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Leseprobe

THE WAY SHE SMILES

THE WAY YOU ARE - Band 1

BELLA PAASCH

 

 

 

 

 

Für alle,

die einfach nur

glücklich sein wollen.

PROLOG

WESTON

Dein Lachen war das Erste, was ich an dir geliebt habe.

Danach habe ich mich mit rasender Geschwindigkeit immer mehr in dich verliebt.

Von da an gab es kein Zurück mehr.

Es war unaufhaltsam. Wir waren unaufhaltsam. Erinnerst du dich an das berauschende Gefühl, wann immer wir zusammen waren? Ich erinnere mich nur zu gut daran und manchmal wünsche ich mir dieses Gefühl zurück. Bis mir wieder einfällt, warum nun Funkstille herrscht.

Mit jeder Sekunde liebte ich dich mehr, Reverie.

Ich konnte nicht anders, als dir hoffnungslos zu verfallen.

Du warst es, die mir gezeigt hat, was es bedeutet, zu lieben. Du hast mir gezeigt, wie wundervoll und einzigartig Liebe sein kann. Unsere Liebe.

Und als mir all das klar wurde, wollte ich dich nie wieder verlieren. Eigentlich.

Ich liebte dich bereits, als wir uns kennengelernt haben, wusstest du das?

Doch das war auch der Moment, der bestimmte, dass wir einander verlieren werden.

Uns war das damals nicht klar. Wir wussten nicht, wer von uns etwas tun würde, was schließlich zum Ende führt.

Aber hätten wir es gewusst, dann sag mir, hätte sich dann etwas zwischen uns geändert? Wären wir dann jetzt nicht an diesem Punkt und würden nicht mehr miteinander reden?

Würden wir lachen statt schweigen?

Oder wäre alles genau so gekommen?

Ich weiß nicht, ob ich alles zwischen uns ändern und ungeschehen machen würde. Es ist so viel passiert, was ich nicht vergessen kann und auch nicht vergessen will.

Doch dann ist da noch diese Lüge. Deine Lüge.

Würdest du bisher Geschehenes ändern, Reverie?

Sag, liebst du mich?

Oder war auch das bloß eine einzige Lüge?

REVERIE

Was würde wohl passieren, wenn der sündhaft teure Kronleuchter von der Decke fällt? Ob jemand vorher um die Ecke kommt und von ihm getroffen wird?

Er würde einfach fallen. Niemand könnte ihn aufhalten.

Laut lasse ich die Kaugummiblase zwischen meinen Lippen platzen. Der Aufprall wäre sicherlich zehnmal so laut.

Der arme Boden. Mein Vater würde das gewiss nicht gutheißen. Doch die wenigen Dollars würden ihm auch nicht das Genick brechen. Da bin ich mir sicher.

Und meine Mutter würde sich freuen, die Eingangshalle endlich neu gestalten zu können. Die Bank, auf der ich gerade sitze, könnte genauso gut ausgetauscht werden. Sie steht schon ziemlich lange dort. Also für die Verhältnisse des Haushaltes, denn sonst werden hier regelmäßig die Möbelstücke gegen andere ersetzt, wenn sie plötzlich meiner Mutter überhaupt nicht mehr gefallen. Das kam nicht selten vor.

Gelangweilt verschaffe ich mir einen genaueren Überblick über unsere Einrichtung, die meiner Meinung nach viel zu viel gekostet hat. Alles ist farblich perfekt aufeinander abgestimmt und der weiße, glänzende Marmorboden spiegelt das grelle Leuchten des Kronleuchters, der den Raum mit Licht erfüllt, wider.

Ich fand den Kronleuchter schon hässlich, als ich noch ein Kind war und lachend die breite Treppe auf und ab gerannt bin. An dieser Meinung hat sich bis heute nicht viel geändert. Ich weiß noch immer nicht wirklich, was meine Eltern je an diesem Teil gefunden haben. Und obwohl hier ständig Dinge ausgetauscht werden, blieb der Kronleuchter bisher leider immer dort oben hängen. Vielleicht hofft gerade deswegen ein kleiner Teil von mir, dass er einfach von der Decke fällt und ein neuer her muss. Eine Zeit lang habe ich regelmäßig darum gebettelt, dass dieses Monstrum abgehängt wird. Aber natürlich wird das eine Teil, das ich nicht leiden kann, nicht ersetzt. So war es doch schon immer und es wird sich so schnell nicht ändern.

