Banhohf Delüx
Teil 1: Von Pizza nach Saddam bis Borderline
von Tom Thore Thorsteinsson
Version 1.0
Impressum
Banhohf Delüx
Copyright © 2018, Tom Thore Thorsteinsson
Covergestaltung: Germancreative, T.T.Thorsteinsson, J.Uhlemann
Alle Rechte vorbehalten.
/// Die in diesem Buch geschilderten Begebenheiten entsprechen den Tatsachen. Allerdings sind viele der Ereignisse aus dem Gedächtnis des Autors und/oder Dritter wiedergegeben und beanspruchen keine präzise Genauigkeit im Ablauf oder ihren Einzelheiten, manche Details beruhen auch auf der persönlichen Einschätzung des Autors oder Hörensagen, jedoch wurden alle Angaben so wirklichkeitsnah wie möglich gemacht. Die Namen aller Personen und Örtlichkeiten wurden anonymisiert. Etwaige Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten wären rein zufällig. Alle Dialoge und Äußerungen sind nicht zitiert, sondern ihrem Sinn und Inhalt nach wiedergegeben.
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EINFÜHRUNG
POSITIONSBESTIMMUNG
/// Alles Banhohf und voll delüx
Wie nennt man eigentlich eine verrufene Gegend, die einen hohen Ausländeranteil besitzt, von Integrations-, Bildungs- und Sozialschwächen geprägt ist, aber eigentlich kein eigenständiges reines Wohnviertel darstellt? Die Antwort lautet: Bahnhofstraße. Zumindest in einer ganz bestimmten kleinen süddeutschen Stadt...
Es handelt sich um einen bunten Schmelztiegel verschiedenster Menschen mit verschiedensten Hintergründen. Man findet dort so gut wie jede Ethnie und Nationalität: Albaner, Türken, Russen, Serben, Kroaten, Polen, Iraker, Inder, Ungarn, Rumänen, Bulgaren, Tschechen, Slowaken, Griechen, Italiener, Syrer, Marokkaner, Algerier, Tunesier, Pakistanis, Vietnamesen, Thailänder, diverse Schwarzafrikaner und noch viele mehr. Sogar Deutsche.
Offizielle Amtssprache: grammatikfreies akzentverschliffenes Deutsch, dem ein großer Anteil fremdsprachlichen Wortschatzes beigemengt wird.
Es finden sich auch nahezu alle Religionen in jeglicher Ausrichtung wieder. Eigentlich fehlt einzig und allein das Judentum. Sonst wären alle großen und kleinen Glaubensrichtungen, von denen man je gehört hat, anwesend.
Diese chaotische Gemengelage wird durchzogen von einem wirren Geflecht verschiedener kulturell bedingter Wertesysteme, sozialen Konflikten, erhöhter Gewaltbereitschaft, Kriminalität und Drogen. Zudem besitzen die meisten dort auch nur eine ziemlich kümmerliche Bildung. Wenn überhaupt.
Für viele stellt die Straße so etwas wie das letzte Auffangnetz vor dem freien Fall dar. Man sieht dort echt jedes Elend. Gewalttätige Typen. Drogensüchtige. Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen. Religiöse Spinner. Skrupellose Ausbeuter. Spielsüchtige Alkoholiker. Menschen mit psychischen Auffälligkeiten. Gescheiterte Existenzen aller Art. Analphabeten. Und auch blutjunge Mädchen, die sich illegal prostituieren.
Gleichzeitig ist die Bahnhofstraße, oder nach der dort üblichen Schreibweise ‚das Banhohfstrahse’, aber auch Durchgangsstation für viele, die eben erst in Deutschland angekommen sind. Für Flüchtlinge, für Asylanten, für Illegale und speziell auch für Arbeitssuchende aus ärmeren EU-Ländern.
Dazwischen kreuzen dann noch Leute herum, die halbwegs integriert sind. Es gibt sogar einige, die über Bildung verfügen und, ich sage jetzt mal, gesellschaftsfähig sind. Interessant an diesen Leuten ist übrigens der Umstand, dass sie eines teilen: Ihre Gesichtszüge und ihre Äußerungen lassen direkte Rückschlüsse darauf zu, wie lange sich jemand schon in diesem Umfeld bewegt. Umso deprimierter man wirkt und umso zynischer die Ansprachen klingen, umso länger genießt man schon den bahnhofsträßlichen Alltag. Wie das wohl kommt? Vermutlich kommt das daher, weil es sich nur um eine winzig kleine Minderheit handelt, die auf völlig verlorenem Posten dem täglichen sozialen Chaos entgegensieht.
Hmmm? Ob mein Schreibstil vielleicht auch durchschimmern lässt, wie viele Jahre ich mich schon durch die Bahnhofswelt bewege? Kann gut sein! Vieles dort ist aber auch verdammt unterirdisch. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Dieses Umfeld besitzt durchaus auch einen putzigen süßen eigenen Charme, den man anderswo vergeblich sucht.
Also tauchen sie mit mir ein in eine Welt, die sie nie zuvor gesehen haben. Lassen Sie sich verzaubern von der geheimnisvollen Aura eines besonderen Ortes. Exotische Frauen. Fremdländische Gesichter. Feurige Düfte. Ungeahnte Farbenpracht. Der Klang tausender Sprachen, der die Luft mit mystischem Flair erfüllt. Lassen Sie sich verführen; und die Weisheit von fernen Kulturen wird sich wie eine Fata Morgana vor Ihren erstaunten Augen offenbaren.
Wobei Fata Morgana nicht so ganz das richtige Wort ist. Eine Fata Morgana gibt sich immerhin noch die Mühe, wenigstens den Anschein zu erwecken, als ob da was wäre, wo nichts ist. Das kann man von der Bahnhofsweisheit nicht behaupten. Die erweckt nicht nur den Anschein, dass da nichts ist, wo nichts ist. Da ist tatsächlich nichts. Denn die allgemeine Gemütslage steht nun mal auf nur drei Säulen: Wo ist mein Glas? Wo ist die nächste Muschi? Wo ist der nächste Spielautomat? Alles darüber hinaus ist nur Beiwerk, das kein Mensch braucht. Charisma? Ja, ich glaub’ das hab’ ich schon mal gehört. Das ist doch ‘n russischer Schnaps, oder? Ja genau! Und Bildung ist die süße junge Thai, die für ‘n Fuffi echt alles macht!
