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Lili heiratet

Inhaltsverzeichnis

 

1 Traum

2 Realität

3 Wahnsinn

4 Problemzonen

5 Chaos

6 Feiertag

7 Fragen

8 Antworten

 

 

 

 

Lili heiratet

oder

Warum habe ich nicht NEIN gesagt?

 

Ein Roman von Pia Baum

 

 

 

 

 

 

Die Leute sind komplett verrückt!

Das Leben ist doch dermaßen großartig!

ZAZ alias Isabelle Geffroy

 

 

Für ULK.

Ohne euch hätte es diesen Roman nie gegeben.

Danke!

Februar 2015

 

 

 

 

Personen und Handlung in diesem Buch sind frei erfunden; jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt. Das Ruhrgebiet dient als Kulisse, wobei ich mir die künstlerische Freiheit genommen habe, die örtlichen Gegebenheiten bisweilen anzupassen.

1 Traum

  1. 1 Traum

Wo blieb die passende, dramatische Musik? Für einen Moment unachtsam, und schon versank ich im Schlamassel. Auf nichts war Verlass! Dabei verlangte ich doch wohl nicht zu viel, nur einen dezenten Hinweis. Es mussten ja nicht immer Pauken und Trompeten sein. Obwohl ich ein lautstarkes Gewitter begrüßt hätte, so mit Blitz und Donner. Oder zumindest ein Glöckchen, das in meinem Inneren nervös vor sich hinbimmelte und mich alarmierte: ‘Achtung, Ada! Jetzt! Pass auf! Sei wachsam! Obacht!‘ Sowas in der Art halt, das wäre doch okay.

Aber nein, nichts tat sich, gar nichts, als Lili schniefend und betrübt in meiner Küche saß und mir wortreich ihr Leid klagte. Dass ihr Freund Tom das fünf-monatige Jubiläum so schmählich missachtet hatte, als er ihr nur fünf lächerliche langstielige Rosen zusammen mit dem Frühstück im Bett kredenzte. Auch noch weiße Rosen! Lili schluchzte, und ich kapierte gar nichts.

Ich fragte mich nur: Wo war das Problem? Nicht dass ich mich traute, das laut auszusprechen! Bei Zwanzigjährigen lag eines der unzähligen Fettnäpfchen stets in unmittelbarer Nähe. Dann folgte immer und unweigerlich ein entrüstetes »Boah, Mama!«, und zwar im aggressivsten Tonfall. Also blieb ich still und dachte: ›Fünf Monate zusammen, das muss man feiern? Frühstück im Bett reicht nicht, fünf langstielige Rosen auch nicht, erst recht keine weißen? Interessant!‹

Frühstück im Bett. Schon verlor ich mich in Gedanken, während Lili weiter jammerte und zunehmend wütender wurde. Sie lieferte den ganzen Sermon in schwindelerregender Geschwindigkeit ab. Seit Jahren schien es ihr egal, ob ich ihr folgen konnte. Nur wissen musste ich hinterher jedes einzelne Detail.

Ich muss wohl gelächelt haben, als ich an den heutigen Guten-Morgen-Sex mit Willy dachte, jedenfalls klagte Lili sogleich. »Mama! Hörst du mir überhaupt zu? Jetzt sag doch mal was!« Ich entrüstete mich, wurde aber rot und schwieg. Lili zeigte sich stets peinlich berührt, wenn ich von Sex sprach, der im Alter ohnehin seltener vorkam. Vor allem der wundervolle Überraschungssex reduzierte sich ab fünfzig erschreckend deutlich. Dabei bemühten Willy und ich uns eifrig, die weltweite Rate hochzutreiben. Willy, mein derzeitiger Lebensgefährte, nicht Lilis Vater.

Uli und ich, wir trennten uns nach zehn Jahren in beiderseitigem Einvernehmen, so lautete die Formulierung. Einträchtig akzeptierten wir, unser Seelenheil besser in voneinander abweichenden Wegen zu suchen. Das einzig verbindende Element bildete fortan Lili. Die verbrachte bis zum Abitur jeweils zwei Wochen wechselweise bei einem von uns, was wir mit nebeneinanderliegenden Wohnungen ohne Probleme bewerkstelligten. Voller Freude konnte ich verkünden: Unser Kind war trotzdem gut geraten. Ich war so stolz auf sie. Meistens.

Ich richtete meine geballte Aufmerksamkeit auf die betrübte Lili. Sie zeterte gerade über Toms schrecklichen Nebenjob als Kurierdienstfahrer. Gestern war er erst nachts wieder heimgekommen nach drei Tagen Abwesenheit. Eine Schande sei es, völlig unzumutbar. Wo sie doch unter der Woche immer so viel arbeiten musste. Büro und Uni. Lilis ewige Litanei. Im Wohnzimmer erzählte Willy derweil seinen Lieblingswitz, den kürzesten aller Zeiten: »Gehen zwei Journalisten an der Kneipe vorbei! Ha, ha!«

Ich musste unweigerlich grinsen. Da wir selbst dieser Berufsgruppe angehörten, war mir zwar klar, wie oft wir dieser böswilligen Unterstellung nicht entsprachen. Dennoch schmunzelte ich, denn vor meinem inneren Auge liefen automatisch zigtausend Szenen ab, in denen wir unermüdlich für den Wahrheitsgehalt der dreisten Behauptung agierten. Parallel zu diesen Erinnerungen an unsere tapferen Momente versuchte ich, die Schwarzwälderkirschtorte aus dem Kühlschrank zu heben und die Kaffeemühle mental zu beschwören, doch bitte, bitte, ihren Dienst wieder aufzunehmen. Was wundersamerweise funktionierte. Der überraschend einsetzende Lärm brachte mich allerdings dermaßen aus dem Konzept, dass ich viel zu hektisch den Kuchen absetzte. Die auf der Packung so liebreizend ausschauende Torte nahm auf dem Teller ein jämmerliches Aussehen an. Was Lili prompt mit einem tadelnden »Ach, Mama!« kommentierte, bei dem sich fatal Arroganz mit Mitleid paarte. Mir fiel kein anderer Ausweg aus dieser verfahrenen Situation ein, als zu lachen. Böser Fehler!

Lili hasste es, wenn ich unverfroren meine Fehler akzeptierte. Aber wie sollte ich denn sonst reagieren? Mich einigeln, tunlichst nichts tun? Ich musste schließlich tagtäglich damit leben, dass nahezu alles, was ich anpackte, in einer kleinen oder eben auch größeren Katastrophe endete.

»Schief ist modern!«, versuchte ich die linkslastige Sahnetorte verbal zu verschönern, während ich die herabgerutschten Kirschen mal in den Mund, mal wieder zurück auf den Kuchen schob. Aussehen war doch letztlich nicht alles, oder? Diese Torte schmeckte gut, das wusste ich hundertprozentig. Zig Mal schon hatten wir sie freudestrahlend aus der Tiefkühltruhe herausgehoben. Und Lili konnte mir gestohlen bleiben mit ihrem ewigen ‘Das Auge isst mit!‹!

Lili schien sich inzwischen zum Glück beruhigt zu haben. Ihr Tonfall änderte sich, während ich das herrlich vor sich hinduftende Kaffeemehl in die Cafetiere zu löffeln begann. Das erforderte stets meine gesamte Konzentration, weshalb ich für das Folgende völlig entschuldigt war, ehrlich! Hände beschäftigt, Nase gefüllt mit verlockenden Dämpfen, da konnte ich ein aufmerksames Ohr einfach nicht mehr erübrigen. Nicht vollständig zumindest. Erst im Zeitlupen-Nachklapp tröpfelten die überraschenden Informationen in mein überfordertes Hirn: »In vier Jahren heiraten wir! Bevor ich fünfundzwanzig bin. Im Mai. Und du sollst mein Wedding Planner sein! Das machst du doch, oder Mama? Das wünsch ich mir schon immer!«

Genau in diesem Moment fragte Willy, ob der Kaffee bald fertig war, denn Tom musste gleich weg zur Bandprobe. Ich konnte also wirklich nichts dafür, wenn ich Ja sagte und Lili das falsch verstand! Die aber sprang inzwischen auf das fatale Stichwort an: Band! Unverzüglich griff sie ihre unterbrochene Tirade wieder auf, wie selten Tom daheim war, ständig unterwegs, mal Uni, mal Kurierdienst, mal Band. »Ich komm immer zu kurz!«

Das mochte ich so nicht auf Tom sitzen lassen, also spendete ich mütterlichen Trost, wohlweislich darauf achtend, nicht herablassend zu klingen. Ich erinnerte sie daran, dass einzig durch Toms Band TWISTER ihr jetziges Liebesglück zustande gekommen war. An meinem inzwischen legendären fünfzigsten Geburtstag, den Willy auf so unglaubliche Weise für mich auf die Beine stellte. Lili sollte somit dankbar sein, in Tom einen so lieben Freund und begnadeten Kontrabassisten zu haben. Gerechtigkeit musste sein, da konnte Lili noch so böse gucken!

