube ich nicht. Dir fehlen bloß ein paar gute Zeugnisse. Hast du schon mal daran gedacht, zu studieren?«

»Ja. Und ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass ich dafür nicht geschaffen bin. Sitzen, zuhören, für Klausuren lernen ... Ich habe die Schule damals nicht früher beendet, um später doch noch dorthin zurückzukehren.«

»Schule ist nicht Studium.«

»Ja, aber viel zu ähnlich. Nein, Leon, das ist wirklich nichts für mich. Ich muss etwas machen und tun. Außerdem habe ich einen Kredit, der sich leider nicht von selbst abbezahlt. Studentenjobs reichen da nicht aus.«

»Klar, hast recht. Ich hätte eine Lösung, aber die willst du ja nicht hören.«

»Nein, möchte ich nicht.« An der Kasse angekommen packe ich meine Sachen aufs Fließband.

»Na schön, ich muss jetzt weiter«, dringt Leons Stimme wieder an mein Ohr. »Ich komme dich demnächst mal besuchen, dann können wir weiter schnacken.«

»Mach das, ich würde mich freuen.«

Wir verabschieden uns, dann bezahle ich meinen Einkauf und mache mich auf den Heimweg. Ohne dass ich es verhindern kann, führen mich meine Füße zu meinem verlorenen Baby. Ich bleibe auf der anderen Straßenseite stehen und schaue auf die mittlerweile leerstehenden Räumlichkeiten. Mein Herz wird ganz schwer, und in meiner Kehle bildet sich ein schmerzhafter Kloß, der mir die Luft abdrückt.

»Es ist schrecklich, dich so zu sehen«, murmele ich am Boden zerstört. »Tut mir leid, dass ich dich nicht retten konnte.«

Plötzlich werde ich an der Schulter angetippt. Als ich mich zur Seite drehe, steht da eine ältere Dame, die früher oft ins Café gekommen ist. »Eine Schande ist das«, sagt sie kopfschüttelnd und blickt rüber zum Gebäude. »Ich vermisse Ihren Karottenkuchen.«

Lächelnd kämpfe ich gegen die Tränen an. »Ja, ich vermisse es auch, den Karottenkuchen zu backen.«

»Eröffnen Sie anderswo ein neues Café?«, erkundigt sie sich.

»Nein. Leider ist mir das nicht möglich. Ich ... schlage einen neuen Weg ein.«

»Ach, ist das schade! Ich habe mich immer so wohl gefühlt im SchLemma. Wissen Sie, was jetzt in die Räume kommt?«

Ich schaue zur Eingangstür. »Nein, das weiß ich nicht. Wahrscheinlich ein Büro.«

»Von denen haben wir hier noch nicht genug, was?« Sie schüttelt ihren Kopf erneut und wiederholt: »Eine Schande ist das!«

»Ja, das ist es.« Ich verabschiede mich schnell, bevor ich vor ihr noch in Tränen ausbreche, und eile davon zu meiner Wohnung.

In meinen sicheren vier Wänden lasse ich meinen Emotionen freien Lauf, während ich die Einkäufe im Kühlschrank verstaue. Wütend wische ich die Tränen schließlich weg und atme tief durch.

Es ist vorbei. Ich kann es nicht mehr ändern und muss nach vorne blicken, mich auf das Jetzt konzentrieren. Und das Jetzt wird verdammt hart und nervenaufreibend. Wenn ich es also deichseln möchte, ohne daran zu zerbrechen, muss ich mein stabiles Nervenkostüm überziehen und die Ärmel hochkrempeln.

Ich verlasse die Küche und setze mich mit meinem Handy auf die Couch im kleinen Wohnzimmer. Dann rufe ich die Kontakte auf und telefoniere eine Nummer nach der anderen ab, die Jordan mir gegeben hat.

Am Ende des Tages habe ich zwar einen Knoten in der Zunge, dafür aber auch drei Vorstellungsgespräche an Land gezogen. Ein Ergebnis, mit dem ich durchaus zufrieden sein kann.

Kapitel: 15

 


»Soweit alles klar?«

Nachdem Jordan mich durch seine nicht gerade kleine Bar geführt und die Aufgaben erklärt hat, bleiben wir an einem der beiden langen Tresen stehen.

»Ja«, erwidere ich nickend. »Das Mixen der verschiedenen Getränke muss ich allerdings noch üben. Erfahrungen darin habe ich noch keine.«

»Kein Problem. Gleich kommt Andy, der zeigt dir schon mal die wichtigsten Cocktails. Für die Specials haben wir geschultes Personal. Die musst du nur servieren.«

»Oh, cool. Kann ich heute schon anfangen?«

Jordan lächelt. »Wenn du unbedingt möchtest. Dann lass uns nach hinten gehen und den Vertrag besprechen.«

Eine halbe Stunde später ist Andy da und führt mich in die Kunst des Getränkemixens ein. Es ist gar nicht so schwer, aber man muss sich schon einiges merken, wenn man nicht die ganze Zeit auf die Zutatenliste schauen möchte. Während der Rush-Hour wäre das sicher von Vorteil.

An diesem Abend bleibe ich bis zum Schluss, schaue mir den Ablauf einer nicht ganz so stressigen Schicht an, lerne ein paar Kollegen kennen und überzeuge Jordan von mir.

Am nächsten Morgen stehe ich früh auf, mache mich fertig und gehe zu einem weiteren Vorstellungsgespräch.

Und so bin ich in der folgenden Wochen ununterbrochen auf Achse, und das wirkt sich auf meine Gesundheit aus. Sobald etwas Ruhe einkehrt und ich auch mal die Beine hochlegen kann, läuft prompt meine Nase und ich bekomme Halsschmerzen.

Dennoch gehe ich auch an diesem Abend zur Arbeit. Ich kann es mir nicht erlauben, gleich zu Beginn zu fehlen. Eine Schnupfnase ist nervig, aber kein Grund, im Bett zu bleiben.

Zu meinem Entsetzen kommen später Roni, Elias und ... ja, auch er vorbei.

»Wir wollten mal sehen, wie du dich so machst«, erklärt meine Schwester bestens gelaunt.

»Warum musste Benjamin Blödmann denn unbedingt mitkommen?«, entgegne ich murrend.

»Ben ist oft mit Elias hier. Die letzte Woche ist er fortgeblieben, um genau das zu vermeiden - deinen Unmut. Die Bar gehört einem seiner besten Freunde. Natürlich wirst du ihn hier öfter zu Gesicht bekommen.«

Ich wende mich ab und fahre fort mit meiner Aufgabe. Mir hätte klar sein sollen, dass dieser Job zu schön gewesen ist, um wahr zu sein. Ein netter Chef, super Kollegen, gute Bezahlung - irgendwo musste da ein Haken sein. Ich habe ihn gefunden. Er ist etwa 1,90 Meter groß, hat breite Schultern und ist ein doofer Arsch. Dass mein Herz bei seinem Anblick schneller pocht, hängt lediglich damit zusammen, dass all die Verachtung für ihn wieder hochkommt.

Ich reiche Roni die georderten Getränke und schaue ihr nach, als sie zu ihrem Tisch zurückkehrt. Unauffällig beobachte ich die drei bei ihrer Unterhaltung und verdrehe die Augen, als meine Schwester erneut über etwas lacht, das Benjamin sagt. So witzig ist er nun auch wieder nicht!

»Emma, mach schon!«, kommt es von der Seite. Mia, eine meiner Kolleginnen, stupst mich an. »Nicht träumen, wir haben viele durstige Kehlen zu versorgen.«

Ich reiße mich von dem Anblick der sich amüsierenden kleinen Gruppe um meine Schwester los und trete zu einem Gast am Tresen.

Eine Weile später ist Elias dran, die Getränke zu holen. Er begrüßt mich lächelnd und erkundigt sich, ob mir der Job gefällt.

»Jordan ist dein Kumpel, also darf ich jetzt nichts Falsches sagen.« Ich tue so, als müsste ich schwer überlegen, und grinse dann. »Es gefällt mir sehr. Ich mag die Leute und die Atmosphäre. Leider komme ich mit dem, was ich hier verdiene, nicht aus und brauche noch eine zweite Stelle. Tagsüber arbeite ich noch in einem Restaurant nicht weit von hier entfernt.«

»Hat Roni mir erzählt«, sagt er mit einem Nicken. »Und dass du ständig unter Strom stehst.«

»Gestern hatte ich frei. Und heute bin ich erkältet.« Wie um das zu untermauern, wende ich mich ab und schnäuze die Nase aus. Das benutzte Taschentuch schmeiße ich in einen Mülleimer unter dem Tresen. »Was sagt uns das? Freizeit ist scheiße!«

Elias Blick wirkt nachdenklich. »Wäre es nicht besser, wenn du dir einen Job suchst, der ausreicht, um zu leben?«

»Klar wäre das besser. Aber Jobs wachsen nun mal nicht auf Bäumen. Ich habe eine Ausbildung im Einzelhandel gemacht. Allzu viele Möglichkeiten habe ich nicht. Die Jobs, die ich bekomme, bringen nun mal keine Millionen ein. So oder so werde ich nicht mit einer Stelle auskommen. Der Kredit, den ich noch abbezahlen muss, legt mich an die kurze Leine. Ich würde ja gerne gleich drei Stellen annehmen, aber der Tag hat leider nur vierundzwanzig Stunden, und mein verwöhnter Körper braucht ein paar Stunden Schlaf. Pff, was denkt er sich bloß dabei?« Ich reiche ihm das Tablett mit den Getränken. »Schick ja nicht deinen besten Freund los, um die nächste Fuhre zu holen.«

»Jeder zahlt eine Runde, so haben wir es abgemacht«, entgegnet Elias schmunzelnd.

»Dann kann ich nicht garantieren, dass ich nicht in die Getränke spucke.«

Er lacht und geht kopfschüttelnd davon.

Während ich die nächsten Gäste bediene, spüre ich eine unschöne Anspannung in den Schultern. Es ist die Erwartung, ihm gleich gegenüber zu stehen, die mich im Griff hat. Ich wünschte, ich könnte es gelassen sehen; über den Dingen stehen. Aber das kann ich nicht. Dieser Mann ist mir bei unserer ersten Begegnung unter die Haut gegangen, und selbst nachdem herausgekommen ist, welch falsches Spiel er gespielt hat, hat er mich nicht kaltgelassen. Vordergründig sind da Hass und Abscheu, die ich für ihn empfinde, doch wenn man tiefer graben würde - was ich partout vermeide - kämen auch andere Empfindungen ans Tageslicht. Etwas, das ich nicht fühlen möchte, wenn es um ihn geht.

»Emma?«

Ich schließe kurz die Augen und atme tief durch, bevor ich mich zu ihm drehe. »Dasselbe wie eben?«, frage ich höflich-distanziert.

Er nickt, ich weiche seinem Blick aus.

Wieso sieht er so gut aus? Sein mieser Charakter sollte ihn für mich unattraktiv machen. Aber nein, sein verfluchtes Gesicht könnte immer noch auf irgendeiner Frauenzeitschrift abgebildet sein, mit dem Titel Sexiest Man Alive, oder so. Gott, ich hasse es, wie oberflächlich ich scheinbar bin. Ein Paar schöner Augen, markante Züge und sinnliche Lippen - und schon flattern die Hormone. Wenn das nicht zum Kotzen ist!

Die sinnlichen Lippen bewegen sich, und ich blinzele, weil ich wieder in Gedanken versunken gewesen bin und nichts mitbekommen habe.

»Hm?«, frage ich und spüre, wie mir Hitze in die Wangen schießt. Ich habe ihn die ganze Zeit angestarrt ... Peinlich!

»Wie viel macht es?« Er hält sein Portemonnaie hoch.

Ich nenne ihm die Summe und kassiere schnell ab. Als er mir viel zu viel Trinkgeld geben möchte, funkele ich ihn wütend an und gebe ihm das Restgeld bis auf den letzten Cent raus.

Benjamin verdreht die Augen. »Das ist wirklich albern, Emma. Du bist nicht die Erste, der ich Trinkgeld gebe.«

»Hast du auch mit allen anderen geschlafen?« Ich sehe ihn nicht an, als ich das sage.

»Andy ist nicht mein Typ, und Mia glücklich vergeben, soweit ich weiß. Falls du glaubst, das Trinkgeld wäre für die Nacht mit dir ...«

»Erinnere mich bloß nicht an diese Nacht«, fahre ich ihm ins Wort.

»Du hast angefangen.« Er verschränkt die Arme auf dem Tresen und beugt sich zu mir vor. »Was muss ich tun, damit du mir verzeihst?«

»Aufhören zu existieren.«

»Mein Tod ist also die Lösung aller Probleme?«

»Nicht aller, aber meiner«, entgegne ich achselzuckend, dabei wünsche ich ihm natürlich nicht den Tod. Er soll lediglich aus meinem Leben verschwinden.

»Verstehe. Wenn ich tot bin, bekommst du dein Café wieder und alles ist gut. Genau so wird es dann ablaufen.« Die Ironie ist nicht zu überhören, und ich komme mir ziemlich dumm vor.

»Wieso lässt du mich nicht einfach in Ruhe, Joe-Seppe? Ich habe keinen Bedarf an deiner Gesellschaft oder deinem schmutzigen Geld.«

Einen Moment herrscht aufgeladenes Schweigen zwischen uns, dann macht er wieder seine blöde Klappe auf: »Würde ich dich mit dem Trinkgeld bezahlen wollen, müsste ich mehr hinblättern. Die Nacht mit dir war unglaublich.«

Mein Kopf ruckt abrupt nach oben. Ich verenge die Augen. Was seine Worte in meinem Magen anstellen, verrate ich lieber nicht.

»Was ist los, Emma? Bekommt dir die Wahrheit nicht?« Da ist so viel Provokation in seinem Blick ... Mein Herz hämmert wild gegen meine Rippen.

»Die Nacht mit dir war schrecklich!«, zische ich.

»Ach, deswegen hast du dich so unverfroren an mich rangemacht? War das, weil ich so schrecklich war? Und später hast du ununterbrochen meinen Namen gerufen, konntest die Finger nicht von mir lassen. Ich habe jeden einzelnen Muskel noch tagelang gespürt, nachdem du fertig mit mir warst. Nachdem du mich gevögelt hattest, als gäbe es kein Morgen mehr.«

Ohne dass ich es verhindern kann, schnellt meine Hand nach vorne und verpasst ihm eine ordentliche Ohrfeige. Im nächsten Moment halte ich mir selbige vor den Mund und starre ihn geschockt an. Sein Gesicht zeigt mir nicht, was in ihm vorgeht, aber mir wird furchtbar schlecht. Ich habe noch nie jemanden so richtig geschlagen - wenn man mal von dem gescheiterten Versuch in Spanien absieht, als ich ihn vermöbeln wollte. Und dann passiert mir das ausgerechnet jetzt. Ausgerechnet hier!

»Tut mir leid«, sage ich hastig und weiche einen Schritt zurück. Als ich gegen etwas pralle, drehe ich mich um und werde sicher kalkweiß. Vor mir steht Jordan, sein Blick ist sehr ernst.

»Komm mit mir nach hinten«, sagt er leise und geht voran.

Ich folge ihm mit gesenktem Kopf und einem unglaublich schlechten Gewissen. Die ganze Zeit mache ich mir riesige Vorwürfe, weil ich mich nicht besser unter Kontrolle gehabt habe.

»Du hast es gesehen«, stelle ich kleinlaut fest, als sich die Tür zu seinem kleinen Büro hinter uns geschlossen hat.

»Ja, habe ich. Emma, ich weiß, dass es zwischen euch beiden kompliziert ist, aber das kannst du nicht hier in meiner Bar klären. Und schon gar nicht auf diese Weise.«

»Ich weiß. Gott, Jordan, es tut mir so leid!« Ich fahre mir mit den Fingern durch die Haare und bin der Verzweiflung nahe. Es wäre nur verständlich, wenn er mich für dieses Verhalten entlassen würde.

Die Tür geht auf und Benjamin kommt herein. Ich unterdrücke ein gequältes Stöhnen und schließe die Augen. Dieser Abend ist ein Alptraum!

»Jordan, es war meine Schuld. Ich habe sie provoziert«, sagt er, und ich schaue ihn verwirrt an. »Eigentlich könnte man auch sagen, dass das, was ich getan habe, an sexueller Belästigung grenzt. Sie hatte jedes Recht, sich gegen mich zu wehren. Auch physisch.«

Jordan runzelt die Stirn, dann blickt er auffordernd zu mir.

»Er hat ... ein paar unschöne Dinge gesagt«, murmele ich leise. Benjamin hat mich provoziert, das stimmt, aber ich hatte absolut kein Recht, ihn zu schlagen! »Der Schlag war dennoch nicht akzeptabel«, füge ich deshalb wahrheitsgemäß hinzu.

»Leute, ihr macht mich fertig.« Jordan schüttelt den Kopf. »Ich möchte nicht, dass so etwas noch einmal in meiner Bar geschieht. Klärt eure Probleme woanders. Haben wir uns verstanden?«

»Ja«, bestätigen Benjamin und ich synchron.

»Gut. Dann geh zurück an die Arbeit, Emma. Ben, ich muss noch kurz mit dir sprechen.«

Ich verlasse das Büro und eile zurück hinter den Tresen. Deutlich spüre ich die Blicke meiner Kollegen auf mir, ignoriere sie jedoch und konzentriere mich stattdessen auf die Arbeit. Leichter gesagt als getan, denn ich werde nicht nur von den Blicken meiner Kollegen verfolgt - Roni starrt zu mir rüber, und ihr Gesichtsausdruck sagt mir deutlich, dass sie alles mitbekommen hat und es nicht unter den Teppich kehren wird.

Benjamin kommt zurück aus dem Hinterzimmer, als ich einen Gast in Flirtlaune bediene. Der faselt etwas von blondem Haar und den Vorurteilen, die es mit sich bringt, aber auch über die Schönheit dieser Farbe. Ich höre nur mit halbem Ohr zu und folge Benjamin mit den Augen. Er hat sich vorhin wie ein riesen Arschloch verhalten, aber das gibt mir noch lange nicht das Recht, ihn hier in der Bar zu schlagen. Ich hätte es nicht tun dürfen, und ich werde mich noch einmal aufrichtig dafür entschuldigen müssen, egal wie sehr es mir widerstrebt, das zu tun.

Doch am Ende meiner Schicht ist er nicht mehr da. Und als ich Roni frage, wo er abgeblieben ist, erzählt sie mir, dass er bereits nach Hause gegangen ist. »Und das, was du da abgezogen hast, war verdammt scheiße!«, fügt sie dabei hinzu und bedenkt mich mit einem wütenden Blick.

Ich wechsele sofort in den Abwehr-Modus. »Er war nicht unschuldig an dem, was passiert ist. Soll ich dir erzählen, was er gesagt hat?«

»Nicht nötig. Aber da ich dein Temperament ziemlich gut kenne, weiß ich auch so, dass du mal wieder übertrieben hast.«

Ich starre sie verwirrt an. Gut, den besten Freund ihres Lovers zu schlagen, war falsch, aber sie gibt mir ja nicht einmal eine Chance, mich zu rechtfertigen. Und sie ist so wütend.

»Wir haben ein Taxi für dich gerufen«, fährt Roni fort, bevor ich noch etwas erwidern kann, und wendet sich dann an Elias: »Ich gehe noch einmal schnell pinkeln.«

»Ron!«, rufe ich ihr nach, nun vollkommen durcheinander, aber sie ignoriert mich. »Was ...« Ich drehe mich zu Elias und zucke hilflos mit den Achseln. »Was ist denn mit ihr los? Ich darf jetzt nicht einmal mehr mit euch nach Hause fahren?«

Er wirkt so, als wüsste er nicht, was er sagen soll. Wahrscheinlich ist er ebenfalls sauer auf mich, weil ich seinem besten Freund eine geklebt habe. Aber, mein Gott, übertreiben sie nicht etwas? Ich habe ihn immerhin nicht umgebracht! Und ein wenig hatte er es auch verdient, wenn er sich so widerlich verhält.

»Weißt du was? - Vergiss es. Ich komme allein nach Hause.« Ich lasse Elias stehen und verlasse die Bar, ohne diesmal auf sein Rufen zu reagieren. Draußen steige ich in das wartende Taxi und nenne dem Fahrer meine Adresse. Die Fahrt wird mich ein halbes Vermögen kosten, aber um diese Uhrzeit mit Bus und Bahn durch die halbe Stadt zu fahren, klingt nicht gerade verlockend.

In meiner Wohnung ziehe ich mich nur noch schnell um und putze die Zähne, bevor ich ins Bett schlüpfe. Und weil ich genau weiß, dass ich trotz der Müdigkeit nicht einschlafen kann, wenn ich es nicht kläre, schreibe ich Roni eine Nachricht, in der ich mich erkundige, was für ein Problem sie hat.

Und dann warte ich auf eine Antwort. Und warte. Es kommt nichts zurück.

Schnaubend schüttele ich den Kopf. Okay, dann ist sie jetzt eingeschnappt, weil ich Benjamin eine Backpfeife verpasst habe. Völlig übertrieben, aber wenn sie unbedingt einen Sündenbock braucht - hier bin ich.

Ich lege mein Handy zur Seite und stehe noch einmal auf, um in die Küche zu gehen und mir Wasser zu holen. Dabei fällt mein Blick auf die Fotos, die an einem der drei Schränke hängen und mich mit meinen Schwestern und Leon zeigen. Eins davon ist auf Sandys Hochzeit entstanden. Darauf umarmen wir uns und lachen in die Kamera.

»Ach, scheiß drauf!«, murmele ich. Dann werde ich eben über meinen Schatten springen und nachgeben.

Ich eile zurück ins Schlafzimmer, nehme mein Handy und rufe Roni an. Nach dem dritten Mal geht sie endlich ran - und klingt immer noch sehr wütend.

»Emma, ich möchte nicht mit dir sprechen, falls das noch nicht deutlich geworden ist!«

Ich zucke leicht zusammen bei der Schärfe in ihrer Stimme. »Was ist dein Problem?«, erwidere ich perplex. »Echt, die Ohrfeige war scheiße, aber ...«

»Ja, ich weiß schon, Ben ist wieder mal schuld daran«, unterbricht sie mich. »Bei dir sind immer die anderen schuld, Emma. Du machst nie etwas falsch. Du haust bloß drauf, ohne Rücksicht auf deine Mitmenschen und die Umstände zu nehmen.«

Ich öffne den Mund, weiß aber nicht, was ich sagen soll. In mir regen sich verschiedene Gefühle. Verwirrung, Enttäuschung, Wut ...

»Ich will jetzt ins Bett. Tschüss.«

Sie hat aufgelegt.

Mit gerunzelter Stirn starre ich das Display an. Dann schüttele ich den Kopf und sage mir, dass ich es versucht habe und eben gescheitert bin. Soll Roni doch sauer auf mich sein, ich kann es nicht ändern.

Ihre Worte kreisen durch meinen Kopf, sobald der das Kissen berührt hat und ich die Augen schließe. Sie machen mich wütend, aber auch nachdenklich, denn leider Gottes steckt in ihnen ein Funken Wahrheit.

Ich bin schlimm. Ich bin eine impulsive, gewalttätige Frau mit einem gigantischen Dickschädel, die haufenweise Fehler macht. Wie kann ich es jemandem übel nehmen, wenn er nicht mit mir sprechen möchte?

Selbstmitleid steht dir nicht, flüstert mir eine innere Stimme zu. Und sie hat recht. Im Bett zu liegen, mir meine Fehler aufzuzeigen und mich dafür zu bemitleiden, bringt mich nicht weiter. Wenn ich unzufrieden mit mir und meiner Situation bin, dann muss ich etwas ändern. Und dabei fange ich am besten bei mir selbst an.

Kapitel: 16

 


Der Sommer zeigt sich die nächste Woche von seiner unschönen Seite. Es regnet und regnet und - sehr schwer zu erraten - regnet ununterbrochen. Meine Laune ist nicht nur im Keller, sie dümpelt irgendwo zwischen Grundwasser und Erdkern.

Roni spricht immer noch nicht mit mir. Zumindest vermute ich, dass sie nicht mit mir sprechen würde, wenn ich mich dazu aufraffen könnte, sie anzurufen. Ich tue es nicht, weil ich sauer auf sie bin und in diesem Gemütszustand wahrscheinlich Dinge sagen würde, die ich im Nachhinein höchstwahrscheinlich auch bereuen würde.

Stattdessen treffe ich mich mit Anja zum Essen und frage sie, ob sie weiß, was mit unserer Schwester los ist.

»Sie hat mir erzählt, wieso sie so sauer auf dich ist, aber ich denke nicht, dass ich es einfach so weitergeben darf«, erklärt sie daraufhin.

Mit gerunzelter Stirn mustere ich sie. »Ich kapiere es nicht. Habt ihr jetzt Geheimnisse vor mir? Euch gegen mich verschworen?« Gott, das tut weh! Gestritten haben wir uns früher natürlich hin und wieder mal, aber nie haben sich zwei von uns gegen eine gerichtet.

»Nein, keiner hat sich gegen dich verschworen«, entgegnet Anja und drückt meine Hand. »Wirklich nicht. Es geht bloß um etwas Privates, und ich möchte nichts von anderen weitergeben.«

Das verwirrt mich nur noch mehr. Während ich noch überlege, welche privaten Dinge Anja nicht ausplaudern möchte, wechselt sie das Thema und lenkt mich komplett davon ab: »Ich habe mich von Will getrennt.«

Ich lasse die Gabel, die ich soeben zum Mund führen wollte, wieder sinken und starre sie ungläubig an. »Wieso?«, ist das erste Wort, das ich aus dem Wortsalat in meinem Kopf herausfische. Es ist ein Schock, denn obwohl die beiden eine Art Fernbeziehung führten, habe ich immer gedacht, sie würden ewig zusammen bleiben.

»Er ist verheiratet.«

Meine Augen werden riesengroß.

»Ich habe einen verdächtigen Ring in seinen Sachen gefunden«, fährt Anja fort.

»Vielleicht ... wollte er dir einen Antrag machen?«, überlege ich laut.

»Nein, sicher nicht. Der Ring war in keiner Schachtel, sondern in seiner Hemdtasche. Unverpackt. Er muss ihn immer abgezogen haben, wenn wir uns getroffen haben.« Sie schüttelt langsam den Kopf. »Ich komme mir so dumm vor. Ich meine, irgendwo im Hinterkopf hatte ich stets diese Vermutung ... Ich habe ihn mehrmals danach gefragt, ob es andere Frauen in seinem Leben gibt, aber er hat es immer verneint. Und ich habe ihm geglaubt, weil ich dachte, ich könnte ihm vertrauen.«

»Wow!« Ich lege meine Gabel auf den Teller und lehne mich zurück. Das muss ich erst einmal verdauen. »Wie hat er reagiert, als du Schluss gemacht hast?«, frage ich sie dann. »Hat er es zugegeben?«

»Ja, hat er. Und er hat sich dafür entschuldigt, dass er mich die ganze Zeit belogen hat. Daraufhin habe ich ihm gesagt, er solle sich lieber bei seiner Frau entschuldigen, dafür, dass er sie so lange hintergangen hat. Und ich habe ihm klargemacht, dass ich dabei nicht länger mitmachen werde.«

Ich nicke und schenke ihr ein mitfühlendes Lächeln. »Das tut mir so leid, Anja.«

»Ja, mir auch. Es war die perfekte Beziehung für mich. Zumindest dachte ich, sie wäre perfekt, aber ich habe mich getäuscht.«

»Und wenn er seine Frau für dich verlässt?«, wende ich nachdenklich ein. Auch wenn meine große Schwester nach außen hin einen gefestigten Eindruck vermittelt, weiß ich, dass es sie hart getroffen hat. Sie mochte Will sehr, hat ihn auf ihre eigene Weise geliebt und wurde von ihm hintergangen. »Wenn er sich für dich entscheidet?«

Sie schüttelt den Kopf. »Das möchte ich nicht. Er hätte sich von Anfang an für mich entscheiden können, das hat er aber nicht getan. Ich kann ihm nicht mehr vertrauen. Und ohne Vertrauen funktioniert eine Fernbeziehung nicht.«

»Ja, das verstehe ich sehr gut. Glaubst du, seine Frau weiß Bescheid?«

»Keine Ahnung.« Sie zuckt mit den Achseln. »In jedem Fall kann sie einem nur leidtun. Vielleicht hat Will in allen Ländern, die er geschäftlich bereist, eine Geliebte.«

»Das ist ...« Ich suche nach dem richtigen Wort. »Er ist ein Arschgesicht«, sage ich dann.

Anja lächelt traurig. »Ja, das ist er. Manchmal täuscht man sich in Menschen, das gehört zum Leben dazu.«

Die nächsten Minuten schweigen wir, und jede von uns geht ihren eigenen Gedanken nach. Schließlich leere ich meinen Teller und frage Anja, ob sie noch spazieren gehen möchte.

Eine Weile später befinden wir uns in einem kleinen Park, der dank des miesen Wetters recht leer ist. Um Anja ein wenig von ihren trüben Gedanken abzulenken, erzähle ich ihr, dass ich unserem Vater eine Karte geschickt habe, da er vor Kurzem Geburtstag hatte.

Sie nimmt das mit einem Lächeln auf. »Bist du also doch noch über deinen Schatten gesprungen? Finde ich toll.«

»Es war bloß ein kurzer Text. Herzlichen Glückwunsch nachträglich. Emma«, füge ich hinzu. Es ist mir alles andere als leicht gefallen, über meinen Schatten zu springen, aber wenn ich etwas in meinem Leben verändern möchte, muss ich wohl dort anfangen, wo meine schlechten Gefühle entstehen. Und der Kontaktabbruch zu meinen Vater trägt definitiv dazu bei, dass es mir schlecht geht. Neben den vielen anderen Dingen, die mich belasten.

»Vielleicht möchtest du mich heute Abend zu seiner Geburtstagsfeier begleiten?«, hakt meine Schwester im nächsten Moment nach, was mich dazu bringt, heftig den Kopf zu schütteln.

»Wir wollen es nicht gleich übertreiben, ja?«, entgegne ich. »Außerdem muss ich arbeiten. Meine Schicht beginnt in drei Stunden.«

»Dann ein anderes Mal.«

»Mal sehen. Ich lasse mir Zeit dabei, ihm zu verzeihen. Erst muss ich wirklich bereit dafür sein, sonst endet es nur damit, dass ich ihm doch seine Fehler vorhalte und wir uns streiten.«

»Ja, hast recht. Ich bin schon begeistert, dass du ihm die Karte geschickt hast. Dafür darfst du dir gern auf die Schulter klopfen.«

Kurz darauf verabschieden wir uns voneinander, und ich mache mich auf den Weg nach Hause, um die Bude auf Vordermann zu bringen, bevor ich zur Arbeit muss.

Während ich also den Staubsauger durch die Zimmer schiebe, überlege ich, ob eine gewisse Person sich heute Abend wieder blicken lässt. Ich schulde Benjamin Mynard noch eine Entschuldigung für die Ohrfeige und möchte es endlich hinter mich bringen. Ein Teil von mir wünscht sich, er möge nie wieder auftauchen, sodass ich diese schwere Aufgabe getrost vor mir herschieben könnte. Der andere Teil kämpft mit einem ätzend nervigen schlechten Gewissen, denn so langsam beschleicht mich der Verdacht, dass es einen Grund gibt für sein Verhalten an dem Abend, als er mich so provoziert hat. In meinem Kopf male ich ihn mir zwar immer als skrupelloses Arschloch aus, aber sein sonstiges Benehmen deutet eigentlich nicht darauf hin, dass er es auch ist. Irgendetwas muss ihn also dazu bewogen haben, sich von seiner schlechten Seite zu zeigen und mir einen fiesen Spruch reinzudrücken. Etwas Gravierendes. Und Roni weiß scheinbar, was ihn dazu bewogen hat, anders kann ich mir ihr Verhalten mir gegenüber nicht erklären.

»Ich sollte weniger an diesen Typen denken und mich mehr um meine Angelegenheiten kümmern«, brumme ich vor mich hin, stelle den Staubsauger weg und hole den Wischmopp hervor.

Eine Weile später bin ich fertig, hüpfe noch schnell unter die Dusche und ziehe mein Arbeitsoutfit an: schlichtes T-Shirt, dunkle Jeans und bequeme Schuhe.

In der Bar angekommen tausche ich mich kurz mit meinen Kollegen aus und mache mich dann an die Arbeit. Auch wenn meine Aufgaben schnell recht eintönig werden, macht es mir Spaß, hinter dem Tresen zu stehen. Ich habe Kundenkontakt, bekomme einige interessante Gespräche mit und bin die ganze Zeit auf den Beinen. Leider ist dieser Job nichts auf Dauer, genauso wenig wie der andere im Restaurant. Es sind Notlösungen, die mich über Wasser halten sollen, bis ich endlich etwas gefunden habe, das diese Aufgabe langfristig übernimmt. Und leider Gottes habe ich nicht den Hauch einer Ahnung, was das sein könnte.

Meine Gedanken drängen sich ganz schnell in den Hintergrund, als ich sehe, dass mein Zielobjekt die Bar betritt. Er ist in Begleitung eines Mannes, den ich nicht kenne. Beide tragen sie Anzüge und solche Aktentaschen, wie sie scheinbar üblich sind für Unternehmer. Das lässt mich vermuten, dass sie geschäftlich miteinander zu tun haben.

Ich straffe die Schultern und gehe im Kopf die Worte durch, die ich mir in letzter Zeit zusammengebastelt habe, für den Fall, dass ich wieder auf Benjamin treffe. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, dass er sich dem Tresen nähert, kurz zu mir blickt und sich dann an meine Kollegin wenden möchte.

Scheiß drauf, los!, sage ich mir, gehe zu ihm und frage ihn nach seiner Bestellung.

Er wirkt kurz überrascht, fasst sich jedoch schnell wieder und nennt seine Wünsche. Als er mir das Geld reicht, gebe ich mir sinnbildlich einen Tritt in den Arsch und sprudele los: »Es tut mir leid. Tut mir leid, dass ich dich letztes Wochenende geschlagen habe. Es war falsch, und ich entschuldige mich aufrichtig dafür.« Während ich mich dabei innerlich winde, halte ich den Blick starr auf den Knoten seiner Krawatte gerichtet. Ich kann ihm jetzt unmöglich in die Augen sehen, sonst finde ich nur wieder einen Grund, ihm auch noch eine Gemeinheit ins Gesicht zu schleudern, was wirklich unpassend wäre, denn dann müsste ich mich noch einmal dafür entschuldigen.

Ich rechne bereits mit einem seiner flapsigen Sprüche als Antwort, doch es kommt nur ein »Okay«.

Jetzt schaue ich doch auf und begegne seinem Blick. Ich kann nicht erraten, was in ihm vorgeht, aber da ist etwas, das ich vorher nie so bei ihm gesehen habe. Eine Spur von Traurigkeit vielleicht. Oder Niedergeschlagenheit? Jedenfalls macht es etwas ganz Seltsames mit meinem Herzen. Es wird schwer, zieht und pikst ein bisschen. Es erstaunt mich selbst, aber plötzlich verspüre ich einen Anflug von Mitgefühl; den Wunsch, etwas zu tun oder zu sagen, damit es meinem Gegenüber besser geht. Dem Mann, der mich belogen hat und den ich eigentlich nicht ausstehen kann.