Doch genau das macht den Bahnhof erst so richtig deluxe. Oder wie man dort schreiben würde: ‚delüx’. Es erschafft erst das wirklich Zauberhafte dieses Ortes: Situationskomik vom zweifellos Allerfeinsten. Nirgendwo sonst wird einem eine so breite Palette an luxuriös hirnrissigen Aktionen und Begebenheiten geboten, wie dort. Nirgendwo sonst haben es so viele Menschen so gut drauf, sich selbst oder ihr Gesicht mit fast schon unfassbarer Präzision in die Wand zu lassen und im Nachhinein ganz ungläubig dazu zu vermerken: „Ich hab’ die Wand schon auf mich zukommen sehen! Aber ich verstehe einfach nicht, warum sie für mich nicht zur Seite gegangen ist!“
Ich arbeite nun schon seit so vielen Jahren in dieser Straße. Die meisten davon nur nebenbei, doch die letzten, die meine ganz persönliche Haltung maßgeblich und nachhaltig prägen sollten, in Vollzeit. Ich wirke dort als hoch qualifizierte Fachkraft spezialisiert auf die Lösung komplexer Logistik- und Zeitmanagementfragen in einem örtlichen Fast Food Betrieb. Das ist manchmal ganz schön stressig und bringt mich gelegentlich auch an meine Grenzen.
Komischerweise stellen sich die Leute meine Tätigkeit oft viel einfacher vor, als sie es tatsächlich ist. Ich muss so vieles gleichzeitig im Auge haben: Wareneinkauf organisieren, Bestellungen entgegennehmen, Rechnungen schreiben, Lieferungen zusammenstellen, Fahrtrouten austüfteln sowie (meist interne) Störquellen erkennen und nach Möglichkeit eliminieren. Als immer wichtiger und zeitaufwendiger erweist sich auch die telefonische Kundenbetreuung. Besonders die Beschwerdebearbeitung. Dieser Bereich verbucht in letzter Zeit einen enormen prozentualen Zuwachs (den er aber wohl auch nur hat, weil die Produktionsüberwachung im Aufgabenbereich meines Chefs liegt).
Alle diese höchst komplizierten und in sich greifenden Abläufe erfordern höchste Konzentration, Wissen und jahrelange Erfahrung. Pizzafahrer ist ein echt anspruchsvoller Job! ........... Ja, ganz genau! So hart und schwierig sogar, dass ihn auch locker ein dressierter Pavian machen könnte. Und das gilt nicht nur für meinen Job, sondern für so ziemlich jeden in der Pizzeria und ihrer Umgebung. Allerdings sind dressierte Paviane offenbar nur sehr schwer zu kriegen, weswegen in der Bahnhofswelt unglücklicherweise viel zu oft auf ganz geringfügig unbegabteres Personal zurückgegriffen werden muss...
/// Streifzug durch einen Ort prickelnder Exotik
Wir befinden uns in einem süddeutschen Provinznest mit deutlich zu wenigen Einwohnern. Ich erwägte übrigens kurzzeitig, an dieser Stelle einen kleinen versteckten Hinweis einzufügen, der Begriffe wie Autokennzeichen, römische Ziffern und Ähnliches miteinander verbindet. Doch ich habe mich dann doch dagegen entschieden, denn sonst wird es vielleicht doch zu offensichtlich. Auch wenn in der Bahnhofstraße sicher niemand ein solches Rätsel je lösen könnte. Nicht einmal, wenn er dafür zwei Jahrtausende Zeit hätte.
Was mich an dieser Stelle übrigens so ganz nebenbei beschäftigt: Die Gegend um einen Bahnhof herum sollte doch eigentlich nett herausgeputzt sein, um bei Bahnreisenden, die erstmals eine Stadt besuchen, einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen. So von wegen Imagepflege und Selbstpräsentation. Warum trifft es eigentlich auf so viele Städte zu, dass dort stattdessen immer die allererste Anlaufstelle ist, wenn man unbedingt fragwürdige Gestalten und schäbige Klitschen sehen will?
Wie dem auch sei, zurück zum kleinen süddeutschen Städtchen. Sobald man dort den Bahnhof verlässt, wird man vom Hauptverkehrsweg der Innenstadt geradewegs in den Altstadtkern geführt. Unmittelbar vor dem Bahnhof kreuzt er natürlich die gleichnamige Straße und teilt sie in zwei Bereiche. Der linke ist vergleichsweise noch eine normale Gegend. Doch der rechte, indem dieses Buch spielt, unterscheidet sich vom linken schon allein dadurch ganz erheblich, dass die Stadtsanierung bis jetzt einen sehr großen Bogen darum gemacht hat. Schön sieht’s da aus. Wirklich vorzeigbar. Der gesamte Straßenabschnitt besteht im Grunde aus einer einzigen Gebäudefront. Ein riesiger hässlicher klobiger Pott, der das unerreichte Schönheitsempfinden der Sechziger widerspiegelt. Und seit den Sechzigern hat sich die Stadtverwaltung auch nicht mehr um diesen Bunker geschert. Alles böse abgeranzt. Putzbrocken platzen überall von der Hauswand. Die Fassadenfarbe ist unter Ruß und Dreck kaum noch zu erkennen. Das Ding hätte schon vor dreißig Jahren dringendst eine Renovierung vonnöten gehabt. Kurz gesagt: eine schäbige marode Ruine.
Dort zentral gelegen: die Pizzeria. Sie besitzt im Übrigen auch kein halbwegs schönes Schild oder einen Schriftzug auf der Hauswand. Vielmehr wurde eine bedruckte Plane quer über den Eingang gespannt. Äußerst professionell! Von dort prangt auf die Passanten das Firmenlogo in Form eines fliegenden pinkfarbenen Drachen herab. Sollte sich jetzt jemand wundern, wo der Zusammenhang zwischen italienischen Pizzas und chinesischen Drachen zu finden ist: Ich weiß es nicht! Niemand weiß es, fürchte ich.
Dieser blöde Drache hat mich übrigens sowieso schon lange vorher beschäftigt. Ich habe mir immer gedacht: ‚Irgendwas stimmt mit dem nicht, irgendwie passt was mit seinem Auge nicht!’ Es hat eine völlig unnatürliche tropfenähnliche Form. Das sieht doch komisch aus!
Irgendwann fiel es mir dann wie Schuppen von den Augen. Das ist nicht das Auge, das ist eine Träne, die gerade das Auge verlässt. Das hätte mir aber auch schon früher klar werden können. Logisch! Ein pinker Drache. Den haben die coolen Drachen wahrscheinlich schon in seiner Jugend gemobbt, verprügelt und regelmäßig als Schwuchtel beschimpft. Da muss am Ende doch ein immer heulendes Drächelchen rauskommen. Mit dieser Erkenntnis aber finde ich ihn als Logo schon gar nicht mehr so unpassend, denn er steht draußen sinnbildlich für das, was es drinnen auch ist. Und zwar: alles zum Heulen. Jetzt müsste man den Laden nur noch von ‚Flying Dragon’ in ‚Crying Dragon’ umtaufen...