»Machst du mal bitte die Kerzen an?«, versuchte ich sie abzulenken und beobachtete mit Amüsement, wie Lili die blutroten Tafelkerzen auf dem fünfarmigen Leuchter entzündete. Anschließend hielt sie das Streichholz ehrfurchtsvoll in der Hand und betrachtete mit sorgenvoll gerunzelter Stirn den weiteren Verlauf seines Absterbens. Ihre Miene hellte sich schlagartig auf, als sich das Holz wie gewünscht nach unten verdrehte.

»Er liebt mich!«, flüsterte sie vernehmlich. Kinderkram, den Lili schon vor zehn Jahren zelebrierte. Als stellte das verkohlte Holzstück wirklich ein solches Omen dar. Meine Gedanken verselbständigten sich hin zu dem Moment, als ich genau das Gleiche über Willy dachte. ‘Er liebt mich.‘ Die sensationelle Überraschungsparty letztes Jahr bewies das eindringlich. Auf der Stelle verlor die zuvor als so böse empfundene Fünfzig ihren Schrecken. Seitdem empfand ich dagegen Stolz, sobald mein Wiegenfest sich erneut jährte. Ein tolles Gefühl, in dem ich gerade gemeinsam mit Lili schwelgen wollte, doch das war mir heute offensichtlich nicht vergönnt. Stattdessen berief sich Lili überdeutlich auf das vermeintliche Recht der Jugend, ohne erkennbare Verknüpfung von einem Thema zum nächsten zu hüpfen. So brabbelte sie bereits ausführlich und mit erschreckenden Einzelheiten über ihr zukünftiges Leben.

»Das erste Kind, das nennen wir Felix oder Feline, je nachdem. Schließlich ist doch jedes Kind glücklich zu nennen, das Tom und mich als Eltern hat. Und dann noch so junge Eltern. Spätestens mit dreißig. Das wird toll!«

Mir rutschte prompt das scharfe Tortenmesser aus der Hand. Kein Blut, Glück gehabt. Der so unverhoffte Einblick in Lilis Lebensentwurf überforderte mich. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals einen dermaßen ausgefeilten Plan vom Glück besessen zu haben, weder mit zwanzig noch jemals danach!

Während ich noch unter Schock stand, tippte Lili in atemberaubender Geschwindigkeit auf ihrem Handy herum und verkündete dann triumphierend: »Der Abend ist gerettet! Ich gehe gleich zu Katja, wir wollten schon ewig zusammen weg. Jetzt hab ich ja Zeit!«

Als Mutter einer Zwanzigjährigen gehörte es zu den niedrigsten Anforderungen, ein immenses Maß an Flexibilität an den Tag zu legen. Lilis beleidigt vorgeschobene Unterlippe verlieh ihrem Gesicht einen unangenehmen Charakter. Doch wenn sie meinte, in Rachegelüsten schwelgen zu müssen, ließ ich sie gerne in ihrem Irrglauben.

Das war gelogen, von gerne konnte gar keine Rede sein. Dennoch war ich erleichtert, dass Lili jetzt lieber feiern gehen wollte, statt sich von Toms Abwesenheit deprimieren zu lassen. Ehrlicherweise musste ich mir aber eingestehen, dass ich bei Lilis absurd hohem Tempo nicht mehr mitkam. Bei aller Liebe und Verständnis, mir fehlte eine Signalschaltung, die mir anzeigte: Das eine meinte sie ernst, das andere war romantisch-verklärter Wahn. Nach nur fünf Monaten Zusammensein bereits von Heiraten sprechen zu wollen, fiel eindeutig unter die Kategorie ›Das kannst du getrost vergessen, Ada!‹

Genau deshalb verlor ich mich nicht in tiefsinnigen Gedanken, Ja gesagt zu haben zu Lilis ‘Herzenswunsch‘. Sie mochte mich vorhin im Brustton der Überzeugung gefragt haben, aber ob ich wirklich in vier Jahren ihre Hochzeit organisieren würde, das wagte ich zu bezweifeln. Schließlich war Lili noch ein Kind, und die unterlagen erfahrungsgemäß unzähligen Launen. In vier Jahren, da konnte noch viel geschehen. Vielleicht heiratete Lili tatsächlich vor ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag, doch ob dann Tom an ihrer Seite stand, war mehr als ungewiss. Und das Schicksal gab auch keinen Mucks von sich, um mich zu warnen. Ehrlich!

 

2 Realität

  1. 2 Realität

Obwohl ich als Journalistin ständig über die absurdesten Untersuchungen zu berichten hatte, war mir keine Einzige darüber bekannt, wie oft jeder Mensch sein Schicksal verfluchte. Schätzungsweise ein Mal im Jahr haderte doch wohl jeder mit gewissen Ungereimtheiten und diversen bösen Überraschungen im Leben. Da erfahrungsgemäß die einzelnen Tage von den jeweiligen Anforderungen geprägt werden, neigt unser menschliches Gedächtnis dazu, eine Unmenge an überflüssigen Informationen schlichtweg zu löschen. So zumindest erging es mir regelmäßig, allerdings verselbständigte sich dieser Löschvorgang dermaßen, dass auch Wichtiges schlicht und ergreifend nicht mehr abrufbar war. Deshalb kam Lilis Hellsichtigkeit knapp drei Jahre später für mich völlig überraschend.

»Natürlich sagen wir noch tschüss, bevor wir fahren!« Vorwurf klang unüberhörbar in Lilis Stimme mit. Obwohl wir nicht per Facetime telefonierten, sah ich sie lächelnd, aber deutlich missbilligend den Kopf schütteln. »Mama! Ich verabschiede mich doch immer von dir, vor jedem Urlaub!«

Beruhigt wandte ich mich wieder meiner Arbeit zu, vergaß bald den kurzen Anruf, der Schreibtisch forderte meine geballte Aufmerksamkeit. Die Tischplatte ächzte unter der Last der vielen Zettel und schrie nach einer ordnenden Hand, die ich aber zurzeit leider nicht erübrigen konnte. Anfang des Jahres musste ich das Konzept vorlegen, erst danach entschied sich, ob ich den begehrten Auftrag für das wegweisende Buch “Kultur-Paradies Metropole Ruhr“ bekam.

Die Vorräte an buntfarbigen Post-its gingen zur Neige. Sie hingen verteilt auf unzähligen DIN-A4- und DIN-A5-Blättern. Wie sollte ich aus diesem Wust an Papier nur jemals so etwas wie eine Inhaltsübersicht herausarbeiten? Ich haderte mit mir, schimpfte mich aus. Was für eine absurde Vorstellung, statt für die maßgebliche Ruhrgebiets-Tageszeitung zu schreiben, nun unter die Schriftsteller gehen zu wollen. Journalismus beherrschte ich. Kleine, überschaubare Texte, damit kannte ich mich aus. Aber ein ganzes Buch? So schlecht ging es mir als Freie bei der Zeitung doch gar nicht. Vor die Entscheidung gestellt, Besonnenheit oder Spontaneität, wählte ich immer das gleiche Desaster.