Ich wende mich ab und warte auf die fertigen Getränke, um sie ihm auf einem Tablett zu reichen. Er geht ohne ein weiteres Wort zu seinem Tisch, und ich mache mich wieder an die Arbeit.

So, damit hätte ich eigentlich meinen Soll erfüllt und bräuchte nie wieder ein Wort Benjamin Mynard gegenüber zu verlieren ... wäre da nicht eine leise Neugier in mir, die soeben wieder entfacht ist. Ich würde wirklich gerne erfahren, was am letzten Wochenende mit ihm passiert ist. Vor allem, um herauszufinden, wieso meine Schwester so sauer auf mich ist. Wenn es nach meinem jetzigen Wissensstand geht, hat sie absolut keinen Grund dafür. Ich habe ihm eine Ohrfeige verpasst, was falsch war, aber ich habe es nicht einfach getan, weil es mir Spaß macht, herumzulaufen und Menschen zu schlagen. Es war ein Ausrutscher, weil er mich provoziert hat, und deshalb dürfte Roni es mir auch gar nicht so übel nehmen. Aber irgendetwas ist passiert, von dem ich nichts weiß, und das hat sie so gegen mich aufgebracht. Ich könnte noch einmal versuchen, Anja auszuquetschen, aber ich kenne meine Schwester viel zu gut und weiß, dass sie den Mund halten wird. Also muss ich wohl auf andere Weise an Informationen gelangen.

Immer wieder gleitet mein Blick zu dem Tisch, an dem die beiden Männer im Anzug sitzen. Zugegeben, ich kann verstehen, wieso sie auch die Blicke der anderen anwesenden Frauen auf sich ziehen. Mir würde es nicht anders gehen, hätte ich nicht eine unschöne Vorgeschichte mit einem der beiden Prachtexemplare. Und selbst das hindert mich nicht daran, zu starren.

Als eine recht attraktive Brünette schließlich den Mut fasst und sich mit beinahe raubtierhaften Bewegungen dem Tisch mit dem Frischfleisch nähert, runzele ich die Stirn und beobachte die Szene einerseits fasziniert, aber auch mit einem merkwürdig flauen Gefühl im Magen. Sie flirtet ganz offensichtlich mit den beiden und lädt sie ein, sich zu ihr und ihren Freundinnen zu gesellen, indem sie auf einen Tisch deutet, an dem drei weitere Frauen sitzen. Benjamin sieht so aus, als würde er höflich ablehnen wollen, aber sein Begleiter stimmt mit einem Nicken zu. Die beiden erheben sich und folgen den wiegenden Hüften zu den Freundinnen.

»Emma? Ich denke, das Glas ist sauber genug.«

Ich blicke zu Mia, die mich angesprochen hat, und dann auf das Glas in meinen Händen, das ich nun schon seit mehreren Minuten poliere.

»Alles in Ordnung?«, fragt meine Kollegin.

»Ja, klar«, versichere ich ihr und stelle das Glas zur Seite.

»Dann mach dich wieder an die Arbeit. Die Gäste bedienen sich nicht selbst.«

Ich ignoriere diesen kleinen Seitenhieb und gehe rüber zu zwei jungen Leuten, die sehr durstig aussehen.

Die nächste Stunde bin ich so beschäftigt, dass ich gar keine Zeit habe, zu dem Tisch mit den vier Frauen und nun auch zwei Männern rüber zu blicken. Außerdem interessiert es mich auch gar nicht, was da drüben abgeht, solange sie nicht plötzlich auf dem Tisch tanzen und sich nackt ausziehen, was definitiv gegen unsere Hausordnung verstoßen würde. Erst als die Zeiger der Uhr Mitternacht überschritten haben, lege ich mich wieder auf die Lauer und warte darauf, dass Benjamin - hoffentlich allein - nach Hause geht. Ich muss ihn fragen, was los ist. Nicht, dass ich das große Bedürfnis verspüre, in sein Privatleben einzudringen, aber mir ist durchaus danach, mich mit meiner Schwester zu versöhnen, und deshalb muss ich wissen, was geschehen ist.

Um kurz vor eins wittere ich meine Chance. Er steht nämlich auf und zieht sein Jackett über, während die anderen auf ihn einreden und ihn scheinbar überreden wollen, noch zu bleiben. Aber er schüttelt lediglich den Kopf, verabschiedet sich und geht in Richtung Ausgang.

Ich drehe mich zu Mia um und sage ihr, dass ich dringend mal muss. Dann husche ich durch den Hinterausgang nach draußen und laufe um das Gebäude herum zur Straße, wo ich Benjamin erblicke, der soeben in ein Taxi steigen möchte.

»Halt!«, rufe ich laut und überbrücke den letzten Abstand zu ihm. Mit einem erhobenen Finger bedeute ich ihm, kurz zu warten, während ich mich mit der anderen Hand auf meinem Oberschenkel abstütze und gierig nach Luft schnappe.

Benjamin sieht verwirrt aus. Wahrscheinlich fragt er sich, wieso ich ihn auf einmal stalke, wo ich doch vorher alles getan habe, um ihm aus dem Weg zu gehen. Oder er überlegt, ob er eingreifen soll, weil ich jeden Moment vor ihm ersticke.

»Ich ... muss ... dich etwas ... fragen«, bringe ich schließlich abgehackt hervor und richte mich langsam auf. »Hast du noch ... einen Augenblick Zeit?«

Er nickt und bittet den Taxifahrer, kurz zu warten, bevor er die Tür schließt und sich mit mir ein paar Schritte entfernt.

»Okay«, beginne ich und unterdrücke das immense Verlangen, auf der Stelle zu fliehen. Das hier fällt mir verdammt schwer! »Ich weiß, dass es mich wahrscheinlich nichts angeht, und eigentlich interessiert mich dein Privatleben auch nicht, aber ... was ist letzte Woche passiert? Ich meine, ist etwas passiert, das mir erklären könnte, wieso Roni so sauer auf mich ist? Oder wieso du dich wie ein Ekel aufgeführt hast, sodass ich gezwungen war, dir eine zu kleben?«

Eine seiner Augenbrauen wandert spöttisch nach oben, doch dann erscheint ein Ausdruck in seinen Augen, den ich nicht deuten kann. »Ohne jetzt unhöflich zu werden, was dich wieder dazu verleiten könnte, mir einen roten Abdruck auf der Wange zu verpassen, muss ich dir sagen: Es geht dich nichts an, Emma.«

Autsch. Natürlich geht es mich nichts an, aber ich kann dieses Gefühl des Ausgeschlossenseins einfach nicht abschütteln. Scheinbar wissen alle Bescheid - Roni, Anja, Elias, die halbe Stadt - und ich stehe da, kapiere nichts und habe plötzlich Sorge, wieder in ein Fettnäpfchen zu treten, das mir weitere Hater einbringen würde. Das frustriert mich und macht mich wütend. »Okay, gut«, sage ich mit einem Nicken und verschränke die Arme vor der Brust. »Dann warne mich doch bitte nächstes Mal vor, wenn du in die Bar kommst und dir etwas in den Hintern zwickt. Ich habe nämlich keine Lust, von dir provoziert zu werden.«

Seine Lippen deuten ein Lächeln an, aber es ist nicht amüsiert oder fröhlich, sondern eher herablassend. »Meine Welt dreht sich nicht um dich, Emma«, erwidert er ruhig. »So hätte es kommen können, wenn wir einen besseren Start gehabt hätten, oder du mir die Chance gegeben hättest, die Dinge zu bereinigen. Ich habe eingesehen, dass es unmöglich ist, dich von deiner festgefahrenen Meinung abzubringen, und werde dich nicht noch einmal provozieren oder auf andere Weise belästigen, keine Sorge. Und was deine Schwester betrifft - ich rede noch einmal mit ihr.«

»Nicht nötig«, entgegne ich und weiß nicht, wieso ich plötzlich das Gefühl verspüre, mir wäre etwas geraubt worden. »Wenn Roni meint, dass sie mich meiden soll, weil ich den besten Freund ihres Lovers geschlagen habe, dann ist das eben so. Und wenn ihr eure Geheimnisse vor mir haben wollt - bitteschön. Ich scheiße drauf! Auf euch alle!« Aus Angst, mir könnten noch Tränen kommen, weil ich mich so gekränkt fühle, drehe ich mich um und stapfe davon. So viel dazu, dass ich etwas in meinem Leben und an mir ändern möchte. Hier haben wir nämlich Emma Leimann in ihrer Bestform: bockig, zickig und eingeschnappt.

»Emma«, erklingt Benjamins Stimme hinter mir. »Du benimmst dich wie ein kleines Mädchen.«

»Fick dich«, zische ich zurück, ohne mich umzudrehen. Meine Stimme klingt bereits so, als würde ich gleich losheulen.

»Wir haben keine Geheimnisse vor dir. Deine Schwester behält bloß meine Angelegenheiten für sich, worum ich sie gebeten habe.«

»Es geht mich nichts an, hab's schon kapiert. Und ich will auch nichts mehr damit oder mit euch zu tun haben.« Ich biege um die Ecke und laufe zur Hintertür, um schnell im Inneren zu verschwinden. Mein dramatischer Abgang ist mir wahnsinnig peinlich. Ich kann mir überhaupt nicht erklären, wieso ich in seiner Gegenwart so emotional reagiere. Ich sollte froh sein, dass der Typ mich zukünftig in Ruhe lassen möchte, anstatt ihm hinterher zu laufen und meine Nase in seine Angelegenheiten zu stecken. Soll er seine Geheimnisse nehmen und sie sich in den Arsch schieben! Und Roni kann sich ihre Wut auf mich auch in den Hintern pfeffern!

Ich lache, weil ich mich so albern fühle. Benjamin Mynard hat recht - ich benehme mich wie ein kleines, beleidigtes Mädchen. Wie eine gestörte Furie. Vielleicht leben ja zwei Persönlichkeiten in meinem Körper. Das Arbeitstier Emma Leimann, das darum bemüht ist, sein Leben auf die Reihe zu bekommen, und der Zwilling, der alles tut, um das zu verhindern. Sobald ich den ersten Stein des Fundaments, auf dem mein neues Leben beginnen soll, hingestellt habe, kommt der gestörte Zwilling und kickt ihn weg. So ein Arschloch, echt!

»Emma, was machst du so lange hier hinten? Wir brauchen dich an der Bar.«

Ich bin dankbar, dass Mia mich aus diesen Gedanken holt, bevor ich mir wirklich noch einrede, dass ich nicht ganz dicht bin. »Komme schon«, erwidere ich schnell, wische mir über die Augen und folge ihr nach vorne.

Kapitel: 17

 


Wahrscheinlich bin ich auf dem Stand einer Vierzehnjährigen stehen geblieben, denn anders kann ich mir nicht erklären, wieso ich so bockig bin, als Anja mich zu überreden versucht, für Roni Geschenke kaufen zu gehen.

»Ich schicke ihr nächstes Jahr eine Karte«, sage ich bloß mit vor der Brust verschränkten Armen. »Dieses Jahr ist es Paps, nächstes Jahr Roni und das Jahr darauf jemand, den ich bis dahin aus meinem Leben gestrichen habe.«

Anja verdreht ihre hübschen Augen. »Könnt ihr euch nicht einfach wieder versöhnen?«

»Das habe ich ja versucht, aber sie hält lieber zu ihrem new bff anstatt zu ihrer Schwester. Was auch immer ihr Problem ist - mir egal!«

»Ihr macht mich ganz wahnsinnig!« Anja streckt die Hände aus und tut so, als wolle sie mich schütteln. »Okay, ich werde jetzt etwas tun, was ich eigentlich nicht tun möchte«, sagt sie dann und reibt sich über die Stirn, als hätte sie Kopfschmerzen. »Ich sage dir, warum Roni so sauer auf dich ist, und du schwörst mir hoch und heilig, niemandem zu verraten, dass ich es dir gesagt habe.«

Mein Herz beginnt aufgeregt zu klopfen, aber ich tue weiterhin so, als wäre mir alles egal. »Lass ruhig. Soll sie doch weiter schmollen.« Vierzehn - habe ich doch schon erklärt, oder?

»Halt den Mund, Emma, und hör zu!« Anjas Miene ist so ernst, dass ich meine sture Haltung aufgebe und ihr auffordernd zunicke. »An dem Abend, als das alles da in der Bar passiert ist, hat Ben erfahren, dass seine Nichte den Kampf gegen den Krebs verlieren wird.«

Diese Eröffnung haut mich ganz schön um. Darauf bin ich trotz intensiver Überlegungen, was passiert sein könnte, nicht gekommen. Ich stoße die angehaltene Luft laut aus.

»Er hat es am selben Abend erfahren«, fährt Anja fort. »Eigentlich wollte er gar nicht weggehen, aber Elias hat ihn regelrecht gezwungen, damit er nicht allein zu Hause hockt und die ganze Zeit daran denkt. Roni und er wollten Ben ablenken, vielleicht auch mit dir. Jedenfalls fand unsere Schwester es gar nicht toll, dass du Ben eine geklebt hast, nach dem, was er bereits durchmachen musste.«

Ja, verständlich. Am liebsten würde ich mir jetzt selbst eine kleben, wenn ich mich daran erinnere, was ich noch zu ihm gesagt habe. Ich habe ihm indirekt mitgeteilt, sein Tod würde meine Probleme lösen, und dabei hatte er erst Stunden zuvor erfahren, dass seine Nichte sterben wird. »Gott!«, stoße ich aus und bedecke meine Augen, weil ich mich fürchterlich schäme.

»Hey, du konntest es ja nicht wissen«, sagt Anja sogleich. »Es ist nicht fair von Roni, so viel Schuld bei dir abzuladen. Ich bin mir sicher, dass sie auch bereits zu dieser Erkenntnis gekommen ist und sich bald bei dir melden wird.«

»Ich war so gemein zu ihm«, entgegne ich murmelnd. 

»Wie gesagt, du konntest es nicht wissen. Jetzt weißt du es und kannst vielleicht etwas damit anfangen.«

»Was soll ich damit anfangen? Soll ich zu ihm gehen und ihm sagen, dass es mir leidtut, dass ich ihm den Tod gewünscht habe, während seine Nichte im Sterben liegt?«

Anja macht große Augen. »Das hast du getan?«

Ich nicke. »So in etwa«, gebe ich kleinlaut zu. »Ich bin ein furchtbarer Mensch.«

Sie lächelt mitfühlend. »Nein, das bist du nicht, Em. Du bist verletzt und durcheinander und schlägst um dich, wenn dir jemand zu nahe kommt.«

»Im wahrsten Sinne des Wortes«, wende ich mit einem traurigen Lachen ein. 

»Du weißt jetzt, was Sache ist, und musst dich nicht länger wie eine Ausgestoßene fühlen. Verrate nur niemandem, dass ich es dir erzählt habe, ja?«

»Werde ich nicht«, versichere ich ihr nickend. »Danke, dass du es mir gesagt hast.« Auch wenn ich mich jetzt wie der letzte Unmensch fühle.

»Irgendwie muss ja langsam Bewegung in diese ganze verzwickte Sache kommen. Wenn du und Roni sauer aufeinander seid, stehe ich zwischen den Stühlen und muss zusehen, dass ich niemandem das Gefühl gebe, den jeweils anderen lieber zu haben.«

In ihrer Lage möchte ich wirklich nicht stecken. Da war ich schon einige Male, und es ist sehr anstrengend. 

»Lass uns ein Geschenk für Roni kaufen«, sage ich schließlich und greife nach meiner Jacke. Ich möchte jetzt auf keinen Fall allein in meiner Wohnung hocken und darüber nachdenken, wie gemein ich zu jemandem war, der scheinbar kurz davor ist, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Einige Stunden später sind wir einige Euros ärmer, aber zufrieden mit unseren Einkäufen. Roni wird sich bestimmt über das Armband, die dazu passenden Ohrringe und eine Fotocollage freuen.

»Wollen wir noch etwas zusammen trinken?«, schlage ich vor, als wir den letzten Laden auf der Liste verlassen haben. Ich kann es mir zwar nicht leisten, Geld für überteuerte Cocktails auszugeben, aber da ich in letzter Zeit eh nur arbeite und jeden Cent zweimal umdrehe, wird es schon nicht zu sehr reinreißen, wenn ich an einem Abend etwas mit meiner Schwester unternehme.

»Heute kann ich leider nicht«, erwidert sie jedoch mit einem entschuldigenden Lächeln. »Will ist hier und möchte mit mir sprechen. Da er einfach keine Ruhe gibt, höre ich mir mal an, was er zu sagen hat.«

»Oh.« Manchmal vergesse ich, dass die meisten anderen Menschen nicht nur für ihre Arbeit leben, so wie ich es tue, sondern auch ein richtiges Leben haben mit sozialen Kontakten außerhalb der Familie und Liebesdramen. Okay, auf die Dramen kann ich gut und gern verzichten, aber etwas Kontakt zu anderen Menschen, der über die Sätze »Guten Tag, haben Sie schon gewählt?« oder »Was möchtet ihr trinken?« hinausgeht, könnte mir auch nicht schaden. 

»Ich werde nicht zu ihm zurückgehen«, stellt Anja gleich klar. »Es kann nicht mehr funktionieren.«

»Das tut mir wirklich sehr leid für dich, Anja.«

»Schon okay.« Sie umarmt mich und drückt mir einen Kuss auf die Wange. »Wir sehen uns spätestens Samstag bei Roni.«

»Bin ich denn überhaupt noch willkommen?«

»Natürlich! Es ist der Abend, an dem ihr euch wieder vertragen werdet.« Sie zwinkert mir zu und verschwindet in die Richtung, in der sich ihre Bushaltestelle befindet.

Hoffentlich hast du Recht, erwidere ich im Stillen und überlege, ob ich nun nach Hause fahren soll oder mich ganz allein in irgendeine Bar setzen, in der Hoffnung, von einem netten Mädel oder einem schwulen Typen angesprochen zu werden. Da entdecken meine Augen auch schon ein kleines Café auf der Straßenseite gegenüber. Es sieht gemütlich aus, und zumindest draußen stehen noch viele freie Tische. 

Ich zucke mit den Achseln und gehe rüber, um an einem davon Platz zu nehmen. Während ich unauffällig zu der älteren Dame starre, die an einem Tisch neben mir sitzt, und ihre riesigen, knallroten Ohrringe bestaune, kommt ein schlacksiger Kellner zu mir und fragt mich nach meinem Getränkewunsch. Ich entscheide mich für einen Kaffee und ein Stück Torte, dann verschwindet er wieder im Inneren.

Ein Anflug von Sehnsucht erfasst mein Herz, und ich streiche gedankenverloren über die leicht fleckige Tischplatte. Wenn dieses Café mir gehören würde, hätte ich die Tische hier draußen nicht so nackt gelassen, sondern kleine Deckchen unter die Ständer mit dem Zucker und den Servietten gelegt. Vielleicht auch ein paar Blümchen hingestellt ...

»Sie sind zu jung, um hier allein zu sitzen und Trübsal zu blasen«, werde ich plötzlich von der Seite angesprochen. Die ältere Dame mit den riesigen Ohrringen und den, wie ich nun erkennen kann, pinken Lippen hat sich zu mir gedreht. »Sie sollten da draußen sein und die Welt erobern, Kindchen.«

Ich lächele verlegen. »Das habe ich versucht ... und bin gescheitert.«

»Und jetzt geben Sie einfach auf, lassen die Arme sinken und baden im Selbstmitleid?«

Wow, ganz schön direkt die Gute! »Ich habe die letzten Monate so oft im Selbstmitleid gebadet, dass meine Finger ganz schrumpelig geworden sind. Hier, sehen Sie!« Ich halte meine Finger hoch und zeige ihr den abgesplitterten blauen Nagellack an meinen abgekauten Nägeln. »Völlig im Eimer.«

Sie schenkt mir ein Lächeln und klopft auf den Stuhl neben sich. »Leisten Sie einer alten Lady Gesellschaft?«

»Sehr gerne.« Ich nehme meine Tasche und die Tüte mit der Fotocollage und setze mich zu ihr rüber.

»Und jetzt erzählen Sie mir Ihre Geschichte. Dann sage ich Ihnen, ob Sie wirklich Grund haben, sich die Nägel zu ruinieren.«

Die nächste Stunde sitzen wir zusammen an ihrem Tisch. Ich erzähle Hedwig, wie sie sich schließlich vorstellt, von meinen Problemen und gebe mir Mühe, nicht beleidigt zu reagieren, als sie es als »Pipifax« abtut und mir rät: »Stecken Sie den Kopf nicht in den Sand, Kindchen, oder sind Sie ein Strauß?« 

Und dann beginnt sie, von ihrem Leben zu berichten, was mich bereits nach wenigen Minuten tief in ihren Bann zieht. Diese Frau muss mindestens zweihundert Jahre alt sein. So viel kann niemand in kürzerer Zeit erlebt haben! Vom zweiten Weltkrieg, über die Flucht nach Amerika, die Arbeit als einfache Kellnerin bis hin zu den ersten Erfolgen als Schauspielerin. Wilde Partys in Hollywood, Liebesaffären, Dramen und Tragödien. Ich kann nicht entscheiden, ob ich ihr alles glauben soll. Vielleicht ist sie bloß eine leicht verrückte Alte, die sich einsam fühlt und ihr Leben schöner gestalten möchte, als es tatsächlich gewesen ist.

»Wie sind Sie hier gelandet?«, frage ich schließlich nach. »Ich meine, warum sind Sie nicht drüben im Land der unbegrenzten Träume geblieben?«

»Die Liebe, Kindchen. Ist es am Ende nicht immer die Liebe, die einen die verrücktesten Dinge tun lässt? Ich bin Arthur hierher gefolgt, und wir haben wunderbare vierzehn Jahre zusammen verbracht, bevor er den Löffel abgegeben hat. Seitdem bin ich allein und warte nur darauf, dass der liebe Gott mich auch zu sich holt. Lange wird es nicht mehr dauern, bis der da oben seinen Job erledigt.«

Irgendwie macht mich dieser Gedanke traurig. Wenn diese Frau tatsächlich so viel erlebt hat, dann dürfte sie eigentlich niemals sterben und müsste als Legende ewig auf der Erde weilen und jedem ihre Geschichte erzählen.

»Nun gucken Sie nicht so traurig, Kindchen. Ich bleibe noch ein Weilchen hier. Der da oben möchte mich gar nicht haben.« Sie deutet hoch zum Himmel, was mich auflachen lässt. Dann schaut sie wieder mich an. »Wenn Sie irgendwann Enkelkinder haben, müssen Sie ihnen auch solche Geschichten über Ihr Leben erzählen können. Und dafür müssen Sie erst einmal leben.«

»Erst einmal muss ich meinen Schuldenberg abbezahlen, der den da oben bestimmt schon an den Füßen kitzelt.« Jetzt bin ich es, die gen Himmel nickt. »Wenn ich damit fertig bin, kann ich anfangen, zu leben.«

Hedwig schnalzt mit der Zunge. »Bis dahin sind Sie alt und können nicht mehr eigenständig laufen. Nein, nein, ich weiß schon, wie ich Ihnen helfen kann.« Sie legt ihre Handtasche auf den Tisch und holt einen Stift hervor. Dann nimmt sie eine der Servietten und kritzelt etwas darauf, bevor sie sie mir reicht. »Das ist meine Adresse. Ich bin immer dort, außer mittwochs. Kommen Sie einfach vorbei.«

Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, nicke aber und stecke die Serviette ein. »Das war eine sehr interessante Unterhaltung, Hedwig. Leider muss ich jetzt los, weil ich morgen früh raus muss.«

»Sie könnten die Nacht durchmachen«, entgegnet sie grinsend. »In Ihrem Alter habe ich kaum geschlafen.«

Ich verziehe das Gesicht. Wenn ich nicht mindestens vier Stunden Schlaf bekomme, kippe ich womöglich morgen bei der Arbeit um. »Sie sind eindeutig härter im Nehmen als ich. Auch jetzt noch.«

»Wir bekommen Sie schon noch aus Ihrem Schneckenhaus heraus. Kommen Sie vorbei«, sagt Hedwig überzeugt.

»Ja, mal sehen.« Ich krame etwas Geld aus meinem Portemonnaie und lege es auf den Tisch. »Ich würde Sie gerne einladen, Hedwig. Ist das in Ordnung für Sie?«

»Natürlich. Das nächste Mal bin dann ich dran.«

Ich verabschiede mich mit einem Winken und eile zu meiner Bahn, da es bereits recht spät geworden ist und dementsprechend dunkel draußen. Keine verlockende Zeit, um länger als nötig am Bahnhof zu verweilen.

Während der Heimfahrt muss ich an Hedwig und ihre Erzählungen denken, was mich zum Lächeln bringt. Sollte all das wirklich stimmen, hat sie gleich für zehn Personen gelebt. Was macht es da schon, dass es Menschen gibt, die ihr eigenes Leben verschwenden? Denn nichts anderes tue ich doch. Ich lebe nicht, ich existiere. Ich bin da, atme Luft, gehe arbeiten, bezahle Rechnungen, nerve meine Mitmenschen, erhöhe den Meeresspiegel durch meine Tränen und mache nichts, an das man sich über meinen Tod hinaus noch erinnern wird. Wenn ich irgendwann nicht mehr da bin, wird es kein großer Verlust sein. Gut, meine engste Familie würde um mich trauern, wenn ich sie bis dahin nicht vergrault habe, aber sonst ...?  Ganz schön deprimierend dieser Gedanke, aber wahr. Ich vergeude mein Leben.

»Danke, Hedwig«, brumme ich der Fensterscheibe entgegen. »Jetzt fühle ich mich gleich viel besser.« Ich krame die Serviette hervor und zerknülle sie. Kurz überlege ich, sie einfach auf den Boden zu schmeißen, um gar nicht erst in Versuchung zu kommen, die schrullige Alte zu besuchen, doch dann siegen mein Gewissen und meine Neugier, und ich werfe sie zurück in die Tasche. Hedwig scheint einsam zu sein, ich bin es meistens auch, wenn ich meine Familie nicht um mich rum habe. Was spricht dagegen, für ein paar Stunden diese Einsamkeit mit einem anderen Menschen zu teilen, der nicht mehr lange zu leben hat? - Richtig. Nichts.

 

 

***

 


Am nächsten Abend stehe ich wieder in Jordans Bar hinter dem Tresen und gehe meiner Arbeit nach. Als plötzlich Benjamin vor mir auftaucht und meinen Blick sucht, muss ich mich innerlich sammeln. Donnerstags habe ich ihn hier noch nie gesehen, und wenn ich es nicht komplett falsch deute, ist er wegen mir da. Dabei wollte er mich in Zukunft doch meiden.

»Was möchtest du trinken?«, frage ich geschäftlich und konzentriere mich auf das Glas in meiner Hand, das ich soeben sauber gemacht habe.

»Nichts. Ich möchte dich etwas fragen«, entgegnet er.

»Dann frag.«

»Ronis Feier am Samstag«, beginnt er und mustert mich eindringlich. »Wäre es dir lieber, wenn ich nicht anwesend bin?«

»Seit wann ist es denn wichtig, was ich fühle?« Kaum habe ich in meiner gewohnt abwehrenden Art geantwortet, bereue ich es sofort. Da ich nun seine Hintergründe kenne, fällt es mir schwer, gemein oder abweisend zu sein. Ich habe immer noch ein schlechtes Gewissen wegen der Sache mit dem Tod, den ich ihm indirekt gewünscht habe.

Er geht nicht auf meinen angriffslustigen Ton ein. »Mir ist es wichtig, auch wenn du es nicht glaubst«, erwidert er ruhig. »Sie ist deine Schwester, deine Anwesenheit ist wichtiger als meine.«

Ich zucke mit den Achseln. »Im Moment empfindet sie wahrscheinlich anders.«

»Emma, Selbstmitleid steht dir nicht. Und du hast es auch nicht nötig. Also, ist es okay, wenn ich vorbeikomme oder nicht?«

Mann, wieso überlässt er mir diese Entscheidung? Vor ein paar Tagen hätte ich sicher mit »Nein, bleib zu Hause« geantwortet, aber mittlerweile wird meine Abneigung von etwas anderem überschattet. Mitgefühl vielleicht. Oder Mitleid, was weiß ich. Jedenfalls würde ich mich ziemlich mies fühlen, wenn ich ihm das Erscheinen auf der Feier verweigere. Wahrscheinlich würde er dann zu Hause hocken, an seine todkranke Nichte denken und traurig sein.

»Emma?«

»Ja, es ist okay«, erwidere ich genervt, weil er mich drängt. »Ihr seid befreundet, und sie möchte dich bestimmt dabei haben. Es ist ihr Geburtstag, also werde ich mich da nicht einmischen.«

»Bist du sicher?«

»Brauchst du eine schriftliche Zusage, oder was?« Ich beiße mir auf die Unterlippe. Dieser Mann kitzelt einfach meine schlechte Seite hervor. Und dabei habe ich mir vorgenommen, mich endlich wie eine erwachsene Person zu benehmen, die sich nicht so leicht provozieren lässt.

»Ja, schick sie mir doch einfach nach Hause. Du weißt ja bereits, wo ich wohne.« Er zwinkert mir zu und wendet sich ab, bevor ich etwas erwidern kann.

Für diesen letzten Satz hat er definitiv einen Spruch unter der Gürtellinie verdient! Leider ist er bereits viel zu weit weg, sodass ich schreien müsste, damit er es hört. Das verkneife ich mir jedoch und erdolche stattdessen seinen Rücken mit Blicken.

Doch neben der Empörung über die Andeutung unserer gemeinsamen Nacht ist da noch ein anderes Gefühl, das mich kurz durchzuckt: Freude. Dieser letzte Spruch kam von dem Benjamin Mynard, den ich kennengelernt habe, nicht von dem Mann, der sich in letzter Zeit stets zurückgehalten hat und mir mit Distanz begegnet ist.

Ja, das freut mich wirklich. Wenn er zu seiner alten Form zurückfindet, bedeutet es nämlich, dass der drohende Verlust seiner Nichte ihn nicht komplett zu Boden befördert.

Kapitel: 18

 


Das mulmige Gefühl lässt sich nicht abschütteln. Je weiter das Taxi sich der Adresse nähert, desto höher klettert meine Nervosität in mir hoch. Sie hat nicht länger nur meinen Magen fest im Griff, sondern nun auch meinen Puls, der sich mit jeder verstreichenden Sekunde erhöht.

Hätten Roni und ich uns nicht gestritten, würde ich mich jetzt total auf die Feier freuen, so aber frage ich mich, ob es gleich eine peinliche Szene an der Tür geben wird. Ich zu meinem Teil habe mir geschworen, mich zu benehmen. Das heißt, ich werde mit niemandem streiten, kein Theater machen und brav lächeln. Alles, was mich stört, werde ich ignorieren oder hinnehmen, damit meine Schwester einen schönen Geburtstag hat. Wenn sie bereit ist, schaffen wir heute unseren Streit aus der Welt.

Das Taxi hält vor dem Haus, in dem sich Ronis Wohnung befindet. Ich bezahle, steige aus und bin erleichtert, als ich Anja vor dem Eingang erblicke. Mit ihr an meiner Seite fühle ich mich nicht ganz so unwillkommen. Zwar hat Roni nicht gesagt, ich solle ihrer Feier fernbleiben, aber wir sprechen auch seit knapp zwei Wochen nicht mehr miteinander, und es wäre gut möglich, dass sie immer noch sauer ist wegen dem, was ich gesagt und getan habe.

»Du siehst schick aus.« Anja begrüßt mich mit einem Küsschen auf die Wange.

»Selber«, entgegne ich lächelnd und mustere ihr knielanges, dunkelrotes Kleid, über dem sie ein dazu passendes Jäckchen trägt. »Die Bluse hat Leon mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt«, erzähle ich und schaue an mir runter. »Schade, dass er heute nicht kommen kann.«

»Unser Brüderchen hat einen guten Geschmack. Das matte Dunkelgrün steht dir.«

»Machst du mir gerade Mut, bevor wir reingehen?«

»Hilft es?«

»Bedingt. Komm, bringen wir es einfach schnell hinter uns.« Ich greife nach ihrer Hand und öffne die Eingangstür. 

Wenige Minuten später stehe ich meiner anderen Schwester gegenüber und weiß nicht, was ich sagen soll. Letztendlich verlässt ein »Happy Birthday« meine Lippen, gefolgt von einer leicht unbeholfenen Umarmung. Ich hasse es, Streit zu haben, weil ich mir bei einer Versöhnung immer so doof vorkomme.

Zu meiner Erleichterung lächelt Roni, anstatt mich hochkant wieder rauszuschmeißen. Sie lässt sich auch von Anja drücken, nimmt unsere Geschenke entgegen und geht dann voran in ihre Wohnung. 

Aus dem Wohnzimmer dringen Musik, laute Stimmen und Gelächter, als wir den Flur passieren und weiter in die Küche gehen. Dort legt Roni die Geschenke zu den anderen auf dem Tisch. »Getränke und Häppchen sind im Wohnzimmer und auf der Terrasse«, erklärt sie dabei. »Jordan war so nett, heute den Barkeeper zu spielen. Wenn ihr also Lust auf leckere Caipirinhas habt ...«

»Definititv! Ich habe schon Entzugserscheinungen, weil das Saufgelage im Urlaub schon so lange her ist.« Anja schlüpft aus ihrem Jäckchen und hält es Roni hin. 

»Du solltest es lieber behalten, draußen ist es kühl, der Heizpilz funktioniert nicht richtig«, entgegnet diese.

»Mit genug Alkohol im Blut spüre ich keine Kälte.«

»Ich behalte meine Jacke an«, sage ich, als Roni mich anschaut.

Kurz darauf gesellen wir uns zu den anderen bereits anwesenden Gästen ins Wohnzimmer. Zwei Mädels, mit denen Roni arbeitet, und Sandy. Ein unschönes Gefühl der Eifersucht durchzuckt mich, als ich sehe, wie gut sich unsere Cousine mittlerweile mit meinen Schwestern versteht. Wahrscheinlich verbringen sie sehr viel Zeit miteinander, während ich in den letzten Wochen eher unerwünscht war. Okay, meist bin ich wohl auch unausstehlich gewesen, also ist es verständlich, dass man mich nicht unbedingt um sich rum haben möchte, aber das ändert nichts daran, dass es wehtut. Ganz schön doll wehtut.

Ich nippe an meinem Caipirinha und wende den Blick ab, sodass ich nun auf die Terrasse schaue. Dort stehen Jordan, Elias und auch sein bester Freund an einer provisorischen Bar. Ich frage mich kurz, was gewesen wäre, wenn ich ihm gesagt hätte, er solle heute nicht hierher kommen. Wäre Roni dann noch so freundlich zu mir? Wahrscheinlich hätte er eine Ausrede gefunden, um ihr nicht sagen zu müssen, dass ich ihn ausgeladen habe. So übel er mir mitgespielt hat - er scheint wirklich kein komplett verdorbener Mensch zu sein und hätte sicher nicht gewollt, dass meine Schwester und ich uns noch mehr verkrachen.