»Reverie, wärst du so gut und holst du meine Tasche aus dem Auto?«, bittet Mutter mich, die aus dem Flur kommt und gleich, ohne auf eine Antwort zu warten, die linke Treppe hinaufgeht.

Der Kronleuchter bleibt hängen.

Er wackelt nicht einmal.

»Liebling?«, ertönt erneut ihre laute Stimme, als ich ihr nicht gleich antworte. Alles muss immer sofort geschehen, wenn sie etwas verlangt.

»Natürlich«, antworte ich seufzend, obwohl mir bewusst ist, dass niemand es hören wird, denn sie ist schon längst wieder außer Hörweite. Jetzt geht sie davon aus, dass ich ihrer Bitte, es ist eigentlich eher eine Forderung, nachgehe, obwohl sie auch beim zweiten Mal keine hörbare Antwort von mir erhalten hat.

Ich verlasse die, nach der Definition meiner Mom, alte Bank und begebe mich nach draußen ins Freie. Meine Absätze hinterlassen ein hallendes Geräusch auf dem hellen makellosen Boden.

Unsere Haustür hat nach dem Eintreten meiner Mutter niemand geschlossen, sodass sie noch sperrangelweit offen steht, und jeder x-Beliebige hätte hereinspazieren können. Das tat hier allerdings niemand. In dieser Gegend hat jeder genügend Geld, und sollte sich doch jemand hierher verirren, der hier nicht hergehört, Zitat unseres Nachbarn, würde man dies gleich erkennen und der Nachbarschaftswache Bescheid geben.

Gott, manchmal hasse ich diese Menschen in dieser Gegend.

Von hier oben, oberhalb der Treppe zu unserem Haus, kann ich die gesamte Einfahrt überblicken, doch das Tor zur Freiheit befindet sich erst hinter den großen Bäumen. Das Auto parkt gleich am unteren Ende der Treppe. Meine Füße tragen mich zum Auto und für einen kurzen Moment überlege ich, ins Auto einzusteigen und auf der Stelle wegzufahren. Einfach die Realität und das Leben hier hinter mir lassen, doch als ich nach der Tasche greife und die kleine Packung Tabletten herausfällt, wird mir klar, dass das nichts bringen würde. Irgendwie finde ich immer den Weg hierhin zurück. Ich werde hier gebraucht. Wenn auch auf eine verdrehte Art und Weise.

Mom hat Migräne. Dafür sind die Tabletten, sagt sie. Ich glaube, sie hat Probleme. Mehr als nur Migräne. Doch über so etwas redet man in diesem Haus nicht. Sie ist über das Wochenende mit ihren Freundinnen verreist. Das tut sie manchmal, wenn sie wieder Zeit für sich braucht.

Dad muss arbeiten. Ihn sehe ich also ebenso am Wochenende kaum. Er hätte genauso gut mit ihr dort sein können. Einmal im Monat, an einem Wochenende, es ist immer das Gleiche.

Meine Eltern sind zu diesem Zeitpunkt nicht da und nicht erreichbar. Weder für jemand Fremden noch für mich. Abgeschottet von der restlichen Welt. Er in seinen Meetings und sie mit ihren Freundinnen in unserem Haus an der Küste. Definitiv haben sie ein Problem, vermutlich auch mehrere, aber laut zugeben will es keiner. Doch wissen tun wir es insgeheim alle.

Manchmal kommt Grandma mit einem ihrer neuen Freunde vorbei. Oder Tante May kommt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern. Drei Jungs. Der älteste fühlt sich mir überlegen, weil er beinahe ein ganzes Jahr älter ist als ich, und die beiden jüngeren können nichts anderes, außer das Haus völlig auf den Kopf zu stellen.

Mein Bruder kommt nur noch selten vorbei, seitdem er seine eigene Familie hat. Theodore ist und bleibt dennoch der Liebling des Hauses.

Ich trete mit der Tasche in unser Haus ein und sehe an die Decke, wobei ich die Tür hinter mir mit dem Rücken schließe. Habe ich erwähnt, dass ich diesen Kronleuchter abscheulich finde? Ja? Ich werde es trotzdem immer und immer wieder sagen, bis er nicht mehr an seinem Platz hängt.