Willy! Willy war schuld! Er riet mir, die Herausforderung anzunehmen, die telefonische Anfrage als Kompliment zu werten, dabei war mein erster Impuls: ›Das schaff ich nie und nimmer! Nein, danke! Bloß nicht!‹ Nur weil er ein Aufsehen erregendes Buch nach dem anderen verfasste, wenn auch nur von Insidern hochgeschätzt, musste mir das doch nicht auch gelingen! Wie konnte er mich nur dazu überreden?

Schlussendlich sicherte ich den Herren der Kulturstiftung mit klammem Herzen zu, ein Konzept zu erstellen, doch seitdem wusste ich nicht mehr ein noch aus. Seit Monaten befuhr ich das Ruhrgebiet, ging dort ins Theater, besuchte da ein Konzert, trieb mich auf Festivals herum, machte Notizen über Notizen. Und wozu das Ganze? Um jetzt am überfüllten Schreibtisch meiner unausweichlichen Niederlage ins Gesicht zu blicken. Ada Sandler, einst nahezu furchtlos ins Abenteuer eingestiegen, nunmehr bravourös gescheitert.

Es klingelte, fast wäre ich freudig aufgesprungen, glücklich über die willkommene Unterbrechung. Dann fiel mir ein: Willys Job. Sein großherziger Akt zur Unterstützung meines Buch-Projekts: Er kümmerte sich um alles, auch um den Haushalt, nur damit ich arbeiten konnte. Wie blöd! Zu gerne hätte ich mich vom Schreibtisch entfernt. Ich seufzte und griff mäßig ambitioniert zum erstbesten Zettel: Was stand da? Intensiv grübelte ich, was ich auf dem alten Kassenbon wohl notiert haben könnte. Mutig näherte ich mich der vagen Vermutung, dass die wackelige Schrift eventuell »Ambiente« bedeutete. Aber wo? Mülheim? Duisburg? Bochum? Der winzige Wisch landete auf dem anwachsenden Haufen der unidentifizierbaren Notizen. Das gestaltete sich mittlerweile sehr frustrierend.

»Mama, wir sind da!« Lili stürmte in mein Arbeitszimmer, im Hintergrund hörte ich Willy protestieren. »Nein, Lili, deine Mama arbeitet!« Natürlich vergebliche Liebesmüh. In den vergangenen dreiundzwanzig Jahren hatte noch niemand meine Lili aufhalten können.

Schon halb im Aufstehen begriffen, fand ich mich in einer stürmischen Umarmung einer vor Aufregung fast platzenden Lili wieder. In wenigen Stunden schon schifften sie sich ein, und dann ging es ab für ganze acht Tage auf hoher See. Mittelmeer! Und das zu Silvester. Lilis Begeisterung riss auch mich mit. So strahlten wir uns beide um die Wette an. Ich fragte nach Koffern, sie zählte ihre beliebtesten Kleider auf, benötigte alle Finger beider Hände um die unbedingt mitzunehmenden Schuhe zusammenzubekommen. Dann forderte sie einen Hinweis zum Kapitäns-Dinner, was mich panisch werden ließ.

»Abendgarderobe? Tom im Smoking?« Meine Stimme brach vor Entsetzen. Wie konnten sich die beiden so etwas Steifes nur freiwillig antun? Plötzlich stockte Lilis Redeflut. Ohne ersichtlichen Grund wurde sie ernst. Legte den blond beschopften Kopf schräg, klimperte verlegen mit den getuschten Wimpern.

»Mama, ich glaub, jetzt ist es so weit!« Lili ließ eine bedeutungsschwere Pause folgen. Mein unwissender Blick nötigte ihr einen betrübten Seufzer ab.

»Na, überleg doch mal! Kreuzfahrt. Romantik. Silvester …«, wieder fühlte ich mich von ihrem stieren Blick unter Druck gesetzt. ›Was denn?‹, wollte ich am liebsten rufen, aber Lilis Ungeduld brach sich schon Bahn.

»Ich glaube, an Silvester wird Tom mich fragen!«

Lili errötete, ich schluckte.

»Ehrlich?«, krächzte ich. Nein, ich wollte es nicht glauben. Rechnete Lili ernsthaft damit, dass Tom ihr einen Heiratsantrag machte?

Stunden später, als die beiden nach unzähligen Ermahnungen, genügend Fotos zu machen, auf sich aufzupassen und was an elterlichen Ratschlägen sonst noch unerlässlich war, nach diversen Umarmungen, dem verschämt überreichten Urlaubstaschengeld, das wort- und gestenreich zunächst zurückgewiesen, im Endeffekt dann doch dankend angenommen wurde, hasteten die beiden aus der Tür heraus. Im Treppenhaus, bereits auf dem nächsten Absatz, drehte sich Lili dann unvermittelt um, ließ Tom alleine weiterziehen, hob bedeutsam ihre linke Hand und verwies auf ihren unberingten Ringfinger. Optimistisch und vehement nickend fixierte sie mich. Als ich skeptisch eine Augenbraue hob, streckte sie mir beide Hände mit nach oben gerichtetem Daumen entgegen. »Du wirst schon sehen!«, flüsterte sie nur für mich vernehmlich, dann entschwand sie meinen Blicken.

Als ich Willy davon erzählte, lachte er nur. Lili und Tom heiraten? Undenkbar! Dafür stritten die beiden sich in den zurückliegenden drei Jahren zu oft. Lili stöhnte über Toms ständige Abwesenheiten, über seine Unfähigkeit, im gemeinsamen Haushalt mitzuwirken, seine Verschrobenheit, sobald er in seinen hoch intellektuellen Themen versank. Das tat sie gerne und regelmäßig, selbst wenn er neben ihr saß. Dagegen holte sich Tom häufig – auch hinter Lilis Rücken – bei uns Unterstützung, wenn Lili ihn mit ihren ewigen To-do-Listen die Luft abzudrehen versuchte.

Lachend hielten Willy und ich uns aneinander fest. »Arme Lili!«, ich meinte es ehrlich, »das wird eine bittere Kreuzfahrt werden!« Sie besaß mein volles Mitgefühl.

***

Fünf Tage später, die Silvesterkracher knallten noch überall, starrte ich ungläubig auf das Display meines Handys und schüttelte den Kopf. »Lili«, flüsterte ich, meine Stimme versagte, Willy stierte mich ängstlich an. »Ist was passiert?«

»Verlobt!«, las ich ihm Lilis Silvester-Gruß vor. »Dazu noch der Smiley mit den Herzaugen!« Hilfesuchend blickte ich ihn an.

»Verlobt!«, keuchte ich erneut, dann kippte ich den restlichen Champagner in meine trockene Kehle. Am liebsten würde ich Lili ja jetzt anrufen, doch sie hatte mir strengstens verboten, Kontakt zu ihr aufzunehmen, solange sie auf See war. Zu ungewiss waren ihr die Kosten, die ich ihr damit zumutete, und so blieb ich allein mit meinen wirren Gedanken.

Was für ein verrückter Start ins Jahr zweitausendvierzehn. Lili verlobt! Erst mit deutlicher Verspätung registrierte ich überrascht, dass ich lachte, während mir die Tränen über das Gesicht liefen. Solche extremen emotionalen Verwirrungen kannte ich von mir nicht. Heulen ja, lachen auch, aber bitte doch nicht gleichzeitig! Bei dem Versuch, das leere Sektglas auf dem Tisch zu postieren, verfehlte ich prompt die sichere Platte, allerdings nur um Haaresbreite. Ich seufzte, während ich die glückbringenden Glasscherben zusammenkehrte. Alles blieb also beim Alten. Die Halbwertzeit eines teuren Glases erreichte bei mir selten die Monatszählung. Willys Weihnachtsgeschenk von letzter Woche bestand somit nur noch aus drei statt sechs Gläsern, und ich war und blieb ein Tölpel. Alles wie gehabt. Bis auf eines: Lili und Tom waren nun verlobt! Unfassbar!