Direkt rechts neben uns befindet sich das Bistro ‚Venezia’, dessen Außenbestuhlung bis vor die Pizzeria reicht. Diese Tränke ist praktisch die lokale Drehscheibe für genau die Sorte Thaifrauen, die ganz locker in der Lage sind auch noch die unvorteilhaftesten Klischees und Vorurteile zu bedienen, die man von Thais haben kann. Mit denen hat man besser nicht mal als typischer Thai-Besitzer zu tun, und schon gar nicht als untypischer.
Sollte sich jetzt jemand wundern, wieso eine thailändische Kneipe Venezia heißt: Ich weiß es nicht! Niemand weiß es, fürchte ich. Hey! ..... Moment mal! Diesen Satz hab’ ich doch schon mal irgendwo gehört! Huch, ich erkenne ein Muster! Aber vielleicht gibt’s in diesem Fall ja doch eine ganz plausible Erklärung: Die haben sich nur in der Schreibung vertan. Es hätte eigentlich Venerea heißen sollen. Das wäre zumindest sinnbildlich ein Bulls Eye.
Mein persönliches Highlight dort stellen übrigens die Thaifrauen dar, die in dieser Kaschemme noch spätabends in Begleitung ihrer vierjährigen Kinder aufschlagen. Und das nicht nur auf einen kurzen Schluck. Warum nur bilde ich mir ein, jetzt schon wissen zu können, dass diese Kinder später nicht die Gesellschaft tragen, sondern nur von ihr ertragen werden?
Diese Spelunke ist allerdings noch nicht lange in thailändischer Hand. Zuvor wechselten ihre Wirte und ihr Namen fast jährlich. Was aber egal war, denn die zweifelhaften Gestalten, die dort abhingen, blieben immer dieselben.
Etwas weiter die Straße hinunter hat es noch eine türkisch besetzte Kneipe. Die wechselte zwar auch ständig den Namen, blieb im Volksmund aber ihrem ursprünglichen Namen nach immer die ‚Neue Bastei’.
Noch ein Stückchen weiter befindet sich die Table Dance Bar ‚Hell’s Kitchen’. Die kenne ich eigentlich nur daher, weil gelegentlich eine der dort engagierten Grazien Hunger hat und ich sie dann mit Futter versorgen darf. Coolerweise geben die Ladies immer vernünftig Trinkgeld. Von denen dürfte sich manch anderer unserer Kunden gern etwas in dieser Hinsicht abschauen.
Erstaunlich ist allerdings: Es sind immer deutlich mehr Bedienstete als Gäste anwesend, wenn ich dort erscheine. Hell’s Kitchen, was? So sieht es also aus, wenn die Hölle nicht los ist. Wie kann dieses Etablissement eigentlich überleben? Ob die vielleicht so ganz nebenbei auch noch im Finanzreinigungssektor tätig sind? Besser nicht darüber nachdenken! Und wo bleiben die Gäste eigentlich? Na ja, wahrscheinlich ist sich der typische Stangenbarbesucher mit mir durchaus nicht uneinig hinsichtlich der hocherotischen Kapazitäten der dort beschäftigten Damen aus osteuropäischer Produktion.
Bevor sie zur Table Dance Bar wurde, war diese Örtlichkeit eine Art Mikro-Disco, die sozusagen als Auffangbecken für die diente, die man sonst nirgendwo reinlassen wollte. Die einzige Ausnahme waren natürlich die Gäste, die nur deswegen erschienen, um sich über das Stammpublikum lustig zu machen. Solche hat so ein Loch irgendwie auch immer. Im Volksmund wurde diese Klitsche im Übrigen sehr respektvoll als ‚Verzweifelten-Verlies’ bezeichnet.
Nachdem sich die Disco ins ‚Hell’s Kitchen’ verwandelte, eröffnete nebenan im Keller die ‚Black Hole Bar’. Diese Namensgebung war mehr als gelungen. Wirklich ein schwarzes Loch, in jeglicher Hinsicht. Es handelt sich dabei um nichts anderes, als um eine noch zwergigere Ausführung des ‚Verzweifelten-Verlieses’. Sie hat auch die gesamte Hauptklientel geerbt. Man stellt sich das am besten wie eine schwarz gestrichene Tiefgarage vor, die etwa 12m x 12m misst. Etwas Platz zum Tanzen, ein paar Tische und eine Theke. Dazu alte schepperige Boxen, aus denen durchgehend extrem jammeriger südländischer Sound dröhnt. Voila! Entertainment für höchste Ansprüche.
Direkt links neben der Pizzeria erstrahlt noch die Spielothek ‚Lucky Stiff’ in leuchtenden Neonfarben. Auch so eine Brutstätte für Zombies. Man begegnet dort aber auch einigen zivilisierten und gebildeten Menschen, vorwiegend in Gestalt der Hallenaufsichten. Besonders cool und witzig: Carrie und Sina. In meinem Arbeitsalltag sind gelegentliche Kaffee- und Raucherpausen, die ich dort verbringe, schon echte Highlights. Menschen, mit denen man ein normales Gespräch führen kann! Yippie!
In den Stockwerken über der ‚Ladenzeile’ befinden sich Mietwohnungen. Na ja, eigentlich sind es eher Mietschuhkartons, die auch völlig fertig sind. So wie die meisten ihrer Bewohner, von denen übrigens kaum einer richtiges Deutsch spricht. Die meisten davon treiben sich natürlich andauernd in den erwähnten Lokalitäten herum. An warmen Sommerabenden kommt das besonders schön zur Geltung. Dann bevölkert die multikulturelle Gemeinde natürlich auch die Außenbereiche der Kneipen und vermischt sich mit dem Durchgangsverkehr. Das hat dann was von einer Mischung aus türkischem Basar und asiatischem Ballermann. Die Aura eines besonderen Ortes, eben. Sie wissen ja: exotische Frauen, fremdländische Gesichter, feurige Düfte, ungeahnte Farbenpracht. Der Klang tausender Sprachen, der die Luft mit mystischem Flair erfüllt...
DER BAHNHOF-CODE
/// Verstehe du mir?