Ich spreche ihm tatsächlich etwas Positives zu, wer hätte das gedacht?

Als Benjamin meinen Blick bemerkt, sehe ich schnell weg. Peinlich, jetzt hat er mich beim Starren erwischt! Hoffentlich denkt er sich nichts dabei, denn es hat absolut nichts zu bedeuten, dass ich ihn so lange angeguckt habe. Dass er unverschämt gut aussieht in dem schwarzen Hemd und der dunklen Jeans, interessiert mich nur mäßig. Und wie gut er darunter aussieht ... Lalala, daran werde ich jetzt sicher nicht denken.

Nach einer Weile dreht Roni die Musik lauter und beginnt zu tanzen. Sie ist schon ziemlich angeheitert, und ich wünsche mir, ich könnte mich auch so gehen lassen. Leider habe ich viel zu viel Angst davor, was passieren könnte, wenn ich betrunken bin. Dann vergesse ich womöglich, dass ich mich heute gut benehmen möchte, und zettele einen Streit an. Oder ich werde wieder notgeil und schmeiße mich Sandys Göttergatten an den Hals, da alle anderen Männer tabu sind. Phil auch, klar, aber mit Sandys Hass könnte ich noch am besten Leben. Nein, ich bleibe definitiv nüchtern, um niemandem hier auf die Füße zu treten.

Die erste Stunde zieht sich nur so dahin. Alle um mich herum feiern ausgelassen, betrinken sich sorglos und kommunizieren miteinander, ob verbal oder durch ihre Körpersprache. Ich bemerke recht schnell, dass eine von Ronis Kolleginnen großes Interesse an Benjamin zeigt. Ihre Blicke kleben an ihm, und wenn er in ihre Richtung sieht, bewegen sich ihre Hüften etwas lasziver. Ob ich wohl auf Sandys Hochzeit genauso ausgesehen habe, als es darum ging, ihn für mich zu gewinnen? Und wirft er ihr dieselben eindeutigen Blicke zu, wie er es bei mir getan hat?

»Er ist eine Niete im Bett.« Diese Worte verlassen meine Lippen, als ich zufällig allein mit Alina in der Küche stehe.

»Was?«, entgegnet sie verwirrt.

»Elias' bester Freund. Er und ich hatten mal was miteinander. Es lohnt sich nicht, glaub mir.« Was zum Teufel mache ich da? Entsetzen breitet sich in mir aus, während mein Mund weiterspricht, als hätte ich die Kontrolle über ihn verloren. »Er war innerhalb von wenigen Minuten fertig und ist eingeschalfen, bevor ich überhaupt zum Zuge gekommen bin.«

»Echt?« Alina kratzt sich verlegen am Hals. »Wart ihr zusammen?«

»Nein, das war nur eine einmalige Sache. Ich denke nicht, dass er der Typ für feste Beziehungen ist. Dafür ist er zu egoistisch.« Bevor ich noch mehr Unsinn von mir geben kann, verlasse ich die Küche und gehe nach draußen, um ein wenig Luft zu schnappen. Meine Wangen brennen, und ich schäme mich furchtbar für das, was ich eben getan habe. Außerdem kann ich mir überhaupt nicht erklären, welcher Teufel mich da geritten hat.

»Em, was ist los?« Anja gesellt sich zu mir und lächelt mich, vom Alkohol betüdelt, breit an. »Hast du keinen Spaß?«

»Doch«, sage ich schnell und ringe mir ebenfalls ein Lächeln ab. 

»Ich habe schon zu viele Caipis intus. Wenn das so weitergeht, tanze ich noch auf dem Tisch.«

»Da hätte sicher niemand was gegen.«

»Hast du schon die Häppchen probiert? Die hat Sandy mitgebracht, und die sind wirklich verdammt gut!«

»Ja? Dann sollte ich schnell noch probieren, bevor sie weg sind.« Ich gehe rüber zum Büffet, das am Rand der Terrasse steht, und zwinge mir zwei der Häppchen rein. Sie sind wirklich ziemlich lecker, aber ich kann es nicht würdigen, denn mir ist total schlecht. Das kommt sicher daher, dass ich Alina eben angelogen habe und nun fürchte, sie könnte es weitererzählen. 

»Emmi!« 

Mir bleibt das Häppchen fast im Halse stecken, als Roni mich von hinten umarmt. »Ich bin so froh, dass du da bist. Echt, unser Streit war so blöd. Aber ich war so sauer, weil ... Ich darf es dir nicht erzählen, aber es war wirklich schwer für mich, weil ich auch so enttäuscht von dir war. Und wütend.«

Ich drehe mich herum und tätschele ihren Rücken. »Schon okay. Alles vergeben und vergessen.«

»Das ist schön. Es war echt hart, sauer auf dich zu sein, weil ich dich eigentlich so lieb hab.« Roni ist völlig hinüber, das ist nicht zu übersehen oder zu überhören. 

»Denk einfach nicht mehr darüber nach«, entgegne ich schnell. »Heute ist dein Geburtstag, hab Spaß.«

»Den habe ich!« Sie streckt eine Faust in die Luft und kichert. Dann tänzelt sie zurück ins Wohnzimmer, schnappt sich Elias Hand und tanzt mit ihm.

Ich seufze leise. Am liebsten würde ich verschwinden, da ich mich immer unwohler in meiner Haut fühle. Ich denke an Hedwigs Worte und daran, dass ich mein Leben genießen sollte, aber es fällt mir so schwer. Ich verspüre eine innere Anspannung, die immer greifbarer wird. Da ist ein Gefühl, das ich unbedingt verdrängen möchte, aber es boxt sich weiter in mein Bewusstsein, wobei es alle Schutzmechanismen meinerseits brutal außer Gefecht setzt.

Und dann wird mir etwas klar, das mich noch mehr aus der Bahn wirft. Ich weiß, wieso ich Alina die Lügen aufgetischt habe. Nicht, weil ich Benjamin Mynard verachte und ihm schaden möchte, nein. Ich habe es getan, um ihr Interesse an ihm zu ersticken. Etwas ganz Furchtbares ist mit mir passiert. Ich war ... eifersüchtig.

»Nein, nein, das muss ein Irrtum sein«, murmele ich vor mich hin. Aber obwohl ich eine Meisterin darin bin, Unangenehmes zu verdrängen, kann ich diese Gewissheit nicht länger ignorieren. Ich möchte nicht, dass die beiden etwas miteinander anfangen. Und da ich geglaubt habe, es könnte passieren, weil von beiden Seiten Interesse vorhanden zu sein schien, habe ich eingegriffen und Alina Bockmist erzählt.

»Scheiße!« Ich fahre mir mit der Hand über die Stirn und überlege, ob Roni überhaupt bemerkt, dass ich weg bin, wenn ich jetzt durch die Gartentür schleiche und mich davonmache. Ich schaue mich um und zucke leicht zusammen, als ich sehe, dass Benjamin auf mich zukommt. Oh, nein!

Er bleibt neben mir stehen und füllt sich einen Pappteller mit Fingerfood auf. 

Die ganze Zeit kreischt eine Stimme in meinem Kopf: Weiß er es? Weiß er, was ich über ihn verbreitet habe?

»Die schmecken gut«, sage ich, ohne ihn anzusehen, und deute auf die Häppchen. »Hat Sandy gemacht.«

Anstelle einer Antwort nimmt er sich zwei von Sandys Kreationen.

Das Bedürfnis, zu erfahren, ob er Bescheid weiß, wird übermächtig. Gleichzeitig setzt mein Fluchtinstinkt ein und drängt mich, die Beine in die Hand zu nehmen und zu rennen. »Und wie geht's dir sonst so?«

Habe ich ihn das wirklich gefragt? Wieso habe ich mich heute überhaupt nicht unter Kontrolle?

Er sieht genauso überrascht aus, wie ich mich unbehaglich fühle - enorm. »Mir geht es blendend. Und dir?«, entgegnet er schließlich.

»Supi. Könnte nicht besser sein.« Mein Gott, was mache ich hier? Stehe ich wirklich mit dem Mann da, dem ich eigentlich aus dem Weg gehen möchte, weil er mich völlig durcheinanderbringt, und betreibe Smalltalk?

Die Situation ist so grotesk, dass ich glatt darüber lachen könnte. Doch das Lachen bleibt mir im Halse stecken, als er seinen nächsten Satz äußert.

»Übrigens tut es mir schrecklich leid, dass ich dich nicht zum Höhepunkt bringen konnte. Ehrlich, Emma, ich hatte wirklich das Gefühl, es hätte dir gefallen, was ich damals mit dir angestellt habe. Aber Respekt für die schauspielerische Leistung in jener Nacht. Du hattest mich tatsächlich davon überzeugt, ich wäre ein Gott im Bett. Und dabei habe ich kläglich versagt.«

Ich schlucke. Er weiß es. Ich sollte mich entschuldigen, weil ich solche Lügen über ihn verbreitet habe, stattdessen ist mein Schamgefühl so groß, dass ich kein Wort herausbekomme.

Benjamin wendet sich ab und möchte zurück zur Terrassentür gehen, aber ich halte ihn am Ärmel fest und bringe ihn zum Stehen. Der Blick, den er mir zuwirft, ist schneidend.

»Tut mir leid. Das war ...« Ich seufze. »Das war ziemlich daneben.«

»Was du nicht sagst!«

»Ich werde es richtigstellen.« Es graust mir davor, Alina die Wahrheit zu sagen, aber ich komme wohl nicht drumrum, wenn ich nicht erneut ein Drama heraufbeschwören möchte. Nicht heute an Ronis Geburtstag.

»Nicht nötig. Es interessiert mich nicht, was Ronis Freundin über meine Qualitäten als Liebhaber denkt. Ich bin bloß so verdammt enttäuscht von dir.«

Betreten senke ich den Blick. Er kann ja nicht wissen, dass ich noch viel enttäuschter von mir selbst bin, weil das Motiv für meine Handlung vorhin in der Küche pure Eifersucht war. Das wird mich eine Ewigkeit quälen!

»Wie lange soll diese Fede noch weitergehen?«, fragt Benjamin in meine Gedanken hinein. »Und wie tief soll das Niveau dabei sinken? Ich möchte es nur wissen, um mich darauf einstellen zu können.«

»Ich will keine Fede mit dir führen. Ich will ...« Ich will mein Café zurück. Ich will in die Vergangenheit reisen und einiges ändern. Und garantiert will ich nicht wegen dir eifersüchtig sein! 

»Was willst du?«

»Keine Ahnung! Ich will, dass alles anders ist. Dass das zwischen uns ... anders ist.« Ich merke, dass ich zu laut werde, und drehe dem Geschehen auf der Terrasse den Rücken zu. Bloß kein Drama heute!

»Dann lass uns etwas daran ändern.« Er kommt mir so nahe, dass sein Arm meinen berührt. 

Ich spüre seinen eindringlichen Blick auf meinem Profil, sehe ihn aber nicht an. Ich muss den Drang, von ihm zu weichen, mit aller Macht bekämpfen. »Das versuche ich bereits. Ich gebe mir Mühe, deine Gesellschaft zu ertragen.«

»Indem du anderen Frauen erzählst, dass ich eine Niete im Bett bin? Fühlst du dich dadurch besser?«

»Nein.« Gott, es ist so schwer, mit ihm zu reden, ohne ihm die Verachtung ins Gesicht zu schreien. Vielleicht, weil ich ihn gar nicht mehr so sehr verachte, wie ich gerne würde. 

»Emma, ich mache dir einen Vorschlag«, setzt Benjamin erneut an und wartet, bis ich ihn ansehe, bevor er fortfährt: »Wir treffen uns irgendwo, wo du dich wohlfühlst. Und dann reden wir ganz in Ruhe. Wir schaffen die Sache aus der Welt und blicken nach vorne. Endgültig.«

Das klingt so gut, aber ich habe keine Ahnung, ob das auch machbar ist. Allein die Vorstellung, mich mit ihm irgendwo zu treffen, löst ein beklemmendes Gefühl in mir aus.

»Was sagst du?«, hakt er nach.

»Ich weiß nicht ...«

»Was spricht dagegen? Das Ganze geht dir an die Nieren, das sehe ich doch. Für mich ist es auch nicht leicht, zu wissen, dass ich dafür verantwortlich bin. Wir klären unsere Differenzen, und jeder geht seines Weges, ohne weiter Groll gegen den anderen zu hegen.«

Ich nicke langsam. Es kostet mich viel Überwindung, aber wenn ich mich aus dem Loch, das ich mir geschaufelt habe, herauswühlen möchte, muss ich auch Dinge tun, die mir unangenehm sind. Und eine Versöhnung mit diesem Mann gehört definitiv dazu!

»Gut. Das ist meine private Nummer.« Benjamin hält mir ein kleines Kärtchen hin. »Schreib mir, wann und wo, wenn du nicht anrufen möchtest.«

»Bist du nicht schwer beschäftigt? Vielleicht solltest du mir einfach sagen, wann du Zeit hast.« Ich stecke das Kärtchen in meine Handtasche.

»Ich nehme mir die Zeit. Sag mir einfach Bescheid.«

»Alles klar.« Ich atme tief durch und drehe mich von ihm weg, um ihm deutlich zu machen, dass er nicht mehr so nah bei mir zu stehen braucht. Es wirkt, denn kurz darauf ist er wieder im Inneren der Wohnung verschwunden. 

Ich bleibe noch eine Stunde, in der ich Alina aus dem Weg gehe, um eine mögliche Konfrontation zu vermeiden, und mich mit aller Macht davon abhalte, doch noch einen Haufen Caipirinhas in mich zu schütten und einen Bewusstseinszustand zu erreichen, der mich alles vergessen lässt.

Um kurz nach Mitternacht verabschiede ich mich mit einer lahmen Ausrede, die meine zum Glück betrunkenen Schwestern kaum registrieren, und fahre in einem Taxi nach Hause.

Die ganze Zeit bin ich mir des Kärtchens in meiner Handtasche bewusst, das wie ein kleiner Feuerball leuchtet und mich daran erinnert, welche schwierige Aufgabe noch vor mir liegt.

Kapitel: 19

 


Der nächste Morgen beginnt mit einem starken Kaffee und dem erwarteten Ping-Pong-Turnier in meinem Kopf. Soll ich ihm schreiben oder soll ich es nicht tun? Ich weiß, dass es das Vernünftigste wäre, es zu tun, aber alles in mir sträubt sich dagegen. Vor allem, da ich jetzt weiß, dass ich wegen ihm eifersüchtig war. Das ist einfach nur furchtbar! Im Ernst, es ist mir scheißegal, was Benjamin Mynard mit anderen Frauen tut. Naja, zumindest war es das bis zum gestrigen Abend, als ich beschloss, Alina die Tour bei ihm zu vermiesen.

»Ich bin eben gestört«, stelle ich seufzend fest. Ja, ich habe eine Störung, denn ich stehe scheinbar auf den Kerl, den ich eigentlich verachten sollte. »Den ich immer noch verachte«, korrigiere ich mich sogleich. Gott, ist das alles verwirrend! 

Mein Handy bimmelt kurz und kündigt eine Nachricht an. Roni lädt mich zum Kater-Frühstück ein. Leider muss ich absagen, denn meine Schicht im Restaurant beginnt bald. Und abends muss ich noch in Jordans Bar aushelfen. Arbeit, Arbeit und kein Vergnügen - das ist meine Devise.

Ich denke an Hedwig und alles, was sie erzählt hat. Dann hole ich meine Handtasche aus dem Flur und krame die Serviette hervor. Ich notiere die Adresse in meinem Handy und werfe sie anschließend in den Müll. Sobald ich ein wenig Luft habe, werde ich die außergewöhnliche Lady besuchen, in der Hoffnung, es im Nachhinein nicht zu bereuen.

 


Einen Tag später habe ich mich dazu durchgedrungen, Benjamin eine Nachricht zu senden. Ich nenne einen gut besuchten, öffentlichen Ort, ein Datum und die Uhrzeit, kein Hallo oder sonstiger Gruß kommt darin vor. Es soll ganz geschäftlich und distanziert klingen.

Leider mache ich den Fehler, meine Nummer nicht zu unterdrücken, und bekomme kurz darauf eine Nachricht zurück: Passt. Ich freue mich. Ben

»Nein, du freust dich nicht!«, zische ich dem Display zu. Wieso muss er aus dem geschäftlichen Termin etwas Privates machen? Blödmann!

Den Rest des Wochenendes verbringe ich mit viel Arbeit und wenig Vergnügen.

 


Am Montag habe ich frei und mache mich auf den Weg zu der Adresse, die Hedwig mir aufgeschrieben hat. Zu meiner großen Überraschung und noch größeren Verwirrung befindet sich diese in dem nobleren Viertel der Stadt.

An der Haustür eines hübschen Häuschens, was vielleicht der falsche Ausdruck für das Ungetüm vor mir ist, überlege ich, ob Hedwig mich veräppelt hat, und klingle erst nach einem kurzen Zögern.

Geöffnet wird mir von einer Frau im mittleren Alter. »Ja, bitte?« 

»Äh ... ich bin auf der Suche nach Hedwig«, sage ich und komme mir leicht doof vor. »Lebt sie hier?«

»Ja. Ich bin ihre Pflegerin. Was möchten Sie von Frau Miller?«

»Sie hat mich eingeladen. Ich bin Emma. Ist Hedwig da?«

Die Pflegerin wirft mir noch einen skeptischen Blick zu, dann tritt sie einen Schritt zur Seite und lässt mich herein. »Ich sage Frau Miller Bescheid, dass Sie da sind.«

Nachdem sie durch eine Tür verschwunden ist, schaue ich mich in dem imposanten Empfangsbereich um. Überall an den Wänden hängen Bilder und eingerahmte Zeitungsausschnitte, die wohl Hedwig in jüngeren Jahren zeigen. Ihre Geschichten scheinen nicht gelogen gewesen zu sein, wenn ich mir die Bilder so angucke.

»Emma, Kindchen, schön dich zu sehen.« Hedwig taucht hinter mir auf, als ich gerade dabei bin, einen Zeitungsausschnitt in englischer Sprache durchzulesen. 

Ich drehe mich um und lächele. »Wow, Sie waren ja wirklich ganz schön berühmt.«

»Hast du mir etwa nicht geglaubt?« Sie schnalzt mit der Zunge und wedelt mit einer Hand der Pflegerin hinter ihr zu. »Du kannst uns allein lassen, Hannah.«

»Sind Sie sicher, Frau Miller?«, kommt es von der Frau zurück, die mich immer noch mit skeptischen Blicken mustert.

»Ja. Nimm dir für den Rest des Tages frei. Emma und ich kommen schon allein zurecht.«

Ich kann Hannah den Widerwillen ansehen, als sie den Rollstuhl, in dem Hedwig sitzt, loslässt und zu der Garderobe an der Tür tritt, um in eine Jacke zu schlüpfen.

»Bis morgen, Frau Miller.«

»Bis morgen, Hannah.«

Sobald sie raus ist, trete ich zu Hedwig heran. »Ich bin hier«, sage ich und breite kurz die Arme aus. »Ich würde gerne Ihre Hilfe annehmen.«

»Alles mit der Zeit. Jetzt trinken wir erst einmal einen Tee.« Sie rollt voran durch eine Tür, und ich gehe ihr nach.

Die Küche, in die wir kurz danach gelangen, erschlägt mich fast. Überall steht irgendein Krimskrams rum, der jede Oberfläche bedeckt. Ich sehe buntes Porzellan, verschiedene Tierfiguren und Schneekugeln mit unterschiedlichen Innenleben.

»Setzt du Wasser auf, Kindchen?« Hedwig rollt zur Küchenzeile und öffnet eine Schublade. »Ich habe Tee aus aller Welt hier.«

Ich entdecke den Wasserkocher zwischen einer hellblauen Kuh und einer bunten Vase. »Eigentlich bin ich eher der Kaffeetrinker.«

»Jedem kann geholfen werden.«

Lächelnd stelle ich den Kocher an und drehe mich zu Hedwig. »Sie haben ein ganz schön großes Haus. Leben Sie hier allein?«

»Ich und mein Rollstuhl brauchen viel Platz«, erwidert sie leichthin. Ich frage mich, ob es ihr wirklich so wenig ausmacht, allein zu sein, oder ob sie es bloß gut verbirgt. »Hannah kommt jeden Tag«, fährt Hedwig fort. »Manchmal ist sie so sehr bemüht, dass es mir höllisch auf die Nerven geht.«

»Sie macht bloß ihren Job«, wende ich ein. 

»Mich zwanzig Mal zu fragen, ob mein Kissen auch wirklich bequem ist, stand nicht in der Stellenbeschreibung.«

»Dann hat sie Sie gern und möchte, dass es Ihnen gut geht.«

»Sie hat mein Geld gern.« Hedwig rollt einen Meter weiter und deutet auf den Hängeschrank über der Theke. »Da drin sind die Becher. Welchen Tee möchtest du, Kindchen?«

»Was haben Sie denn so da?«

Sie zählt mir einen Haufen exotischer Namen auf, und ich sage ihr schließlich, dass sie mir einfach einen empfehlen soll. So lande ich bei einem speziellen indischen Kräutermix, der nur kurz darauf in der ganzen Küche zu riechen ist.

»Er ist etwas scharf und genau richtig für dich.« Hedwig lächelt zuversichtlich, als sie mir den Becher reicht. »Danach fühlst du dich wie ein neuer Mensch.«

»Ach ja? Hoffentlich ein besserer«, entgegne ich und puste über den Rand.

»In meiner Küche wird kein Selbstmitleid versprüht«, ermahnt sie mich prompt.

»Das sind Tatsachen, kein Selbstmitleid.«

Sie droht mir mit dem Zeigefinger. »Zu den ernsten Themen kommen wir später. Jetzt habe ich eine Bitte an dich.«

»Okay, schießen Sie los.« Ich nehme einen Schluck und huste kurz los, als es mir fast die Kehle wegbrennt. »Etwas scharf, hm?«

»Backe für mich. Zaubere mir eine deiner besten Kreationen«, sagt Hedwig.

Verwirrt runzele ich die Stirn. »Ich soll für Sie backen?«

»Stimmt etwas mit deinen Ohren nicht? Ja, ich möchte gerne schmecken, ob es sich lohnt, um dein Geschäft zu kämpfen.«

»Um mein Geschäft zu ...« Ich schüttele den Kopf. »Das Café ist bereits verkauft, da gibt es nichts zu erkämpfen.«

»Das entscheide ich, nachdem ich probiert habe. Also, reichen diese Zutaten?« Hedwig öffnet eine Tür der Küchenzeile und offenbart mir drei Regale voller Zutaten für die wildesten Backorgien. 

Meine Augen werden riesengroß. »Alles klar. Wo können wir Ihren ganzen Kram hinpacken? Ich brauche viel Platz!«

Die nächsten Stunden tobe ich mich in Hedwigs Küche aus und stopfe die Frau voll mit meinen Küchlein, Törtchen und anderen Köstlichkeiten. Irgendwann lehnt sie sich in ihrem Rollstuhl zurück und hält sich den Bauch.

»So gut habe ich ewig nicht mehr gespeist, Emma.«

»Ich denke, nach heute wollen Sie auch ewig nichts mehr speisen. Sie haben doch kein Diabetes, oder? Wenn ja, dann rufe ich am besten gleich Ihren Arzt an.« Vielleicht hätte ich mich vorher nach dieser Krankheit erkundigen sollen, anstatt ihr zwei Tonnen Zucker einzuflößen.

»Ich bin kerngesund«, erwidert Hedwig. »Du könntest mir ins Bett helfen, nach dieser Zucker-Orgie werde ich prima schlafen.«

Ich wasche meine Hände und trete hinter den Rollstuhl. »Wie lautet denn nun Ihr abschließendes Urteil?«, erkundige ich mich, während ich die alte Dame in die von ihr gezeigte Richtung schiebe. »Lohnt es sich, zu kämpfen?«

»Das verrate ich dir, wenn du mich das nächste Mal besuchen kommst.«

Clever. Wahrscheinlich wird sie mich dann wieder zu einer Back- und Fressorgie überreden, damit sie sich den Bauch vollschlagen kann. »Sie sind eine gerissene Frau, Hedwig.«

»Noch hat mein Verstand genug Sprit, um zu funktionieren. Das lasse ich nicht ungenutzt. Und du, Emma, solltest es mir gleichtun.«

Wir sind in ihrem großen Schlafzimmer angekommen, und ich helfe ihr ins Bett, während ich etwas auf ihre letzte Aussage erwidere: »Ich bin nicht so schlau, wie Sie vielleicht denken. Ich habe nicht einmal mein Abi.«

»Ich auch nicht. Wenn du es genau wissen möchtest, habe ich die Schule nie richtig besucht. Und aus mir ist trotzdem etwas geworden, behaupte ich mal.«

»Das waren auch noch andere Zeiten«, wende ich ein. »Heutzutage erreicht man nichts, wenn man nicht zufällig steinreiche Eltern hat oder fünfzehn Doktortitel mit dreißig.«

»So denken nur Loser.«

Ich reiße die Augen auf. Nicht, weil ich mich gekränkt fühle, sondern im Erstaunen darüber, dass sie dieses Wort benutzt. Anscheinend habe ich mich immer noch nicht an ihr loses Mundwerk gewöhnt.

»Habe ich den Nagel auf den Kopf getroffen?«, hakt Hedwig nach. »Bist du ein Loser, Emma Leimann?«

Ich recke mein Kinn und ziehe die Augenbrauen leicht arrogant hoch. »Nein, das bin ich nicht.«

»Habe ich auch nicht angenommen. Gut, dann sehen wir uns die nächsten Tage, und ich erzähle dir von meinem Plan.«

Kurz darauf bin ich auf dem Weg nach Hause und frage mich, ob ich Hedwig noch einmal besuchen sollte. Irgendwie bezweifle ich, dass sie mir wirklich helfen kann. Viel eher wird sie mich in der Küche schuften lassen und mir gemeine Dinge an den Kopf werfen, während sie meine Törtchen verdrückt. Doch da ist auch noch Neugier in mir. Diese Frau ist steinalt und hat ihr Leben gemeistert. Vielleicht hat sie ja doch noch einige nützliche Tipps parat, die ich aufsaugen könnte. Und selbst wenn nicht - Ist es besser in meiner freien Zeit zu Hause zu hocken und zu grübeln oder einer betagten Dame etwas Freude zu bereiten?

 

 

***

 


Der Tag, an dem ich mich mit Benjamin zu einem klärenden Gespräch treffen muss, kommt schneller, als gehofft. Obwohl ich mir Mühe gebe, es zu verdrängen, kann ich nicht ignorieren, dass ich furchtbar nervös bin. Entweder wird dieses Treffen in einer Katastrophe enden und die Kluft zwischen uns noch größer machen oder es gelingt uns tatsächlich, die Sache zwischen uns zu bereinigen. Option zwei wäre natürlich besser, aber ich habe keine Ahnung, wie das gelingen soll. Dafür müsste er meine schlechten Erinnerungen auslöschen.

»Du wirst da hingehen und ihm zuhören«, sage ich meinem Spiegelbild, als ich im Bad stehe und mich fertig mache. »Ganz unvoreingenommen.«

Das wird mir nie gelingen, aber man sollte mir hoch anrechnen, dass ich es zumindest versuchen möchte. Wirklich versuchen möchte. Weil es nicht wie bisher weitergehen kann. Benjamin Mynard hat einen Platz in meinem Leben bekommen, auch wenn ich es nicht wollte, und es sieht nicht so aus, als würde er so bald wieder daraus verschwinden.

Eine Stunde später befinde ich mich auf dem Weg in den Stadtpark. Ich habe einen Ort gewählt, an dem sich viele, viele Menschen aufhalten. Ich erwarte sicher nicht, dass er an einem ruhigeren Ort über mich herfallen würde, aber ich möchte nicht ganz allein mit ihm sein. Je mehr Menschen um uns herum sind, desto unpersönlicher ist das Ganze.

Als ich am verabredeten Treffpunkt ankomme, sitzt Benjamin bereits dort auf einer Bank, die einen Baum umrundet. Ich sehe sein Gesicht im Profil, die breiten Schultern, die von einem dunkelgrauen Pullover bedeckt werden. Er trägt keinen Anzug, kommt also nicht von der Arbeit. Ob er sich wohl extra freigenommen hat? Mein Herzschlag beschleunigt sich, und kurz überlege ich, einfach kehrtzumachen und eine Ausrede vorzuschieben. Mein Bus hatte einen Unfall, oder so ähnlich. Hauptsache, ich kann mich vor ihm drücken.

Das schaffst du schon!, sage ich mir im nächsten Moment und gehe zielstrebig weiter. Ich setze mich mit genügend Abstand neben ihn und werfe ein beiläufiges »Hallo« in seine Richtung.

»Hallo, Emma«, erwidert er, und aus dem Augenwinkel sehe ich, dass er dabei lächelt. »Schön, dass du es einrichten konntest.«

»Mmh, ja.« Ich komme mir albern vor, weil ich ihn nicht ansehe, aber auf dieser Bank wäre es auch schwierig, sich gegenüber zu sitzen. Und wenn ich mich ihm zudrehe, wirkt das zu intim.

»Wollen wir uns irgendwo reinsetzen?«, fragt er auch schon und schaut sich um.

»Nein, hier ist es gut.« Ich lege meinen kleinen Rucksack auf den Schoß und die Hände darauf. Dann rücke ich noch ein Stück weg und schaue ihn direkt an. »Also, hier bin ich. Wir können beginnen.«

»Das klingt so, als hätten wir einen geschäftlichen Termin.« Er lehnt sich ein wenig zurück gegen die Lehne.

»Was soll das hier sonst sein?« Irgendwie schaffe ich es nicht, ihn lange anzusehen, und richte meinen Blick auf das kleine Café gegenüber. 

»Ich hatte gehofft, das Gegenteil. Ein Treffen zwischen ... nun, nicht Freunden, aber vielleicht Bekannten, die einen Neuanfang starten wollen.«

»Einen Neuanfang starten.« Ich verziehe das Gesicht.

»Ist das nicht auch in deinem Interesse?«

»Schon, aber ...« Ich schaue wieder zu ihm. »Wie soll das gehen?«

»Indem wir uns aussprechen. Du kannst alles rauslassen, was dich beschäftigt. Knall mir alles an den Kopf. Schonungslos. Lass es einfach raus.«

»Soll ich dich hier vor allen Leuten verprügeln?«

Benjamin lacht kurz. »Nein, das hatten wir bereits, und es hat nicht geholfen. Sprich mit mir. Sag mir, was du von mir hältst.«

Ich ziehe beide Augenbrauen hoch. »Ich dachte, das wüsstest du breits, oder war ich nicht deutlich genug?«

»Komm schon, Emma. Sag mir, was du von mir denkst.«

»Okay ...« Ich überlege kurz, ob ich vollkommen ehrlich sein soll, und entscheide mich dafür. Er will es schließlich so. »Ich hasse dich dafür, dass du mich angelogen hast. Ich denke, dass du nicht so toll bist, wie alle anderen behaupten, sonst wärst du von Anfang an ehrlich zu mir gewesen. Ich glaube, dass es dir gefallen hat, mich ... mit mir zu schlafen, während ich vollkommen ahnungslos war.« Bei diesen Worten senke ich den Blick und spüre, dass meine Wangen wärmer werden. Und da ist auch dieses verdammte Kribbeln im Bauch!

»Es hat mir gefallen, keine Frage, aber dabei ging es ganz sicher nicht um deine Ahnungslosigkeit, Emma«, entgegnet Benjamin. »Und ja, ich habe mich falsch verhalten. Da gibt es nichts schönzureden. Ich war ein Arschloch, Punkt. Ich würde diesen Fehler gerne wiedergutmachen, aber du bist nicht bereit dafür, und das muss ich akzeptieren. Mich interessiert nur, ob überhaupt die Chance besteht, dass ich es wiedergutmachen darf. Irgendwann, wenn du soweit bist.«

Ich betrachte den sandigen Boden unter meinen Füßen und zucke mit den Schultern. Es ist wirklich komisch, hier mit ihm zu sitzen und ein eigentlich recht zivilisiertes Gespräch zu führen, ohne ihm dabei an die Gurgel zu gehen. Vor ein paar Wochen wäre das undenkbar gewesen. Sogar vor ein paar Stunden noch. Aber jetzt bin ich hier und verspüre zum ersten Mal nicht das Gefühl, ihn schlagen oder beleidigen zu wollen. Das ist beängstigend!

»Ich möchte dir einen Vorschlag machen«, fährt Benjamin schließlich fort, als ich nicht antworte. »Lerne mich kennen und entscheide dann, ob ich ein Mensch bin, dem du einen Fehler verzeihen kannst. Und bevor du wieder sagst, dass du keine Zeit hast - Wir fangen ganz klein an. Jeden Tag erzähle ich dir etwas über mich, und sei es nur ein Satz. Eine Minute oder zwei. Am Telefon oder so wie jetzt. Du entscheidest.«

Mit den Zähnen fahre ich über meine Unterlippe. Ihn kennenlernen? Jeden Tag mit ihm sprechen? Diese Vorstellung stößt nicht auf so viel Abneigung, wie ich erwartet habe. Klar, mein erster Impuls ist ein klares »Nein«, aber wenn ich mich etwas bremse und nachdenke, klingt sein Vorschlag gar nicht so übel. Zumindest vernünftiger als die Alternative, die wohl so aussehen würde, dass wir uns bei jeder weiteren Begegenung bekriegen und ich Dinge tue, die ich im Nachhinein bereue.

»Falls du mich nicht sehen oder mit mir telefonieren möchtest, kann ich dir auch schreiben.«

Ich schaue zu ihm. »Und wenn ich dich dann besser kenne?«

»Kannst du entscheiden, ob ich so toll bin, wie behauptet wird«, bietet er lächelnd an. 

»Es könnte aber auch sein, dass ich dich weiterhin kacke finde, und dann stehen wir wieder am Anfang.«

»Dieses Risiko nehme ich in Kauf.«

Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Woher soll ich überhaupt wissen, dass es wahr ist, was du mir erzählst? Vielleicht lügst du mich wieder an?«

Er schüttelt den Kopf, lächelt aber weiterhin. »Ich lerne aus meinen Fehlern. Keine Lügen, Unwahrheiten oder sonstiges. Mein Wort zählt für dich sicher nicht viel, aber ich gebe es dir trotzdem.«

Und so geschieht tatsächlich etwas, woran ich nicht mehr geglaubt habe: Benjamin Mynard und ich werden uns einig. Ich erlaube ihm, mir jeden Tag etwas über sich zu erzählen. Schriftlich. Er darf mir kurze Nachrichten schreiben, aber nur einmal am Tag. Ein Handschlag besiegelt dieses Abkommen. Anschließend gehen wir wieder getrennte Wege.

Ich kann nicht beschreiben, was ich nach diesem Treffen empfinde, denn ich bin irgendwie komplett durcheinander. Da ist ein ungläubiges Gefühl in mir, weil ich mich tatsächlich auf seinen Vorschlag eingelassen habe. Und noch etwas anderes. Wenn ich nicht zu feige wäre oder zu stolz, würde ich mir wohl eingestehen, dass es ein Funken Vorfreude sein könnte.