***

»Auf euch!« Feierlich, aber vorsichtig, stießen wir die Sektgläser aneinander. Ein schönes Bild. Jeder von uns hielt ein anderes, äußerst erlesenes Exemplar in der Hand. Fein geschliffen, mal ein Kelch, mal eine Flöte, aber leider immer nur eines von ehemals sechs. Erschütterndes Ergebnis diverser Anlässe, bei denen ich penetrant das gläserne Material überschätzte. Dies jedoch waren endgültig unsere letzten vier Sektgläser, ich tippte dementsprechend behutsam und nur ganz leicht gegen Lilis hauchdünne Schale. Augen weit aufgerissen. Jede von uns wusste: Wer sich beim Zuprosten nicht in die Augen blickte, wurde mit schlechtem Sex für die folgenden sieben Jahre bestraft. Das Risiko ging keine von uns ein. Aufatmend tranken wir nach erfolgreich beäugter Runde den edlen Champagner. Wir konnten den nächsten erquicklichen Jahren optimistisch entgegensehen.

Feierlich überreichte uns Lili ein viereckiges Geschenk. Wie lieb von ihr. Ein Foto von den beiden auf dem Kreuzfahrtschiff. Sie lehnten an der weißen Reling im prallen Sonnenschein des Mittelmeers und präsentierten das glücklichste Lächeln, das ich jemals erblickte. Ein extrem breiter goldener Metallrahmen hielt diesen einzigartigen Moment für immer fest.

»Extra vom Fotografen, kein blödes, billiges Selfie. Das ist gleich am nächsten Morgen aufgenommen worden.« Lili plapperte ganz aufgeregt und gestikulierte ungewohnt wild herum. »Ich dachte, ihr hängt es hier auf.« Zielsicher steuerte sie die letzte weiße Wand an, gleich gegenüber der Wohnungstür. »Dann könnt ihr es sofort sehen, wenn ihr reinkommt.«

Eigentlich wollte ich da einen bodenlangen Spiegel installieren, doch Willy meuterte bislang erfolgreich. Argumentierte mit meiner Schusseligkeit und weigerte sich strikt, meinem Wunsch nachzukommen. Dabei bringen Scherben doch Glück, dachte ich. Zumindest sagte Willy das immer bei den zerbrochenen Gläsern. Ob ich allerdings jeden Tag beim Nachhausekommen Lili und Tom auf dem Schiff angucken wollte, bezweifelte ich. Zum Glück fand Willy just in dem Moment den passenden Song für den Abend. Zur Feier des Tages ließ er die Beatles erklingen: In Endlosschleife tönte es durch die ganze Wohnung: ‘Love, love, love!‘ Die Stimmung war glänzend. Apropos glänzend.

»Zeig doch mal den Ring!«, forderte ich Lili auf.

Das war’s! Als hätte ich mit einem Vorschlaghammer wild um mich gehauen, kehrte abrupt Ruhe ein in das zuvor so lustige Treiben. Selbst die Beatles ließen mich schmählich im Stich. Einen winzigen Moment herrschte beklemmende Stille, dann dröhnte die feierliche Bläserintroduktion wieder erfrischend durch das alte Gemäuer und Lili giftete los.

»Siehst du? Ich hab dir doch gesagt, Ring ist Pflicht!«

Mit hoch erhobenem Näschen reckte sich Lili zu ihrer vollen Größe, blickte triumphal und verächtlich auf ihren Verlobten und sendete mir ein dankbares Nicken. »Du kannst von Glück sagen, dass ich trotzdem Ja gesagt habe!« Bevor ich kapierte, was sie meinte, schob Lili versöhnlich hinterher: »Aber du kannst ihn nachreichen! Ich will mal nicht so sein.«

Toms verzweifelte Miene ließ fast so etwas wie Mitleid in mir aufkommen, in der Sache aber gab ich Lili Recht: Ring musste sein. Überraschenderweise war es nun Willy, der sich dozierend zu Wort meldete. »Hollywood-Mist!«, lautete sein rigides Urteil, dann folgte eine langatmige Erklärung, in welchen Kulturen der Verlobungsring verankert war, wie formvollendet er überreicht werden sollte, wofür er stand. Zum Schluss schmollte Lili: »Wenn du so weitermachst, bist du nicht mehr mein liebster Ziehvater!«, sie sackte in sich zusammen. »Wann heiratet ihr denn jetzt endlich?«

›Geht das schon wieder los!‹, war mein erster Gedanke, da rettete mich Willy. Wie so oft.

»Kein Geld für eine Scheidung!« Ich konnte ihn knutschen, meinen liebsten Willy, mich erneut unsterblich in ihn verlieben, allein für diesen Satz. Wir waren uns einig, und das schon immer: Geheiratet wird nicht. Auf dem Weg zur festlich geschmückten Verlobungsfeiertafel in der Küche raunte mir Willy zu: »Dass die beiden heiraten, das glaub ich erst, wenn der Standesbeamte das bestätigt!«

Willys Zweifel wirkte auf mich seltsam befremdlich. Warum sollten Lili und Tom nicht heiraten? Mit welchem Überschwang die Frisch-Verlobten von Toms Antrag und Lilis tränenreichem Ja erzählten, ihre übermäßig zufriedenen Gesichter, die ständigen Liebkosungen. Das alles bewies: Lili war glücklich. Das war doch die Hauptsache. Vor der Verlobung, keine Frage, da schien auch mir eine Eheschließung reichlich suspekt, aber jetzt, nach dieser romantischen Kreuzfahrt-Verlobung? Jetzt standen doch alle Zeichen gut und verwiesen auf ein Happy End.

»Willy, was gibt es denn heute Leckeres?«

»Lass dich überraschen!«, tönte es im Singsang aus der Küche zurück. Lili schwenkte hastig zu mir.

»Er macht doch hoffentlich meine Lieblingsvorspeise, oder? Es geht doch nichts über Willys gefüllte Datteln im Speckmantel! Ich hab extra seit heute Morgen nichts mehr gegessen. Stell dir vor, auf der Kreuzfahrt gab es die nie! Dabei gehört das doch wohl zum Standard bei diesen internationalen Speisen. Aber da gab es sowieso nur jeden Tag das Gleiche!«

Und schon driftete mein Töchterchen in die Sphären einer alles bemängelnden deutschen Touristin ab. »In Schichten mussten wir essen! Wie in einer Kaserne oder in einem Gefängnis! Und dann war alles total langweilig und lieblos angerichtet. Und gewürzt sowieso nicht! Und das mussten wir acht Tage lang ertragen, kannst du dir das vorstellen?«

Die Frage erwischte mich völlig unvorbereitet. Beim besten Willen konnte ich keine Erinnerung heraufbeschwören, dass ich jemals das Verlangen an den Tag gelegt hatte, mich wohin auch immer einzuschiffen. Warum sollte ich auch? Ich hasste ja schon Hotelkomplexe der üblichen Touristenbranche. Warum sollte ich mir den Stress antun, mit mir völlig unbekannten Leuten mehrere Tage am Stück auf einem Schiff festzusitzen? Ohne Möglichkeit zur Flucht. Und kostete darüber hinaus eine ganze Stange Geld. Warum also?

Doch Lili schien gar nicht mehr an einer Antwort interessiert. Sie ergriff überraschenderweise Toms linke Hand und drückte einen dicken Schmatzer auf seinen beringten Finger.

»Seit wann trägst du denn einen Ring?«, fragte ich. Tom zierte sich und errötete.

»Den habe ich ihm geschenkt!«, antwortete Lili. »Es gab ja zig Juweliere auf dem Schiff.« Sie legte eine bedeutsame Pause ein. »Aber gegeben habe ich ihm den Ring erst, als wir schon im Flieger zurück saßen.«

Autsch! Der Hieb saß und tat selbst mir weh. Doch Lili schien das nicht weiter zu bekümmern.

»Aber ich sag dir, Mama, es hat sich alles gelohnt! Toms Antrag war so schön, dafür würde ich noch länger mit diesen langweiligen und dummen Leuten zusammenhocken, noch viel länger als diese acht Tage.« Jetzt senkte sie verschämt den Kopf, errötete sogar. Wurde Lili krank?