Bevor wir nun tiefer in diese Welt eintauchen, sollten wir uns noch ein wenig mit Vokabeln und Wortschatz beschäftigen. Keine Angst, Sie sollen das nicht alles auswendig lernen. Doch ein kurzer Überflug darüber eignet sich hervorragend, um einen guten Eindruck von den vorherrschenden Umgangsformen zu erlangen und um noch ein wenig mehr von der allgemeinen Atmosphäre in sich aufzusaugen. Besonders für die Leser, die mit einer solchen aufregenden Umgebung noch nie zu tun hatten.
Lektion 1: Einfache allgemeine Wendungen und Begriffe
(Hey) Arschloch
Allgemeingültige Anredeformel, die dem Adressaten signalisiert, seine ungeteilte Aufmerksamkeit dem Sprecher zuzuwenden, da die folgenden Ausführungen eine Problemstellung erörtern.
planieren
Es ist denen nicht beizubringen, dass es planen heißt, wenn man was ausheckt.
Baustellenfirma
Bauunternehmen scheint auch zu schwierig, um es sich merken zu können.
Hat schneiden?
Bist du beschnitten?
Küchenschabe
Allgemein übliche Bezeichnung für Küchenangestellte
Kakerlake
Ironische (kollektive) Selbstklassifizierung typischer Bahnhofsträßler.
Die kosten billiger
Konsumgüter im Erschwinglichkeitsbereich von Kakerlaken.
Lektion 2: Einfaches fremdsprachliches Grundvokabular
Sprache
Wortlaut
Deutsche Bedeutung
Anmerkungen
Türkisch
hayvan
Tier
Türkisch
haydi (çabuk)
Los jetzt, zack zack
Türkisch
amına koyayım
Ich fick deine Muschi
Wird normalerweise wie ‚fick dich’ verwendet oder als Unmutsäußerung im Sinn von ‚verfickte Scheiße’.
Türkisch
yarak
Schwanz
Wird auch oft als ‚du kannst mich’ verwendet.
Türkisch
manyak
Verrückter
Türkisch
bülbül
Nachtigall
Synonymisch für Muschi
Albanisch
kurac
Schwanz
Wird auch wie Idiot und Hurensohn verwendet.
Albanisch
jebote kurac
Verfluchter Schwanz
Wird meist wie ‚leck mich doch’ verwendet.
Albanisch
ta qi(fsha nonen)
Ich fick deine Mutter
Wird auch wie ‚Heiland Sack’ verwendet
Albanisch
kurwa
Nutte
Wird auch wie Vollidiot oder Arschloch verwendet.
Russisch
(suka) bljad
Hure, Schlampe
Wird als Universalwort verwendet, wie engl. ‚fuck’.
Russisch
sajebis bljad
Gewinn mal ganz zügig soviel Land wie du kannst
Russisch
zacroy rot
Halt die Fresse
Arabisch
shaytan
Teufel
Arabisch
yallāh
Mach schnell
Arabisch
allāh hallāh
Meine Güte/ mein Gott
Wird verwendet, um genervt sein auszudrücken.
Arabisch
halāl
Zulässig (religiös)
Faktisch: kein Schweinfleisch
Arabisch
harām
Unzulässig (religiös)
Faktisch: Das, was aus religiös-moralischer Sicht keiner darf, aber in der Bahnhofstraße trotzdem jeder tut.
Arabisch
tamām
Okay
Arabisch
kāfir
Ungläubiger
Arabisch
dshahannam
Hölle
Arabisch
dshanna
Paradies
Thai
mau mau
Völlig besoffen
Thai
na hi
Muschigesicht
Schlimme Beleidigung für Frauen.
Thai
pai reu
Mach hin jetzt
Thai
phom mai ru
Ich weiß nicht
Männlicher Sprecher
Thai
chan mai ru
Ich weiß nicht
Weibliche Sprecherin
Thai
bababobo
Balla Balla
Thai
hup pak ngo
Halt’s Maul du Depp
Thai
kho khuai
Schwanz eines Rindes
Schlimme Beleidigung für Männer.
Lektion 3: Spezifische anderssprachige Bahnhofstraßenwendungen und ihre Bedeutung
Sprache
Wortlaut
Wörtliche Bedeutung
Gemeinte Bedeutung
Arabisch
vallāh
a) Ich schwöre, echt wahr!
b) Im Ernst!
c) Im Ernst?
Ich schwöre, ich lüge!
Ich schwöre, ich lüge!
Ich könnte schwören, du lügst!
Arabisch
vallāh (i) billāh(i)
a) Ich schwöre bei Allāh, wirklich wahr!
b) Wirklich, im Ernst!
c) Wirklich, im Ernst?
Ich schwöre, du kannst dir sicher sein, ich lüge!
Ich schwöre, du kannst dir sicher sein, ich lüge!
Ich weiß, du lügst!
Arabisch
in schā'allāh
Wenn Allāh so will
Ich lehne jegliches selbstverantwortliche Denken und Handeln für mich ab.
Arabisch
allāh karīm
Allāh ist gnädig
Selbst wenn ich selbstverantwortlich Denken und Handeln wollen würde, ich bin einfach zu blöd dazu und verlass mich deswegen lieber gleich auf Gottes Wohlwollen.
Arabisch
allāhu akbar
Allāh ist groß
Jemandem, den ich nicht leiden kann, ist was ganz Schlimmes zugestoßen und das freut mich ungemein.
Kurdisch
alhamdulillāh sükût
Allāh sei Dank für die Ruhe
Chef ist nicht im Laden und hoffentlich bleibt das noch ein Weilchen so.
Thai
chan rak thö
Ich liebe dich
Ich versuche es hinzukriegen, dass du nicht mitkriegst, wer außer dir sonst noch so alles zwischen meinen Beinen verkehrt.
Lektion 4: Spezifische migrationshintergrunddeutsche Wendungen und ihre Bedeutung
Sprecher
Wendung
Bedeutung
Araber
Meine Freund, wie geht’s?
Ich brauch’ irgendwas von dir!
Araber
Lass mir mei’ Ruhe du Arschloch
Heute brauch’ ich glaube ich nichts mehr von dir!
Araber
So Schweinerei mach ma’ nicht
Auch wenn sonst keiner so ‘ne Scheiße bauen würde, ich schon, bin aber hinterher zu feige es zuzugeben.
Araber
Weiß du Kalashnikov?
Wenn ich jetzt ein Gewehr hätte, dann…
Araber
Bist du gleiche wie Hund!
Du bist genauso schlimm wie Chef!
Albaner
Ich auch bin nich dumm
Ich schaff’s immerhin allein aufs Töpfchen.
Thai
Ik bin nik dumm
Ich habe kein Wissen, keinen Charakter und nur wenig Intelligenz, bin dafür aber verschlagen und hinterhältig.