Kapitel: 20

 


Er zieht es tatsächlich durch. Jeden Tag, pünktlich um zwölf Uhr mittags, bekomme ich eine Nachricht von Benjamin Mynard, in der er mir etwas über sich erzählt. Zunächst recht harmlose Dinge, meist gepaart mit einem schlechten Witz. Okay, er ist schon irgendwie witzig, aber das möchte ich nicht zugeben.

Als ich »Im Kindesalter habe ich Windeln getragen und Babybrei durch die Gegend gespuckt« auf dem Display lese, kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Dann schüttele ich über ihn - und über mich selbst - den Kopf und mache mich auf den Weg zur Arbeit. Ich sollte nicht vergessen, dass der Mann, der mich nun zum Lachen bringt, auch dafür verantwortlich ist, dass ich unzählige Nächte durchgeweint habe.

Ich war ein richtiger Rabauke, im Kindergarten hatten alle Angst vor mir, bekomme ich am Tag darauf zugeschickt. 

»Ehrlich jetzt?«, murmele ich und unterdrücke den Drang, ihm zu antworten. Erzählt er mir seine Geschichte etwa von Anfang an? Wie lange soll das denn noch so weitergehen?

In der Schule wurde ich gehänselt, weil ich ein Streber war, lese ich am dritten Tag.

Das kann ich mir sogar gut vorstellen. Um so erfolgreich im Beruf zu sein, braucht man sicher einige Voraussetzungen.

Sobald ich an Benjamins Job denke, muss ich automatisch an mein verlorenes Café denken - und das verdirbt mir prompt wieder die Laune. Mühsam verdränge ich dieses Bild und sage mir, dass ich unvoreingenommen an die Sache herangehen muss. Gott, es ist nicht einfach, aber so wie bisher kann es ja nicht weitergehen. Was hatte Anja mir in Spanien geraten? - Wenn ich etwas ändern möchte, sollte ich bei mir selbst beginnen? Es wäre sicher nicht schlecht, etwas von meinem Starrsinn abzulegen, aber wie zum Teufel soll das funktionieren? Ich kann mich doch nicht einfach um hundertachtzig Grad drehen und ein neuer Mensch werden. Das ist unmöglich. Über zwanzig Jahre bestens gepflegte Sturheit lässt sich nicht über Nacht vertreiben!

Mit einem Seufzen lege ich mein Handy weg und räume etwas auf, bevor ich zu Hedwig aufbreche. 

An der Tür werde ich von ihrem Wachhund Hannah empfangen, die wieder nicht begeistert aussieht, als ich eintrete. Mir kommt es beinahe so vor, als würden kleine Dampfwölkchen aus ihren Ohren steigen, als Hedwig sie kurz darauf auffordert, zu gehen. 

»Warum mag sie mich nicht?«, erkundige ich mich bei der alten Dame, während ich sie in die Küche schiebe.

»Wahrscheinlich füchtet sie um ihr Erbe«, entgegnet diese achselzuckend. »Ich habe niemanden mehr. An wen geht das alles, wenn ich abkratze? Dem Staat überlasse ich es garantiert nicht.«

»Sie könnten es spenden. An ein Tierheim zum Beispiel«, biete ich an. 

»Damit sich hier Katzen und Hunde einrichten und alles vollscheißen? Nee, das kommt nicht infrage!«

In der Küche erwartet mich ein Tisch voller neuer Zutaten.

»Hedwig, ich fühle mich von Ihnen benutzt«, sage ich, während meine glänzenden Augen bereits alles in sich aufnehmen und mein Hirn alle mir bekannten Rezepte durchgeht. »Und es gefällt mir.«

»Was zauberst du mir heute, Kindchen? Ich hätte Lust auf Aprikosen.«

Ich lege meine Tasche ab und schiebe die Ärmel meines Pullovers hoch. »Lassen Sie sich da mal überraschen.«

 


In der sechsten Klasse hatte ich meine erste Freundin, sie hat mir das Herz gebrochen.

So ein Mistkerl, denke ich, nachdem ich die Nachricht gelesen habe. Natürlich wüsste ich jetzt gerne, wie ihm das Herz gebrochen worden ist. Und wie dieses Mädchen hieß. Ich müsste sie anrufen und ihr gratulieren!

Während ich noch an meiner Unterlippe rumzupfe, tippen meine Finger bereits los: Wie hat dieses reizende Geschöpf dir dein Herz aus Stein gebrochen? Sie muss Superkräfte gehabt haben.

Sie verließ mich für einen Jungen, der eine coolere Frisur hatte, kommt es nach etlichen Minuten zurück, in denen ich es schon bereut habe, ihm geschrieben zu haben. Und dann gleich hinterher: Bei meinem letzten Cardio-Check konnte ich übrigens deutlich sehen, dass mein Herz ein Muskel ist. Und, Emma, dieses Herz kann so leidenschaftlich lieben, dass einem die Luft wegbleibt. 

Fuck, was? Mein Muskel pumpt gerade ziemlich stark gegen meinen Brustkorb. Was meint er damit? Redet er vom Vögeln? Oder ... Ich zucke zusammen, als mein Handy erneut piept.

Das waren jetzt ganze vier Sätze. Ich halte mich die nächsten Tage bedeckt, um das wieder auszugleichen und mein Glück nicht überzustrapazieren.

Ich sollte ihn darauf aufmerksam machen, dass es mit der letzten Nachricht sogar sechs Sätze sind, aber irgendwie zwickt es mich bereits unangenehm, weil ich die nächsten Tage nichts von ihm hören werde. Und was sagt mir das?

»Du hast doch nicht mehr alle Latten am Zaun!«, beantworte ich die Frage und schmeiße mein Handy zur Seite auf die Couch. Ich habe das dumpfe Gefühl, mich ganz schön in die Scheiße geritten zu haben und nun darin festzustecken. Wenn ich nicht verdammt gut aufpasse, bringe ich etwas ins Rollen, das mir noch den Hals brechen wird. 

 

 

***

 


Am Wochenende stehe ich wieder hinter dem Tresen in Jordans Bar und serviere Getränke, als meine beiden Schwestern lächelnd auf mich zukommen.

»Hallo, du heiße Schnecke«, grüßt Roni in ihrer gewohnt spritzigen Art. »Hat Jordan euch endlich neue T-Shirts besorgt?«

»Ja. Er war wohl der Meinung, man hätte uns nicht auch so schon genug auf die Titten geglotzt.« Ich verdrehe die Augen und zupfe am runden Ausschnitt rum, wie schon etliche Male zuvor an diesem Abend.

»Es steht dir ... und Britney und Christina.« Sie kichert ungehalten. Scheinbar ist sie schon leicht beschwipst.

Ich schaue fragend zu Anja. »Gibt es etwas zu feiern?«

»Nein, wir wollten dich bloß mal wieder zu Gesicht bekommen. Machst dich ganz schön rar in letzter Zeit.«

»Ja, viel zu tun«, erwidere ich und lächele schuldbewusst. »Und seit Neuestem bekoche ich eine alte Dame. Oder bebacke sie, wenn man das so sagen kann.«

»Du hast einen dritten Job?«

»Nein, das ist kein Job.« Ich schüttele den Kopf. »Das mache ich in meiner Freizeit. Sie ist ziemlich einsam.« Und irgendwie bin ich das ja auch. Klar, ich habe noch meine Schwestern, meinen Bruder und meine Mutti, aber die haben allesamt ein eigenes Leben und können sich nicht ständig um die Wehwehchen von Emma the Sturbock kümmern. Und bei Hedwig kann ich mich schön auskotzen. Zwar geigt sie mir stets schonungslos ihre Meinung, die mich im ersten Moment verletzt, aber im Nachhinein bringt sie mich zum Nachdenken und tut mir irgendwie gut. Echt gut. Erst letztens hat Hedwig mir gesagt, ich höre mich an wie eine Schauspielerin, die sie früher kannte. Eine grausige Möchtegern-Sängerin, bei der ihr stets die Ohren geblutet haben, und vor der jeder Musikproduzent schreiend davongelaufen ist. Ja, das war sicher kein Kompliment, aber als ich später zu Hause darüber nachdachte, konnte ich durchaus Parallelen finden. Ich heule und jammere ständig rum, und jeder, der mich nicht zufällig sehr gern hat, müsste längst vor mir geflohen sein. Was sagt das also über eine gewisse Person aus, die sich weiterhin darum bemüht, mich von sich zu überzeugen?

»Emma?« Anja fuchtelt mit einer Hand vor meinem Gesicht herum. Roni ist nicht mehr da. Wahrscheinlich ist sie zu ihrem Tisch zurückgegangen. »Jemand zu Hause?«

»Äh, ja. Was wollt ihr trinken?«, frage ich nun geschäftlich.

Anja zählt vier Getränke auf und fügt am Ende hinzu: »Wir sind mit Elias und Ben hier. Hoffentlich ist das okay für dich.«

»Ja, schon okay«, erwidere ich nickend und gebe die Bestellung gleich weiter an meinen Kollegen. »Wir ... haben eine Art Waffenstillstand beschlossen.«

»Wirklich?« Sie schaut mich überrascht an. »Das ist ja super!«

»Ich würde an deiner Stelle jetzt noch keine Luftschlangen werfen, aber ich bemühe mich.« Anders kann man es nicht sagen, denn ich bemühe mich wirklich. Immer, wenn die Erinnerungen an meine schlechten Begegnungen mit Benjamin hochkommen, dränge ich sie zurück und räume ihm eine wahrhaftige Chance ein, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Wir werden sicher keine besten Freunde oder etwas anderes dieser Art, aber vielleicht schaffe ich es irgendwann, ihn nicht mehr zu hassen. Das Wichtigste ist, dass ich es hinbekomme, mit ihm in einem Raum zu sein und nicht auf ihn zu reagieren. Also weder besonders negativ noch auf irgendeine Weise positiv. 

»Ich wusste, dass du es schaffen wirst«, holt Anja mich aus den Gedanken und schenkt mir ein liebevolles Lächeln. »Und ganz ohne unsere grandiose Hilfe.«

»Ja, ohne eure grandiose Hilfe. Als nächstes hättet ihr uns wahrscheinlich in einem Zimmer eingesperrt und gewartet, ob wir uns versöhnen oder einander umbringen«, entgegne ich.

Sie lacht kurz auf. »Du wirst es nicht glauben, aber etwas in die Richtung hat Roni einmal angedeutet.«

»Und wie ich es glaube! Ihr traue ich mittlerweile alles zu.«

Die Getränke sind fertig, und ich reiche sie auf einem Tablett an meine Schwester weiter. »Viel Spaß beim Saufen.«

»Wie lange arbeitest du? Möchtest du dich nachher noch zu uns gesellen?«

»Wir wollen es ja nicht gleich übertreiben, ja? Bis ich mit Benjamin Mynard auf Freundschaft trinke und mit ihm auf dem Tisch tanze, müssen noch ein paar Jährchen vergehen. Wahrscheinlich eher Dekaden.«

Sie lacht erneut und wirft mir einen Kuss zu, bevor sie sich umdreht und in der Menge verschwindet.

Kurz darauf tritt jemand an die Bar, der mich zum Strahlen bringt. »Leon!«, rufe ich begeistert aus und beuge mich vor, um ihn umständlich zu umarmen. »Was machst du denn hier?«

»Party. Nennt man das nicht so?«, entgegnet er und schaut sich um. »Nebenbei passe ich noch auf meine betrunkenen Schwestern auf.«

Lachend knuffe ich ihm in die Wange, was er völlig ungerührt hinnimmt. Früher hat ihn das immer auf die Palme gebracht, aber jetzt ist er erwachsen und mächtig cool, wie mir scheint. »Es ist schön, dich zu sehen. Beinahe hätte ich dich nicht wiedererkannt.«

»Jetzt übertreibst du. So lange ist es nun auch nicht her, dass wir uns getroffen haben.«

»Warte mal.« Ich wende mich ab und trete zu Mia, um ihr mitzuteilen, dass ich jetzt gerne Pause machen würde. Dann verschwinde ich kurz im Hinterzimmer und trete anschließend zu Leon. »Komm, ich hab eine halbe Stunde Pause, da können wir ein bisschen quatschen.«

Wir verziehen uns in eine Ecke, wo es etwas ruhiger ist, und Leon berichtet über die letzten Wochen. »Paps hat sich unheimlich über deine Karte gefreut«, fügt er am Ende hinzu und klopft mir auf die Schulter. »Gut gemacht, Em. Ich war ganz schön überrascht.«

Ich winke verlegen ab. »Es war nur eine Karte.«

»Nein, das war euer erster Kontakt seit Jahren. Du hättest ihn sehen müssen ... Nicht mal die arschteure Armbanduhr, die sein Geschäftspartner ihm geschenkt hat, konnte ihn so erfreuen. Du warst immer schon sein Liebling, das hat sich nicht geändert.«

Ich wechsele schnell das Thema, weil ich merke, wie sehr mich seine Worte bewegen. Und ich bin immer noch nicht bereit, meinem Vater richtig zu verzeihen. »Was macht die Liebe? Gibt es eine glückliche Frau da draußen, die dein Herz erobern konnte?«

»Ich bin ein paar Mal mit einer Kommilitonin ausgegangen, aber mehr hat sich nicht ergeben«, erwidert Leon. 

»Keine ist gut genug, was?«

»Ich arbeite zu viel. Freundinnen lenken einen bloß ab.«

»Wem sagst du das! Wenn ich als Kind gewusst hätte, dass das Erwachsenen-Leben nur aus Arbeit besteht, hätte ich mir sicher nicht gewünscht, endlich achtzehn zu werden.«

»Und bei dir?« Leon schaut über meinen Kopf. »Der Kerl bei Anja, Roni und ihrem Macker ist der Teufel persönlich, nehme ich an. Wie läuft es da?«

Augenblicklich spüre ich die Anspannung in meinen Schultern. »Waffenstillstand«, sage ich und gebe mir Mühe, ganz neutral zu wirken. »Für Roni versuche ich, ihn nicht mehr anzufeinden.«

»Nur für Roni? Was ist mit dir?«

»Was soll mit mir sein?«

»Auf Sandys Hochzeit bist du total auf ihn abgefahren. Ist da nichts mehr?«

Mir wird ziemlich warm, was ich jedoch schnell abtue. »Nein, gar nichts. Und selbst wenn - ich könnte mich nicht mehr auf ihn einlassen. Da ist zu viel passiert. Außerdem habe ich keine Zeit für so etwas.«

Leon nickt zustimmend. Und dann ist meine Pause auch schon vorbei, und ich muss zurück hinter den Tresen.

Als meine Schicht zu Ende ist, trete ich noch zu dem Tisch, an dem meine Geschwister sitzen. Ich grüße in die Runde und ignoriere den kleinen Hüpfer meines Herzens, als ich kurz auf Benjamins Blick treffe. 

»Emmi, feier mit uns!« Roni umarmt mich mit einem Arm und hält mir einen Kurzen hin.

»Was gibt es denn zu feiern?«, entgegne ich und stütze sie, weil sie ganz schön schwankt. 

»Das Leben. Das sollte man immer feiern!«

Lächelnd nehme ich den Kurzen entgegen. »Okay, dann ... auf das Leben.«

»Auf das Leben!«

Die anderen stoßen mit an, und in meiner Brust breitet sich ein Gefühl aus, das ich so lange nicht mehr verspürt habe: Zufriedenheit.

 

 

***

 


Mit fünfzehn verlor ich meine Unschuld an eine Austauschschülerin aus Frankreich - aber das interessiert dich wahrscheinlich weniger.

Ja, da hat er recht. Es interessiert mich nicht die Bohne, mit wem Benjamin Mynard Geschlechtsverkehr hatte. Kann er wahrscheinlich eh gar nicht alle aufzählen. Irgendwo muss er schließlich sein Geschick erlernt haben.

Ob es nach mir noch viele waren?, geistert es plötzlich durch meinen Kopf, und ich schüttele diesen verärgert. Who the hell cares? Ja, scheinbar kümmert es mich, sonst würde ich nicht darüber nachdenken.

Ich starre in den Badezimmerspiegel, vor dem ich mich eben noch geschminkt habe. »Hör auf damit!«, sage ich mit sehr viel Nachdruck. In letzter Zeit habe ich viel zu viel an diesen Mann gedacht. Und das Schlimmste ist - in den Tagen, in denen er sich nicht gemeldet hat, begleitete mich stets ein Gefühl, als würde etwas fehlen. Zuerst habe ich es verdrängt und abgestritten, aber mittlerweile habe ich es vor mir selbst zugegeben, und es macht mir eine Scheißangst! Ich kann es doch unmöglich vermissen, Kontakt zu diesem Kerl zu haben. Das ist nicht richtig. Er hat mich belogen und ist schuld an meinem großen Verlust. So jemanden kann ich nicht in mein Leben, und noch schlimmer: in mein Herz, lassen.

Ich denke, wir sollten das Ganze lassen. Bitte schreib mir nicht mehr, tippen meine Finger eine Nachricht. Ich starre auf die Wörter und presse die Lippen aufeinander. Kurz und schmerzlos sollte ich diesem Irrsinn ein Ende setzen. Der Waffenstillstand kann weiterhin bestehen bleiben, aber mehr auch nicht.

Seufzend lasse ich das Handy sinken, ohne die Nachricht abzuschicken. Ich werde mich nach dem Besuch bei Hedwig entscheiden, ob ich es wirklich tun soll. 

Kurz darauf befinde ich mich auf dem Weg zu der alten Dame und erlebe eine unschöne Überraschung, als ich vor ihrer Tür stehe.

»Frau Miller geht es nicht gut«, sagt Hannah mit vor der Brust verschränkten Armen. »Der Doktor war vorhin da, sie muss sich ausruhen.«

»Aber wir sind verabredet. Kann ich wenigstens kurz zu ihr und Hallo sagen?«

»Sie schläft. In den nächsten Tagen brauchen Sie auch nicht zu kommen. Frau Miller hat jetzt Bettruhe verordnet bekommen.«

Ich starre sie grimmig an. »Hedwig soll selbst entscheiden, ob sie mich sehen möchte oder nicht. Sagen Sie ihr Bescheid, dass ich hier war.«

Sie nickt, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst, und schließt die Tür.

Ich bleibe noch einen Moment stehen, dann drehe ich mich um und gehe zurück zur S-Bahn, mit der ich hergefahren bin. Die ganze Zeit mache ich mir Sorgen um Hedwig und ihren Gesundheitszustand. Und auch wenn die doofe Hannah mir gesagt hat, ich solle die nächsten Tage nicht herkommen, werde ich es trotzdem tun. Ich bin mir sicher, dass Hedwig sich freuen wird, mal ein anderes Gesicht zu sehen als das ihrer unfreundlichen Pflegerin. Und die Schwere in meiner Brust wird sicher auch verschwinden, sobald ich sehe, dass es der alten Dame wieder besser geht. Zur Not päppele ich sie mit meinen Küchlein schnell wieder auf.

Kapitel: 21

 


Mit 
zweiundzwanzig bin ich in das Unternehmen meines Vaters eingestiegen, mittlerweile ist er im Ruhestand und genießt das Leben.

Okay, jetzt sind wir wohl bei einem heiklen Thema angekommen. Bei dem heiklen Thema, das er bisher umschiffen konnte. Mynard INVEST. Die Firma, die mir das Genick gebrochen hat, als sie das Gebäude aufkaufte, in dem sich mein Café befand, und die Miete um dreißig Prozent erhöhte. Ich weiß nicht, inwieweit Benjamin jede Entscheidung selbst trifft oder es anderen überlässt, aber ich weiß ganz genau, dass er es mir bei unserer ersten Begegnung hätte sagen müssen und es nicht getan hat. An dieser Tatsache wird sich nie etwas ändern. Sollte ich ihm je vergeben, wird das trotzdem immer zwischen uns stehen.

Wenn ich geglaubt habe, dass mich dieses Thema schon nervös macht, so ist die Nachricht am Tage darauf wohl unter der Bezeichnung: Ach du heiliger Bimbam, einzuordnen.

Ich war verheiratet und bin mittlerweile seit drei Jahren geschieden.

Ich starre die vielen Worte an und brauche einen Moment, um den Inhalt zu begreifen. Benjamin Mynard ist ein geschiedener Mann? Wieso überrascht mich das so sehr? Er ist über dreißig, sieht ... recht annehmbar aus und ist wohlhabend. Es ist nicht verwunderlich, dass irgendeine Frau sich ihn bereits geschnappt hat, wenn auch mit keinem Sie-lebten-glücklich-bis-in-alle-Ewigkeit.

Vielleicht bin ich so überrascht, weil ich ihn in meinem Kopf immer noch als Casanova ohne Gewissen sehen möchte. Mittlerweile ist mir jedoch bewusst, dass das nicht stimmt. Der Mann hat schon Anstand, wahrscheinlich sogar recht viel, aber das hatte er wohl kurz vergessen, als er mit mir zusammen ins Bett stieg.

Ich reiße mich aus dem Gedanken und tippe eine Frage: Wie lange warst du verheiratet?

Die Antwort kommt ein paar Minuten später: Knapp zwei Jahre. Keine Glanzleistung, ich weiß.

Eine Meisterleistung! Meine längste Beziehung hat nicht mal so lange gedauert. Ich beiße mir auf die Unterlippe, nachdem ich die Nachricht abgeschickt habe. Wieso erzähle ich ihm das?

Unbegreiflich. Du bist doch so ein umgänglicher Mensch.

Mit großen Augen lese ich seine nächsten Worte und schüttele den Kopf. Ich könnte ihm das wieder übel nehmen, klar, aber eigentlich muss ich eher darüber lachen. Er deutet nur das an, was ich längst weiß: Niemand hält es lange mit mir aus.

Da haben wir ja was gemeinsam. Wer hätte das gedacht? Wie viele Sätze waren das jetzt? Mindestens eine Woche Schreibverbot! Ich meine es nicht ernst, und ich bin mir sicher, dass er das auch weiß. Insgeheim hoffe ich, dass er mir trotzdem schreiben wird. »Du bist am Arsch, Emma«, murmele ich und packe mein Handy weg. »Du bist ganz schön am Arsch, Mädchen.«

Ich fahre erneut zu Hedwig und lasse mich diesmal nicht von Hannah wegschicken. Nein, ich dränge mich einfach an ihr vorbei und steuere das Schlafzimmer der alten Dame an, wobei ich das Gezeter ihrer Pflegerin hinter mir ignoriere. Es versetzt mir einen schmerzhaften Stich, als ich Hedwig schließlich in ihrem Bett liegen sehe. Sie wirkt noch abgemagerter und kleiner, als ich sie in Erinnerung habe. Plötzlich kommt mir der Gedanke, dass sie es nicht mehr lange macht, und ein schwerer Kloß setzt sich in meinem Hals fest.

»Hallo, Hedwig«, grüße ich möglichst unbefangen und stelle die Tüte, die ich mitgebracht habe, auf ihrem Nachtschränkchen ab. »Ich habe Ihnen Kirsch-Küchlein gebacken und mitgebracht. Sobald Sie aufhören, den sterbenden Schwan zu mimen, können Sie davon probieren. Ich denke, ich habe mich selbst übertroffen. Sie werden sie lieben!«

Ihre faltigen Wangen bewegen sich hoch zu einem angedeuteten Lächeln. Dann streckt sie ihre zitternde Hand aus und drückt kurz meine. »Danke, Kindchen«, flüstern ihre Lippen dabei. Einen Moment später sinken ihre Lider herab, ebenso ihre Hand.

Erschrocken halte ich die Luft an, doch dann sehe ich, dass sich ihr Brustkorb auf und ab bewegt, und lasse sie wieder entweichen.

»Sie sollten jetzt gehen«, erklingt es hinter mir. »Frau Miller braucht Ruhe.«

Schweren Herzens drehe ich mich um und verlasse das Zimmer. Hannah ignoriere ich, während ich zurück zur Haustür gehe. Vor dem Grundstück bleibe ich stehen und überlege, was ich jetzt tun soll. 

Mein Kopf fühlt sich leer an, in meiner Brust ist ein dumpfer Druck. Zum ersten Mal setze ich mich damit auseinander, dass ein mir nahe stehender Mensch bald nicht mehr da sein wird. Ich kenne Hedwig erst so kurz, aber irgendwie ist mir diese schrullige alte Lady ans Herz gewachsen. Für die kurze Zeit sogar erstaunlich sehr. Sie kann doch jetzt nicht einfach still und heimlich gehen. Sie sollte einen ordentlichen Abgang hinlegen, der ihrem aufregenden Leben gerecht wird!

Langsam setzen sich meine Füße in Bewegung. Ich gehe die Straße entlang, ohne ein Ziel vor Augen zu haben. Immerzu kreist der Gedanke von einen baldigen Verlust in meinem Kopf. Der Kloß in meinem Hals drückt unangenehm, ich schlucke mühsam an ihm herum, bekomme ihn aber nicht weg. Schließlich erreiche ich einen Eingang des Stadtparks und beschließe, eine Runde darin zu drehen. Die frische Luft wird mir bestimmt guttun.

Als ich zwei Stunden später zu Hause ankomme, hat das lähmende Gefühl, das mich fest im Griff hatte, etwas nachgelassen. Hedwigs Tod wird mich härter treffen, als gedacht, aber so ist nun mal der Lauf der Dinge. Die Frau hatte ein langes und scheinbar auch erfülltes Leben. Dass sie nicht ewig da sein wird, ist ja wohl klar.

Ich rufe meine Mutter an, da wir uns bereits eine Weile nicht gesprochen haben. Es tut gut, ihre Stimme zu hören, und vertreibt auch den Rest der bedrückenden Stimmung, in der ich mich befunden habe.

Nachdem wir uns eine gute halbe Stunde unterhalten haben, in der sie mir von dem neuen Mann in ihrem Leben erzählt hat, lege ich auf und verkrieche mich im Bett. Das beklemmende Gefühl kehrt zurück und behält mich für den Rest der Nacht fest in seinen Klauen.

 


Den nächsten Tag arbeite ich und habe keine Zeit, mich um Hedwig zu sorgen. Doch nach meiner Schicht mache ich einen Abstecher zu ihr nach Hause und werde mit dem konfrontiert, wovor ich mich so gefürchtet habe. Die alte Dame ist tot. In der Nacht friedlich eingeschlafen, wie Hannah mir an der Haustür verkündet. In ihrem Gesicht sind keinerlei Emotionen zu sehen. Ob sie es einfach nur nicht zeigt oder wirklich nichts dabei empfindet, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass ich selbst unglaublich traurig bin. Ja, mich geradezu niedergeschmettert fühle.

»Hier ist meine Nummer«, flüstere ich und reiche der Pflegerin einen Zettel, auf den ich schnell meine Handynummer gekritzelt habe. »Bitte sagen Sie mir Bescheid, wann Hedwig beigesetzt wird. Ich weiß, dass Sie mich nicht mögen, aber ich würde mich wirklich gerne von Frau Miller verabschieden.«

Sie nimmt mir den Zettel ab und nickt schmallippig. Ich kann nur hoffen, dass sie ihn nicht gleich wieder wegwirft.

Zu Hause setze ich mich aufs Sofa und lasse die angestauten Tränen endlich laufen. Die Stille in meiner dunklen Wohnung wird von vereinzelten Schluchzern meinerseits durchbrochen, bis auch diese langsam verebben. Dann greife ich nach meinem Handy und schreibe meinen Schwestern, ob sie heute Zeit hätten, etwas mit mir zu unternehmen. Beide sagen ab, da sie andere Verpflichtungen haben. Ich lege das Handy wieder zur Seite und starre geradeaus auf den ausgeschalteten Fernseher.

Ich kann nicht beschreiben, was ich fühle, weiß noch nicht einmal, wieso Hedwigs Tod mich so hart trifft. Sie war nicht meine Großmutter, für Außenstehende wahrscheinlich nicht einmal eine richtige Freundin, da wir uns nur so kurz kannten. Bloß eine Bekannte, für die ich hin und wieder gebacken habe. Und doch ist da dieser schwere Druck in meiner Brust, der mir fast den Atem raubt, und gleichzeitig diese furchtbare Leere in mir.

Das Piepsen meines Handy kündigt eine Nachricht an. Von Benjamin. Es ist die erste seit dem gestrigen Tag, denn heute Mittag hat er mir nicht wie gewohnt geschrieben.

Entschludige, dass ich mich erst jetzt melde, lese ich. Emma, ich habe heute jemanden verloren, der mir unbeschreiblich viel bedeutet. Das nimmt mich sehr mit. Ich hoffe, du hast Verständnis dafür, dass ich erst einmal Zeit für mich brauche, bevor ich mich auf andere Dinge konzentrieren kann. Ben

Entsetzt schüttele ich den Kopf. »Oh, nein«, murmele ich betroffen. Er muss seine Nichte meinen, die den Kampf gegen diese furchtbare Krankheit verloren hat. Und plötzlich spüre ich seinen Schmerz so intensiv, dass mir erneut die Tränen kommen.

Das tut mir wahnsinnig leid, schreibe ich zurück. Meine Finger zittern ein wenig. Was soll ich ihm noch sagen? Wie kann ich in Worten ausdrücken, was ich fühle? Welche Worte können seinen Schmerz lindern? Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Ich denke an dich, füge ich noch hinzu und schicke die Nachricht ab. 

Dann stehe ich auf und gehe in die Küche, um zu backen. Ich backe bis tief in die Nacht hinein, fahre zwischendurch sogar noch einmal in den Supermarkt und besorge noch mehr Zutaten. Irgendwann ist meine Küche vollgestellt mit Muffins, Küchlein und anderem Gebäck. Schließlich lasse ich mich auf den Boden sinken und lege meinen Kopf auf den Armen ab, die ich über meinen Knien verschränkt habe. 

Mir geht es ein wenig besser, auch wenn die Traurigkeit noch nicht ganz verflogen ist. Ich sage mir, dass zu einem langen Leben nun mal auch der Tod gehört. In Hedwigs Fall tröstet es mich sogar, aber wenn ich an Benjamins kleine Nicht denke, empfinde ich bloß großes Bedauern. Ich weiß nicht, wie alt sie letztendlich geworden ist, aber sie muss noch recht jung gewesen sein. Sie hatte nicht einmal die Chance, erwachsen zu werden und ihre ganz eigenen Abenteuer zu erleben. Das ist nicht fair!

Mit einem tiefen Seufzer komme ich zurück auf die Füße und beginne, die Küche aufzuräumen. Als ich fertig bin, schaffe ich es gerade noch so ins Bett, bevor mir die Augen vor Erschöpfung zufallen.

Am nächsten Morgen verteile ich die ganzen Backwaren an meine Nachbarn und an die Leute draußen, die etwas abhaben möchten, ohne mich anzusehen, als würde ich sie vergiften wollen. Anschließend mache ich mich fertig und fahre zur Arbeit. Dort übernehme ich jede noch so lästige Aufgabe, die jemand loswerden möchte, um mich von meinen Gedanken und Gefühlen abzulenken.

Erst am Abend ruft Anja an und fragt, ob ich das am Vortag abgesagte Treffen nachholen möchte. Ich sage dankbar zu, denn es graut mir davor, in meine leere Wohnung zurückzukehren und mich dort mit dem Tod zweier Menschen auseinanderzusetzen. Und mit dem Verlust, den dieser hinterlassen hat.

»Emma, was ist los? Du siehst furchtbar aus«, begrüßt Anja mich an ihrer Tür und mustert mich besorgt. »Hast du nicht geschlafen?«

»Kaum«, erwidere ich mit einem müden Lächeln. »Ich erzähle dir alles bei einem Kaffe. Hier ...« Ich halte eine Tüte hoch. »Ich habe sogar Gebäck mitgebracht.«

Wir gehen in die Küche, wo meine große Schwester gleich Kaffee aufsetzt. Ich starre an die Wand, die von einem bunten Bild überdeckt wird, bis Anja mich erneut anspricht.

»Was ist passiert?«, fragt sie noch einmal.

»Ich habe dir doch von der alten Frau erzählt, für die ich gebacken habe«, beginne ich und spüre, wie mich erneut das bedrückende Gefühl der letzten Tage erfasst. Und meine Augen brennen. »Sie ist gestern gestorben.«

»Oh, nein. Das nimmt dich ganz schön mit, oder?« Sie tritt zu mir und streicht mir über den Oberarm.

»Ja. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich kannte sie ja kaum.« Der Kloß in meinem Hals ist auch wieder da.

»Na und? Du hattest sie gern, deshalb bist du jetzt traurig. Das ist doch ganz normal. Du darfst um diese Frau trauern, Emma, es ist in Ordnung.«

Ich nicke langsam, spüre das Kribbeln hinter meinen Augenlidern. »Das ist noch nicht alles«, fahre ich leise fort. »Ich glaube, Benjamins Nichte hat es auch nicht geschafft.«

Anjas Augen weiten sich leicht. »Wieso glaubst du das?«

»Wir ... haben da etwas abgemacht. Er schreibt mir jeden Tag etwas über sich, und gestern schrieb er, dass er jemanden verloren hätte, der ihm viel bedeutet. Ich vermute, dass er seine Nichte gemeint hat.«

Sie schaut mich noch einen Moment lang an, dann hält sie sich die Hand vor den Mund. »Gott, das ist furchtbar! Der Arme.«

»Hat Roni nichts erzählt?«, hake ich nach.

»Nein, wir haben das letzte Mal am Wochenende miteinander gesprochen.« Anja geht zurück zur Küchenzeile und füllt zwei Becher mit dem fertigen Kaffee. Dann setzen wir uns an den Tisch.

»Irgendwie bin ich seit gestern neben der Spur«, gebe ich zu und nehme einen vorsichtigen Schluck. »Ich fühle mich merkwürdig. Traurig, leer, bedrückt. Gestern habe ich stundenlang gebacken, um mich abzulenken.« Ich deute auf die Tüte mit dem Gebäck.

Meine Schwester lächelt mitfühlend. 

»Ich habe auch geweint. Viel geweint«, fahre ich fort. »Und ich habe so viel nachgedacht. Was, wenn plötzlich Mama etwas passiert oder euch? Oder Papa, während ich immer noch wütend auf ihn bin. Ist das Leben nicht zu kurz, um einem geliebten Menschen so lange etwas vorzuwerfen und deshalb wütend auf ihn zu sein? Sollte ich ihm nicht langsam vergeben und die Zeit, die uns bleibt, besser nutzen?«

»Es ist ganz natürlich, dass du dir jetzt solche Gedanken machst, Em.« Anja greift rüber und drückt meine Hand. »Auch wenn du dich meist abschottest und ungerne jemanden nah an dich ranlässt, bist du immer noch ein Mensch, der sehr sensibel ist. Für Außenstehende magst du hart erscheinen, aber ich kenne dich. Dich und deinen weichen Kern. Es hätte mich gewundert, wenn du nicht so mitgenommen wärst. Und zu deiner Frage - ja, vielleicht ist es wirklich Zeit, Paps zu vergeben. Ich glaube, es würde dir guttun, wieder mit ihm zu reden.«

Ich senke den Blick, weil meine Augen ganz feucht werden. Anja setzt sich zu mir rüber und nimmt mich in den Arm. 