»Ich liebe dich Tom! Dein Antrag war wirklich perfekt! Schöner hätte ich mir das nicht ausmalen können!« Sie küsste ihn zärtlich. »Bis auf den Ring natürlich, den schuldest du mir noch.«

Tom gab sich wenig rührselig, verpasste ihr einen Wangenkuss und erhob sich schnell, um die passende Tafelmusik auszuwählen. Eine inzwischen gut eingespielte Essenstradition: Während Willy kochte, lieferte Tom die musikalische Unterhaltung. Heute präsentierte er uns die zärtlichen Klänge von George Enescu. Leichtfüßig, aber gefühlvoll, legte sich ein Klangteppich auf uns nieder, der uns wunderbar auf das Essen einstimmte. Nur Lili schien vom Zauber der Musik noch unberührt, denn sie plapperte unbekümmert über ihre erste und letzte Kreuzfahrt. Offensichtlich hatte das Schiff-Fahren seine Schuldigkeit getan und konnte nunmehr frohen Herzens abgehakt werden. Also widmete ich mich mit Inbrunst dem superben Champagner, von Willy passenderweise für diese improvisierte Verlobungsfeier kaltgestellt, und genoss die allgemeine, so beruhigend friedliche Atmosphäre.

»Eigentlich bin ich euch ja böse!« mit vorgeschobener Unterlippe stierte Lili mich anklagend an. »Keiner von euch hat eine Verlobungsanzeige geschaltet. Papa nicht, und ihr auch nicht! Dabei arbeitest du doch bei der Zeitung. Da hättest du doch bestimmt Prozente bekommen!«

Bevor ich zu meiner Verteidigung ansetzen, meine Verblüffung zum Ausdruck bringen, meinem Unglauben, dass Lili und Tom ernsthaft auf eine Zeitungsanzeige anlässlich ihrer Verlobung warteten, Ausdruck verleihen konnte, reckte Lili ihre Nase prüfend in die Luft.

»Das riecht nicht wie Datteln im Speckmantel!« Schon stürmte sie in die Küche. Tom und ich hinterher, nur um prompt in Lili hineinzuprallen. Warum blieb sie auch einfach so stehen? Mit verbissener Miene tupfte sie das wertvolle Getränk von ihrem schwarzen Kleid. Ich betrachtete betrübt mein plötzlich leeres Glas, wohl wissend, die Flasche war es auch.

»Wo sind die Datteln?«, verlangte Lili zu wissen. Doch Willy ließ sich nicht beirren, verkündete vielmehr freudestrahlend: »Das Mahl ist bereitet! Bitte Platz zu nehmen, das werte Brautpaar vielleicht hier?« Damit geleitete er Lili galant zu einem mit Rosen umkränzten Platzteller.

Seit wann beschäftigte sich Willy mit Tischdekoration? Und seit wann agierte er so gefühlvoll? Sollte das gerade erst begonnene Jahr etwa so weitergehen? Mir schwante Übles. Doch ich schien allein mit diesen wirren Gedanken. Lili und Tom nahmen selig lächelnd Platz, während Willy mit puterrotem Gesicht einen dampfenden Teller aus dem Ofen hob und ihn vorsichtig auf dem Tisch postierte. Emsig rückte er hier ein wenig, schob dort etwas herum, flugs füllte sich die Tischplatte mit unzähligen Schälchen. Wir stießen erneut an.

»Auf das Brautpaar! Guten Appetit!«

Während ich schon wohlig auf der mit Ziegenkäse gefüllten Dattel kaute, beäugte Lili immer noch skeptisch die vor ihr liegende Speise.

»Willy, was ist das?«

Bei Lilis schneidender Stimme, aus der das Misstrauen quoll, verging selbst mir fast der Appetit, dabei mundeten die Datteln vorzüglich. Doch offensichtlich besaß Lili eine völlig andere Meinung. Ihre Augen weiteten sich entsetzt, als Willy erklärte: »Wir essen kein Fleisch mehr. Wir sind jetzt Pescetarier.«

»Kein Fleisch?« Trotz der gerade in diesem Moment laut jubelnden Musik überstieg Lilis Schrei eindrucksvoll deren Volumen. »Wieder einer deiner seltsamen Selbstversuche? Ich dachte, der Letzte hätte dich kuriert!«

Ich seufzte. Willys Interesse konzentrierte sich in den vergangenen Monaten zunehmend auf den Bereich Ernährung. Sein schönstes Experiment stellte für mich die ausschließliche Nahrungszufuhr von Schokolade haltigen Lebensmitteln dar. Auch wenn unsere Kleidergrößen nach diesen drei Wochen um ein bis zwei Größen nach oben schossen. Schöne Erinnerung, allein das superbe Schokoladenfondue entfachte erneut den Speichelfluss.

Doch Willy bedachte Lili nur mit einem mitleidigen Blick, dann erläuterte er ihr seine neueste Mission. So, wie eben nur Willy erklären konnte. Mit Engelszungen legte er meiner Tochter auseinander, unter welchen entwürdigenden Umständen die Massentierhaltung vor sich ging. Wie die Tiere leiden mussten für jedes Schnitzel und jedes Steak, die Lili beide so gerne aß. Wie irrsinnig viele Kilos an Futter und Wasser das verschlang, und all das zulasten der Umwelt.

»Wir machen da nicht mehr mit!«, lauteten Willys abschließende Worte, dann schob er Lili das Pangasius-Filet näher. Die aber wich angeekelt zurück. »Ich hasse Fisch!«, was Tom allerdings nicht davon abhielt, sich eine eindrucksvolle Menge davon auf den Teller zu laden.

»Wenn ihr jetzt so auf gesund macht, dann müsst ihr auch aufhören, zu rauchen!«, sagte Lili. Mit bewundernswerter Geduld setzte Willy ihr auseinander, dass jeder sein bestes täte. »Wir beschränken uns jetzt erst mal darauf, auf Fleisch zu verzichten.«

»Damit das klar ist: Bei meiner Hochzeit gibt es Fleisch!«

Mit verschränkten Armen bedachte Lili jeden am Tisch mit ihrem Mörderblick, der mich auch nach all den Jahren immer noch bis in Mark und Bein traf.

»Vergiss das nicht, Mama!«, fügte sie betont deutlich an, was Willy hellhörig werden ließ.

»Warum soll ausgerechnet Ada das nicht vergessen?«

»Na, Mama ist doch mein Wedding Planner! Seit ich Nicolas Hochzeit organisiert habe, weiß ich, dass eine Braut das nicht hinkriegen kann. Die soll schließlich erholt und glücklich ihren Hochzeitstag erleben können. Und Mama hat mir schon vor Jahren versprochen, dass sie das für mich macht!«

Mit hochgezogenen Augenbrauen fixierte mich Willy, dann schlug er die Augen nieder. Sein Kinn bebte, er biss sich verzweifelt auf die Lippen. Sein üblicher Versuch, nicht in brüllendes Gelächter auszubrechen. Es gelang ihm, wofür ich ihm dankbar war. So weit kam es noch, dass er mich auslachte. Mein Kinn schob sich ganz von alleine nach vorn, signalisierte deutlich: Ich schaffe das schon.

Später notierte ich bewusst und zum Beweis vor aller Augen: ‘Dessert: Fondant au Chocolat – fix!‘ Wenn das keine professionelle Hochzeitsplanung war, dann wollte ich nicht mehr Ada Sandler heißen. Lili nickte bestätigend, das hatte ich vorbildlich erledigt. Dann kämpften wir uns durch die letzten beiden Schokotörtchen. Was für ein beeindruckendes Bild von Einigkeit wir jetzt wohl abgaben? Beherzt schob ich das letzte, noch von flüssiger Schokolade umschmeichelte Stück in den Mund und öffnete heimlich den Hosenknopf. Ich fühlte mich rundum zufrieden in meinem Leben.

»Wann soll denn eigentlich der große Tag sein? Habt ihr schon genauere Pläne?« Meine Zunge fand noch einen winzigen Schoko-Krümel zwischen den Zähnen, was für ein herrlicher Genuss.

»Der fünfzehnte Mai zweitausendfünfzehn! Den kann selbst Tom sich merken!« Mit größter Zufriedenheit lehnte sich Lili in Erwartung unserer Begeisterungsstürme zurück. 

»Ist das denn überhaupt ein Samstag?«, fragte ich.