»Reverie«, erklingt erneut die Stimme meiner Mutter. »Hast du meine Tabletten gesehen?« Sie lehnt an dem Geländer der oberen Etage, sodass ich den Kopf wiederholt etwas heben muss.

Ich halte ihre Tasche ein Stück in die Luft, damit sie einen Blick darauf werfen kann. »In deiner Tasche, Mom.«

»Du bist ein Engel, weißt du das? Kannst du mir die Tasche auf den Esszimmertisch legen?«

Ich nicke. Natürlich.

»Ach, Reverie«, werde ich aufgehalten zu gehen. »Soll ich dir ein Bad einlassen? Dir ist sicher kalt, wenn du ohne eine Jacke hinausgehst. Nicht, dass du noch krank wirst.«

Ich war keine zehn Minuten draußen. Für einen Tag im Sommer ist es frisch draußen, aber nicht kalt. Dennoch nicke ich. »Das wäre nett.«

Erfreut lächelt Mom mir zu. Sie ist keine schlechte Mutter. Ständig macht sie sich Sorgen um mich, nur zwischendurch braucht sie halt eine kleine Auszeit. Wir sind auch nicht immer der gleichen Meinung – nein, das gewiss nicht –, aber ich bin ihr trotzdem wichtig. Manchmal kann sie es zeigen, manchmal nicht.

Jetzt verschwindet sie durch die gläserne Tür, die auf den Flur führt und zu einer Reihe von weiteren Räumen. Mein Zimmer befindet sich am Ende des Ganges, womit es über einen kleinen Balkon in Richtung des Gartens verfügt, auf dem ich meine Abende verbringe, wenn an Schlaf mal wieder nicht zu denken ist und die lauten Stimmen meiner Eltern bis in mein Zimmer dringen.

Gedankenverloren laufe ich durch den schmalen Flur zu dem Esszimmer und der Küche, wo man durch die breite Fensterfront die Sonne beobachten kann, wie sie langsam ihren Weg nach unten findet und es draußen allmählich immer dunkler wird.

Wieder ist ein Tag verstrichen und morgen beginnt alles von vorne.

Ich muss weg von hier. Irgendwann und keine Ahnung wohin. Nur weg von hier, das ist sicher.

Bloß weiß ich nicht wie.

REVERIE

Während ich eine Stufe nach der anderen nach unten nehme, binde ich meine hellen Haare zu einem lockeren, unordentlichen Zopf zusammen.

In der Küche sitzt bereits Dad am Küchentisch. Eine aufgeschlagene Zeitung verdeckt sein Gesicht. Ich habe eigentlich sowieso nichts anderes erwartet.

»Guten Morgen«, mache ich mich bemerkbar, ehe ich zum Kühlschrank gehe und dessen Inhalt begutachte.

»Morgen«, erwidert die Zeitung.

Die Kuchenreste von vor zwei Tagen ziehen meine volle Aufmerksamkeit auf sich. Ob man das noch essen kann? Bestimmt.

Mit einem Stück Schokoladentorte und einer Gabel in den Händen begebe ich mich zu dem Tisch, an dem auch Dad sitzt, und nehme schließlich am anderen Ende des Tisches Platz.

Ich schiebe mir eine beladene Gabel in den Mund und blicke zu der Zeitung auf der anderen Seite des Tisches. Der Kuchen ist noch einwandfrei, und die Titelseite der Zeitung ziert das Bild einer glücklichen Familie.

Ein Bild von unserer Familie. Mom, Dad und ich.

Unsere Lächeln sind makellos, die Kleidung ist frisch gebügelt und knitterfrei, und die Haare liegen dort, wo sie liegen sollen. Es macht den Schein, als wären wir die perfekte Familie. Trotz Dads erfolgreicher Firma, in die er all seine Energie steckt, hat er noch genügend Zeit für seine wundervolle Familie.

Pure Perfektion. Das denkt man zumindest, wenn man uns von außen betrachtet. Von außen perfekt, wie fast alle Menschen hier.

Doch vieles wirkt nach außen hin anders, als es eigentlich ist.