»Lass es ruhig zu, Emmi«, flüstert sie dabei. »Vertraue mir, es wird dir helfen, einfach alles rauszulassen. Und ich bin der letzte Mensch, vor dem du dich deswegen schämen müsstest.«

Wir bleiben lange in der Küche sitzen und reden bis tief in die Nacht hinein. Zwischendurch muss ich immer mal wieder weinen, was mir ziemlich unangenehm ist. Ich bin nicht so der Mensch, der gerne offen seine Gefühle zeigt. Zumindest dann nicht, wenn es etwas anderes als Wut ist. Aber Anja hat recht - es hilft mir sehr, mich an ihr anlehnen zu können. Danach fühle ich mich irgendwie befreit. Klar, die Trauer wird mich sicher noch eine Weile begleiten, aber wenigstens konnte ich sie mit jemandem teilen und damit etwas von diesem zentnerschweren Gewicht abladen.

»Du kannst gerne hier bleiben«, sagt Anja später, als uns beiden schon die Augen zufallen.

»Kann ich auch bei dir im Bett schlafen?«

Sie lächelt. »Natürlich. Ich hole ein Kissen und eine Decke. Du kannst dich ja solange fürs Bett fertig machen.«

Kurz darauf liegen wir in Anjas großem Bett. Ich starre an die Decke und merke, dass ich jeden Moment einschlafen werde.

»Danke, Anja«, murmele ich noch mit schwerer Zunge. »Das hat mir echt gutgetan.«

»Sehr gerne«, erwidert sie und klingt ebenfalls schon ziemlich weggedriftet. »Ich bin deine Schwester und immer für dich da.«

Ja, das ist sie. Und für meine Familie kann ich wirklich mehr als dankbar sein. Für jeden von ihnen. Auch für die Person, die ich in den vergangenen Jahren hartnäckig aus meinem Leben verbannt habe. Und die mir ganz, ganz furchtbar fehlt.

Kapitel: 22

 


Meine Tage sind gut gefüllt mit Arbeit und einigen Extraschichten, die ich für eine kranke Kollegin übernehme, um möglichst wenig zu Hause zu sein, wo mir bloß die Decke auf den Kopf fallen würde. Ich fühle mich bald schon erschöpft und ausgelaugt, aber das ist mir allemal lieber als die Trauer und Leere, die ich nach Hedwigs Tod verspürt habe. Langsam finde ich mich damit ab, dass die einzigartige alte Lady nur einen kurzen Auftritt in meinem Leben haben durfte, der jedoch seine Spuren hinterlassen hat. Ich weiß noch nicht, wie weit diese reichen, aber ich bin mir im Klaren darüber, dass sie mich auf die eine oder andere Weise beeinflussen werden.

Wenn ich nicht an Hedwig denke, dann schwirrt mir Benjamin durch den Kopf. Er hat sich seit seiner letzten Nachricht nicht mehr gemeldet. Wahrscheinlich wird es eine Weile dauern, bis er diesen Schicksalsschlag verarbeitet hat. Eine sehr lange Weile. Er tut mir leid. Ja, ich verspüre nicht länger nur Wut oder Abneigung, wenn es um Benjamin Mynard geht. Aber was wäre ich auch für ein Mensch, wenn ich ihm in seiner jetzigen Situation kein Mitgefühl entgegen bringen würde? Ein schlimmeres Monster als jenes, für das ich ihn hielt, als ich herausgefunden habe, wer er wirklich ist.

Schließlich bekomme ich eine Nachricht von Hannah, in der sie mir mitteilt, wann und wo Hedwigs Beisetzung stattfindet. Das macht ihren Tod so richtig endgültig. Bis dahin hat ein Teil von mir wohl noch gedacht, Hannah hätte mich belogen, um mich loszuwerden. Aber nein. Die alte Lady ist tot und nun ein Stern am Firmament, nicht länger ein ehemaliger Star aus Hollywood.

Seufzend stecke ich mein Handy zurück in die Jackentasche und setze meinen Weg zu der Verabredung mit meinen Schwestern fort. Kurz darauf betrete ich das kleine Restaurant in der Nähe von Ronis Wohnung.

Zu meiner Überraschung ist auch Elias mit dabei. Ich schaue mich um, in Erwartung, auch seinen besten Freund anzutreffen, aber der taucht nirgendwo auf. Ein Teil von mir ist ziemlich enttäuscht darüber.

»Emma!« Roni winkt mir zu. »Hier sind wir.«

Ich setze mich zu ihnen an den Tisch und hänge meine Strickjacke über die Stuhllehne, nachdem ich jeden einzeln begrüßt habe. Aus dem Augenwinkel nehme ich Anjas leicht besorgten Blick wahr und schenke ihr ein beruhigendes Lächeln. Ich weiß, dass ich ziemlich fertig aussehe, aber sie kennt ja auch den Grund dafür und muss sich wirklich keine Sorgen machen. In ein paar Tagen hat sich die Traurigkeit sicher komplett gelegt, immerhin dauert sie schon lang genug an. Das Leben geht weiter und erwartet von mir, dass ich wieder auf die Beine komme. Ich muss arbeiten und Rechnungen zahlen, denn meinem Vermieter und der Bank ist es ziemlich schnuppe, welchen Verlust ich erlitten habe.

Nachdem eine junge Servicekraft uns das georderte späte Frühstück gebracht hat, erklärt Roni den eigentlichen Grund für das Treffen.

»Wir wollen demnächst wieder für ein verlängertes Wochenende nach Spanien. Und wir würden dich wirklich gerne mitnehmen, Emmi. Diesmal soll es jedoch keine böse Überraschung für dich geben«, wendet sie sich dabei an mich. »Ben wird uns begleiten. Er … Ihm geht es im Moment nicht so gut, daher hoffen wir, dass er sich dort etwas ablenken kann. Es wäre schön, wenn -«

Ich unterbreche sie mit einem Kopfschütteln. »Schon gut. Ich habe nichts dagegen, dass er mitkommt.«

Überrascht sieht sie mich an. »Echt nicht?«

»Zwischen uns herrscht Waffenstillstand.« Mir fällt auf, dass ich bisher nur Anja davon erzählt habe, welche Entwicklungen in letzter Zeit stattgefunden haben, was womöglich daran liegt, dass ich Roni nicht mehr so oft zu Gesicht bekomme. Ich arbeite so viel, trauere noch viel mehr, und sie ist mit ihrem eigenen Leben schwer beschäftigt.

»Das ist ja super!«, sagt Roni nun begeistert. »Also bist du mit dabei?«

»Ich muss erst sehen, ob ich frei bekomme.«

»Jordan kommt ja mit, also wird er dir sicher auch frei geben«, wendet sie ein. »Dafür sorge ich schon«, fügt sie am Ende mit einem Zwinkern hinzu und klatscht in die Hände. »Ach, ich freue mich! Das wird toll!«

Ich lächele zögernd und ignoriere mein etwas schnelleres Herzklopfen. Ich weiß, wieso dieser nervige Muskel auf einmal so hochfährt, und ich möchte es einfach nur verdrängen.

Den Rest des Frühstücks verbringe ich immer mal wieder in Gedanken, was nun auch Roni auffällt. Als Elias schließlich auf Toilette verschwindet, fragt sie mich, ob bei mir alles in Ordnung ist. Und so erzähle ich auch ihr von Hedwigs Tod, woraufhin sie in ihrer gewohnt herzlichen Art mich in einer festen Umarmung fast erdrückt.

»Dann kannst du diese kleine Auszeit umso mehr gebrauchen«, lauten ihre anschließenden Worte, bevor sie ernst wird. »Weißt du, Ben … ähm … macht gerade einiges durch. Und wenn ihr wirklich Waffenstillstand beschlossen habt, ist das echt gut.«

Ich schaue unauffällig zu Anja. Roni weiß ja nicht, dass unsere große Schwester mir bereits von Benjamins Nichte erzählt hat. Oder dass er mir Nachrichten geschrieben und seinen Verlust dabei erwähnt hat. Das verrate ich ihr allerdings auch noch nicht, denn sie würde bloß nachbohren, bis sie mich ausgequetscht hat wie eine Zitrone. Und mir ist im Moment nicht danach, ihr von Benjamins und meiner Abmachung zu erzählen. Ich blicke ja selbst nicht mal dahinter, wieso ich mich darauf eingelassen habe, da brauche ich keine Roni, die mir sonst was einredet.

Elias kehrt zurück, und ich bin froh, dass meine Schwester ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Liebsten widmet. Wäre ich nicht so damit beschäftigt, gegen gewisse Empfindungen und Gedanken anzukämpfen, würde ich mir das Mysterium >Roni und ein fester Freund< sicher etwas genauer anschauen und sie irgendwann später damit aufziehen. So aber starre ich auf meinen Teller und bin körperlich zwar anwesend, aber in Gedanken ganz woanders.

Bis zum Abend bin ich fast ununterbrochen unterwegs. Nach dem Essen mit meinen Schwestern muss ich noch für ein paar Stunden im Restaurant einspringen und anschließend treffe ich mich mit Leon, der heute in meiner Nähe etwas zu erledigen hat. Wir schlendern durch einen kleinen Park nicht weit von meiner Wohnung entfernt und setzen uns dann in ein Café, um noch etwas zu trinken. Es tut so gut, Zeit mit meinem kleinen Bruder zu verbringen. Er sieht die Dinge mit etwas mehr Abstand – und vor allem mit den Augen eines Mannes – und kann mir eine andere Sichtweise offenlegen als Anja oder auch Roni, wenn ich sie einweihen würde. Deshalb erzähle ich ihm schließlich von dem Waffenstillstand mit Benjamin samt unserer Abmahnung und frage ihn, was er davon hält.

»Möchtest du wissen, ob er in meinen Augen noch auf dich steht?«, hakt Leon daraufhin nach.

»Nein!«, erwidere ich etwas zu laut und schüttele den Kopf. »Das ist mir egal. Ich möchte nur wissen, ob es Sinn macht. Ob du glaubst, dass er und ich … Freunde oder etwas in der Art sein könnten.«

Leon lehnt sich etwas zurück und denkt kurz nach, bevor er antwortet: »Ich könnte wahrscheinlich nicht mit der Frau befreundet sein, mit der ich was hatte. Früher oder später führt das doch nur zu Problemen. Entweder will ich immer noch was von ihr oder umgekehrt. In deinem Fall kommt noch hinzu, dass du wegen ihm dein Café verloren hast und es ihm immer noch übelnimmst.«

Mit gerunzelter Stirn starre ich auf die Tischplatte und denke über seine Worte nach.

»Stehst du noch auf ihn?«

Ich schaue wieder auf und möchte sofort verneinen, aber ich zögere. Verlegen zucke ich mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

»Wie, keine Ahnung? Entweder du willst noch was von ihm oder nicht. Das ist nicht so kompliziert, Em. Du machst es dir bloß schwerer als nötig.«

»So einfach ist es nicht«, wende ich ein. »Ich glaube, ich bin total bekloppt, weil ich … naja, irgendwie noch auf ihn stehe. Ich müsste ihn verachten, weil er mich belogen hat, aber ich tu es nicht mehr.« Vor Leon fällt es mir gar nicht so schwer, es zuzugeben. Es war viel härter, sich das selbst einzugestehen. Roni werde ich das definitiv nicht sagen, denn sie plant dann garantiert etwas, um mir ihrer Meinung nach auf die Sprünge zu helfen. Und das brauche ich auf gar keinen Fall. Unser Bruder ist nicht so involviert in die Sache, daher fällt es mir leichter, mit ihm darüber zu sprechen.

»Du bist nicht die erste Frau, die auf ein Arschloch steht«, durchbricht Leons Stimme meine Überlegungen.

»Das ist ja das Problem – er ist nicht durch und durch Arschloch. Wenn es nach allen geht, ist er es gar nicht, und so langsam sehe ich es auch so.«

»Dann lass dich doch einfach auf ihn ein. Schnapp ihn dir und erteile ihm eine Lektion dafür, dass er dich belogen hat.« Mein Brüderchen grinst vielsagend. »Verpass ihm ordentlich blaue Eier.«

»Oh, nee. Leon, darüber möchte ich mich nicht mit dir unterhalten.« Ich lache, um von meinen erhitzten Wangen abzulenken. Vor meinem geistigen Auge sehe ich auf einmal die Bilder der gemeinsamen Nacht mit Benjamin und spüre ein heftiges Ziehen im Unterleib, weil sie mich ganz schön anmachen.

Später, als ich allein in meiner Wohnung bin, wiege ich mein Handy in einer Hand und überlege, Benjamin einfach zu schreiben. Ein Mensch, der emotional nicht komplett verkrüppelt ist, würde einen anderen doch fragen, wie es ihm geht, nachdem er erfahren hat, dass der andere einen Verlust erlitten hat. Das ist ein ganz normales Verhalten empathischer Menschen. Und noch halte ich mich für so jemanden, auch wenn ich hin und wieder durchdrehe und mein Umfeld mit meinen Launen ärgere.

Ich tippe eine kurze Nachricht ein, hadere noch ein paar Minuten mit mir selbst und schicke sie schließlich ab.

Um nicht ununterbrochen auf das Display zu starren und auf eine Antwort zu warten, lege ich mich aufs Sofa und schalte den Fernseher ein. Scheinbar bin ich so müde, dass ich innerhalb kürzester Zeit einschlafe.

Mitten in der Nacht werde ich wieder wach und richte mich stöhnend auf. Das Sofa ist wirklich unbequem, und mein Rücken beschwert sich bereits. Ich schalte den Fernseher aus, schnappe mir mein Handy und gehe ins Schlafzimmer. Dabei entdecke ich Benjamins Antwort auf dem Display.

Es wird wieder. Danke der Nachfrage. Ben

So förmlich und distanziert. Aber worauf habe ich sonst gehofft? Dass er mir sein Herz ausschüttet? Mir, der Frau, die ihm ständig zu verstehen gegeben hat, dass er sie in Ruhe lassen soll? Der Person, die ihn schon mal geschlagen und ihm mitgeteilt hat, sein Tod wäre die Lösung ihrer Probleme?

Nein, so jemandem würde ich mich auch nicht in so einer Situation anvertrauen. Auch wenn zwischen uns mittlerweile Waffenruhe herrscht.

Ich lege das Handy auf den Nachtschrank, ziehe mir schnell meine Schlafsachen an und verziehe mich ins Bett. Es ist, wie es ist, und das muss ich akzeptieren.

 

 

***

 


Wie von Roni vorausgesagt, gibt Jordan mir für den Trip nach Spanien frei. Auch im Restaurant schiebe ich einige zusätzliche Schichten, um einen Tag früher ins Wochenende starten zu können.

Und um Hedwigs Trauerfeier zu besuchen. Diese findet an einem symbolisch regnerischen Donnerstagmorgen statt. Und als ich in der Kirche sitze und den Worten des Pfarrers oder Priesters lausche, weiß ich, dass Hedwig es nicht gemocht hätte. Die Aussagen sind viel zu förmlich und langweilig. So, wie die alte Lady überhaupt nicht gewesen ist. Ich hätte mehr Musik, mehr Lachen und vor allem mehr Leben erwartet, um sie gebührend zu verabschieden. So aber sitzen die wenigen Anwesenden mit ausdruckslosen Gesichtern da, und ich schreie innerlich, während ich es nach außen hin ihnen gleichtue.

Später, als ich am nun zugeschaufelten Grab stehe, wische ich mir über die nassen Wangen und verabschiede mich richtig von meiner Freundin. »Sie hätten es verdient, dass jemand eine Rede hält, der sie gekannt und gemocht hat«, murmele ich dem Haufen Erde vor mir entgegen. »Ich hoffe, Sie wissen, dass ich hier bin, weil ich sie sehr gern hatte. Und ich bin traurig, dass sie so schnell aus diesem Leben verschwunden sind. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit mit Ihnen verbringen dürfen. Ich hätte so gerne noch mehr von Ihren Geschichten gehört, Ihnen eine Million Törtchen gebacken und mir dabei von Ihnen sämtliche liebevolle Beleidigungen angehört, um später ihren Kerngehalt zu analysieren und Ihre Weisheiten aufzusaugen. Sie haben mich aus einem tiefen Loch geholt, was mir erst vor Kurzem aufgefallen ist, deswegen konnte ich Ihnen nicht persönlich dafür danken.« Schniefend schiebe ich meinen Ärmel runter und wische mir über die Nase. »Aber eins verspreche ich Ihnen, Hedwig, ich werde mir Mühe geben, mein Leben richtig zu leben. Ich habe das Gefühl, ich würde Sie beleidigen, indem ich es so verschwende. Und dann werde ich mich mit über achtzig in ein Café setzen und Frauen, die im Selbstmitleid baden, verbal in den Hintern treten, damit sie auf die Beine kommen und ihr Leben in die Hand nehmen.« Mit einem letzten geflüsterten »Danke« wende ich mich ab und gehe nach Hause, um ganz in Ruhe trauern zu können. 

 


Während ich am nächsten Morgen meinen kleinen Koffer hinter mir die Treppe runterziehe, bereite ich mich innerlich darauf vor, Benjamin bald wiederzusehen. Ich bin aufgeregt und nervös, rede mir aber ein, es wäre bloß Vorfreude auf die Auszeit am Meer. Die ist zwar auch vorhanden, aber die anderen Empfindungen überwiegen.

Als ich aus der Tür trete, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Vor mir am Straßenrand steht der riesige schwarze Wagen, und sein Besitzer steigt soeben aus und kommt mir entgegen.

»Wo ist Roni?«, bringe ich anstelle einer Begrüßung hervor, sobald er direkt vor mir stehen bleibt. Eigentlich wollten meine Schwester und Elias mich mit zum Flughafen nehmen.

»Sie ist etwas spät dran. Ist es in Ordnung, wenn du bei mir mitfährst?«, entgegnet Benjamin und bietet mir mit einer Geste an, den Koffer zu nehmen. Er ist attraktiv wie eh und je, aber man sieht ihm auch an, dass er in letzter Zeit nicht viel geschlafen haben muss. Und das Lächeln auf seinen Lippen erreicht nicht seine Augen. Mein Herz wird bei diesem Anblick etwas schwerer.

Zögernd überlasse ich ihm mein Gepäck und folge ihm zum Wagen. Nachdem ich eingestiegen bin, verstaut er es im Kofferraum und nimmt neben mir Platz.

Es ist merkwürdig, wieder in dem butterweichen Leder zu sitzen. Auch wenn die Bilder verschwommen sind, erinnere ich mich noch an das erste und letzte Mal in Benjamins Auto. Damals, nach der Hochzeit, bevor ich eingeschlafen und neben ihm im Bett wieder aufgewacht bin. Ich schlucke mein Unbehagen herunter und verdränge das Flattern in meinem Magen. Ich sollte mich allmählich daran gewöhnen, dass es passiert ist, und nun nach vorne blicken, denn ich habe Benjamin eine zweite Chance eingeräumt. Wenn ich mich weiterhin an die vergangenen Ereignisse erinnere, kommt alles wieder hoch. Nicht nur Begehren und Verlangen, sondern auch Wut und Enttäuschung darüber, dass er mich belogen hat. Muss das sein? - Nein. Ich möchte die Auszeit in Spanien genießen, nicht viel nachdenken, sondern mich treiben lassen. Wenigstens für ein paar Tage, bevor mich der Alltag wieder zurück hat.

Die Fahrt zum Flughafen verläuft zunächst schweigend, und ich zermartere mir den Kopf darüber, wie ich diese unschöne Stille beenden könnte. Mir möchte partout nichts einfallen, was ich sagen könnte. Alles, was mir in den Sinn kommt, klingt irgendwie blöd.

»Tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe«, durchbricht Benjamin schließlich das Schweigen. »Ich hatte viel um die Ohren, musste einiges organisieren.«

»Schon gut«, beeile ich mich zu sagen. »Ich verstehe es. Du hast andere Dinge im Kopf gehabt.« Mein Gott, der Mann hat seine kleine Nichte verloren, da ist unsere Vereinbarung, er würde mir jeden Tag etwas von sich schreiben, völlig nebensächlich!

»Hat Roni dir erzählt, was passiert ist?« Er bedenkt mich mit einem flüchtigen Seitenblick.

»Nein. Ich weiß nur, dass du jemanden verloren hast, der dir nahestand. Durch deine Nachricht«, schwindele ich. Hierbei ist eine Notlüge erlaubt, denn ich möchte Anja wirklich nicht als Tratschtante hinstellen. Sie wollte bloß den Streit zwischen Roni und mir schlichten, als sie mir von seiner Nichte und ihrer Krankheit berichtete.

»Möchtest du wissen, was passiert ist?«

Ich schlucke hart. Am liebsten würde ich nein sagen. Nicht, weil ich ein herzloses Miststück bin, aber ich weiß absolut nicht, wie ich damit umgehen soll, wenn ich es ganz offiziell erfahre. Wie soll ich mich dann verhalten? Wie soll ich ihm vermitteln, wie leid mir sein Verlust tut? Und was zum Teufel soll ich tun, wenn er plötzlich losweint? Zwar kann ich mir nur schwer vorstellen, dass Benjamin seinen Gefühlen auf diese Weise freien Lauf lässt, aber hundertprozentig wissen tue ich es nicht. Vor einigen Tagen war ich noch enttäuscht darüber, dass er in seiner letzten Nachricht so unpersönlich geklungen hat, und jetzt wünsche ich mir, irgendwo anders zu sein und nicht hier neben ihm, damit es nicht persönlicher wird.

»Es ist in Ordnung, wenn du es nicht möchtest«, fährt er fort, als könnte er meine Gedanken lesen. »Ich möchte nur nicht, dass du dich ausgeschlossen fühlst.«

Ich schaue kurz zu ihm und wende den Blick wieder ab. Er hat seine Nichte verloren und macht sich Sorgen darüber, dass ich mich ausgeschlossen fühlen könnte. Das sagt so einiges über ihn aus. Weniger Arschloch in einem Menschen geht wohl kaum.

»Ich fühle mich nicht ausgeschlossen«, sage ich schließlich. »Ich könnte mir vorstellen, dass es dir nicht leicht fällt, über deinen Verlust zu sprechen, deshalb fühl dich nicht dazu genötigt, okay? Es geht mich ja auch gar nichts an und ist deine Angelegenheit.«

»Alles klar.«

Ich schaue erneut zu ihm und sehe, dass er die Stirn gerunzelt hat. Er sieht nicht froh darüber aus, dass ich ihm ein schweres Gespräch erspart habe. Ich überlege, ob ich etwas Falsches gesagt habe, als auch schon das riesige Gebäude des Flughafens in naher Ferne auftaucht. Etwas in mir pocht darauf, ihm doch noch ein offenes Ohr anzubieten, aber ich ignoriere es und richte meinen Blick starr nach vorne.

»Ich lasse dich am Eingang raus«, informiert mich Benjamin und lenkt den Wagen an die Seite. »Die anderen sind wahrscheinlich schon da. Wenn nicht, dann warte auf mich, bis ich den Wagen geparkt habe.«

Kurz darauf steigen wir beide aus, er holt meinen Koffer aus dem Gepäckraum, überreicht ihn mir und fährt dann weiter. Ich schaue dem großen Fahrzeug nach und habe das Gefühl, dass in den vergangenen Minuten gründlich etwas schiefgelaufen ist. Und dafür bin ich verantwortlich.

Kapitel: 23

 


Vom Zielflughafen bis zum Ferienhaus teile ich mir das Taxi mit Anja, Roni und Elias. Jordan, seine Liebste sowie Ben, Sandy und ihr Göttergatte nehmen ein gemietetes Fahrzeug. Während der Fahrt beschließe ich, in diesem kurzen Urlaub keine Minute mehr zu grübeln und stattdessen nur zu entspannen oder Spaß zu haben. Das habe ich mir nach den vergangenen anstrengenden Wochen mehr als nur verdient.

Sobald wir angekommen sind, verziehen Anja und ich uns in das gemeinsame Zimmer und laden das Gepäck ab. Anschließend tausche ich meine Jeans und den Pulli gegen ein luftiges Kleid und eine dünne Strickjacke, da es hier doch wesentlich wärmer ist als im verregneten Deutschland.

Um uns in Urlaubsstimmung zu bringen, wandern wir alle kurz darauf runter zum Strand und steuern eine der Bars an. Ich bin froh, dass ich endlich mal nicht hinter dem Tresen stehen muss, sondern mich bedienen lassen kann. Und so ordere ich gleich meinen Lieblingscocktail und nehme einen kräftigen Schluck, als sich dieser schließlich bunt und kühl in meinen Händen befindet.

»Das habe ich gebraucht«, richte ich an Anja, die neben mir auf der halbmondförmigen Bank sitzt. »Süßen Alkohol, eine warme Brise und das Rauschen der Wellen im Hintergrund.« Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Nur für einen Moment.

Scheinbar habe ich den kurzen Urlaub wirklich sehr dringend gebraucht, denn ich schlafe nur wenige Minuten später in dieser Position ein. Erst als Anja mir ihren Ellbogen in die Seite stößt, fahre ich erschrocken hoch und schaue mich panisch und verwirrt um.

»Scheiße, bin ich eingeschlafen?« Peinlich berührt fahre ich mir durch die Haare und über die Stirn. Mist, wie konnte das denn passieren?

»Ja, und du hast geschnarcht und gesabbert.« Roni, die mir gegenüber sitzt, grinst mich feixend an.

»Hast du nicht.« Anja schüttelt den Kopf und streicht mir eine Strähne hinters Ohr. »Du bist ganz schön fertig, Emma«, bemerkt sie dann.

»Kann schon sein.« Ich lehne mich wieder zurück und zucke mit den Schultern, während ich alle anderen Blicke ignoriere. Ich kann nur hoffen, dass ich nicht wirklich geschnarcht oder gesabbert habe. Wäre sonst echt megapeinlich!

Die nächsten Minuten nippe ich an meinem nun nicht mehr ganz so kühlen Cocktail und lausche den Gesprächen um mich herum.

Sandy erzählt von irgendeinem Luxushotel, in dem sie unbedingt mal absteigen möchte, Jordan überlegt, ob seine Cocktails besser schmecken als die hiesigen, und dann vernehme ich die leise Stimme von Benjamin. Er spricht mit … Maria. Ich habe nicht einmal mitbekommen, dass sie auch hier aufgetaucht ist. Wie lange habe ich wohl geschlafen?

Unauffällig schaue ich zu den beiden rüber und ignoriere den fiesen Stich in meiner Brust, als ich sehe, wie vertraut sie miteinander umgehen. Er hat sich zu ihr rüber gebeugt, und ihre Hand ruht auf seinem Unterarm. Ich bin nicht eifersüchtig, nö, gar nicht. Zumindest möchte ich es nicht sein und wende meinen Blick deshalb gleich wieder ab.

Nicht grübeln, ermahne ich mich erneut. Benjamin Mynard ist ein freier Mann und darf tun und lassen, wonach ihm der Sinn steht. Wenn er unbedingt mit Maria kuscheln möchte - so nah, wie sie beieinander sitzen, ist das gar nicht so abwegig -, dann soll er es tun. Mir egal.

Ich trinke schnell den Cocktail aus und gehe zum Bartresen, um mir einen neuen zu bestellen. Ein junger Typ lächelt mich interessiert an, und auch wenn er mir optisch nicht sonderlich gefällt, sage ich freundlich hallo und unterhalte mich mit ihm auf Englisch, was bei seinem starken Akzent gar nicht so einfach ist. Als er mich schließlich auf einen Tanz einlädt, lehne ich ab und gehe zurück zu den anderen.

»Oh, warum hast du ihn stehen lassen?«, möchte Roni sogleich wissen. »Der war doch voll süß.«

»Elias, Roni findet andere Typen voll süß«, richte ich an ihren Freund anstelle einer Antwort. Ich habe keine Lust, von meiner Schwester verkuppelt zu werden.

Der tut sogleich ganz entrüstet. »Was? Wie kannst du mir das antun, Frau?«

Die beiden beginnen, sich zu kabeln, und knutschen schließlich wie Teenager herum.

»Gott, Hilfe!« Ich lehne mich zurück und bedecke meine Augen mit einer Hand. »Das kann man ja nicht mit ansehen!«

»Man gewöhnt sich daran«, bemerkt Anja lachend neben mir.

Sandy erzählt nun etwas von Liebe, Heirat und anderen Grausamkeiten, und ich unterdrücke nur mit Mühe ein genervtes Stöhnen. So viele verliebte und glückliche Pärchen können wirklich anstrengend sein, wenn man selbst weit davon entfernt ist, ein Teil eines solchen Pärchens zu sein.

»Wir gehen ein bisschen spazieren«, höre ich irgendwann Benjamins Stimme im allgemeinen Geplauder, und schaue zu ihm.

Wir, das sind er und Maria. Sie stehen soeben auf, und sie hakt sich bei ihm ein, als sie sich vom Tisch in Richtung Treppe entfernen.

Ja, super. Ich bin sowas von eifersüchtig! Und ich hasse es, wie viel es mir ausmacht, ihn mit einer anderen Frau weggehen zu sehen. Vielleicht hat ein klitzekleiner Teil von mir gehofft, unser Abkommen würde zu etwas führen. Zu etwas, worüber ich nicht ausführlich nachdenken möchte, geschweige denn es aussprechen. Und ich ärgere mich maßlos über meine zwiegespaltenen Gefühle, was Benjamin Mynard betrifft. Und über ihn. Wieso muss er mir zuerst das Gefühl geben, er hätte weiterhin Interesse an mir, nur um dann mit einer anderen Frau spazieren zu gehen? Macht es ihm Spaß, mich zu verwirren und in den Wahnsinn zu treiben? Von wegen, kein Arschloch-Potenzial!

»Emma.«

Ich drehe mich ertappt zu Anja um, als sie laut meinen Namen sagt.

Scheiße, sie hat mich hundert pro dabei erwischt, wie ich den beiden hinterher gestarrt habe! Und wahrscheinlich hat sie auch meinen Gesichtsausdruck dabei gesehen. Ob er wohl so viel preisgegeben hat, wie ich vermute?

»Wollen wir tanzen?«, lenke ich schnell ab und leere hastig meinen zweiten Cocktail. »Ich denke, ich bin angeheitert genug dafür.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, begebe ich mich auf die zum Glück gut gefüllte Tanzfläche. Während ich verzweifelt hoffe, dass meine Schwestern mir folgen, stimme ich in den Rhythmus der Musik ein. Erleichtert stelle ich kurz darauf fest, dass zumindest Roni und Selina neben mir auftauchen und mit mir tanzen. Ich verdränge jeden weiteren Gedanken an Benjamin Blödmann und lasse es zu, mal ausgelassen zu feiern, ohne mir ständig den Kopf über alle möglichen Dinge zu zerbrechen.

Ich feiere so ausgelassen, dass ich am nächsten Morgen mit einem üblen Kater aufwache. Und mit einem fürchterlichen Geschmack im Mund. Und mit vereinzelten Erinnerungen an wildes Getanze und eine Knutscherei mit einem Kerl, an dessen Namen oder Gesicht ich mich nicht einmal erinnern kann.

»Scheiße!«, stoße ich zusammen mit einem tiefen Stöhnen aus. Vorsichtig drehe ich mich zur Seite und kneife die Augen fest zusammen, als ein scharfer Schmerz durch meinen Kopf donnert. »Wieso tue ich mir so etwas an?«

Vergessen ist der Spaß, den ich am vergangenen Abend hatte. Jetzt fühle ich mich nur noch grottenschlecht. Und dazu ist da noch dieses flaue Gefühl im Magen, das mir sagt, ich solle mich unbedingt in der Nähe einer Toilette aufhalten.

Nach ein paar Minuten, in denen ich tief durchgeatmet habe, quäle ich mich aus dem Bett und tausche mein durchgeschwitztes Kleid gegen ein Top und eine lockere Hose. Anja liegt nicht in ihrem Bett, also muss sie bereits auf sein. Und wahrscheinlich auch jeder andere, denn die Sonne steht längst hoch am Himmel. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal so lange geschlafen habe.

Kurz darauf, nachdem ich mir im Bad noch schnell die Haare gebändigt und die Zähne geputzt habe, gehe ich nach unten in die Küche, wo ich mir eine Flasche Wasser nehme und sie in wenigen Zügen zur Hälfte austrinke. Das lindert den Schmerz hinter meiner Stirn ein wenig und vertreibt auch die letzten Spuren der Übelkeit. Jetzt fehlt nur noch ein kräftiger Kaffee, und dann geht es mir sicher wieder gut.

Ich blicke zur Kaffeemaschine und seufze erleichtert, weil sich noch ein warmgehaltener Rest in der Kanne befindet. »Danke, lieber Gott.«

»Gern geschehen.«

Mit einem leisen Schrei fahre ich herum und halte mir die Hand über das wild pochende Herz. Hinter mir an der Frühstückstheke lehnt Benjamin und freut sich scheinbar darüber, dass ich fast einen Herzinfarkt erlitten habe. Oder wie soll ich das fiese Grinsen sonst deuten?

Ich drehe mich wieder um und hole mir einen Becher aus dem Schrank. Ich muss mich erst sammeln, bevor ich ihn länger ansehen kann.

»Kopfweh?«, fragt er hinter mir.

»Das – oder jemand hat mir heute Nacht den Schädel gespalten«, entgegne ich murmelnd.

»Hast wohl zu viel getrunken.«

Ich zucke mit den Schultern und nippe an der lebensrettenden, köstlichen Flüssigkeit, während ich ihm weiterhin den Rücken zugedreht habe.

»Hab gehört, du hättest gestern jede Menge Spaß gehabt«, fährt Benjamin nach einer kurzen Pause fort, und ich meine, einen gewissen Unterton herauszuhören. Keinen allzu begeisterten Unterton.

Nach einem weiteren stärkenden Schluck wende ich mich wieder ihm zu. »Könnte man so sagen. Und du?« Ich kann nicht verhindern, dass meine Stimme herausfordernd klingt – und dass mein Herz immer noch schnell hämmert, obwohl der kurze Schreck von eben bereits nachgelassen hat.

Ich möchte unbedingt wissen, was er gestern noch so getrieben hat, und gleichzeitig möchte ich es nicht. Es ist zum Heulen!

»Könnte man so sagen«, antwortet er mit denselben Worten und mustert mich mit leicht gerunzelter Stirn.

Ich zwinge mich, seinem Blick standzuhalten. Vielleicht bilde ich es mir ein, aber für mich kommt er vorwurfsvoll rüber, und das macht mich wütend. Wieso sollte er mir etwas vorwerfen? Er war doch derjenige, der mit Maria spazieren gegangen ist. Als wir in der Nacht nach Hause kamen, war von ihm keine Spur weit und breit gewesen.

»Wieso bist du nicht mit zu ihm gegangen?«, fragt Benjamin plötzlich.

Verwirrt stoppe ich mit den Lippen am Becherrand und schaue zu ihm hoch. »Was? Zu wem?«

»Zu dem Typen, mit dem du rumgemacht hast.« Seine Miene ist neutral, aber der Ton seiner Stimme sagt etwas anderes. Er ist wütend. Ja, hallo!

Leicht überrumpelt von der Möglichkeit, dass er eifersüchtig sein könnte, weiß ich gar nicht, was ich darauf antworten soll, und schüttele deshalb den Kopf. »Ich … war betrunken«, stammele ich dann ziemlich einfallsreich.