»Nein! Ein Freitag! Wichtig ist doch Wochenende und ein Datum mit Merkeffekt.«

»Aber da müssen die Gäste doch noch arbeiten!« Mir zumindest war augenblicklich klar, dass nicht jeder der Geladenen seine Arbeitszeiten so frei einteilen konnte wie wir.

»Dann müssen sie sich eben den Tag frei nehmen! Das werd ich ihnen doch wohl wert sein. Schließlich heirate ich nur einmal im Leben! Aber der fünfzehnte Fünfte fünfzehn, das ist doch wohl ein tolles Datum, oder?«

Die Musik schwieg, als ahnte sie, dass Lili jetzt nichts außer großem Jubel erwartete. Meine Hirnströme schienen offenkundig durch die Schokolade belebt, denn augenblicklich fiel mir eine Untersuchung ein, über die ich vor Jahren berichtet hatte. Der Prozentsatz der Scheidungen stieg exorbitant mit einem prägnanten Datum. Was nichts anderes hieß, als dass insbesondere die Paare, die einen leicht zu merkenden Hochzeitstag auswählten, sich deutlich häufiger scheiden ließen. Musste ich Lili davon in Kenntnis setzen, oder sollte ich lieber schweigen? Außerdem verplanten die zukünftigen Gäste ihre freien Tage womöglich lieber für einen Urlaub als für Lilis Hochzeit. Womöglich überschätzte mein Töchterchen die Bedeutung dieses Ereignisses ein wenig. So schwiegen wir betreten. Tom arrangierte ein paar Krümel auf der Tischplatte zu kreativen Mustern, was Lilis Plapperlaune nur noch verstärkte.

»Der erste Mai wäre ja auch nicht schlecht gewesen, aber da ist Feiertag, und mein Hochzeitstag soll was Besonderes sein. Deshalb kommt auch der fünfte Fünfte nicht in Frage, da hat ja Papa Geburtstag, ist außerdem ein Dienstag, und das ist absolutes No Go!«

No Go, das stand für alle Totschlagargumente schlechthin. Als Mutter wusste ich, wann ich schweigen musste. Lili wollte also wirklich ihre kindische Ankündigung in die Tat umsetzen, verheiratet zu sein, bevor sie fünfundzwanzig wurde. Fast unmerklich schüttelte Willy den Kopf und zog die buschigen Augenbrauen hoch. Augenscheinlich überwog bei ihm die Skepsis. Wir blieben beharrlich stumm. Schlau aus Erfahrung. Wenn Lili von etwas überzeugt war, brachte sie nichts und niemand davon ab. Sie wollte am fünfzehnten Fünften heiraten, gut. Wir mussten nur einen Weg finden, damit zu leben.

Dachten wir. Jeder für sich. Wiegten uns in der Ewigkeit der vor uns liegenden sechzehn Monate bis zu diesem ominösen Jubeltag. Doch dann kehrte Lili mit gewichtiger Miene vom vermeintlichen Klogang zurück. In den Händen ein elfenbeinfarbener Ordner, zwei ineinander verschlungene goldene Ringe ließen es sich wohlergehen in einer vorwitzigen Röschenranke. Ganz behutsam postierte Lili das Ungetüm auf den leer geräumten Tisch, bekam verklärte Augen, ein wenig Wasser trübte ihre Sicht, dann hauchte sie:

»Das ist er, mein Hochzeitsordner.«

Schon saß sie neben mir, beachtete offensichtlich nicht Toms Schnappatmung, überhörte geflissentlich Willys entsetzten Aufschrei: »Was ist das? Hochzeitsordner?«, woraufhin er sofort verstummte, auf seinem Stuhl niedersackte und Lili fasziniert mit offenem Mund betrachtete. Lili folgte ungerührt dem einmal eingeschlagenen Weg.

»Pass auf, Mama, ich hab das hier über Jahre gesammelt und ordentlich abgeheftet. Wenn wir das jetzt mal durchgehen, dann weißt du in etwa, was mir so vorschwebt.«

»Kaffee?« Willy werkelte in der Küche. Wortlos. Als würde Lili nicht mit glühenden Wangen ihre Hochzeitsträume erläutern. Als wäre nichts geschehen. Wie gerne hätte ich mit ihm getauscht! Ich beneidete ihn um den sorglosen, häufig liebevoll-spöttischen Umgangston, den er mit Lili pflegte. Toms Stoßseufzer quittierte Lili mit bösem Blick. In unschuldiger Abwehr hob er die Hände, als wolle er sagen: >Mach du dein Ding. Ich sag auch nichts!< Dabei sah er für mich verdächtig danach aus, als wolle er lieber weglaufen. Geräuschvoll schob er den Stuhl zurück und vertiefte sich in die komplizierte Herstellung einer Zigarette. Sein Meisterwerk, wie es schien, denn er beschäftigte sich auffallend lange damit.

Ich tat es ihm mit der Zigarette gleich, orderte aber mit einem kurzen Kopfnicken zu Willy einen ordentlichen Schuss Grappa in meinen Espresso, zeigte ihm mit Kopfschütteln, dass jetzt ein doppelter angesagt war, und legte Lili gegenüber ein beflissenes Interesse an den Tag. Die wohltuende Wärme des Grappas unterstützte mich in dem Kraftakt, nicht die Contenance zu verlieren angesichts der pompösen Bilderflut, die Lili erst langsam, dann zunehmend begeistert immer schneller vor meinen Augen aufblätterte. Kutschen, Fesselballons, Schlösser, Burgen, einsame Inseln, Millionen von jungfräulich strahlenden Outfits, allesamt Kleider der Haute Couture, mit Reifröcken, Volants, eng geschnürter Taille, meterlangen Schleiern, zarten Spitzen an allen erdenklichen Stellen der umfangreichen Stoffe, versetzt hier und da mit Rosen jeglicher Couleur, vornehmlich in Rosa und Rot.

Fassungslos rückte ich meine Brille zurecht, nahm sie wieder ab, putzte sie ausgiebig, das Ergebnis blieb gleich: Ein Hochzeitsalbtraum jagte den nächsten. Ein lächerlich aufgetakelter DJ hinter einem riesigen Tisch mit drei Plattenspielern, zwei CD-Playern und drei Mikrophonen tänzelte aufgesetzt fröhlich herum und verbreitete eine fehlgeleitete Vorstellung von passender Hochzeits-Stimmung, dass ich am liebsten einen weiteren Grappa geordert hätte. Doch Lili zupfte energisch an meinem Ärmel und wies mich auf die folgenden Seiten hin, die für drei- bis fünfstöckige Hochzeitstorten reserviert waren. Trotz meiner Liebe zu allem Süßen verging selbst mir der Appetit. Dann folgte eine lange Liste von Taubenzüchtern in der Umgebung. Was sollte mir das jetzt sagen? Doch Lili blätterte schon aufgeregt hierhin und dorthin, der richtige Moment zum Nachfragen verschwand und kehrte nie wieder.

Inzwischen verweilte Lili versonnen bei dem Foto einer Stretch-Limousine, der eine zierliche Braut mit schwarzem Bubikopf entstieg, galant von einem älteren Mann geleitet – der Vater offensichtlich –, eine puppenhafte Schönheit, wie ich gerne zugab. Voller Unsicherheit musterte ich mein Töchterchen zu meiner Linken und bemerkte erleichtert, dass sie inzwischen nicht zu diesem ätherischen Wesen mutiert war, sondern in gewohnter Manier ihre reale Existenz besaß: Ein hoch aufgeschossenes Mädel mit von der Mutter geerbtem starken Knochenbau, vielen weiblichen Rundungen, nicht alle an den Stellen, wo es die Mode gebot, aber durchaus hübsch anzuschauen. Eine robuste junge Frau, die mit fast einen Meter achtzig ihren festen Stand in der Welt behauptete, was auch ihrem energischen Kinn anzusehen war, das mit der vorwitzigen Nase um Prägnanz buhlte. Wunderschönes blondes, langes Haar umrahmte ihr Gesicht, auf den starken Wangen breitete sich angeregte Röte aus. Ja, das war meine Lili. Mein Blick schoss erneut zu dem immer noch zwischen uns liegenden zweiseitigen Foto. Ich konnte keinerlei Ähnlichkeiten erkennen, beim besten Willen nicht. Lilis Hüften nahmen wahrscheinlich mehr Umfang ein als die Schulterpartie des Fotomodells, das offenbar noch nicht davon profitieren konnte, dass die Modelabels sich inzwischen auf ‘normale‘ Maße verständigt hatten. Das von Karl Lagerfeld präferierte Ideal einer Kleiderstange statt einer echten Frau prägte leider auch diese gestellte Hochzeitsszene. – Lili verharrte immer noch stumm verzückt bei diesem Märchenbild, ich suchte Hilfe bei Willy, der mir aber gemein in den Rücken fiel. »Mit wie vielen Operationen rechnest du denn, Lili, bis du so aussiehst?«

Der Kerl schaffte es doch wirklich, ernst zu bleiben, während Tom und ich losprusteten.