Thai
Wie kann wissen?
Ich weiß nicht (woher auch).
Thai
Ik auk weiße nik!
Ich verlass mich drauf, dass du auf meinen unschuldigen Mandelaugenaufschlag reinfällst!
Thai
Ik bin eigentlik ganz lieb
Ja, eigentlich...
Thai
Nik alle Thai sin gleik
Ich bin genau so ‘ne Thai, für die du mich auch hältst.
Allg.
Ich bin nicht so!
Ich bin ganz genau so!
Allg.
Jede Leute weiß
Sogar ich hab’s schon kapiert.
Allg.
Chef hat gesagt…
Sie können mit sofortiger Wirkung bedenkenlos die Aufmerksamkeit vom Sprecher abwenden.
T E I L E I N S
DER VORLAUF IN TEILZEIT
AKKLIMATISIERUNG
/// Deep Impact
Mein erster Eindruck hatte schon etwas von einem richtig heftigen Aufprall. Kulturschock, sozusagen! Booom!!! Ich arbeitete zuvor ja schon drei Jahre lang in einem anderen Lieferservice. Dort lief eigentlich ziemlich alles ganz genau so, wie man sich wahrscheinlich auch im Allgemeinen den durchschnittlichen Pizzaservice so vorstellt. Der ganz normale alltägliche Stress, Ärger und auch Spaß im typischen laufenden Betrieb. Der ganz übliche Trash-Talk und die üblichen Gespräche und Diskussionen, denen man eben überall zwischen Angestellten aus mehr oder weniger bunt gewürfelten Kultur- und Gesellschaftskreisen begegnet.
Die Chefin war auch super, auch wenn sie natürlich hin und wieder mal Anpfiffe verteilte. Doch es blieb immer alles in einem vernünftigen Rahmen, zumal sie eine charakterliche Eigenschaft besaß, die mittlerweile leider Seltenheitswert besitzt: ehrliches Interesse an und Verantwortungsgefühl für die Menschen, die letztlich ihr Einkommen herankarren. Im Großen und Ganzen war es also eine sehr nette Zeit mit weitgehend netten Leuten dort. Bis der Laden eben verkauft wurde.
Da stand sie nun, die Chefin, und verkündete, dass sie mit dem neuen Besitzer ausgehandelt habe, jeder von uns könnte auch unter ihm weiter dort arbeiten, wenn er denn möchte. Na ja, okay, wieso auch nicht?
Die Frage beantwortete sich in dem Moment, als der Name des neuen Inhabers fiel. Mein Kollege Marc blickte mich ganz erschrocken an. Aus seinem versteinerten Gesichtsausdruck war ungefähr so viel Begeisterung abzulesen, als hätte man ihm gerade einen Kamikaze-Einsatz befohlen. Dann wandte er sich wieder mit folgenden Worten nach vorne: „Nee, ganz sicher nicht, den kenn’ ich! Für dieses beschissene blöde Arschloch arbeit’ ich ganz bestimmt nicht!!!”
Nachdem sich die Versammlung dann aufgelöst hatte, konnte er sich immer noch nicht einkriegen. Ich durfte mir einen endlosen Monolog anhören, der damit endete, er werde sich auf jeden Fall einen neuen Nebenjob organisieren. In dieser Hinsicht traf es sich auch ganz prima, dass er seit Längerem schon an einer der Telefonistinnen einer anderen Pizzeria herumschraubte. Da wollte er zuerst mal nachfragen. Ich sagte dann ganz locker im Spaß zu ihm: „Also, wenn du dir da ‘nen Job holst, dann bring’ mir doch auch gleich einen mit!” Am nächsten Tag wurde ich dann zu meiner Verwunderung von ihm mit den freudigen Worten empfangen: „So, am Freitag um 18.00 Uhr fängst du an!”
Aha! Soviel zum Spaß also! Bis dahin ging ich in meiner kindlichen Naivität immer davon aus, es sei eigentlich unmachbar sich einen Job zu angeln, ohne persönlich vorstellig zu werden. Offensichtlich ein Irrtum! Das Timing war auch ziemlich grenzwertig, denn wir hatten unserer alten Chefin schließlich versprochen, die letzten drei Wochen bis zur Geschäftsübergabe noch für sie zu fahren. Jetzt fuhren wir halt mal für drei Wochen für zwei Läden gleichzeitig. Was man daraus lernen kann: Es ist durchaus möglich für dieselbe Zeit zweifach entlohnt zu werden, wenn man weiß, was man tut.
Außerdem sollte Marc wirklich recht behalten, denn aus Erzählungen und Erfahrungsberichten späterer Zeiten ging hervor, dass sich unsere ehemals so schnuckelige Arbeitsstelle schwer entschnuckelt hatte.
Doch zurück zu besagtem Freitag: Kurz vor sechs steuere ich also durch die Türe meiner neuen Arbeitsstätte, natürlich ohne jede Ahnung was mich erwartet und wer in dem Laden eigentlich wer ist. Sofort alle Augen mit durchdringendem Blick auf mich fixiert. Irgendwie erinnerte mich die ganze Situation verdammt stark an uralte Karl May Filme, so wie ‚Der Schut’ oder ‚Durchs wilde Kurdistan’. Genauer gesagt, an die Szenen, wo sich alle Sorten von Schurken, Strolchen und Halsabschneidern an verruchten Orten treffen, um mit argwöhnischem und finsterem Blick schrecklich Frevelhaftes auszuhecken. Oje, wo bin ich hier bloß ‘reingeraten?
Ich habe mich dann mal zu einem leisen schüchternen „Hallo, ich bin ...” durchringen können. Weiter kam ich dann nicht, denn die Telefontante vervollständigte umgehend „... der andere Neue. Okay! Wir sind gerade im Stress! Hier ist der Wechselgeldbeutel, krall’ dir die vier Lieferungen, die da steh’n und los geht’s!!!” Als ich dann im Auto saß, um meine erste Runde zu starten, dachte ich nur so ganz still vor mich hin: ‚Ah ja, klasse Empfang, traumhaftes Flair! Aber zumindest hat mir mal keiner gleich die Kehle durchgeschnitten. Darauf lässt sich doch aufbauen...’
/// Kartoffel
Da zu dieser Zeit in solchen Betrieben noch richtig Umsatz zusammenkam, war das aber erst mal alles kein weiteres Thema. Die ersten paar Wochen beschränkten sich weitgehend auf rein und raus, Abrechnung und tschüss.