»Ja, und wir wissen beide, wie du drauf bist, wenn du betrunken bist«, wendet er ein.

Okay, jetzt ist es aber genug. Ich stelle den Becher zur Seite und verschränke die Arme vor der Brust, wobei ich meine Hände fest an den Körper drücke, um nicht womöglich noch einmal gewalttätig zu werden. »Was möchtest du mir damit sagen, hm? Dass es dich wundert, dass ich nicht mit zu dem Typen gegangen bin? Du glaubst, nur weil ich mich dir damals an den Hals geschmissen habe, als ich betrunken war, wäre das mein Standard-Verhalten im betrunkenen Zustand? Oder bin ich in deinen Augen doch ein Flittchen, das mit jedem Kerl ins Bett hüpft?« Je mehr ich sage, desto wütender werde ich. Dieser Idiot schafft es einfach immer, mich zu reizen, egal wie sehr ich versuche, nicht mehr auszurasten. »Nur zu deiner Info: Das bin ich nicht. Ich habe mich dir damals an den Hals geworfen, weil ich wirklich sehr scharf auf dich war. So etwas passiert mir nicht oft. Und das gestern … da war ich einfach nur betrunken und wollte für ein paar Stunden alles andere vergessen. Ich habe keine Sekunde daran gedacht, mit dem Typen zu vögeln. Aber selbst wenn ich es hätte – das geht dich nichts an!«

»Doch, tut es«, beharrt er und beugt sich vor.

»Nein, tut es nicht! Außerdem brauchst du hier nicht so scheinheilig zu tun. Immerhin bist du gestern wirklich mit einer Frau mitgegangen.«

»Meinst du etwa Maria?« Benjamin schnaubt. »Ich kenne sie seit fünfzehn Jahren und würde mir eher den Schwanz abhacken, als mit ihr zu schlafen. Sie ist wie eine kleine Schwester für mich.«

»Sie wäre sicher lieber etwas anderes für dich«, wende ich spöttisch ein.

»Und was wärst du gerne für mich?«, schießt er gleich zurück.

»Mehr, als ich wollen sollte!«

Neben uns ertönt ein Räuspern. Ich drehe mein Gesicht zur Seite und erblicke Anja.

»Dürfte ich mal an die Kaffeekanne?«, fragt sie lächelnd und deutet an mir vorbei.

Ich nicke und trete zur Seite. Plötzlich weicht jede Anspannung aus meinem Körper, und ich möchte nur noch eins: weg. Schnell schnappe ich mir meinen Becher und haste nach draußen auf die Terrasse zu den anderen. Nach dem aufgeheizten Gespräch mit Benjamin bin ich ziemlich durch den Wind, aber ich gebe mein Bestes, es mir nicht anmerken zu lassen, während all die ausgesprochenen Sätze permanent durch meinen Kopf kreisen.

Als er schließlich ebenfalls auf die Terrasse kommt und in meine Richtung schaut, lege ich mich auf eine Liege neben Roni und vergrabe meine Nase in dem Kaffeebecher. Innerlich bete ich, dass er nicht zu mir kommt, um das Gespräch womöglich fortzuführen. Verdammt, wieso habe ich mich zu so vielen verräterischen Äußerungen hinreißen lassen? Da war mein Mund mal wieder schneller als mein Verstand. Und was noch schlimmer ist – jetzt weiß ich, dass Benjamin eifersüchtig ist, weil ich mit einem anderen rumgemacht habe. Das wird mich so ziemlich in den Wahnsinn treiben, denn ein Teil von mir freut sich gewaltig darüber und möchte das Ganze natürlich weiter erörtern.

»Hey, Em, vielleicht treffen wir ja heute deinen heißen Spanier wieder«, ertönt Ronis Stimme neben mir.

Ach, da war ja noch was. Die Tatsache, dass ich im betrunkenen Zustand mit einem heißen Spanier rumgeknutscht habe, und dass meine Schwester es natürlich mitbekommen hat.

»Wie hieß er nochmal? Julio? Oder Carlos?«, fragt sie auch schon.

»Oder keine Ahnung?«, biete ich an.

»Wow, was für ein sexy Name!« Roni kichert vergnügt.

Schön, dass ich zu ihrer Erheiterung beitragen konnte. Normalerweise würde es mir gar nicht so viel ausmachen, dass ich mit einem Fremden rumgemacht habe, und ich würde mich mit ihr zusammen darüber amüsieren, aber da ist eine gewisse Person, die mir das Gefühl vermittelt, ich hätte mich völlig falsch verhalten. Und das ist ätzend!

Ich schiele rüber zu Benjamin, der neben Phillipp steht, die Arme vor der Brust verschränkt hat und über die Schulter zum Wasser schaut.

Wieso muss er auch so unverschämt attraktiv und anziehend sein? Mit diesem muskulösen Körper, der durch und durch hart und gleichzeitig perfekt anschmiegsam ist. Mit einem schönen Gesicht, das trotz dieser Eigenschaft sehr männlich ist, und einer Ausstrahlung, die zeigt, dass er sich seiner selbst vollkommen bewusst ist.

Und wieso ist in mir kein bisschen Verachtung für ihn übrig? Wie hat er es geschafft, meine einstigen negativen Gefühle so sehr vom Kurs abzubringen und in eine andere Richtung zu lenken?

Als er plötzlich zu mir blickt, ist mein erster Impuls, schnell wegzusehen, aber ich tu’s nicht. Stattdessen erwidere ich seinen Blick und starre so lange zurück, bis er von Elias angesprochen wird und somit unser kurzes Duell beendet. Ich habe keine Ahnung, was da im Moment zwischen uns läuft, aber mein Verstand sagt mir, dass ich es schleunigst beenden sollte, bevor es noch verzwickter wird. Mein Herz dagegen findet es unglaublich aufregend und klopft ganz wild.

Kapitel: 24

 


Die Sonne in Spanien knallt immer noch ordentlich, obwohl der Sommer sich bereits verabschiedet. Während Roni, Selina und Sandy mit ihren Kerlen und Ben zum Markt gefahren sind, entspannen Anja und ich unten am Strand. Es ist so schön und friedlich, und für eine Weile vergesse ich das sonstige Chaos in meinem Inneren und um mich herum.

»Weißt du, was ich überlegt habe?«, meldet sich meine Schwester schließlich zu Wort und richtet sich ein wenig aus der Liegeposition auf, um zu mir zu blicken. »Ich würde gerne ein wenig um die Welt reisen. Meine Chefin hätte da eine Möglichkeit für mich. Ich wäre gut ein halbes Jahr unterwegs.«

»Echt?« Nun richte ich mich ebenfalls etwas auf. »Du möchtest Deutschland verlassen?«

»Ja, für eine Weile. Ich bin Anfang dreißig und möchte etwas von der Welt sehen. Außerdem ist Will in letzter Zeit oft in der Stadt, da tut mir der große Abstand ganz gut. Tokio, Los Angeles und Barcelona wären mit im Programm dabei.«

»Klingt spannend. Aber was sollen wir so lange ohne dich machen?« Obwohl ich meine große Schwester auch mal eine Woche oder länger am Stück nicht zu Gesicht bekomme, da wir beide meist schwer beschäftigt sind, klingen sechs Monate wie eine Ewigkeit.

»Ihr werdet mich ganz furchtbar vermissen und euch riesig freuen, sobald ich wieder zurück bin«, entgegnet Anja lächelnd.

»Hm …« Mit gerunzelter Stirn schaue ich auf das sanfte Spiel der Wellen.

»Ach, Emmi, sechs Monate gehen schnell rum, wirst schon sehen.«

»Ich überlege nur grad, mit wem ich in der Zeit über meine Wehwehchen reden soll. Roni ist fast immer mit Elias zusammen, wenn sie frei hat, Leon wohnt zu weit weg, Mama soll sich nicht unnötig aufregen …«

»Dann reden wir halt am Handy darüber. Ich bin aus der Stadt, nicht aus der Welt.«

Seufzend lehne ich mich wieder zurück und schließe die Augen. Es ist nicht fair von mir, ihr dieses Abenteuer mies zu machen, nur weil ich sie gerne weiterhin in der Nähe hätte. »Ich weiß. Und ich gönne dir dieses Abenteuer vom Herzen. Es wird trotzdem hart, wenn meine große Schwester nicht mehr da ist, falls ich mal nicht weiter weiß«, sage ich dann.

»Vielleicht kommst du mich ja mal besuchen?«, schlägt sie nun vor.

Es klingt verlockend, Deutschland und all meine Probleme für eine Weile hinter mir zu lassen, aber ich kann es mir absolut nicht leisten. Dieser kurze Trip hierher hat mir bereits eine Kluft ins Portemonnaie gerissen. Eine Reise ans womöglich andere Ende der Welt ist definitiv nicht mehr drin, außer ich gewinne überraschend im Lotto oder überfalle eine Bank.

Am späten Nachmittag kehren wir zurück zum Haus, wo sich auch die anderen wieder eingefunden haben. Roni präsentiert uns ihre Errungenschaften, und ich gebe mir Mühe, interessiert zu wirken, während ich mich mit aller Kraft davon abhalte, nach einer bestimmten Person Ausschau zu halten. Als meine Schwester schließlich fertig ist, schweift mein Blick doch zu Benjamin rüber. Er sitzt in der Küche, in die man aus dem Wohnbereich einsehen kann, und tippt etwas in sein Handy ein. Seine Miene wirkt etwas düster dabei.

Wem er wohl schreibt? Ich möchte es unbedingt wissen, rede mir aber gleichzeitig vehement ein, dass es mich nicht interessiert. Und auch nichts angeht. Er ist weder mein Freund noch mein fester Partner.

»Wieso sprichst du nicht einfach mit ihm?«

Mein Herz setzt fast aus, als ich Elias‘ Stimme neben mir vernehme. Es ist schon ziemlich unangenehm, dass Anja mich beim Benjamin-Anstarren erwischt hat, aber jetzt auch noch sein bester Freund? Wo ist der nächste riesige Stein, unter dem ich mich verkriechen kann?

»Ähm … was?«, gebe ich mich verwirrt. Aber Elias ist nicht blöd, das ist mir klar, und auch sein Lächeln zeigt, dass er mich völlig durchschaut.

So ein Scheiß! Seufzend schiebe ich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Zwischen uns gibt es nichts zu besprechen«, sage ich leise, damit es niemand sonst mitbekommt. »Es herrscht Waffenstillstand, das war’s.«

»Wirklich? Eher Eiszeit. Was hat er eigentlich wieder verbrochen?«

Ich zucke mit einer Schulter. »Nichts. Es ist alles in Ordnung.«

Elias‘ Lächeln sagt erneut, dass er mir kein Wort glaubt, dann wird er plötzlich ernst. »Du hast sicher mitbekommen, dass Ben vor Kurzem jemanden verloren hat.«

Ich zucke leicht zusammen, weil ich diese Tatsache in den vergangenen Stunden völlig vergessen habe. Ich hoffe bloß, dass ich zumindest nichts von mir gegeben habe, das sich auf irgendeine Weise auf den Tod seiner Nichte bezogen haben könnte. »Ja, er hat es erwähnt«, erwidere ich leise.

»Hat er mit dir darüber gesprochen?«, hakt Elias nach.

»Nein, nicht direkt.« Ich denke an das kurze Gespräch im Auto. Wahrscheinlich wollte er darüber reden, aber ich habe abgeblockt. Danach hat er keinen weiteren Versuch mehr gestartet, mit mir zu reden. Verdammt, meine ablehnende Haltung muss doch für ihn wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein! Ich hätte ihn einfach reden lassen sollen, auch wenn ich mich davor gefürchtet habe, dass er sich zu sehr öffnet. Ich habe es wohl gründlich verbockt.

»Emma?« Elias Stimme durchbricht erneut meine Gedanken. »Wirklich alles in Ordnung?«

Ich verspüre den großen Wunsch, mit ihm über das, was geschehen ist, zu reden und ihn zu fragen, wie ich mein blödes Verhalten wiedergutmachen soll. Aber ich tue es nicht. Etwas in mir hindert mich daran. Wahrscheinlich mein dämlicher Stolz. »Wie schon gesagt – es ist alles in Ordnung«, antworte ich nun lächelnd. »Ich muss mal für kleine Mädchen.«

Wie ein elender Feigling flüchte ich nach oben in das Zimmer von Anja und mir. Dort laufe ich eine Weile auf und ab, während ich mich innerlich zerfleische. Sturkopf gegen Herz – ein harter Kampf, aus dem wohl keiner lebend hervorgehen wird. Letztendlich gebe ich es auf, eine Lösung für diese gesamte verfahrene Situation zu finden, und mache mich stattdessen für den geplanten Ausflug zu einem weiter entfernt liegenden Restaurant fertig.

Kurz darauf gesellt sich Anja zu mir und macht mir die Haare zu einer schönen Hochsteckfrisur. Ich wähle ein Kleid ohne Träger, das mir garantiert herunterrutschen würde, wenn ich zu wild feiern sollte, und somit werde ich heute definitiv auf die Bremse treten müssen. Auf einen weiteren Kater kann ich gut und gern verzichten. Und auf eine Knutscherei mit einem Wildfremden, dessen Namen ich mir nicht einmal merken kann, erst recht!

Eine kühle Brise weht uns entgegen, als wir keine halbe Stunde später am Strand entlang zum Restaurant spazieren, und ich bin froh, meine leichte Strickjacke übergezogen zu haben. Nebenher lausche ich dem Gespräch zwischen Selina und Roni, in dem es um eine schwangere Freundin geht, die nicht mehr aus dem Bett kommt vor lauter Übelkeit.

Unwillkürlich muss ich mir meine Schwester mit einem kugelrunden Bauch vorstellen. Sie und Elias sind bereits eine ganze Weile zusammen, wenn man bedenkt, dass sie vorher nie lange bei einem Kerl geblieben ist. Und wenn ich mir die beiden so anschaue, ist es auch ziemlich ernst. Aber Hochzeit und Kinder? Roni als Mama erscheint mir ziemlich utopisch, aber das habe ich auch von ihr und einem festen Freund gedacht. Vielleicht kommen wir ja alle langsam in ein Alter, in dem das Leben ernster wird. Zumindest sollte es nicht mehr so chaotisch sein wie meins momentan. Kein fester Job, Schulden, unzählige Rechnungen … Und das Sahnehäubchen obendrauf ist dieses verzwickte Was-weiß-ich zwischen Benjamin und mir. Ich wünschte, ich könnte ihn wieder verachten und konsequent meiden, statt mich über ihn zu ärgern und mich wie ein Teenie heimlich nach seiner Nähe zu sehnen.

Das Restaurant liegt nah am Wasser und bietet eine große Terrasse, auf der wir uns schließlich Platz suchen. Vereinzelte Heizlampen sorgen für eine angenehme Atmosphäre trotz der recht kühlen Abendtemperatur.

Das Essen ist köstlich, die Gespräche locker und fröhlich, der Abend ausgelassen und schön. Ich jedoch versinke immer wieder in Gedanken und kann einfach nicht loslassen. Da ist zu viel, das mich beschäftigt, zu viele Sorgen und unerwünschte Empfindungen, die ich mühsam zu verdrängen versuche. Das Leben könnte so unbeschwert sein – ist es aber nicht. Und ich mache es mir noch schwerer. Das muss doch endlich aufhören! Wenn Hedwig mich so bedrückt gesehen hätte, hätte sie mir einen ordentlichen Spruch reingedrückt.

Mit den Fingern reibe ich mir über die Stirn, hinter der sich ein unangenehmes Pochen eingenistet hat. Langsam wird es ziemlich anstrengend, nach außen hin so zu tun, als wäre alles in Ordnung, um den anderen den Spaß nicht zu verderben. Wie gerne würde ich alles Unschöne in ein paar leckeren Cocktails ertränken, aber ich habe mir fest vorgenommen, heute nicht zu trinken, um weitere Ausrutscher zu vermeiden.

Blöd natürlich, dass die anderen nach dem Essen weiterziehen möchten, um noch irgendwo etwas zu trinken und zu tanzen. Ich überlege kurz, den Spielverderber zu spielen und in einem Taxi zurück zum Haus zu fahren, entscheide mich jedoch dagegen. Da würde ich bloß weitergrübeln, in einem Club kann ich wenigstens die Leute beobachten und mich damit ablenken.

Es dauert nicht lange, bis Roni alle um sich herum in ordentliche Feierlaune versetzt hat. Eine Getränkerunde nach der anderen wird geordert und geleert, während ich mich beherrsche und beim Wasser bleibe. Eine weitere Person trinkt ebenfalls nichts. Ich weiß es, da ich sie immer wieder unauffällig beobachte.

Gerade, als ich über meinen Schatten springen und mich neben Benjamin setzen möchte, taucht Elias‘ Cousine Maria auf und ich bleibe auf meinem Platz sitzen. Sie steht da mit ihrem hübschen Gesicht und kurvigen Körper und bildet eine unüberbrückbare Barriere zwischen ihm und mir. Früher hätte ich mir von niemandem die Butter vom Brot nehmen lassen, aber jetzt fühle ich mich total unsicher. Wieso bloß? Es muss an ihm liegen. Nicht Maria verunsichert mich, sondern Benjamin. Der Mann, den ich hassen sollte, für den aber ganz andere Gefühle in mir aufwallen.

Für heute gebe ich jedenfalls auf und werfe das Handtuch, indem ich von meinem Platz aufstehe und zu meinen Schwestern gehe, um ihnen mitzuteilen, dass ich mir ein Taxi zurück zum Haus nehmen werde. Roni versucht noch, mich zum Bleiben zu überreden, gibt aber auf, als ich vehement den Kopf schüttele. Anja lächelt mir verständnisvoll zu und fragt, ob sie mich begleiten soll, aber auch das lehne ich ab. Sie sollte lieber feiern und Spaß haben, anstatt einem Miesepeter Gesellschaft zu leisten.

Schließlich mache ich mich auf nach draußen, wo eigens für die Gäste des Clubs Taxis bereitstehen.

Nachdem ich in eins gestiegen bin, nenne ich dem Fahrer die Adresse des Ferienhauses und lehne mich zurück, um die Augen zu schließen. Auf einmal wird die Tür geöffnet, und ich spüre, wie der Sitz neben mir einsinkt. Erschrocken reiße ich die Augen wieder auf und öffne den Mund.

»Ich schätze, wir haben noch Redebedarf«, sagt Benjamin und streckt dem Taxifahrer einen Schein hin, als der sich verwirrt umdreht.

»Nein, haben wir nicht«, entgegne ich und lege mir eine Hand über den nervösen Magen.

Sein Blick sagt mir deutlich, dass ich mich selbst verarschen kann. »Doch, haben wir.«

»Du kannst mich nicht zwingen, mit dir zu reden!«, begehre ich weiter auf und weiß selbst nicht, wieso ich es nicht einfach hinter mich bringe, anstatt mich weiter damit herumzuquälen. »Raus aus dem Wagen!«

»Du kannst mich nicht zwingen, aus dem Wagen zu steigen«, sagt Benjamin unbeeindruckt und verschränkt die Arme vor der Brust.

Und wie ich kann! Ich strecke die Hände nach vorn und drücke ihn in Richtung Tür. Im nächsten Augenblick hat er meine Handgelenke ergriffen und mich an sich gezogen. Diese plötzliche Nähe lässt mein Inneres förmlich explodieren.

Ich sehe, dass sich seine Lippen bewegen, nehme die Worte aber kaum wahr, weil es so laut in meinen Ohren rauscht. Auf einmal ist da so ein gewaltiges Verlangen in mir, das sich durch jede Faser meines Körpers zieht und in meinem Schoß zu einem fast schon unerträglich schmerzhaften Knoten bündelt. Ich beginne, schneller zu atmen.

»Ich verstehe es.«

Verwirrt blicke ich von Benjamins Lippen hoch zu seinen Augen. »Was verstehst du?« Meine Stimme ist ein leises Wispern.

»Wie du dich fühlst«, erklärt er näher, wobei seine Finger meine Handgelenke langsam loslassen und sich über meine Unterarme weiter hoch bewegen. »Mir geht es nicht anders, Emma. Ich will dich, und ich werde bald verrückt, wenn ich dich nicht haben kann.«

Ich schlucke hart und bemühe mich um ein Kopfschütteln, was mir jedoch nicht gelingen möchte. Seine ehrlichen Worte fachen das Feuer in mir weiter an und bewegen mich dazu, die Oberschenkel zusammenzudrücken. Es hilft kaum, das drängende Pochen in meinem Schoß zu lindern.

»Wieso quälst du uns beide so sehr?«, fragt Benjamin, als seine Finger meine Ellbogen erreichen.

»Es ist unmöglich … wir beide«, bringe ich mühsam beherrscht hervor. Der Kampf in mir ist brutal. Mein Verstand wehrt sich mit aller Macht gegen das gigantische Verlangen nach diesem Mann.

»Warum? Es hat schon einmal funktioniert.«

»Du hast mich belogen.«

»Ich habe mich auch mehrmals entschuldigt. Und wenn du es zulässt, mache ich meinen Fehler wiedergut. Jeden Tag.«

Gott, er meint es wahrscheinlich nicht mal so, aber ich muss nun an lauter unanständige Dinge denken, die meine Erregung noch weiter in die Höhe treiben. Wie kann das sein? Ich habe jetzt schon das Gefühl, jeden Moment in Flammen aufzugehen.

Ich zucke heftig zusammen, als die Stimme des Fahrers plötzlich neben mir ertönt und verkündet, dass wir am Ziel angekommen sind. Hastig befreie ich mich aus Benjamins sanftem Griff und springe beinahe aus dem Taxi. Auch wenn es furchtbar peinlich und albern ist, laufe ich vor ihm und den erschreckend intensiven Gefühlen weg. Zuerst in Richtung Eingangstür, doch dann schlage ich einen Haken und biege zum Strand ab.

»Wir wissen beide, dass ich schneller bin«, höre ich ihn nur kurze Zeit später hinter mir.

»Ich rufe die Polizei!«, zische ich und beschleunige meine Schritte noch einmal.

»Und was willst du den Beamten sagen? Hilfe, ich möchte dem Mann an die Wäsche, aber mein Stolz lässt mich nicht? Verhaften Sie ihn!«

Schnaubend bleibe ich stehen und wirbele zu ihm herum. »Du bist ziemlich von dir überzeugt, was?«

»Meistens. Aber jetzt gerade bin ich felsenfest davon überzeugt, dass diese Anziehung zwischen uns alles andere als alltäglich ist. Ich habe es satt, mich dagegen zu wehren. Ich möchte sehen, wohin es uns führt.«

»Nirgendwohin. Bleib mir vom Leib!« Ich greife in den groben Sand und werfe eine Ladung nach ihm, weil ich nicht weiß, wie ich ihn sonst auf Abstand halten soll. Weil ich deutlich spüre, dass ich ihn gar nicht mehr auf Abstand halten will.

Benjamin weicht den kleinen Geschossen aus und macht einen weiteren Schritt auf mich zu. Ich nehme noch mehr Sand und bewerfe ihn. Diesmal treffe ich ihn sogar am Hals, was mir gleich etwas leidtut, denn es klingt schmerzhaft. Doch im nächsten Moment hat er mich gepackt und über die Schulter geworfen.

Schreiend schlage ich auf seinen Rücken ein, aber er lacht bloß und steuert das Wasser an. Ich lasse meine Tasche fallen, um die Hände frei zu bekommen.

»Wage es nicht -« Meine Worte gehen in ein Kreischen über, als er zusammen mit mir in die Wellen taucht.

Es ist so eiskalt, dass ich kurz keine Luft bekomme, obwohl ich mit dem Gesicht über Wasser bleibe. In der Dunkelheit sehe ich nur Benjamins Umrisse. Er steht unmittelbar vor mir und zieht mich an sich.

»Etwas kühl«, bemerkt er, und ich höre ganz deutlich ein Lächeln heraus.

Meine Zähne klappern, während ich mich an ihn klammere, um der Kälte zu entkommen. »Du … bist … be… sch …«

»Ich denke, wir brauchten beide eine Abkühlung«, unterbricht er mich. Und dann beugt er sich vor, um mich zu küssen.

Jede Gegenwehr ist mit einer einzigen Berührung seines Mundes weggewischt. Als hätte er den Schalter umgelegt, schlinge ich die Arme um seinen Hals und presse mich an ihn, während ich das salzige Meerwasser an seinen Lippen schmecke. Zusammen mit seinem ganz eigenen Geschmack. Ich vergesse die Kälte beinahe vollständig, während wir uns gegenseitig verschlingen. Ich bin so berauscht von den Empfindungen, die mich durchströmen, dass ich nur nebenbei bemerke, wie er mich hochhebt und zurück an den Strand trägt.

Als Benjamin sich von mir löst, entkommt mir ein Protestlaut. »Nur eine Sekunde«, flüstert er, nicht minder erregt, und zieht mir die Strickjacke aus. Ich muss ihm dabei helfen, denn durch das Wasser klebt sie förmlich an mir.

Um keine neuen Gedanken und Zweifel aufkommen zu lassen, küsse ich ihn wieder, greife nach seinem Hemd und zerre es ihm vom Körper. Ich will ihn ganz, ganz dringend überall anfassen. Seine Haut ist kühl, als ich über seine Bauchmuskeln streichele. Es ist verrückt, dass wir hier in der Dunkelheit fast nackt stehen und uns trotz der Kälte weiter entkleiden. Verrückt und aufregend und so verdammt erregend.

»Sag mir, dass du etwas dabei hast«, sage ich, sobald mein klitschnasses Kleid zu Boden gesunken ist.

»Bei meinen Sachen«, erwidert er und schaut sich kurz um. »Hier.« Er macht ein paar Schritte zur Seite und beugt sich runter. Scheinbar hat er seine Wertsachen vor dem nächtlichen Bad im Meer vorsorglich im Trockenen gelassen.

Bevor ich darüber nachdenken kann, wo meine Handtasche liegt, kehrt Benjamin zu mir zurück und drückt mich mit einem Arm besitzergreifend an sich. »Möchtest du wieder?«, fragt er und legt mir eine Kondompackung in die Hand.

Ich nicke und suche erneut seine Lippen, während ich die Folie aufreiße. Im selben Moment öffnet er seine Hose und schiebt sie runter. Ich kann mir nur schwer ein Stöhnen verkneifen, als ich seinen Penis an meinem Unterbauch spüre. Das Verlangen, ihn endlich tief in mir zu haben, wird übermächtig. Und so gerne ich seinen wundervollen, harten Körper weiter erkunden würde – jetzt gerade brauche ich einfach nur das!

Wir sinken runter auf den Sand, und ich dirigiere Benjamin nach unten, um mich auf ihn zu setzen. Sobald er mich vollständig ausfüllt, lege ich meine Stirn gegen seine und woge mein Becken gegen ihn. Es fühlt sich so gut an, löst diese fürchterliche Anspannung in mir, vertreibt die düstere Stimmung. Ich fahre mit den Fingern über seine kräftigen Schulterblätter, reibe meine Wange an seiner leicht rauen Haut und seufze zufrieden, als die ersten prickelnden Wellen eines Orgasmus durch meine Mitte strömen.

»Gib's mir schnell und hart«, fordere ich ihn leise auf, weil ich endlich Erlösung brauche. Und das tut er. Kurz darauf wird die nächtliche Stille erneut von meinen Schreien durchbrochen.

Kapitel: 25

 


Allmählich klingt der zweite intensive Höhepunkt ab, und das aufregend wunde Gefühl verwandelt sich in ein unangenehmes. In unserem heftigen Liebesspiel hat Benjamin mich schließlich auf den Rücken gedreht, mich noch einmal in Fahrt gebracht und nach Gott rufen lassen, und nun spüre ich die groben Körnchen des Untergrunds ziemlich deutlich an meiner Kehrseite.

»Wir sollten ins Haus gehen, ich muss mich dringend duschen«, äußere ich schließlich und durchbreche die nach gutem Sex folgende angenehme Stille nur ungern.

Benjamin, der neben mir auf dem Rücken liegt und dessen schnelle Atmung sich langsam wieder normalisiert, richtet sich zum Sitzen auf. An seinen Umrissen erkenne ich, dass er mich ansieht, und obwohl es dunkel ist, möchte ich automatisch meine Nacktheit bedecken, was ziemlich albern ist angesichts der Tatsache, dass er eben noch in mir war.

»Ich warne dich, Emma«, sagt er ziemlich deutlich. »Das hier war kein einmaliger Ausrutscher. Es war nötig, um diese verfluchte angestaute Anspannung loszuwerden. Weder du noch ich haben getrunken oder uns anderweitig den Verstand vernebelt. Wenn du wieder wegläufst, schmeiße ich dich noch einmal ins Wasser.«

Ich bekomme eine heftige Gänsehaut, und das kommt nicht allein von der nächtlichen Temperatur oder der Erinnerung an das eiskalte Wasser. »Und was glaubst du, war das dann?«, frage ich, anstatt zu protestieren. Ich bin wirklich neugierig, womit er jetzt auffährt.

»Ein Anfang.«

»Ein Anfang von was?«, hake ich weiter nach, während es in meinem Bauch flattert. Nebenbei taste ich suchend nach meiner Kleidung.

»Das werden wir herausfinden.«

Ich schnaube, ignoriere den heftigen Kick, den mir der Gedanke an etwas Richtiges zwischen ihm und mir versetzt, und stehe auf, um meinen nassen Slip anzuziehen. Das fühlt sich ziemlich eklig an. »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich keine Zeit für etwas Ernstes habe«, entgegne ich bemüht um eine ruhige Stimme, die meine Aufregung nicht verrät.

»Dann gehen wir es lockerer an.« Er steht nun ebenfalls auf und zieht sich an. »Ich möchte mit dir zusammen sein, Emma, und du fühlst dich zu mir hingezogen. Es ist doch ziemlich anstrengend und ermüdend, dagegen anzukämpfen, findest du nicht? Wir hören auf mit den Spielchen und machen einen Schritt vorwärts.«

Natürlich ist es anstrengend, und ein nächster Schritt wäre sehr spannend, aber das zwischen uns ist einfach zu kompliziert. Die Geschehnisse in der Vergangenheit hindern mich daran, mir das zu nehmen, was ich eigentlich wirklich ganz doll will. Ihn. Ihn mit Haut und Haaren, angezogen oder nackt, hier oder überall sonst.

»Lass es zu.« Benjamin steht plötzlich direkt vor mir und streicht mit dem Daumen über meine Wange, was mich zitternd Luft holen lässt. 

Ich bin froh, dass er mich in der Dunkelheit kaum sehen kann, denn sonst würde mein Gesichtsausdruck ihm alles verraten, was ich so mühsam zu unterdrücken und vor ihm zu verbergen versuche.

Vom Haus her ertönt plötzlich Ronis Stimme, die zuerst nach mir und dann nach ihm ruft. Ich zucke zusammen und mache hastig einen Schritt zurück. »Scheiße!«, zische ich dabei und schlüpfe schnell in meine nasse und eiskalte Bluse. »Kein Wort von … du weißt schon«, richte ich an mein Gegenüber.

»Ich hatte nicht vor, damit hausieren zu gehen«, kommt es mit einem ironischen Unterton zurück.

Ich drehe mich um und eile zu meiner Schwester, deren Stimme nun lauter und näher klingt. »Wir sind hier!«, rufe ich und erreiche sie kurz darauf. »Ihr seid schon zurück?« Meine Wangen fühlen sich ganz warm an, aber Roni ist betrunken und bemerkt den verräterischen Glanz in meinen Augen hoffentlich nicht.

»Schon? Ihr seid vor zwei Stunden losgefahren.« Sie bleibt vor mir stehen und schwankt leicht. »Was habt ihr da unten gemacht?« Neugierig schaut sie über meine Schulter.

»Der Idiot hat mich ins Wasser geworfen!«, rege ich mich künstlich auf, und meine Organe spielen verrückt, wenn ich daran denke, was Benjamin danach getan hat und dass er mindestens eine Stunde in mir war.

»Oh, ihr seid ohne uns ins Wasser gegangen? Das ist ja gemein.«

»Nicht freiwillig.« Ich zeige Roni einen Vogel und gehe weiter, während sie nun hinter mir mit Benjamin spricht. Allein seine Stimme bewirkt, dass sich das vor kurzem gestillte Verlangen erneut meldet. Schnell laufe ich ins Haus und bete, dass die anderen mich nicht sehen. Es gelingt mir, unentdeckt ins Zimmer zu gelangen, doch dort treffe ich auf Anja, die sich auszieht.

»Emma, wo warst du denn?«, fragt sie überrascht und mustert meine nasse Kleidung.

»Der Idiot hat mich ins Wasser geworfen«, wiederhole ich, nun aber wesentlich leiser. Ich kann echt froh sein, dass auch sie getrunken hat, denn sonst würde sie mich glatt durchschauen. »Es war eiskalt, ich muss schnell unter die Dusche.« Nachdem ich mir saubere und trockene Sachen herausgesucht habe, verschwinde ich im Bad nebenan und schließe erleichtert die Augen. Ich hasse es, meine Schwestern zu belügen, aber ich kann ihnen unmöglich erzählen, dass ich wieder mit dem Mann gevögelt habe, den ich nach außen hin weiterhin für seine Lügen verachte.

Während das heiße Wasser auf mich niederprasselt, erinnere ich mich an das Gefühl von Benjamins rauen Wangen an meiner sensibilisierten Haut, als er auf mir lag; in mir war und mich mit festen Stößen so wunderbar an den Rand des Kontrollverlusts getrieben hat. In mir entsteht eine Leere, die gleich darauf von gewaltiger Sehnsucht ausgefüllt wird. Ich kann nicht glauben, wie sehr ich mich nach ihm verzehre. Ich verstehe es nicht, und ich möchte nicht so empfinden, aber ich kann es nicht abstellen. Ich fühle mich zu ihm hingezogen, wie er vorhin selbst festgestellt hat, und es treibt mich in den Wahnsinn, dagegen anzukämpfen.

Als ich später zurück zu unserem Zimmer gehen möchte, vernehme ich die Stimmen der anderen von unten. Unentschlossen bleibe ich vor der Tür stehen, die Hand bereits auf der Klinke. Kurz hadere ich noch mit mir selbst, dann drehe ich mich um und gehe die Treppe runter. Es ist dumm, das ist mir bewusst, aber ich habe in den letzten Stunden bereits dämlichere Entscheidungen getroffen. Da kommt es auf eine mehr auch nicht an.

Zögernd betrete ich das Wohnzimmer und werde sogleich von Roni an der Hand zum Sofa gezogen, auf dem sie Platz genommen hat. »Ich freue mich so, dass du mit dabei bist«, verkündet sie und umarmt mich gefühlsduselig. »Und noch mehr freue ich mich, dass du Benni nicht mehr hasst.«

Unauffällig schaue ich zu Benjamin, der auf einem Sessel schräg gegenüber sitzt. Er hat sich ebenfalls umgezogen und trägt nun ein T-Shirt, das seine kräftigen Arme betont. Als hassen würde ich das, was wir vorhin getan haben und was ich nun empfinde, nicht unbedingt bezeichnen. Er fängt meinen Blick auf, und ein kaum merkliches Lächeln umspielt seine Lippen. Unwillkürlich lächele ich zurück.