»Ihr seid gemein! Und Ihr kapiert mal wieder nichts! Das sind doch alles nur Anregungen.« Mit deutlicher Hast blätterte sie jetzt unlustig weiter. »Ich weiß selbst, dass ich nicht schön bin.«

Jetzt protestierten wir geschlossen, versicherten Lili unsere höchste Wertschätzung, was ihr Aussehen anbelangte, sprachen beruhigend auf sie ein, bis sie schlussendlich mit ängstlichem Blick auf Willy flüsterte: »Bin ich wirklich hübsch?«, woraufhin Willy nichts mehr auf dem Stuhl hielt, er sofort um den Tisch hechtete, um seine Ziehtochter in den Arm zu nehmen.

Als ich die beiden so beieinanderstehen sah, wurde mir warm ums Herz. In dem Wissen, dass meine Beteuerungen mal wieder nichts zählten – ›Du bist meine Mama, du musst das sagen!‹ – genehmigte ich mir mit Tom einen doppelten Grappa. Der auch vonnöten war, denn der Horrortrip durch Lilis Hochzeitsmappe wollte einfach kein Ende nehmen. Willy war es, der ihr nach eingehenden Betrachtungen und wortreichen Erklärungen den überbordenden Ordner vorsichtig aus den verkrampften Fingern löste, ihn sachte zuklappte, in seine breiten Arme gleiten ließ und damit meine erste Begegnung mit Lilis Hochzeitswünschen gnädig beendete.

 

Im Treppenhaus quatschten wir wie gewohnt, Tom drängelte, es war kalt. Lili schickte ihn schon mal runter und wandte sich mir mit ernstem Gesicht zu.

»Mama, du weißt, ich hab momentan viel Stress. Und ich weiß, du liebst mich, also gib dir bitte richtig viel Mühe, ja? Ich will einfach, dass meine Traumhochzeit perfekt wird.«

Hoch geehrt, mit Tränen der Rührung in den Augen, umarmte ich sie, was Lili sogar ausnahmsweise erwiderte. Einer der wenigen Momente, wo sie Zärtlichkeiten zwischen uns nicht nur zuließ, sondern sichtlich genoss. Vergessen waren die Szenen, in denen sie mich als ‘peinlich‘ verunglimpfte und mir wütend an den Kopf warf, nie so werden zu wollen wie ich. Jetzt war alles anders, wir waren zwei miteinander befreundete erwachsene Frauen, nur durch Zufall Mutter und Tochter. Ein denkwürdiger Moment.

Schließlich löste sich Lili mit einem verzagten Zwinkern, nahm schon beinahe die erste Stufe in Angriff, fuhr dann hektisch herum.

»Das Wichtigste ist, dass du mit den besonderen Gästen sprichst, den VIPs. Stehen alle auf der Liste, ganz vorn. Das ist echt dringend! Wir können uns nicht so viel Zeit lassen wie andere Paare! Ja, ich komm ja schon!«, das Letzte galt Tom, der ungeduldig und misstönend von unten pfiff. Während Lili die Stufen hinabhastete, hörte ich sie genervt erklären:

»Ich musste meiner Mama doch noch sagen, was jetzt oberste Priorität hat. Schließlich willst du mich doch am fünfzehnten Fünften fünfzehn heiraten. Und du weißt, wie schwer sich meine Mama mit Terminen tut.«

Versonnen starrte ich meinem jetzt wirklich erwachsenen Töchterchen hinterher, immer noch gefangen in meinen sentimentalen Gedanken, da nahm Willy mich von hinten in den Arm.

»Kommst du jetzt, du große Hochzeitsplanerin? Es wird kalt.« Willy schloss die schwere Wohnungstür mit Nachdruck, das alte Holz verzog sich im Winter stets so gerne, dass bisweilen die Türe über Nacht offen stand, ohne dass wir es merkten. Dann nahm er mich in den Arm, beugte plötzlich seinen Oberkörper nach hinten und betrachtete mich ernst.

»Weißt du eigentlich, dass du jetzt das perfekte Oxymoron verkörperst?«

Das hörte sich nach etwas verflixt Kompliziertem an. Spielerisch knuffte ich ihn in die Seite. Er wusste ganz genau, dass ich keine Ahnung hatte, was er damit meinte, auch wenn mir der Begriff vage bekannt vorkam. Doch Willy lachte bereits gackernd, sein ganzer Körper bebte.

»Verstehst du denn nicht? Oxymoron! Ada Sandler, die Hochzeitsplanerin, herrlich! Was für ein Widerspruch in sich selbst! Dabei schließen sich Ada Sandler und Planung doch von vornherein aus!«

Den letzten Satz konnte er nur noch keuchen vor Lachen. »Vergiss es! Da wird doch nie was draus!« Ich boxte ihn mit aller Kraft in seinen wohl genährten Bauch. Allzu viel Kraft saß leider nicht mehr hinter den Schlägen, ich musste selbst zu viel lachen.

 

 

3 Wahnsinn

  1. 3 Wahnsinn

Am nächsten Morgen betrat ich wie immer mit Kaffee und Tabak bewaffnet mein Arbeitszimmer. Mein riesiger Schreibtisch lag wie gewohnt unter einer Fülle von Papieren und Büchern versteckt, auf der langen Fensterbank stapelten sich die vollen Ablagekörbe mit unzähligen Blättern. Völlig normal, so weit, so gut. Noch im Tran schreckte ich zurück, als ich Lilis Hochzeitsordner erblickte und damit der bislang größten Herausforderung meines Lebens begegnete. Wie lächerlich erschien mir jetzt angesichts der überquillenden Papierflut die über zwei Jahrzehnte zurückliegende Schwangerschaft. Die über einen Tag andauernde, sehr schmerzhafte Geburt, die vielen durchwachten Nächte, all die Jahre, die ich mich um mein Kind kümmerte und sorgte. Ein Klacks gegenüber Lilis Wunsch, als ihre Hochzeitsplanerin zu wirken. Genau das besagte dieser Ordner. Mir wurde schlecht.

Wohl aus Respekt vor meiner speziellen Arbeitsweise hatte Willy es nicht gewagt, den dicken Ordner mitten auf den Schreibtisch zu legen. Ein weiser Entschluss. Nur konnte ich mich jetzt nicht setzen. Wohin mit dem Monster? Musste ich eigentlich heute schon mit dem Organisieren beginnen, oder durfte ich mich noch mit meinen eigenen Belangen beschäftigen? Sofort reagierte mein Köper mit Widerstand, ich bekam keine Luft mehr, war bereits überfordert mit der Frage: Notizen für das Buch sortieren oder Lilis Ordner sorgfältig durchblättern? Ich liebäugelte mit Schmökern in Hochzeitsangelegenheiten, und zwar im Ohrensessel, der einladend am Fenster stand.

Die Entscheidung fiel, war aber keine gute. Sprichwörter verstehe ich selten auf Anhieb, doch als ich den schweren Ordner auf den Schoß hievte, ihn bedächtig aufklappte, mir sodann hämisch die säuberlich geschriebene To-do-Liste von Lili ins verdutzte Gesicht lachte, da wusste ich, was es bedeutete: Pest oder Cholera.