Es stellte sich dann aber im Lauf der Zeit bald heraus, dass die anfänglich so finster wirkenden Gesellen in Wahrheit doch weitgehend ziemlich lieb und harmlos waren. Es ist einfach nur eine ganz andere Welt mit ganz eigenen Gesetzen.
Aber man gewöhnt sich eigentlich ziemlich schnell daran, dass man in der Bahnhofstraße als migrationshintergrundloser Deutscher einer ethnischen Minderheit angehört und dass die allgemein anerkannte Höflichkeitsformel zur Begrüßung von Mitgliedern dieser Minderheit „Hey Kartoffel” lautet. Wenn man von jemandem wirklich gemocht wird, platziert er vielleicht sogar noch ein warmherziges ‚scheiß’ davor.
Des Weiteren ist es auch üblich unter zunehmender Belastung als eine Art Ausgleich die gesprochenen Sätze mit allen Beleidigungs- und Fluchformeln auszuschmücken, die die babylonische Sprachverwirrung zur Verfügung stellt. Allāh hallāh!!!
Auch wenn es jetzt verwirrend erscheinen mag: Die Atmosphäre dabei ist wesentlich besser, als es die Wortwahl vielleicht vermuten lässt. Dem Ganzen liegt grundlegend weniger Bösartigkeit zugrunde, als fehlende Bildung und Anstandsbewusstsein. Doch woher sollten die Jungs so etwas auch haben? Das muss einem eben klar sein. Zumal in vielen südländischen Kulturkreisen eine ausgeprägte Fluch- und Schimpfkultur zum guten Ton gehört.
Tatsächlich waren die Leute in den Anfangszeiten vergleichsweise echt lieb, irgendwie. Und nachdem ich das System verinnerlicht hatte, war es auch gar kein Problem mehr gelegentlich kollateralschadenfrei jemandem meine Meinung ins Gesicht zu bellen. Der Trick liegt allein darin, alles mit einem leichten Lächeln abzusenden und dabei darauf zu achten, nach Möglichkeit Bezüge zu Familienmitgliedern des Angesprochenen zu vermeiden. Denn Letzteres schaltet das Betriebssystem des zu Informierenden dummerweise automatisch mit sofortiger Wirkung auf den Blutrausch-Modus um.
Vielleicht wirken diese Ausführungen jetzt geringfügig unübersichtlich für Otto-Normalverbraucher, aber eigentlich entwickelt sich das Ganze, sobald man erst einmal richtig reinkommt, zunehmend auch in eine äußerst lustige und unterhaltsame Richtung. Innerhalb solcher Umgangsformen herrscht nämlich tatsächlich eine gedankliche Grundhaltung, die oft einen ganz eigenen Witz besitzt, den man so sonst nirgends antreffen kann. Eine ganz eigene Welt eben, mit ganz eigenen Gesetzen. Doch in solche formellen Unterschiede gleitet man ziemlich schnell und flüssig hinein. So was hat man schnell drauf, auch als ‚scheiß Kartoffel’!
/// Babylon
Man gewöhnt sich, genau wie an die ganz spezielle Etikette, auch äußerst schnell an die schon erwähnte babylonische Sprachverwirrung in all ihren Ausprägungen. Man ist nicht nur ziemlich schnell in der Lage, selbst viele fremdsprachliche Begriffe ordnungsgemäß zum Einsatz zu bringen. Man wundert sich auch schon bald nicht mehr über die absurdesten Situationen, die zwangsläufig aus dem sprachlichen Unvermögen der ganz typischen Bahnhofsträßler entstehen. „Eine Pizza Thunschiff bitte, aber gut braten meine Freund!” So sehen ungefähr die Klassiker aus. „Einmal Nudeln, weisch du Lagsjane!“ Das kann unter Umständen auch mal länger dauern, bis geklärt ist, ob der gute Mann Nudeln mit Lachs-Sahne-Sauce oder aber eine Lasagne bestellen möchte. Auch süß sind Kunden, die eine Pizza Prosciutto bestellen: „Aber machsch du zu das Prosciutto auch noch Schinken mit drauf!” Das gleiche Spiel gibt es auch noch mit Fungi und Pilzen. Das fordert dann jemanden wie mich immer heraus, zwinkernd danach zu fragen, ob der Belag nicht vielleicht noch um Champignons ergänzt werden sollte. Passt doch schließlich sehr gut dazu.
Apropos Schinken: Eines Tages kam mal eine Thai an, die des Deutschen nicht so wirklich mächtig war und bestellte Pizza. Auf die Frage, was es denn für ein Belag werden sollte, stand sie erst mal kurz mit fragendem Blick vor mir. Man konnte aber genauestens beobachten, wie ihr Gehirn arbeitete und schließlich zu dem Schluss kam, dass ich wohl gerade danach gefragt hatte, was auf das Ding drauf soll. Ansprache: „Schicken!” Aha...... !....?? Meint sie nun Schinken oder Chicken??? Meine Schweinegrunzimitation hatte für sie noch keinen Wiedererkennungswert, der nachgeahmte Flügelschlag eines Hühnchens dafür umso mehr. Mit freudigem Lächeln und klar erkennbarer Begeisterung darüber, dass es ihr offensichtlich ohne Hilfe gelungen war, unfallfrei eine Pizza mit Huhn zu bestellen, erwiderte sie den Flügelschlag und fügte freudig erregt hinzu: „Ja, ja, ja, Schicken, hihi!”
Man sollte auch nie den Gesamtzusammenhang eines Gespräches aus den Ohren verlieren, denn sonst läuft man ganz schnell Gefahr, am tatsächlich Gemeinten vorbeizuschlittern. „Keine Sau interessieren mir!” bedeutet nicht zwangsläufig, dass dem Sprecher seine Umwelt völlig gleichgültig ist. Es ist durchaus wahrscheinlicher, dass er sich darüber beklagt, dass sich für ihn keine Sau interessiert. Allerdings kam ich auch schon damals nicht umhin, mir bei manchen zu denken: ‚Wieso sollte das auch jemand tun?’ Hihi!
Zu den Klassikern gehört auch die gelegentliche Zeitungslektüre diverser Küchenangestellter als solche. Das ist so eine Nummer, die wird auch nie alt und reizt immer wieder zum Lachen. Das Verwunderlichste daran ist, viele von denen können Geschriebenes offenbar nur laut lesen. Müssen die erst selber hören, was sie sprechen, um zu verstehen, was sie lesen? Scheint so!