»Hast du mein Duschgel benutzt?«, durchbricht Roni den Blickkontakt und schnuppert an meinen Haaren. »Riecht es bei mir auch so gut? Elias Schatz, riech mal an Emma!«, ruft sie sogleich ihrem Lover zu.

»Wieso soll ich an Emma riechen?«, kommt es verwirrt zurück. Elias Schatz steht im Durchgang zur Küche und hält zwei Gläser in der Hand.

»Das ist wirklich nicht nötig«, melde ich mich lachend zu Wort. »Ron, du bist hinüber.«

»Mmh …« Sie lehnt ihren Kopf an meine Schulter. »Ich bin so müde, aber ich möchte nicht ins Bett. Die Zeit hier ist so begrenzt.«

Das stimmt. Die Zeit hier in dem wunderschönen Haus, die Leute, die mich umgeben – das alles beschert mir ein gutes Gefühl. Ich hätte nichts dagegen, länger zu bleiben, aber bereits am nächsten Tag werden wir zurück nach Deutschland und ich in meinen hektischen und dabei doch ziemlich einsamen Alltag kehren. Nichts daran lockt mich, während hier so vieles ist, wegen dem es sich zu bleiben lohnt. 

Obwohl … Ich schaue noch einmal zu Benjamin, der sich jetzt mit Phillipp unterhält. Ein Anfang, hat er gesagt. Das vorhin war ein Anfang. Mein gesamter Körper ist unruhig und aufgeregt, wenn ich daran denke, was er damit gemeint haben könnte. Gleichzeitig möchte mir mein Verstand eintrichtern, dass es unmöglich funktionieren kann. Aber das Aufbegehren der Vernunft ist nicht mehr so laut, mein Auflehnen gegen die Gefühle für diesen Mann nicht mehr so stark. Viel mehr ist es nur noch ein leises Flüstern, das durch die Wärme vertrieben wird, die ich empfinde, wenn ich an seine Berührungen, die hungrigen Küsse und das Verlangen in seinem Blick denke.

Jetzt sieht er mich wieder an, und er denkt auch daran, das kann ich erkennen. Ganz automatisch drücken sich meine Schenkel gegeneinander, um das sehnsuchtsvolle Pochen in ihrer Mitte etwas zu lindern. Ich fühle mich so sehr zu diesem Kerl hingezogen, dass es schon lächerlich wird. Als hätte er mich mit irgendeinem Bann belegt. Oder mir wohl einfach nur das Hirn rausgevögelt und eine sabbernde Hülle zurückgelassen.

 


Später – oder doch eher sehr früh am nächsten Morgen – liege ich in meinem Bett, lausche Anjas leisem Schnarchen und finde nicht in den Schlaf. Während ich mich noch frage, ob Benjamin auch nach einer so langen Nacht joggen geht, stehe ich bereits leise auf, nehme mir etwas zum Anziehen und verlasse das Zimmer.

Es ist so still im Haus, dass das leise Knarzen der Stufen mir wie eine Explosion vorkommt, als ich die Treppe nach unten gehe. Mit schnell klopfendem Herzen flitze ich in die Küche und ziehe mich vollständig an, bevor ich Kaffee durchlaufen lasse. Mit einem dampfenden Becher in der Hand begebe ich mich kurz darauf nach draußen auf die Terrasse. Es ist kühl, aber die Decke, die ich mitgenommen habe, wärmt mich. Und die langsam am Horizont aufgehende Sonne bietet ein Spektakel, das jede Temperatur erträglich macht.

Ich höre Schritte hinter mir und schaue über die Schulter zur Tür, durch die einen Moment später Benjamin nach draußen tritt. Er kommt zu mir rüber und nimmt auf der Liege neben mir Platz. In mir herrscht sofort helle Aufregung, aber nach außen hin gebe ich mich gelassen.

»Kannst du auch nicht schlafen?«, fragt er, seine Stimme klingt leicht kratzig – und so verflucht sexy.

»Nein«, erwidere ich und nehme einen Schluck von meinem Kaffee. »Außerdem wollte ich mir das da nicht entgehen lassen.« Ich deute mit dem Kinn in Richtung Sonnenaufgang.

Benjamin folgt meinem Blick. Eine Weile schweigen wir, dann nehme ich aus dem Augenwinkel wahr, dass er wieder mich ansieht. Ich werde nervös und kribbelig. Am liebsten würde ich mich auf seinen Schoß setzen und ihn küssen, aber mache es natürlich nicht. Es könnte ja jemand anderes auch wach sein und uns dabei erwischen.

»Ich gehe joggen, kommst du mit?«, fragt Benjamin in meine Gedanken hinein.

»Um dir wie ein Klotz am Bein zu hängen? Nein, lieber nicht«, erwidere ich, ohne ihn anzusehen. Ich kann irgendwie nicht, weil ich Schiss davor habe, dass er mir sofort ansieht, welche starke Wirkung er auf mich hat.

»Ich habe nichts dagegen, dass du an mir hängst.«

Damit entlockt er mir ein Lächeln, das sich jedoch sogleich auflöst, als seine Hände nach mir greifen und in meine Kniekehlen fahren, um mich zu ihm zu drehen. Der Kaffee im Becher schwappt leicht über den Rand, und mir entkommt ein leiser Schreckenslaut.

»Wie wäre es mit einem Spaziergang am Strand entlang?«, schlägt er vor. »Und dabei verrätst du mir gleich, wie es weitergehen soll.«

Ich möchte erneut ablehnen, um nicht allein mit ihm zu sein, aber mein Mund ist schneller als mein Verstand und sagt: »Okay.« Letztendlich ist es keine rein hormonell gesteuerte Entscheidung, mit ihm mitzugehen, denn wir sollten wirklich dringend klären, was nun Sache ist.

Unten am Wasser ziehe ich die Strickjacke fester um meinen Körper und wappne mich somit ein wenig auch äußerlich. Da ich das Ganze schnell hinter mich bringen möchte, bevor es höchstwahrscheinlich noch peinlicher wird, plappere ich auch sofort los: »Also, das gestern am Strand, es war kein Ausrutscher, okay, das sehe ich auch so. Aber ich weiß wirklich nicht, wie du dir einen Anfang darunter vorstellst. Normalerweise beginnt man … Was-auch-immer nicht nackt an einem Strand.«

»Was zwischen uns ist schon normal?«, entgegnet Benjamin.

»Stimmt. Zwei Gestörte treffen aufeinander.« Ich schüttele kurz den Kopf und fahre gleich fort: »Ich weiß nur nicht so genau, was du jetzt von mir erwartest.«

Er bleibt stehen und hält mich am Arm fest, damit ich nicht weitergehe. »Gar nichts, Emma«, sagt er dann. »Setz dich selbst nicht unter Druck. Wir lassen es einfach langsam angehen und schauen, wohin es uns führt.«

»Es langsam angehen lassen?« Ich ziehe spöttisch beide Augenbrauen hoch. »Wie passt denn die Nummer gestern da rein? Oder das bei dir zu Hause?«

»Darauf fällt mir jetzt nichts Schlaues ein.« Benjamin verzieht das Gesicht, sieht aber weiterhin entspannt und sogar belustigt aus. Er scheint das alles wirklich locker zu sehen und überzeugt von seinem Vorhaben zu sein. »Ich weiß nur, dass ich es wenigstens versuchen möchte.«

Ich wünschte, ich könnte es ihm nachmachen. Mich einfach in dieses Abenteuer mit dem Mann, der mich so sehr anzieht, stürzen und mir keine weiteren Gedanken machen. Aber das wird mir nicht gelingen. Und dennoch drängt alles in mir, mich trotzdem darauf einzulassen, egal wie dämlich das ist. Ich bin dieses Was-wäre-wenn gründlich leid. Ich möchte ihn nicht mehr anfeinden und dann, wenn er nicht hinguckt, mit sehnsuchtsvollen Blicken attackieren. Ich will nicht eifersüchtig in der Ecke stehen, während er mit anderen Frauen anbandelt. Er soll sich nicht für andere Frauen interessieren, sondern nur für mich. Und es soll mich verflucht noch mal nicht stören. Ich habe den Kampf gegen mich selbst endgültig satt!

 


Und so geschieht schließlich das, womit ich noch vor einer Woche nie im Leben gerechnet hätte: Wir kehren zurück nach Deutschland, und ein paar Tage später möchte Benjamin mich zu Hause besuchen.

Ich flitze von einem Raum in den anderen, putze und räume auf, verstecke peinlichen Kram und schaffe es sogar noch, unter die Dusche zu hüpfen. Und als Benjamin schließlich da ist, direkt von der Arbeit noch in seinem schicken Anzug und mit leicht geöffnetem Hemd, habe ich definitiv keine Lust mehr, das zwischen uns zu Tode zu analysieren. Stattdessen packe ich ihn am offenen Revers seines Mantels, ziehe ihn ins Innere meiner Wohnung und presse meine Lippen auf seine.

Mein Herz hat gegen meinen Verstand gewonnen, und das zeige ich ihm in der nächsten Stunde mehr als nur deutlich.

Kapitel: 26

  


Langsam normalisiert sich meine Atmung, während ich an die Decke meines Schlafzimmers starre. Die Finger meiner rechten Hand berühren Bens Brust, die sich ebenfalls schnell auf und ab senkt. Auf meinem nicht gerade großen Bett ist es unvermeidbar, eng aneinander gedrückt zu liegen, und nachdem, was wir in der letzten Stunde getan haben, wäre es auch ganz schön albern, jetzt auf Abstand zu gehen. Deshalb bleibe ich so liegen und genieße die Gefühle, die mich durchströmen. Zufriedenheit und ... etwas anderes.

»Mit so einem Empfang habe ich nicht gerechnet«, bemerkt Ben schließlich und richtet sich ein wenig auf.

»Möchtest du dich darüber beschweren?« Ich mache es ihm nach und ziehe dabei das Haargummi aus dem wilden Nest auf meinem Kopf, um anschließend etwas Ordnung in das Chaos zu bringen.

»Absolut nicht.« Er sieht mich lächelnd an, und dieses Lächeln stellt fast dasselbe mit meinem Inneren an wie der Orgasmus, den er mir eben erst beschert hat. Scheiße, ich bin ihm komplett verfallen!

Ich rechne damit, dass es nun ziemlich peinlich zwischen uns wird, aber das passiert nicht. Stattdessen ziehen wir uns wieder an, und Ben folgt mir in die Küche, wo ich ihm etwas zu trinken anbiete. Er lässt den Blick über das Blech mit den Muffins schweifen, die ich vor seiner Ankündigung, mich zu besuchen, gebacken habe.

»Du kannst dich gern bedienen«, sage ich und setze Kaffee auf. Ich rechne nicht damit, dass ich allzu bald schlafen gehen werde, also brauche ich das Koffein, um mich nach diesem anstrengenden Tag weiterhin wach zu halten.

Er nimmt einen Muffin und beißt herzhaft rein. Ich weiß nicht wieso, aber der Anblick, ihn mein Gebäck essen zu sehen, stellt merkwürdige Dinge mit mir an. Da ist Wärme in meiner Brust und dann auch noch ein Prickeln in südlicher Region. Anscheinend kann ich nicht mit diesem Mann in einem Raum sein, ohne scharf auf ihn zu werden. Ganz schön nervig ist das. Und so aufregend.

Um mich von meinen übereifrigen Hormonen abzulenken, berichte ich von meinem Tag. Und dann bitte ich ihn, mir von seinem zu erzählen. Und nachdem er das getan hat, biete ich ihm ein offenes Ohr für ernstere Themen an. Wenn er mag, kann er mir endlich von seinem Verlust erzählen. Zu diesem Gespräch konnte ich mich auf dem Weg zum Flughafen nicht durchdringen, doch jetzt überkommt mich ganz plötzlich das Bedürfnis, meine Unzulänglichkeit wiedergutzumachen.

Ben wirkt überrascht, fasst sich aber schnell wieder und nickt. »Es war meine Nichte«, erwidert er schließlich, während er den Blick auf das Papier des aufgegessenen Muffins richtet. »Die Tochter meiner Schwester. Sie hatte Krebs und ist ... gestorben. Sie war gerade erst zehn geworden.« Er erzählt davon, wie es sich angefühlt hat, als sie ihren letzten Atemzug getan hat. Wie sehr ihn dieser Verlust aus der Bahn geworfen hat und wie schwer es war, sich wieder zu fassen, um für seine Schwester da zu sein in der schlimmsten Zeit ihres Lebens. Mittlerweile geht es ihm schon etwas besser, auch wenn er immer noch einen Kloß im Hals verspürt, wenn er darüber spricht. Er denkt noch oft an seine Nichte, aber weniger an ihre Krankheit und ihren Tod und mehr an die schönen Erinnerungen, als sie noch gesund war.

Ich muss automatisch an Hedwig denken, als er zu Ende gesprochen hat, und kann gut nachempfinden, wie er sich fühlt, auch wenn es für ihn sicher um einiges schlimmer sein muss als für mich.

»Das tut mir so leid, Ben. Es muss furchtbar sein, jemand so junges zu verlieren. Und es ist nicht fair.« Ich fühle mich wie ein sozialer Krüppel, weil ich nicht weiß, was ich noch sagen könnte. Wie tröstet man jemanden in so einer Situation? Sollte ich ihn umarmen? Oder den Wodka rausholen?

Doch scheinbar reichen bereits diese wenigen Worte, denn er lächelt wieder. »Du hast mich zum ersten Mal Ben genannt«, stellt er dabei fest.

Etwas verlegen streiche ich mir eine nicht vorhandene Strähne hinters Ohr, als mir auffällt, dass ich ihn auch in Gedanken nicht länger Benjamin nenne. »Naja, ich schlafe immerhin auch mit dir … und wir sind so etwas wie Freunde.« Bevor ich noch mehr peinlichen Mist von mir geben kann, wende ich mich ab und biete ihm noch einen Muffin an.

Er sagt nichts weiter dazu, aber ein wissendes Lächeln ziert seinen Mund, bis er sich um kurz vor Mitternacht verabschiedet, um nach Hause zu fahren.

Ich würde es nie laut zugeben, aber ich habe mir gewünscht, er würde auch über Nacht bleiben. Plötzlich kommt mir mein Bett nämlich riesig und so verdammt leer vor.

 

 

***

 


In nächster Zeit entwickelt sich eine Art Routine zwischen Ben und mir. Wenn ich abends nicht arbeiten muss, kommt er nach der Arbeit zu mir. Meist schlafen wir sofort miteinander. Es passiert einfach, auch wenn ich mir jedes Mal vornehme, nicht gleich über ihn herzufallen. Sobald er da ist, ich seine Nähe spüre und sein Geruch mich umhüllt, entwickeln meine Hände ein Eigenleben und reißen ihm die Klamotten vom Leib. Ich bin völlig verrückt danach, mit ihm zu schlafen, und er scheint begierig darauf zu sein, mich auf jeder freien Fläche in meiner Wohnung zu nehmen. Mir würde auch das Bett reichen, solange ich ihn nur spüren kann, aber Ben ist sehr kreativ, wenn es um Sex geht, und stellt Dinge mit mir an, die meine Sucht nach ihm mit jedem Mal weiter steigern.

Obwohl wir beide meist ziemlich geschlaucht vom Tag sind, bleibt er immer länger da, weil wir nach der ersten Befriedigung unserer Lust auch sehr viel miteinander reden. Über nahezu alles. Viel Smalltalk und noch öfter über ernste Themen, die tiefer gehen. Nur der Streit mit meinem Vater und der Verlust meines Cafés bleiben stets unerwähnt. Sobald es auch nur ansatzweise in diese Richtung geht, lenke ich ab oder falle erneut über ihn her. Mir ist klar, dass wir irgendwann darüber reden müssen, denn Ben hat sich bereits in mein Herz geschlichen, und wenn das zwischen uns weiterhin funktionieren soll, was ich mir sehr wünsche, muss dieser Vorfall in unserer Vergangenheit aus der Welt geschaffen werden. Und zwar schnell. Denn obwohl das zwischen ihm und mir immer enger und ernster wird, habe ich mich noch nicht überwinden können, es auch offiziell zu machen. Niemand sonst weiß von uns, ich habe Ben um Stillschweigen darüber gebeten. Da ist nämlich immer noch ein Teil in mir, der sich dafür schämt, mit dem Mann zusammen zu sein, der mir vor gar nicht allzu langer Zeit mein Baby weggenommen hat. Und ewig kann ich Ben nicht mehr hinhalten, wenn er mich fragt, ob wir nicht mal zusammen ausgehen könnten; uns mit den anderen treffen. Oder ob ich ihn zu Hause besuche. Das tue ich nämlich nicht, denn dort würde ich mich bloß an unsere erste Nacht und an seine Lügen erinnern. Am liebsten würde ich diese Erinnerungen aus meinem Gedächtnis löschen, damit sie nicht zwischen uns stehen, aber das geht natürlich nicht. Deshalb ist es wichtig, dass wir diese Sache endgültig bereinigen, bevor sie uns doch noch das Genick bricht. Ich habe nämlich stets das Gefühl, über mir würde eine Zeitbombe ticken, die jeden Moment losgehen könnte, wenn ich sie nicht aufhalte.

 

 

***

 


Das Unheil nimmt an einem Samstagabend seinen Lauf. Anja, Roni und ich ziehen um die Häuser, da unsere große Schwester in wenigen Tagen Deutschland verlassen wird und wir noch ein letztes Mal zusammen einen draufmachen wollen.

Der Kiez ist unsere Anlaufstelle, und es dauert nicht lange, bis wir recht angetrunken und von mehreren interessierten Kerlen umzingelt sind. Roni hat sichtlich Spaß daran, allerlei Herzen zu brechen, indem sie laut herausposaunt, dass sie glücklich vergeben ist, während Anja mit einem älteren Typen bald schon die Hüften kreisen lässt. Es dauert auch nicht lange, bis meine Schwestern mich dazu auffordern, auch etwas Spaß zu haben. Und Spaß haben kann man in ihren Augen wohl nur mit einem Exemplar des anderen Geschlechts.

Ein Stimmchen in meinem Kopf flüstert mir zu, dass das der richtige Augenblick wäre, um den beiden zu erzählen, mit wem ich in letzter Zeit die Abende und Nächte verbracht habe. Aber mein Mund möchte sich einfach nicht bewegen und es laut äußern. Denn obwohl keine der beiden etwas dagegen hätte, dass zwischen Ben und mir etwas läuft, ist mein gottverdammter Stolz mir im Weg.

Ich halte den Mund und öffne ihn nur, um weitere Kurze in mich hineinzukippen. Ein Fehler - aber es ist leichter, betrunken zu sein, als sich mit einem schlechten Gewissen herumzuplagen. Und für mich ist es auch leichter, in die Offensive zu gehen, wenn ich bedrängt werde, als mich zurückzuziehen und die weiße Fahne zu hissen. Somit sollte es mich wirklich nicht wundern, dass ich schließlich mit einem Typen tanze, sobald Roni mich in seine Arme schubst. Sehr eng und aufreizend tanze. Und vielleicht küsse ich ihn sogar, als meine Schwester mich laut grölend anfeuert, oder er küsst mich, das ist für meinen benebelten Verstand nicht ersichtlich. Was ich jedoch deutlich wahrnehme, als sich der Nebel in meinem Kopf schlagartig verzieht, ist Bens finstere Miene nur wenige Meter von mir entfernt. Er starrt mich an, und der Ausdruck in seinen Augen versetzt mir einen heftigen Stoß vor die Brust, sodass ich erschrocken nach Luft schnappe.

Im nächsten Moment wendet er sich ab, richtet noch ein paar Worte an Elias, der neben Roni an der Bar steht, und verlässt den Club. Während ich im hinterher starre, lässt der Schock langsam nach. Ich kann mich endlich aus meiner Starre lösen, den aufdringlichen Kerl neben mir abschütteln und Ben hastig folgen. In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken und werden letztendlich von einer blanken Panik überdeckt.

Draußen schaue ich mich hektisch nach allen Seiten um, entdecke Ben ein ganzes Stück von mir entfernt in der Menschenmenge und stolpere los.

Nie im Leben werde ich jemals wieder auch nur einen Schluck Alkohol zu mir nehmen und solchen Unsinn machen!, versichere ich dabei meinem unglaublich schlechten Gewissen, aber es hilft nicht, das klamme Gefühl in meiner Brust zu vertreiben.

Ich erreiche Ben, als er einen Taxistand ansteuert. Schwer atmend halte ich ihn am Arm fest und hindere ihn am Weitergehen.

Sein Blick ist eisig, als er sich zu mir umdreht. »Geh wieder rein, Emma«, sagt er abweisend und deutet mit einem Nicken in unbestimmte Richtung. »Amüsiere dich noch ein bisschen.«

Ich schüttele bloß den Kopf, weil ich noch nicht richtig sprechen kann.

»Ich verstehe es nicht«, fährt er an meiner Stelle fort. »War das alles ein Spiel für dich? Eine verspätete Rache dafür, dass ich dir deiner Meinung nach dein Café weggenommen habe?«

»Nein!«, bringe ich endlich laut hervor. »Ich … Es … Ich wollte das doch alles gar nicht!«

»Was wolltest du nicht? Mit mir zusammen sein oder dich betrinken und dem nächstbesten Idioten an den Hals schmeißen?« Er starrt mich wütend an, und ich habe große Mühe, unter seinem unerbittlichen Blick nicht einzuknicken. Noch lieber würde ich losheulen.

»Beides.« Mein Mund ist schneller als mein Verstand, der immer noch unter dem Alkohol beeinträchtigt ist. Schnell schüttele ich noch einmal den Kopf. »Ich bin gerne mit dir zusammen … trotzdem gerne … aber ich wollte es nicht vor meinen Schwestern zugeben. Ich wollte das von uns nicht erzählen …« Ich suche nach den richtigen Worten, aber es ist nicht einfach, wenn im Kopf das reinste Chaos herrscht. »Dann habe ich mit dem Typen getanzt, weil ich es nicht erzählen wollte … Ich schämte mich …«

Ben schaut mich eine Weile schweigend an. »Du schämst dich so sehr für mich, dass du lieber betrunken mit einem anderen Kerl rummachst, als deinen Schwestern von uns zu erzählen? Das, was wir beide machen, ist also peinlicher als dein Verhalten da drin?«, fasst er mein Gestammel schließlich zusammen.

Betreten senke ich den Blick und spüre, dass mir nun die Tränen kommen. Es klingt wirklich hart, aber er hat es genau richtig erfasst. Ich habe mich dafür geschämt, mit ihm zusammen zu sein, und wollte es nicht erzählen, also habe ich etwas Furchtbares getan, um es weiterhin geheim zu halten. »Es tut mir leid«, murmele ich. »So wollte ich das nicht.«

»Geh wieder zurück, Emma«, wiederholt er schließlich und löst meine Finger von seinem Arm. »Ich habe mich lange genug zum Idioten gemacht.«

»Nein, ich bin der Idiot«, erwidere ich und möchte erneut nach ihm greifen, aber er macht einen Schritt von mir weg, und ich fasse ins Leere. »Ben … bitte ...«

Er dreht sich um und geht zu einem der wartenden Fahrzeuge. Völlig überfordert von dieser Situation suche ich nach den richtigen Worten, um mich zu entschuldigen, ihn zum Bleiben zu bewegen oder das Geschehene zu rechtfertigen, sodass ich mir nicht mehr ganz so schäbig vorkomme. Aber die gibt es natürlich nicht. Ich habe das getan, weswegen ich meinen letzten festen Freund verlassen habe - ihn hintergangen. Ich bin die betrügerische Arschgeige, und das fühlt sich wirklich, wirklich scheiße an.

Mit schwerem Herzen, das meine Brust ganz eng werden lässt, kehre ich zurück in den Club, um meine Jacke aus der Garderobe zu holen und meinen Schwestern zu sagen, dass ich nach Hause fahren werde.

»Was ist denn passiert?«, erkundigt sich Anja sogleich, aber ich schüttele bloß den Kopf und drücke ihr einen Kuss auf die Wange. »Okay. Nimm dir ein Taxi«, fügt sie dann hinzu. »Wenn du mich brauchst, ruf an.«

»Mach ich.« Ich schaue zu Elias, der mich mit gerunzelter Stirn mustert, und schlucke schwer. Am liebsten würde ich ihn bitten, bei Ben ein gutes Wort für mich einzulegen, aber das mache ich nicht. Es gibt nichts, was mein Verhalten rechtfertigen oder verharmlosen könnte. Und ich habe auch ein wenig Schiss, dass er über Ben und mich Bescheid weiß und mich zur Sau macht, wenn ich ihm jetzt zu nahe komme. Mit gesenktem Kopf verlasse ich den Club.

Eine Dreiviertelstunde später bin ich zu Hause und leere die Hälfte einer Wasserflasche in wenigen Zügen. Dabei streife ich ruhelos durch meine Wohnung und entdecke mehrere Dinge, die mich an Bens Anwesenheit hier erinnern. Der Pullover, der in einer Ecke meines Schlafzimmers liegt, und ein weiteres T-Shirt im Wäschekorb, das während seines letzten Besuchs schmutzig geworden ist, als wir zusammen in meiner Küche gestanden und gebacken haben. Und dann ist da noch sein Rasierwasser. Er hat es mitgebracht, als er angefangen hat, auch über Nacht zu bleiben. Ich drehe den Deckel auf, rieche daran und fange an zu weinen. Dann hole ich mein Handy aus der Handtasche und schreibe ihm unzählige Nachrichten, in denen ich ihm versichere, wie leid mir das alles tut. Von ihm kommt keine einzige zurück.

  


Am nächsten Morgen bekomme ich zu meinem schlechten Gewissen auch noch ein üblen Kater dazu. Und das verdiene ich. Ja, ich verdiene die Kopfschmerzen und die bittere Galle, die mir schwer im Magen liegt. Und ich verdiene die spannende Haut um meine Augen, die vom vielen Weinen geschwollen und rot sind. Wenn ich könnte, würde ich mir in den Hintern treten, um auch noch da Schmerzen zu haben. Weil ich es verdiene.

Nachdem ich Kaffee durchlaufen lassen habe, sammele ich all meinen Mut zusammen und rufe Ben an. Vergeblich. Auch der zweite und dritte Versuch enden damit, dass seine Mailbox angeht. Deutlicher kann er mir nicht mitteilen, dass er nicht mit mir sprechen möchte.

Während ich mich in eine erneute Backorgie stürze, um mich abzulenken, bekomme ich Besuch von meinen Schwestern. Sie lassen mir gar keinen Raum, nach einer Ausrede für mein gestriges Verhalten zu suchen, und nageln mich sofort an der Wand fest.

»Was läuft da zwischen Ben und dir?« Roni verschränkt die Arme vor der Brust und taxiert mich mit einem wachsamen Blick.

»Nichts«, erwidere ich, und bevor sie mir sagen kann, dass sie mir kein Wort glaubt, füge ich hinzu: »Nichts mehr. Er hat gestern sozusagen Schluss gemacht.«

»Ihr wart zusammen?« Überrascht zieht sie die Augenbrauen fast bis zur Stirn hoch. »Und du hast uns nichts davon erzählt? Wieso?«

»Weil ich total dämlich bin«, stelle ich ganz nüchtern fest. »Ich habe mich dafür geschämt.«

Verwirrt schüttelt sie den Kopf. »Wieso? Ben ist ein Mann, für den sich andere Frauen einen Arm rausreißen würden! Wie kann man sich für ihn schämen?«

Auch ich würde mir wohl einen Arm rausreißen, damit er mir verzeiht. »Er ist auch der Mann, der mich belogen und mir mein Café weggenommen hat«, entgegne ich leise. »Mein Stolz konnte nicht damit umgehen, dass ich ihm trotz dieser Tatsache verfallen bin. Ich wollte es euch nicht erzählen, weil ich mich deswegen geschämt habe. Und um das weiterhin geheim zu halten, habe ich mich wie jemand benommen, der nicht vergeben ist.«

»Dein dämlicher, idiotischer Stolz!« Roni schnaubt und setzt sich an den Tisch, an dem Anja bereits Platz genommen hat.

Diese ist nicht ganz so freimütig mit Schimpfwörtern. »Das lässt sich doch sicher wieder aus der Welt schaffen«, sagt sie und sieht die Dinge in ihrer gewohnten Art eher positiv.

»Er spricht nicht mit mir. Ich habe ihn den ganzen Morgen mit Anrufen belästigt, aber er geht nicht ran.« Ich reiche beiden einen Becher mit Kaffee und gieße mir selbst welchen ein.

»Er braucht wahrscheinlich etwas Zeit, um sich zu beruhigen.«

»Ja, wahrscheinlich.« Ich hoffe so sehr, dass er nach ein paar Tagen wieder mit mir kommunizieren wird, auch wenn ich immer noch nicht weiß, was ich sagen soll. Wie kann ich mein Verhalten entschuldigen und wiedergutmachen? Zumindest weiß ich jetzt, wie er sich gefühlt haben muss, als ich stets abgeblockt habe, wenn er sich bei mir entschuldigen wollte. Es ist ziemlich frustrierend.

»Und ihr wart wirklich so richtig zusammen?«, möchte Roni nun wissen und grinst mich neugierig an. »Wieso zum Teufel haben wir das nicht mitbekommen? Seit wann lief das zwischen euch schon?«

Ich setzte mich zwischen die beiden ans Kopfende und nippe an meinem Kaffee. »Seit unserer Rückkehr aus Spanien«, erzähle ich dabei mit warmen Wangen und vermeide den Blick zu einer von ihnen. »Angefangen hat es aber schon dort.«

»Angefangen hat es schon vor Monaten!«, korrigiert mich Roni. »Du wolltest es dir bloß nicht eingestehen.«

Ich zucke mit den Schultern. Vielleicht hat sie ja recht. Vielleicht war es unvermeidbar, dass wir irgendwann zusammenfinden, nachdem die Funken bereits bei unserer ersten Begegnung auf Sandys Hochzeit nur so gesprüht haben. Ich habe mich lange dagegen gewehrt, es aber letztendlich aufgegeben und zugelassen. Nur vor jemand anderem als Ben konnte ich es nicht zugeben, was mich letztendlich in die momentane Misere gebracht hat. Wenn ich könnte, würde ich meinen Stolz mit beiden Händen packen und in den Müll werfen.

»Es wird alles wieder gut. Er ist doch verrückt nach dir«, versichert Anja mir noch einmal, bevor die beiden sich eine Weile später verabschieden.

Von ihren Worten in meinem Vorhaben noch einmal bestärkt, rufe ich Ben erneut an. Und diesmal nimmt er sogar ab. Doch was er dann sagt, lässt all meine Hoffnung im Keim ersticken.

»Emma, ich habe lange über das zwischen uns nachgedacht und ich bin definitiv zu alt für diesen Kinderkram. Ich suche keine Frau, die nicht weiß, was sie will. Das gestern hat mir gezeigt, mit welcher Leichtigkeit du mir das Herz brechen könntest. Zum Teil hast du es schon getan. Ich möchte nicht in eine Beziehung investieren, die mir im schlimmsten Fall eine weitere Scheidung einbrockt. Wir hatten eine sehr schöne Zeit zusammen. Belassen wir es dabei, okay?« Er wartet gar nicht erst ab, ob ich es okay finde, und versetzt mir den Gnadenstoß: »Ruf mich bitte nicht mehr an. Das mit uns ist vorbei.«

Er legt auf, und ich lasse die Hand mit dem Handy sinken, während ich vergeblich an dem Kloß in meinem Hals herumschlucke. Das war ziemlich deutlich.

Ein Teil von mir – dieser verflucht stolze, sturköpfige Teil, der mir bisher nur Ärger eingebracht hat – findet, dass es so besser ist. Aber ich bringe ihn schnell zum Schweigen, denn er irrt sich. Ben war das Beste, das mir in letzter Zeit passiert ist. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so gut gefühlt habe wie mit ihm. In der viel zu kurzen Zeit, die wir zusammen in meinen vier Wänden verbracht haben, hat er mich oft zum Lachen gebracht, mich noch öfter zum Stöhnen gebracht und mein Herz stets höher schlagen lassen.

Jetzt fühlt es sich so an, als wäre eben dieses Herz gebrochen. In unzählige Teile zersplittert, die sich allesamt schmerzhaft in meine Brust bohren.

Kapitel: 27

 


Die ersten Tage nach dem Telefonat mit Ben bin ich mit der Gewissheit herumgelaufen, jeden Augenblick in Tränen ausbrechen zu können, weshalb ich mich also meist zu Hause im Bett verkrochen habe. Ich habe tausende Taschentücher vollgerotzt und versucht, meine Traurigkeit in Wut umzuwandeln, aber am Ende war ich immer nur wütend auf mich selbst. Auf mich und meinen bescheuerten Stolz.

Nicht selten ist Roni vorbeigekommen und hat versucht, mich aus dem Bett zu holen, aber ich habe stets abgeblockt und sie weggeschickt. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, meine Wohnung zu verlassen und mich der Welt mit all ihren Grausamkeiten zu stellen. Nicht nur mein Herz schmerzte, sondern mein gesamter Körper, und es fühlte sich so an, als würde ich nie wieder richtig atmen können.

Mittlerweile habe ich mich wieder besser im Griff. Vielleicht liegt es daran, dass ich jede Verbindung zu Ben gekappt habe, damit ich von ihm wegkommen und wieder heilen kann. Zunächst einmal vermeide ich jede Möglichkeit, auf ihn zu treffen. Das bedeutet, dass ich Roni nur noch sehe, wenn sie zu mir kommt. Es fiel mir sehr schwer, aber ich habe auch den Job bei Jordan in der Bar gekündigt, da er Bens Freund ist und ich nicht möchte, dass Ben die Bar meidet, bloß weil ich dort bin. Stattdessen arbeite ich nun in einer Bäckerei, um das Geld, das mir sonst fehlen würde, weiterhin auf dem Konto zu haben. Meine Schulden lösen sich schließlich nicht wie durch Zauberhand auf.

Glaubt man.

Mich trifft fast der Schlag, als ich eines Tages von einem Notar kontaktiert werde, der mir mitteilt, dass Hedwig Miller mir ihr Haus hinterlassen hat, zusammen mit einem ordentlichen Sümmchen Geld. Und als ob das nicht schon mehr als genug wäre, befindet sich in ihrem Haus nun auch noch ein kleines eingebautes Café. Das erfahre ich nicht nur von dem Notar, sondern auch aus einem Brief, den Hedwig vor ihrem Tod geschrieben hat.

 

 

Meine liebe Emma,

bist du überrascht, von den Toten zu hören? Ich verwette meinen runzligen Hintern darauf, dass du dein Glück kaum fassen kannst, nicht wahr?

Zunächst einmal möchte ich dir sagen: Das Leben ist zu kurz, um es unglücklich zu verbringen. Ich weiß es, denn immerhin bin ich jetzt tot und würde mich schwarz ärgern, wenn ich es zu meinen Lebzeiten nicht hätte vernünftig krachen lassen. Wenn du also immer noch deine Zeit damit verschwendest, dich selbst zu bemitleiden, habe ich nun eine neue Aufgabe für dich.

In meinem bescheidenen Heim erwartet dich und deine Zauberhände ein Café. Du hast freie Hand, wie du es einrichten und führen möchtest, ich verlange nur, dass du dir einen ordentlichen Namen einfallen lässt. Und dass kein Köter oder irgendeine nervtötende Mieze mir dort den Boden vollscheißt!