Tapfer überwand ich meinen Schrecken und fing an, mit erzwungener Muße darin zu stöbern. Dabei arbeitete mein Herz wie im höchsten Dauerstress. Was dachte sich Lili wohl für ihre Hochzeit wirklich? Der gestrige Eindruck konnte doch nicht der richtige gewesen sein.

War er auch nicht. Was Lili vorschwebte, das fiel unter die Kategorie ‘bombastische Gigantomanie‘! Extravaganz mit Glamour übergossen, beziehungsweise davon ertränkt. Nicht nur das allgegenwärtige grellweiße Gespenst der abscheulichsten Brautkleider versetzte mich in Panik, jetzt erst registrierte ich, wie umfassend Lilis Hochzeitspläne aussahen. Solch ein detailreiches Konvolut von Hirngespinsten aus romantischer Verklärung entstand nur über lange Jahre. Allein die Bandbreite der möglichen Hochzeitsschuhe nahm viele Zentimeter Papier ein. Was mich dazu bewegte, nicht mehr Blatt für Blatt vorzugehen, sondern vielmehr in Schwüngen. Jeder Packen beklebter Doppelseiten eröffnete mir neues Grauen, ein wahrer Höllentrip. Geisterbahnfahren machte ja noch gruseligen Spaß, das hier aber glich eher Dantes Inferno. Bisweilen existierten auch Preisangaben. Die bewegten sich allerdings in solchen Höhen, wie ich sie nur aus den Immobilienanzeigen her kannte, über die Willy und ich uns am Wochenende stets amüsierten.

Mit Lachen war es hier aber nicht getan, dämmerte mir. In Windeseile schlug ich den Ordner zu und postierte ihn neben dem Sessel. Kurzerhand drapierte ich ein großes Kissen darauf, um ihn nicht mehr sehen zu müssen. Noch sechzehn Monate, so meine Rechnung, da hatte ich noch jede Menge Zeit. Ein kurzer Blick ins Internet bestätigte: Kein Mensch fing so früh an, eine Hochzeit zu planen.

Dankbar und mit bislang unbekanntem Elan, froh, den drohenden Hochzeits-Horror-Szenarien gerade eben noch entronnen zu sein, widmete ich mich beherzt den detaillierten Kultur-Notizen. Übermäßige Freude beflügelte mich ganze fünf Minuten, dann kroch ich frustriert zu Willy in die Federn. Ich kam einfach nicht weiter. Scheinbar aufmerksam lauschte er geduldig meinen verzweifelten Ausführungen. Zu geduldig. Der Verdacht beschlich mich, dass er nur deshalb so beharrlich schwieg, weil er bereits wieder schlief. Wütend rüttelte ich an diesem Eisberg von Mann, ich wartete auf Hilfe.

»Simplify Your Life!«, murmelte er, dann blieb er für lange Zeit stumm, während ich alarmiert wach lag. Na, toll! Was für eine Hilfe! Danke schön aber auch! Das Buch kannte ich sehr wohl, Willy schenkte es mir im letzten Jahr zu Weihnachten. Willy hoffte wohl, dass mir die leicht umzusetzenden Tipps helfen konnten, meine Zettelwut einzudämmen. Funktionierte aber nicht. Von einem ‘einfachen‘ Leben fühlte ich mich seit der Lektüre nunmehr Galaxien entfernt. Außerdem verschwand während des aufmerksamen Lesens keine einzige Notiz von meinem unübersichtlichen Schreibtisch. Aber ich konnte es ja vielleicht noch mal versuchen. Beherzt sprang ich aus dem Bett. Trotz allem Lärm, den ich zugegebenermaßen extra erzeugte, wachte Willy nicht auf. Gemein.

 

Die nächsten Stunden erfreute ich mich an dieser mir völlig neuen Arbeitsweise, jedes Blatt nur noch ein Mal in die Hand zu nehmen. Peu à peu wuchsen unterschiedliche Themen-Häufchen auf meinem sich leerenden Tisch. Die zum Vorschein kommende antike Teakholzplatte verlieh dem Arbeitszimmer einen unbekannten Glanz, schrie aber auch nach einer neuen Ölung. Mein herrlicher Tatendrang trieb erfreulich viele Blüten und sorgte schlussendlich für einen überaus erfolgreichen Montagmorgen. Erst als ich stolz den glänzenden Tisch bewunderte, mir mental auf die Schulter schlug und mich mit einem abschließenden >Gut gemacht, Ada!< selbst beweihräucherte, sodann zum wohl verdienten Essen schreiten wollte und nur noch einen letzten Blick auf meinen wohl geordneten Arbeitsplatz warf, erblickte ich die Zettel auf der Fensterbank. Zuvor so sorgfältig sortiert waren sie im Zuge des Tischfreiräumens meinem schwungvollen Polierdrang zum Opfer gefallen. Womöglich lag es an den verschiedenen Maßen des Papiers, jedenfalls konnte ich beim besten Willen keinerlei Systematik mehr erkennen. Im Sonnenschein durch die Spiegelung des Fensters auf gemeinste Weise gedoppelt, lachte mir der gleiche Zettelwust hämisch ins Gesicht wie drei Stunden zuvor auf dem Schreibtisch, nur eben doppelt. Unbefriedigt, müde und ausgehungert begab ich mich mit einer Stunde Verspätung in die Mittagspause. Völlig verwirrt von mir und meiner Ineffizienz.

Fast schon eingeschlafen, riss mich das Handy mit Trara aus dem Dämmerzustand. Lili.

»Wie sieht’s aus, Mama? Können alle?«

Mein Hirn kehrte mühselig aus der Tiefschlafphase zurück. Träumte ich da einen unterschwelligen Vorwurf in Lilis Stimme? Ich grunzte zum Zeichen, dass ich zuhörte.

Keine gute Idee, wie mir Lili sogleich klarmachte.

»Wie weit bist du denn mit den Telefonaten?«

Ich lachte und wurde fast wach.

»Lili, es sind noch sechzehn Monate bis zu eurer Hochzeit! Ich habe noch mit keinem telefoniert. Ich habe gearbeitet.«

Mir wurde kalt, ich kuschelte mich mitsamt Handy tiefer unter die Bettdecke.

»Außerdem ist jetzt Mittagspause. Ich meld mich später noch mal, okay?«

Fröstelte ich zuvor, goss mir Lili nun verbal Eiswasser über den Körper. Ihre Stimme schwoll zu Orkanstärke heran, einem mörderischen Wind, der einen Schneesturm vor sich hertrieb. Laut, unerbittlich, mit harschen Worten empörte sie sich, wie inakzeptabel ich mich verhielt und welche immense Bedeutung der Wedding Planner besaß. In aller Ausführlichkeit brachte sie ungeduldig und lautstark zum Ausdruck, was meine Tätigkeit beinhaltete. In der Hauptsache ging es einzig darum, die Hochzeit nach ihren Wünschen zu organisieren, damit sie, die Braut, entspannt bei der Hochzeit glänzen konnte. »Die Braut ist das Wichtigste«, fasste Lili für mich noch zusammen. Das konnte selbst ich mir merken. Aber sie wollte offensichtlich noch andere Dinge loswerden, die sie bedrückten. Lili kannte heute kein Erbarmen.

»Du mit deinen blöden Jobs! Such dir endlich mal was Richtiges! Kriegst ja auch kaum Geld dafür. Du verschwendest deine Zeit, dein Schreibtalent, vergeudest deine Energie und deine Intelligenz! Fang endlich an, etwas Vernünftiges aus deinem Leben zu machen!«

Ich schaltete innerlich ab. Diese Wutpredigt kannte ich schon. Lili besaß zwar keine neuen Argumente, doch die formulierte sie äußerst präzise und sorgfältig. Jeder Bereich meines Lebens erschien ihr als völlig indiskutabel, sie verabscheute mich nahezu. Die mir wohlbekannte Wortkaskade

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Pia Baum
Bildmaterialien: Ulrike Nottebohm (Cover)
Lektorat: Udo Balzer, Kati Wendt
Tag der Veröffentlichung: 12.02.2015
ISBN: 978-3-7368-7767-2

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