Auf diese Art kommen allerdings hin und wieder richtige Knaller zustande. Beispiel: Albaner liest, ist auf der Seite mit den Todesanzeigen angekommen und beginnt eine davon laut vorzutragen, ganz im lahmen holprigen Stil eines minderbegabten Erstklässlers: Bla, bla, ... bla, ... ... von Beleidigungen am Grab bitten wir Abstand zu nehmen. Er hält inne und schaut mich fassungslos an: „Beleidigungen am Grab? Was ist los? Ihr Kartoffeln, was seid ihr überhaupt für Menschen? Ta qi...!” Zwischenzeitlich hat sich der Rest der Mannschaft schon mit fragendem Blick in unsere Richtung orientiert und wurde vom Leser sofort über die vermeintliche Sachlage aufgeklärt. Das führte zu tumultartigem Gesprächsbedarf untereinander und endete schließlich damit, dass man ein riesiges Fest feierte. Man schmiss sich weg vor Lachen und rastete dabei fast schon so aus, wie die Lemuren um King Julien in Madagascar! Die Jungs fanden das Ganze echt makaber komisch, so von wegen: Das gibt’s doch gar nicht, hier muss man schon in bei einer Todesanzeige dazuschreiben, dass es toll wäre, wenn keiner auf den Leichnam spuckt.
Am Ende kam es noch zu Diskussionen, was eigentlich noch schlimmer ist: Die Tatsache, dass es in Deutschland Menschen gibt, die in ihrem Leben offensichtlich so sehr durch ihren Charakter geglänzt hatten, dass man glaubt, man müsse der Anzeige so eine Anmerkung hinzufügen? Oder doch etwa die Leute, die wirklich auf einer Beerdigung herumrandalieren würden, wenn man sie nicht bitten würde, es zu unterlassen?
Außerdem wurde ihre Mixtur aus kopfschüttelnder Belustigung und Verwunderung über die sozialen Eigenheiten und Sitten der Deutschen von mir noch weiter angeheizt, denn ich stand die ganze Vorstellung über nur leicht grinsend am Rand und labte mich an dem bunten Treiben. Es war für sie schon ziemlich irritierend, dass mir ihre Verwunderung scheinbar gar nicht zu denken gab. Doch ich stand nur da und lächelte. Und ich bin mir fast sicher, dass so ziemlich jedem Leser schon von vornherein völlig klar war, dass in der Anzeige nirgendwo das Wörtchen Beleidigungen auftauchte. Natürlich stand dort Beileidsbekundungen...
/// Die Saat der Gewalt
Das zwar hochamüsante, aber letzten Endes dennoch nicht sonderlich hohe Niveau der Kommunikationsebene wurde allerdings noch deutlich unterboten von den allgemein üblichen Konfliktlösungsstrategien, die zu dieser Zeit die Bahnhofstraße fest im Griff hatten. Es hat auch durchaus seinen Grund, warum bis jetzt fast nur von Albanern die Rede war. Die Gegend war doch ziemlich von ihnen annektiert. Dazwischen hatte es noch eine gute Portion Türken und diverse andere Nationalitäten. Jeder Zweite, der einem dort über den Weg lief, war natürlich auch schon langjähriger Stammkunde der Staatsanwaltschaft. Beste Voraussetzungen also, um einen Kessel zum Brodeln zu bringen, zumal die Albaner sowieso schon eine gewisse Grundausstattung an Nervosität mit sich herumtrugen, da zu dieser Zeit der Kosovokonflikt gerade seinen Siedepunkt erreichte. Dem konnte sich nicht einmal unsere Kühlzellentüre entziehen, die von einem riesigen UÇK-Logo verziert wurde.
Bei den Leuten, die in der Pizzeria arbeiteten, hielt sich das Aggressionspotenzial untereinander glücklicherweise weitgehend in Grenzen. Zu Endkämpfen kam es nur sehr vereinzelt. Doch die gleichen Leute außerhalb des Ladens: oh mein Gott! Kein Abend in der Disco möglich, ohne dass keiner von denen Ärger an Land zog. Richtige Stressmagneten! Dieses Phänomen beschränkte sich natürlich nicht nur auf einige meiner Kollegen, sondern galt für einen großen Teil der Leute in der Gegend. Das bedeutet im Endeffekt, Ärger war an der Tagesordnung. Und wenigstens einmal pro Woche konnte man bewundern, wie die Staatsmacht anrückte, weil mal wieder jemand beschädigt worden war; manchmal mehr, manchmal weniger.
Bis zu einem gewissen Grad war das aber auch nachvollziehbar, besonders hinsichtlich der Albaner. Stellen Sie sich mal vor, Sie sind gerade eben den blutigen Bürgerkriegswirren in ihrer Heimat entkommen, wo Sie Entsetzliches erleben mussten. Und ein Großteil ihrer Familie ist immer noch dort! Da kann man schon mal neben der Spur laufen. Allerdings hat dieses Verständnis auch einen kleinen Pferdefuß; und zwar ganz genau dann, wenn diese Aggressionsbewältigung mal bei völlig Unbeteiligten ankommt, die im Gegensatz zu anderen Straßenkatzen, die bereitwillig darauf eingehen, nur zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Also bei Ihnen, beispielsweise...
Die Kneipe neben der Pizzeria, die jetzt ‚Venezia’ heißt und damals natürlich von einem Albaner betrieben wurde, war übrigens die Aggressionszuchtfarm schlechthin. Da war echt immer was los! Die Hauptattraktion: Viele Kunden verließen den Laden auf unvergleichbar elegante Weise. Sie schwebten hinaus, sozusagen. Ganz ohne mit den Füßen weder die Eingangsplattform noch eine der vier Stufen, die dort hinaufführten, zu berühren. Meiner Meinung nach müssten die besten Haltungsnoten übrigens Ace zugeschrieben werden, einem immer bekifften und zugesoffenen Afrikaner. Er kam einst in perfekter horizontaler Fluglage aus der Tür geschossen und schlug danach schädelbasisbruchverdächtig etwa eineinhalb Meter vor der ersten Stufe im Boden ein. Ich dachte erst: ‚Oh Mann, der steht jetzt nicht mehr auf.’ Doch er stand wieder auf und torkelte unbeeindruckt von dannen.
Wenn mal ausnahmsweise dort die Luft nicht brannte, irgendwo in der Gegend brannte sie sicher. Wenn es dabei nicht ganz mies lief, droschen die ausgesprochen ehrenwerten Kämpfer nur mit ihren Fäusten aufeinander ein. Gelegentlich waren aber auch diverse andere Gegenstände wie Hocker, Bierkrüge und Waffen aller Art im Einsatz. Das ist aber auch kein Wunder. Die allererste Lektion, die mir meine albanischen Kollegen erfolgreich vermittelten, war: Man muss für alles gewappnet sein! Gewappnet heißt in diesem Fall nichts anderes als bewaffnet. Und zwar bis an die Zähne. Diesem Credo folgte der größte Teil der Straße zu dieser Zeit, nicht nur die Albaner. Ich habe in diesem Leben nie wieder woanders so viele Messer, Schlagringe und Totschläger gesehen.