Nutze diese zweite Chance, um es richtig zu machen. Lass nicht zu, dass dir jemand das nimmt, was dich glücklich macht. Und vergiss nicht, dir zwischen all der harten Arbeit auch mal eine Auszeit zu gönnen. Mach Urlaub, sieh dir die Welt an. Oder geh aus und finde einen Mann, der dich glücklich macht. Wer nicht mindestens einmal mit Haut und Haaren geliebt hat, der hat auch nicht richtig gelebt. Also, tu‘s!

Falls nicht, stehe ich höchstpersönlich von den Toten wieder auf und trete dir in deinen hübschen, immer noch knackigen Hintern.

  


Lachend wische ich mir die Tränen von den Wangen und drücke den Brief fest an meine Brust. »Ach, Hedwig!«, stoße ich dabei aus und schüttele den Kopf. »Dich muss mir damals echt der Himmel geschickt haben.« Es grenzt an ein Wunder, was mir hier gerade widerfährt. Etwas, das normalerweise nur in Büchern oder Filmen vorkommt. Ich habe Angst, dass ich jeden Moment aufwachen könnte und alles bloß ein schöner Traum gewesen ist.

Erst, als ich mich ein paar Tage später mit dem Notar getroffen und alle Einzelheiten genauestens durchgegangen bin, wage ich es, daran zu glauben, dass alles wieder gut wird. Ich werde den Schuldenberg los, der mich zu erdrücken droht, und bekomme gleichzeitig eine neue Chance, meinen größten Traum weiter zu verfolgen.

Sofort schreibe ich Anja, die sich in Tokyo befindet, eine Nachricht und rufe anschließend Roni an, um mich mit ihr zu verabreden.

Sie ist gerade dabei, die Geburtstagsparty für Elias vorzubereiten, und bietet mir an, vorbeizukommen.

»Ben wird um sechs Uhr auch hier sein«, fügt sie am Ende hinzu. »Ich denke, das solltest du wissen, um keine böse Überraschung zu erleben.«

Ich bin überrascht, dass sie es mir erzählt und nicht versucht, etwas einzufädeln. Vermutlich hat Ben sie inständig darum gebeten, ihm ihre lästige, betrügerische Schwester vom Leibe zu halten.

»Ich bleibe nur kurz, um dir etwas Wichtiges zu erzählen«, erwidere ich leise. »Bevor er da ist, bin ich längst wieder weg.«

Ich versuche, mir die gute Laune nicht davon verderben zu lassen, dass ich nicht erwünscht bin, und mache mich auf den Weg. Als ich endlich an der von Roni durchgegebenen Adresse angekommen bin, habe ich nicht mehr viel Zeit übrig und sprudele sofort los, sobald ich vor meiner Schwester stehe. Mit jedem Satz, den ich äußere, zeichnet sich immer mehr Erstaunen in ihrem Gesicht ab. Am Ende grinst sie über beide Ohren und umarmt mich.

»Das ist ja der Wahnsinn, Emma!«, sagt sie dabei begeistert.

»Ja. Endlich verziehen sich die düsteren Wolken von meinem Himmel.«

»Es wurde aber auch echt Zeit dafür.«

Ich nicke und schaue mich in dem stilvoll eingerichteten Raum um. »Hier feiert Elias also?«

»Ja, am Samstag. Du bist doch nicht sauer, weil ich dir nicht Bescheid gegeben habe, oder?«

»Nein, ich verstehe es«, beeile ich mich zu sagen und ignoriere den Stich in meiner Brust. »Ben möchte mich nicht hier haben. Und da er Elias‘ bester Freund ist, geht er natürlich vor. Was mich nur ein bisschen ärgert, ist … Ich habe ihm auch verziehen und mich auf ihn eingelassen. Warum kann er nicht über seinen Schatten springen?«

»Vielleicht möchte er ja bloß sehen, dass du um ihn kämpfst?«, schlägt Roni achselzuckend vor. »Ich meine, er ist dir monatelang hinterhergelaufen und hat sich mehrmals entschuldigt, bevor du dich auf ihn eingelassen hast.«

»Und ich wollte mich auch entschuldigen, aber er hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich ihn nicht mehr anrufen soll«, wende ich ein.

»Dann ruf ihn nicht an, sondern sag es ihm direkt.«

Ich verziehe das Gesicht. »Und wenn er mir nicht einmal zuhören wird, sondern mich gleich zum Teufel schickt?«

»Dann hast du es wenigstens versucht.« Lächelnd hält sie mir eine Karte hin, die sich bei näherem Betrachten als Einladungskarte zu Elias‘ Geburtstagsfeier entpuppt.

Zögernd nehme ich sie entgegen und stecke sie in meine Handtasche. »Ich überlege es mir.«

»Seit wann ist Emma Leimann ein Feigling?«, fordert Roni mich noch einmal heraus und zwinkert mir mit einem Auge zu. »Samstag, ab sieben Uhr geht es los. Ich könnte dich heimlich einschleusen. Sag mir einfach nur Bescheid.«

»Hast du keine Angst, dass ich die ganze Party ruiniere?«

»Nö. Und wenn doch, dann werde ich einfach so tun, als hätte ich nichts davon gewusst.«

Lachend stupse ich sie mit der Schulter an und schaue auf meine Armbanduhr. »Shit, es ist bald sechs, ich muss los.« Ich drücke Roni noch einen Kuss auf die Wange und mache mich dann auf den Weg nach draußen.

»Bis Samstag!«, höre ich sie noch hinter mir rufen.

In guter Entfernung zu dem Gebäude, in dem sich die Lounge befindet, bleibe ich stehen und drücke mich wie ein Verbrecher in einen Hauseingang. Gott, es ist so erbärmlich, aber der Wunsch in mir, Ben nach viel zu langer Zeit wiederzusehen, ist größer als mein Stolz.

Als sein dunkler Wagen schließlich auftaucht und auf den Parkplatz neben dem Gebäude fährt, beschleunigt sich mein Herzschlag, nur um gleich darauf einen Dämpfer verpasst zu bekommen. Ben ist nicht allein. Eine wunderschöne Frau mit dunklen Locken steigt durch die Beifahrertür aus. Erst als sie sich umdreht, erkenne ich Maria. Wahrscheinlich ist sie angereist, um den Geburtstag ihres Cousins mitzufeiern.

Sie und Ben sind nur Freunde, also müssen meine Organe gar nicht so rebellieren! Vielleicht tun sie es auch gar nicht aus Eifersucht, sondern weil es mich umhaut, ihn zu sehen. Seine große Gestalt, die breiten Schultern unter dem Herbstmantel, der leichte Bartschatten, der bereits am Abend seine Wangen bedeckt, auch wenn er sich morgens frisch rasiert hat. Ich vermisse ihn so sehr, und jeder Versuch, mir einzureden, dass ich hervorragend ohne ihn zurechtkomme, ist eine riesengroße, fette Lüge. Ich habe es satt, mich selbst zu belügen und vor mich hin zu leiden, auch wenn der Kummer der letzten Zeit mir bei der Eröffnung meines neuen Cafés durchaus nützlich sein könnte, denn er beflügelt meine Backfertigkeiten. Wie oft ich in den vergangenen Wochen meinen Ofen überstrapaziert und die Nachbarschaft mit Küchlein, Keksen und Muffins versorgt habe, kann ich gar nicht mehr zählen. Auf jeden Fall habe ich mich bei vielen hungrigen Mitmenschen äußerst beliebt gemacht.

Nachdem Ben und Maria im Hauseingang verschwunden sind, stoße ich die angehaltene Luft mit einem Seufzen aus und mache mich auf den Heimweg. Der kurze Blick auf ihn hat gereicht, um einen Entschluss zu fassen.

  

 

***

 


Am Samstagmorgen kann ich endlich Hedwigs Geschenk in Empfang nehmen. Der Schlüssel wird mir von einem älteren Herren ausgehändigt, und nur zwanzig Minuten später stehe ich in den erstaunlich großzügigen Räumlichkeiten meines neuen Cafés. Der Boden ist mit cremig-weißen Fliesen ausgelegt, die Wände in ähnlicher Farbe gestrichen, und überall hängen schwarz-weiße Fotodrucke, die Hedwigs Leben zeigen.

Lächelnd gehe ich den Hauptraum ab und betrachte jedes einzelne Bild, streiche immer mal wieder mit den Fingern über das einst wunderschöne, junge Gesicht meines rettenden Engels.

Es fehlen noch Möbel und anderer Schnickschnack, der dem Ganzen eine weitere eigene Note verleiht, aber ansonsten sieht es bereits ziemlich einladend und gemütlich aus. 

Ich stelle mich an den Tresen in einer Ecke des Zimmers und hole den mitgebrachten Zeichenblock aus meinem Rucksack. »Hedwig's Schnack«, kritzele ich auf das obere Blatt und verwende den Apostroph, um an ihre Zeit in den Staaten zu erinnern. Ich bin mir sicher, dieser Name hätte der ursprünglichen Hausbesitzerin gut gefallen.

Stundenlang bleibe ich dort und zeichne, bis ich endlich zufrieden mit dem Logo bin. Zwischendurch streune ich durch den Rest des riesigen Hauses und kann immer noch nicht glauben, dass es wirklich mir gehören soll. Die meisten Räume sind leer, und ich frage mich, wofür in Gottes Namen ich so viele Zimmer brauchen könnte. Aber ich möchte mich auf keinen Fall darüber beschweren!

Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir schließlich, dass ich an diesem Tag noch eine wichtige Aufgabe zu erledigen habe. Eine Aufgabe, bei der ich mir bereits in die Hosen mache, wenn ich nur daran denke. Am liebsten würde ich kneifen und mich in meiner Wohnung im Bett verkriechen, aber ich zwinge mich dazu, auf keinen Fall den Schwanz einzuziehen. Ich werde mich bei Ben entschuldigen und ihm sagen, was ich für ihn empfinde. Und dann werde ich mich unter meiner Bettdecke verstecken und beten, dass er mir verzeiht.

Auf dem Weg zu Elias' Geburtstagsfeier flippe ich beinahe aus, mache aber weiterhin keinen Rückzieher. Emma Leimann ist kein Feigling! Sie ist stur, kratzbürstig und manchmal brutal, aber sie sieht auch ihre Fehler ein und gibt sich Mühe, sie wiedergutzumachen. Bisher habe ich mir nicht sonderlich viel Mühe gegeben, aber das wird sich nun ändern. Und dann liegt es allein an Ben, was er daraus macht.

Wie Roni es mir versichert hat, schleust sie mich in Geheimagenten-Manier in die Lounge und bedenkt mich sofort mit einem Kopfschütteln. »Du bist nicht passend gekleidet für eine Versöhnung. Wenn du um Verzeihung bittest, musst du megaheiß aussehen, damit der Kerl nicht einmal auf die Idee kommt, dir nicht zu verzeihen«, lauten ihre weisen Worte.

»Ich bin viel zu nervös, um mich auch noch um mein Aussehen zu kümmern«, entgegne ich und schaue an mir runter. »Die Jeans ist doch in Ordnung, oder nicht?«

»Ja, aber du trägst einen Hoodie. Nein, komm mit!« Sie ergreift meine Hand und führt mich zu einem abgeschiedenen Raum, den sie mit einem Schlüssel öffnet. »Ich konnte mich nicht entscheiden, was ich heute anziehe, also habe ich gleich mehrere Kleider mitgenommen.« Sie schaltet das Licht an und deutet auf ein Sofa in der Ecke, auf dem mehrere kurze Glitzerkleidchen liegen.

»Gott, Roni, nein!«, stoße ich kopfschüttelnd aus. »Ich kann doch nicht in so einem kaum vorhandenen Fummel vor Ben treten. Darin fühle ich mich überhaupt nicht wohl. Und wenn ich schon vor ihm auf Knien rumrutschen muss, dann doch bitte nicht halbnackt.«

»Ich wette, er hätte nichts dagegen, wenn du halbnackt vor ihm kniest.« Roni grinst dreckig, wird aber gleich wieder ernst. »Okay, möchtest du das hier anziehen?« Sie deutet auf ihren Körper, der in einem knielangen Kleid in einem schönen dunkelblauen Farbton steckt.

»Ja, dann lieber das.«

Schnell schlüpfen wir aus unseren Klamotten, und ich streife mir ihr Kleid über, während sie einen kaum vorhanden Glitzerfummel anzieht. Das dunkelblaue Kleid sitzt ein wenig locker an der Oberweite und etwas zu eng am Hintern, aber im Großen und Ganzen fühle ich mich darin wohl.

Tief durchatmend folge ich Roni zurück zu der Lounge und bleibe vor den Türen stehen. Schweiß rinnt mir über den Rücken, in meinem Magen wird es ganz flau und dann kribbelig vor Angst und Aufregung.

»Und wenn er nicht mit mir sprechen oder mir zuhören möchte?«, frage ich panisch. Vielleicht ist Emma Leimann ja doch bloß ein Feigling und sollte jetzt einfach nach Hause gehen, den Liebeskummer durchstehen und nach vorne blicken.

»Du lässt es gar nicht so weit kommen«, entgegnet Roni, legt ihre Hände auf meine Schultern und bugsiert mich zu den leicht geöffneten Türen. Meine Beine fühlen sich wie eine weiche Gummimasse an, während ich wie ein Schatten hindurch husche. Meine Augen suchen den riesigen Raum ab und entdecken Ben schließlich, als er gerade um eine Ecke biegt.

Ich atme noch einmal tief durch, verscheuche meinen inneren Schweinehund und laufe Ben nach. Ich möchte das ganz schnell hinter mich bringen, und wenn er mir immer noch nicht vergeben kann, fahre ich nach Hause und lecke dort meine Wunden. Oder backe wieder für eine Fußballmannschaft.

Um die Ecke befinden sich die Toiletten. Ich bleibe an die Wand gelehnt stehen und erinnere mich daran zurück, wie er damals auf Sandys Hochzeit ebenfalls vor den Waschräumen auf mich gewartet hat, um mit mir zu sprechen, nachdem ich ihn auf der Tanzfläche stehen gelassen habe. Das liegt schon gefühlt hundert Jahre zurück, und in dieser Zeit ist so viel passiert. Ich habe es sogar geschafft, ihm seine Lügen und meinen Verlust zu verzeihen. Und zwar richtig zu verzeihen. Dafür musste ich ihn bloß verlieren, um dann zu merken, wie viel er mir bedeutet. Jetzt bleibt mir nichts mehr übrig, als zu hoffen, dass er mir ebenfalls verzeihen kann.

Kurz darauf verlässt Ben die Männertoilette und bleibt stehen, als er mich entdeckt. Noch bevor er etwas sagen und mich womöglich wegschicken kann, hole ich tief Luft und sprudele los: »Ich … ähm … ich habe mir so viele Worte im Kopf zurechtgelegt, aber wie es nun mal in solchen Momenten ist, vergisst man eh alles.« Entschuldigend zucke ich mit den Schultern. Es ist auch nicht gerade hilfreich für mein überfordertes Hirn, dass mein Gegenüber unglaublich scharf aussieht. Er trägt ein weißes Hemd und darüber eine hellgraue Weste, das Gesicht ist frisch rasiert, die Haare etwas länger, als ich sie in Erinnerung habe. Ich möchte ihn einfach an mich ziehen und küssen, aber das würde bei Ben nicht funktionieren. Ich habe ihn mit meinem Verhalten viel zu sehr verletzt, und das konnte ich nur, weil ich ihm ebenfalls viel bedeutet haben muss. Hoffentlich genug, um mir meinen fürchterlichen Fehler doch noch zu verzeihen.

»Ich verstehe gut, dass du sauer auf mich warst und es wahrscheinlich auch noch bist«, fahre ich schnell fort. »Was ich getan habe, war völlig daneben. Und ich bereue es zutiefst, glaub mir. Elias hat mal angedeutet, dass du mich damals belogen hast, weil du Angst hattest. Ich habe es nicht verstanden ... aber jetzt verstehe ich es. Ich selbst war ein Feigling, als es darum ging, das Richtige zu tun. Ich habe den für mich leichteren Weg gewählt und gehofft, dass ich damit durchkomme. Aber das ist nicht passiert. Ich bin aufgeflogen und habe dich mit meinem Verhalten sehr verletzt. Wenn ich ehrlich gewesen wäre, zu mir selbst und allen anderen, hätte ich das vermeiden können. Aber ich war ein Feigling, weil ich mir nicht eingestehen wollte, wie viel du mir -«

»Ben?«

Ich zucke zusammen, als eine mir nur allzu bekannte Frauenstimme meinen Monolog durchbricht. Maria erscheint hinter Ben und schaut mich verwundert an.

Ich würde ihr am liebsten in ihren prallen Latina-Hintern treten!

»Emma, ich wusste gar nicht, dass du auch hier bist«, richtet sie nun auf Englisch an mich.

»Sie ist nicht eingeladen«, sagt Ben, bevor ich etwas erwidern kann, und wendet seinen Blick von mir ab, um sie anzusehen.

Autsch. Das war ziemlich deutlich. Er möchte mich nicht hier haben, und meine Entschuldigung kann ich mir wohl auch in den Allerwertesten schieben.

Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter und recke mein Kinn. »Richtig, ich bin nicht eingeladen. Ich bin nur hier, um mich bei Ben zu entschuldigen. Und um ihm zu sagen, dass ich es trotz aller Bemühungen nicht geschafft habe, mich nicht in ihn zu verlieben. Also, Ben, ich habe mich total in dich verliebt.« Hilflos breite ich die Arme aus. »Und ich war zu feige, um dazu zu stehen. Es tut mir leid, dass ich dich erst verletzen musste, bevor ich es zugeben konnte. Vielleicht solltest du das noch wissen, bevor ich wieder aufhöre, mich hier zum Affen zu machen.«

Zum Affen machen trifft es ziemlich genau. Er möchte mich nicht hier haben und steht da mit einer wunderschönen Frau, die er schon seit Ewigkeiten kennt und die ihn anhimmelt und sich sicher nie für ihn schämen würde, während ich ihm meine Liebe gestehe.

Oh, mein Gott, ich sterbe gleich vor Scham!

Bevor ich noch Hedwig frühzeitig ins Paradies folge, wende ich mich ab und eile so schnell mich meine Füße tragen können aus dem Gebäude. Draußen stehen wartende Fahrzeuge, die wohl die Gäste nach Hause fahren sollen. Ich schlüpfe auf einen Rücksitz und nenne dem Fahrer meine Adresse.

Während die Lichter des Hafens am dunklen Fenster vorbeiziehen, wische ich mir die Tränen von den Wangen und schüttele über mich selbst den Kopf. Wenigstens kann ich mir nicht länger vorwerfen, nicht alles versucht zu haben. Ich habe mich entschuldigt und ihm meine Gefühle gestanden. Was er nun daraus macht, kann ich nicht länger beeinflussen.

Zu Hause mache ich zumindest wieder das, was mir am besten hilft, wenn ich völlig durch den Wind bin – ich backe. Muffinförmchen, Eier und ganz viel Schokolade zieren die Küchenzeile – und eine Menge Mehl Ronis schickes Kleid –, als es plötzlich an der Tür klingelt.

Kapitel: 28

 


Mit dem Handrücken wische ich mir über die Stirn und damit die losen Strähnen aus dem Gesicht, dann schaue ich auf das Chaos in meiner Küche und überlege, ob ich es noch schnell beseitigen könnte, bevor ich öffnen gehe. Mein Herz klopft aufgeregt und hofft, dass es Ben ist, der mir letztendlich doch gefolgt ist. Aber es könnte auch Roni sein. Oder ein Gangster, der mich ausrauben möchte.

Über diesen Gedanken schüttele ich den Kopf und schleiche in den Flur, als es auch schon ein weiteres Mal klingelt. So leise wie möglich schaue ich durch den Türspion und lächele, bevor ich öffne.

Ben schaut auf und lässt seinen Blick langsam über meinen Aufzug gleiten. Als er mir schließlich ins Gesicht sieht, hebt er beide Augenbrauen. »Wurdest du von einer Mehlpackung attackiert?«, fragt er grinsend.

Und mir geht das Herz auf. Wirklich. Es ist kitschig und albern und total Hollywood-Schnulzen-mäßig, aber es fühlt sich so an, als würde mein Herz auf die doppelte Größe anschwellen. Bei unseren letzten Begegnungen waren seine Blicke wütend oder abweisend und haben mich verletzt, jetzt sehe ich die Wärme in seinen Augen, die ich furchtbar vermisst habe.

»Ja, und auch von diversen anderen Zutaten«, erwidere ich auf seine Frage hin. »Sie haben mich hinterrücks angefallen und ein ordentliches Chaos in der Küche angerichtet.« Ich mache einen Schritt zurück und öffne die Tür etwas weiter. »Möchtest du reinkommen?«

Ihn wieder in meiner Wohnung zu haben, fühlt sich toll an. Richtig. Und wenn ich nicht noch etwas unsicher oder voller Mehl wäre, würde ich mich einfach in seine Arme werfen. So aber gehe ich voran in die Küche und stelle den Timer aus, der durch alle Zimmer schrillt.

»Wie gesagt: hinterrücks überfallen.« Schnell hole ich die Muffins aus dem Ofen und stelle sie auf einem Blech ab. »Ich räume das gleich auf, es ist nur -«

Ich komme nicht weiter, denn Ben packt mich am Handgelenk und zieht mich zu sich. »Später«, sagt er bloß, während seine Wärme und sein Duft mich völlig vereinnahmen.

»Ich … mache dich ganz schmutzig«, flüstere ich und deute auf den weißen Fleck auf seinem dunklen Mantel.

»Ich mache mich gerne mit dir schmutzig.« Sein Blick gleitet zu meinen Lippen und sein Daumen wischt über meine Wange.

Ich empfinde so viel auf einmal, dass ich es nicht einmal einzeln benennen kann. Vor allem bin ich erleichtert und froh, dass er hier ist. Und dann bin ich auch total wuschig. Ehrlich, da reicht bloß ein Blick aus seinen schönen Augen, eine Berührung – und ich möchte ihm die schicken Klamotten vom Leib reißen. Daran hat sich nichts geändert, trotz der Distanz der letzten Wochen. Im Gegenteil - ich muss ihm sofort so nah wie möglich sein.

»Heißt das jetzt, dass du mir verzeihst?«, möchte ich vorsichtshalber bestätigt haben, falls ich das Offensichtliche doch falsch deute.

»Ich denke, ja. Wenn du bereit bist, vollständig zu mir zu gehören.« Die Kuppe seines Daumens hat meine Unterlippe erreicht.

Ich bin mehr als bereit, hake aber dennoch nach, was genau das bedeutet.

»Kein Rummachen mit anderen, damit das klar ist. Egal, welche Gründe dich dazu verleiten sollten. Wenn du mich noch einmal hintergehst, bin ich weg. Und dann für immer.« Auf mein entschlossenes Nicken hin fährt er fort: »Und dann sind da noch Dates. Jede Menge Dates. Überall, damit auch jeder mitbekommt, dass du bis über beide Ohren in mich verschossen bist«, erklärt er.

Da mich diese Tatsache immer noch verlegen macht, knuffe ich ihm in die Seite. »Vielleicht sollte ich mir gleich ein Tattoo stechen lassen.«

»Gute Idee«, bestätigt er nickend.

»Deinen Namen auf meinem Hintern. Wie wäre das?«, frage ich scherzend, als mich tiefe Erleichterung durchflutet.

»Das wäre echt klasse, würde aber niemand außer mir sehen können.«

Lachend lege ich meine Hände in seinen Nacken und stelle mich auf die Zehenspitzen. »Okay. Kein Rummachen mit anderen, deinen Namen auf meinem Hintern, viele Dates  ... und noch mehr Sex. Schmutzigen, versauten Emma-Sex«, füge ich zu seinen Anforderungen hinzu.

»Oh Mann, ich liebe schmutzigen, versauten Emma-Sex«, stößt er daraufhin mit einem Stöhnen aus. »Vielleicht sollten wir gleich damit anfangen.« Ohne Umschweife hebt er mich hoch, und wie durch einen stummen Befehl ausgelöst, schlinge ich die Beine um ihn.

Meine Lippen kleben an seinen und berauschen sich am unvergleichbaren Geschmack seines Mundes, während er mich ins Schlafzimmer trägt. Kaum hat er mich auf dem Bett abgesetzt, zerre ich auch schon an seinem Mantel. Sobald die störende Kleidung auf dem Boden verteilt liegt, gleitet er auf mich und ich seufze erleichtert, als seine warme Haut meine berührt. Etwas Besseres als das hier - als Ben und Emma - gibt es nicht. Das habe ich nun begriffen. Und ich werde einen Teufel tun, noch einmal etwas abzuziehen, das dieses Glück zerstören könnte. Ben gehört zu mir, so einfach ist das.

 

 

***

 


Am Abend vor der Eröffnung meines neuen Cafés überzeugen Roni und ich uns davon, dass auch wirklich alles bereit für den großen Tag ist. Else, meine treue Seele, war kurz zuvor auch noch da und hat uns geholfen. Vor wenigen Minuten ist sie gegangen, daher wundert es mich, als ich ein Klopfen aus dem Hauptbereich vernehme.

»Erwartest du jemanden?«, frage ich meine Schwester.

Sie schüttelt den Kopf. »Elias holt mich erst in einer halben Stunde ab. Erwartest du vielleicht jemanden?«

»Nein. Ben arbeitet noch. Anja kommt erst in der Nacht an, Leon und Mama kommen erst morgen zur Eröffnung.« Zögernd mache ich ein paar Schritte zur Durchgangstür. »Mach ruhig die Kasse zu Ende. Falls ich in fünf Minuten nicht zurück bin, schnapp dir etwas Spitzes und komm nach.«

Ich trete in den Hauptbereich des Cafés und überlege, ob ich das Licht einschalten soll. Dieser Gedanke verflüchtigt sich, als ich erkenne, wer draußen vor der Tür steht, angeleuchtet vom schummrigen Nachtlicht. Meine Füße bewegen sich von allein, und sobald ich die Tür geöffnet habe, bringe ich kein Wort heraus, auch wenn sich in meinem Kopf unzählige Worte befinden, die durcheinander wirbeln.

»Hallo, Emma.« Vor mir steht mein Vater und lächelt mich an, so, wie er es auch früher oft getan hat - liebevoll und bewundernd. »Ich bin froh, dass ich dich nicht verpasst habe. Darf ich hereinkommen?«

Immer noch perplex bringe ich bloß ein Nicken zustande und mache einen Schritt zurück, damit er eintreten kann. 

»Es ist sehr schön geworden«, sagt er, nachdem er sich kurz in dem dunklen Raum umgesehen hat. »Morgen ist die Eröffnung?«, wendet er sich wieder an mich.

Ich nicke erneut. Mein Mund bewegt sich einfach nicht.

»Schön. Dann wünsche ich dir viel Erfolg.«

Endlich schaffe ich es, mich aus meiner Starre zu lösen. »Was machst du hier?«, frage ich meinen Vater etwas zu harsch.

»Ich habe gehört, dass du ein neues Café eröffnest, und ich wollte dir alles Gute dafür wünschen«, entgegnet er, ohne sich von meinem Ton abschrecken zu lassen. »Außerdem wollte ich mich für deine Karte bedanke.«

»Es war doch bloß eine Karte«, murmele ich.

»Nein, Emma, es war nicht bloß eine Karte.« Er schüttelt langsam den Kopf, und jetzt erkenne ich die Unsicherheit und tiefe Traurigkeit in seinen braunen Augen, die mein Herz ganz schwer werden lassen. »Es war eine Karte von meiner Tochter, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen und mit der ich genauso lange nicht gesprochen habe.« 

Ich schlucke hart und verschränke die Arme vor der Brust, als würde ich mich vor den ganzen Gefühlen, die mich plötzlich überkommen, abschotten wollen. Aber es gelingt mir nicht. Sie fallen gnadenlos über mich her, und ich habe große Mühe, meine Tränen zurückzuhalten. Ich könnte ihm jetzt um den Hals fallen und eine tränenreiche Versöhnung feiern - aber ich mache es nicht. Ich kann nicht. Es tut immer noch zu sehr weh, ihn anzusehen. 

Einen langen Moment stehen wir schweigend da, während ich den Blick gesenkt halte, dann verabschiedet sich mein Vater plötzlich und geht zur Tür.

»Wenn du magst, kannst du mal vorbeikommen. Ich spendiere dir einen Kaffee.« Die Worte sind raus, bevor ich mir überhaupt bewusst werde, wie dringend ich sie aussprechen wollte. Schon so lange, aber ich habe es mir stets verboten. Und obwohl ich ihm jetzt und hier nicht vergeben kann, möchte ich nicht, dass er in dem Glauben geht, ich würde weiterhin kein Wort mit ihm reden. Denn so ist es nicht. Ich möchte es bloß langsam angehen lassen, damit es auch wirklich funktioniert.

»Das klingt toll. Ich nehme deine Einladung gerne an.« Er lächelt, nickt mir noch einmal zu und geht.

Ich starre die geschlossene Tür an und versuche zu ergründen, was da eben geschehen ist. Ein wenig kommt es mir noch so vor, als wäre ich zu einer Statue geworden. Kaum habe ich meinen Vater nach drei Jahren zum ersten Mal wiedergesehen, bin ich erstarrt. Nie im Leben habe ich damit gerechnet, dass er an diesem Abend hier erscheinen, sich bedanken und mir alles Gute wünschen würde. Aber so ist es vor wenigen Minuten geschehen, auch wenn ich es erst noch verarbeiten muss.

»Emma, was machst du da?« Roni erscheint hinter mir und haucht endlich Leben in meinen Körper.

Ich drehe mich zu ihr und zeige mit einem Finger zur Tür. »Papa war eben hier.«

»Wirklich? Was wollte er? - Moment, hast du ihn etwa weggeschickt?«

»Nein. Er hat sich für meine Geburtstagskarte bedankt und mir alles Gute für morgen gewünscht. Und dann habe ich ihn auf einen Kaffee eingeladen.« Jetzt, wo ich es ausspreche, wird mir langsam richtig klar, was geschehen ist. Und mein Herz klopft aufgeregt, und ja, auch erfreut. In letzter Zeit habe ich nämlich sehr oft an unseren Vater denken müssen. An ihn und an die Funkstille zwischen uns. Und mindestens genauso oft habe ich überlegt, wie es wäre, wieder mit ihm zu sprechen. Jetzt weiß ich es, und ich bin immer noch völlig aus dem Häuschen deswegen.

»Emmi, ich habe mich vor ein paar Tagen mit Paps getroffen«, gesteht Roni im nächsten Moment. »Und ich habe ihm verziehen. Jetzt, wo Mama einen neuen Mann in ihrem Leben hat und unserem Vater längst nicht mehr hinterher weint, wollte ich ihm eine neue Chance geben.«

Ich nicke langsam. »Wir haben drei Jahre nicht mit ihm gesprochen ... vielleicht ist es wirklich Zeit für eine zweite Chance.«

Sie lächelt breit. »Er wird sich darüber freuen, wenn du sie ihm gibst. Und ich sehe dir an, dass du das unbedingt möchtest.«

Roni hat recht. Ich vermisse unseren Vater, auch wenn ich es nie laut ausspreche und die letzten Jahre damit verbracht habe, alles, was ihn betrifft, von mir zu drängen. Aber ich bin es leid. In meinem Leben hat ein neuer Abschnitt begonnen, und ich glaube, dass es darin noch einen Platz gibt, der bisher leergeblieben ist. Für eine ganz bestimmte Person, die mir schrecklich fehlt.

Die Stille wird von Ronis Handy durchbrochen, und wir beide zucken fürchterlich zusammen.

»Das ist Elias«, sagt sie nach einem Blick aufs Display. »Er ist in fünf Minuten da.«

»Dann lass uns noch schnell die Kasse wegschließen, bevor wir gehen.«

Fünf Minuten später ist Elias da - und er hat seinen besten Freund dabei. Sobald ich Ben sehe, ist alles andere vergessen und es herrscht helle Aufregung in mir. So habe ich noch nie für einen Mann empfunden, und diese Gefühle sind aufregend und berauschend. Am liebsten würde ich ihm um den Hals fallen und ihm zeigen, wie sehr ich ihn vermisst habe, aber ich beherrsche mich. Noch sind solche Liebesbekundungen vor anderen ziemlich ungewohnt für mich, aber ich habe mir fest vorgenommen, mich in Zukunft dahingehend zu bessern. Auf keinen Fall möchte ich es noch einmal riskieren, ihn durch meine Unzulänglichkeit zu vergraulen.

»Bleibt heute nicht zu lange wach, wir müssen morgen um sechs hier sein«, erinnert mich Roni mit einem anzüglichen Grinsen, als wir nach draußen treten und ich die Tür abschließe.

»Halte du dich mal schön selbst an diesen Rat«, entgegne ich lächelnd. Und wie wir lange wach bleiben werden! Immerhin habe ich Ben durch den ganzen Stress der Neueröffnung fast eine ganze Woche nicht gesehen. Ich werde ihm heute nicht mehr von der Pelle rücken, das steht fest.

»Ich werde dafür sorgen, dass Emma früh ins Bett kommt«, verspricht der nun an meine Schwester gewandt. Sein zweideutiger Ton ist nicht zu überhören, und ich grinse zurück, als er mir zuzwinkert.

»Ja, das glaube ich dir sofort«, entgegnet Roni lachend und hakt sich bei Elias ein. »Und so schnell kommt sie nicht wieder aus dem Bett raus.«

Mit warmen Wangen folge ich ihnen zu den am Straßenrand parkenden Autos und genieße die Vorfreude auf später, wenn Ben und ich endlich allein sind.

Schließlich verabschieden wir uns von meiner Schwester und Elias und steigen in Bens Wagen. In der nächsten Sekunde beugt er sich zu mir rüber, und ich lege meine Hände an seine Wangen und küsse ihn lange und mit all der Sehnsucht, die ich empfinde.

»Du hast mir auch gefehlt«, sagt er leicht außer Atem, als ich ihn endlich freigebe, und lehnt sich zurück. Dann schnallt er sich an. »Also, zu dir oder zu mir?«

»Zu dir«, antworte ich sofort.

Überrascht sieht er mich an. Es ist nicht das erste Mal, dass er mir diese scherzhaft gemeinte Frage stellt, aber bisher habe ich mich noch nicht getraut, sein Apartment wieder zu betreten, obwohl ich mittlerweile zu Ben und zu unserer Beziehung stehe. Das wird sich heute Abend ändern. Ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.

»Zu dir«, wiederhole ich noch einmal lächelnd. »Und dort werde ich dir erzählen, wer mich vorhin besucht hat. Und danach kannst du mich ins Bett bringen, wo wir alles machen werden, nur nicht schlafen. Wie klingt das?«

»Das klingt gut.« Ben erwidert mein Lächeln und startet den Motor. »Das klingt verdammt gut.«

Impressum

Texte: Liz Shereako
Bildmaterialien: pexels.com
Cover: Liz Shereako
Tag der Veröffentlichung: 27.10.2018

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ihr neuen und treuen Seelen, vielen Dank, dass ihr meine Worte mögt.

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