Aber abgesehen von den ernsthaften Konsequenzen führte das hin und wieder auch zu äußerst amüsanten Begebenheiten. Ein Beispiel: Zu Beginn meiner Tätigkeit dort war es üblich einem Fahrer zu einer größeren Lieferung an eine abgelegene Adresse einen Koch als Verstärkung mitzuschicken. Das geschah, weil es zu dieser Zeit vermehrt vorkam, dass Pizzafahrer mit einer Bestellung irgendwo in die Pampa gelockt wurden, um sie dann auszurauben. So auch in diesem Fall, als spätnachts noch eine große Bestellung tief in die Kronkörker Wälder hereinkam. Albanischer Fahrer, albanischer Koch. Balkan unter sich. Eine Spitzenkombination. Denn dann fehlten dem Team von vornherein schon mal zwei Dinge: Realitätssinn und psychische Sicherungen.
An der Zieladresse angekommen trafen sie auf eine Gruppe Jugendlicher, die von ihnen als vermeintliche Rechtsextreme identifiziert wurden. Man stieg dann mal gleich ganz souverän mit Schreckschusspistole in der Hand, sowie mit Schlagringen und Ketten bewaffnet aus und interviewte die wahrscheinlich doch sehr erstaunte Landjugend, ob sie Pizza geordert habe. Nachdem dies schüchtern bejaht worden war, kassierte der Fahrer ab und verteilte die Bestellung, während der Koch weiterhin höchst aufmerksam und argwöhnisch ‚gewappnet’ blieb. Die armen Kinder, die dachten sich damals sicher auch: ‚Was läuft hier denn gerade für ein Film???’ Komischerweise wurde deswegen niemals jemand von Amts wegen zu einer Stellungnahme gebeten. Hat die Landbevölkerung so viel Humor oder waren die Jungs so eingeschüchtert?
Sehr witzig war es auch zu beobachten, dass jeder in der Bahnhofstraße verbal schon fast sektenhaft Anhänger des heiligen Ehrenkodex war, der besagte: ‚Hier wird alles unter uns geklärt, bei den Mützen petzen ist tabu, das machen nur weicheiige Arschlöcher!’ Es hielt sich auch jeder dran; und zwar ganz genau solange, bis er mal selbst richtig auf die Fresse bekam.
Der meiner Empfindung nach traurige Höhepunkt der Gewalt war der Tag, an dem Liana starb. Ein wunderschönes nettes junges rumänisches Mädchen, das als Bedienung in der ‚Neuen Bastei’ gearbeitet hatte. Sie wurde nur neunzehn Jahre alt. Und alles nur, weil ihr gewalttätiger Ex meinte, wenn er sie nicht kriegt, dann auch kein anderer.
Doch über die Jahre hinweg ist es dann doch Schritt für Schritt besser geworden. Heutzutage sieht man vielleicht alle zwei Monate noch, wie ein paar rumänische oder russische Jugendliche in Handschellen aus der ‚Black Hole Bar’ abgeführt werden, weil sich zwei Cliquen über die formal korrekte Titulierung eines Mädchens, das im Normalfall einer der Gruppen angehört, nicht wirklich einigen konnten. Vereinzelt vielleicht auch noch mal einen Rumänen, der seine Thaifreundin in der Spielothek aufgreift und aus welchem Grund auch immer zu Brei verarbeitet.
Ziemlich ruhige Zeiten also, mittlerweile. Das Einzige, das sich nicht verändert hat, ist die Gemächlichkeit, in der die Polizei erscheint, wenn man sie ausnahmsweise mal echt dringend brauchen könnte.
/// Multikulturell
Falls sich mittlerweile jemand fragen sollte, warum ich im Angesicht solcher Umstände nicht schnellstmöglich die Flucht ergriff, dann gibt es dafür zwei Antworten. Die erste ist ziemlich einfach: Geld! Mit diesem Job verdiente man damals nicht schlecht. An manchen Tagen kam sogar etwa genauso viel Trinkgeld wie Grundlohn zusammen. Finanziell waren das die besten Voraussetzungen, um sich auch völlig ohne BAföG Studieren leisten zu können.
Punkt zwei war aber viel ausschlaggebender: So finster, wie es scheint, war es für mich in Wahrheit eigentlich nicht. Natürlich befand ich mich dort unter Leuten, die bildungstechnisch sicher alles waren, nur nicht die Crème de la Crème. Mit überragender Auffassungsgabe konnten auch nur die wenigsten punkten. Manche davon waren sogar auch richtig gefährlich. Aber das heißt nicht, dass die Menschen und die Dinge dort gänzlich schlecht sind oder ich sie so wahrnahm. Eher im Gegenteil. Nachdem ich meinen anfänglichen Kulturschock abgeschüttelt hatte und in diese Umgebung tiefer eingetaucht war, wurde dieses Umfeld aus meiner Sicht zunehmend spannender.
Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass ich mich für andere Mentalitäten, Kulturen und Menschen schon immer interessiert hatte. Ebenso, wie für die Verständigung und den Austausch zwischen ihnen.
Ich finde Mischmasch eigentlich ganz toll. Ich hatte selbst auch meistens Freundinnen, die ursprünglich einem anderen Kulturkreis entsprangen. Auf der Uni sah es auch nicht anders aus. Mein Fachbereich in der kulturwissenschaftlichen Fakultät war auch nicht zufällig so gewählt, dass der Großteil meiner Kommilitonen aus aller Herren Länder stammte. Außerdem fand ich es ebenfalls schon immer interessant, mich grundlegend mit der Persönlichkeitsbildung von Menschen zu befassen. Besonders mit solchen, die etwas außerhalb der Norm laufen. Und den Gründen, wie es dazu kommt.
In der Bahnhofstraße hatte ich im Hinblick auf diese Interessenlage wahrlich genug leibhaftiges Anschauungsmaterial. Im Regelfall sogar in Personalunion: fremdländisch und neben der Kappe. Auch wenn es in multikultureller Hinsicht auf der Uni natürlich einen kleinen Hauch gesitteter zuging als dort. Doch das tat dem Ganzen keinen Abbruch. Ich konnte mich erst einmal auf hochinteressante Charakterstudien verlegen. Der Bahnhofsträßler in
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 06.01.2019
ISBN: 978-3-7438-9252-1
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