Vielleicht will ich gar nicht so perfekt sein, wie es in der Zeitung den Eindruck macht. Aber muss ich es nicht sein, um hier glücklich zu sein? Ist es nicht das, was uns alle Türen in der Zukunft öffnet? Das ist es doch, was man uns schon als Kind beigebracht hat.

Perfektion bedeutet Erfolg, Macht und Zufriedenheit.

»Reverie, iss das nicht.« Mom tritt auf ihren hohen Schuhen in die Küche ein. »Du verdirbst dir noch den Magen damit.«

Ich verdrehe genervt die Augen, selbst wenn sie es eigentlich gut meint. Sie sieht es glücklicherweise nicht. »Der ist noch einwandfrei, Mom. Willst du etwas?« Ich halte ihr den Teller mit meiner Gabel und dem Kuchen entgegen.

Sie nimmt den Teller an sich und lässt den Kuchen dann einfach in den Müll fallen. Auch die letzten Reste aus dem Kühlschrank landen bei meinem bereits angegessenen Stück des Kuchens. Okay, das habe ich jetzt tatsächlich nicht erwartet.

»Hallo, ich wollte das noch essen«, rufe ich empört, als ich das traurige Geschehen mitansehen muss.

»Du wirst von deinen Essgewohnheiten noch krank«, bekomme ich die Antwort auf ihr Handeln.

Aber natürlich doch.

»Der Kuchen war doch noch gut«, sage ich. »Wir müssen doch nicht immer alles wegschmeißen, wenn du meinst, dass es abgelaufen ist.«

Mom geht zu der Kaffeemaschine. »Auf der Verpackung steht nicht umsonst ein Haltbarkeitsdatum.«

»Das heißt aber nicht, dass man es fünf Tage vorher entsorgen muss und dann neu kauft, um es dann wieder wegzuschmeißen. Das ist dann doch die totale Verschwendung, Mom.«

Ohne auf eine weitere Aussage zu warten, die eh überflüssig sein würde, stehe ich auf. Ich habe keine Lust auf eine weitere Diskussion, denn ich weiß, wie das ausgehen würde. Ich würde sehr sicher irgendwann einknicken, weil sie so auf mich einreden würde, dass ich mich schlecht fühle, überhaupt eine Diskussion gestartet zu haben. Ein vorzeitiger Abbruch ist also eine hervorragende Lösung, nicht wahr?

»Rede doch bitte nicht so mit deiner Mutter.« Die Zeitung liegt mittlerweile auf dem Tisch, und Dad blickt mich mit ernster Miene an.

»Ich gehe joggen«, informiere ich meine liebreizenden Eltern, um zumindest eine Weile vor ihnen flüchten zu können.

»Seit wann?« Dad zieht kritisch eine Augenbraue hoch. »Du gehst doch sonst nie joggen.«

»Du sagst doch immer, ich soll mir ein Beispiel an Theo nehmen und ein bisschen mehr wie er sein. Also gehe ich jetzt joggen.« Theodore ist das bessere Kind von uns beiden. Sagen Mom und Dad.

Die beiden wechseln einen Blick miteinander, den ich nicht ganz deuten kann, doch bevor einer der beiden etwas dazu sagen kann, verlasse ich eilig die Küche und anschließend unser Anwesen.

Ich muss schleunigst aus diesem Haus verschwinden. Zumindest für eine Stunde. Das reicht mir erst einmal. Für heute.

Meine Beine tragen mich über das Grundstück bis hin zu dem Tor, das mich noch von der Freiheit trennt. Sobald ich auf der anderen Seite des Tores bin, bin ich endlich frei. Es hat nur ein paar Schritte gebraucht, um mich besser zu fühlen. Augenblicklich fällt so auch die Anspannung von meinen Schultern, die sich beinahe unbemerkt in jede Faser meines Körpers geschlichen hat.

Um diese Uhrzeit sind die Straßen wie leergefegt. Mir begegnet nicht ein Mensch, was zu erwarten war. Erst in einer guten Stunde wird es auf den Straßen allmählich voller, wenn alle zur Arbeit fahren.

So habe ich jetzt aber wenigstens noch meine Ruhe und muss niemanden höflich grüßen, obwohl ich, wenn es nach mir gehen würde, ihnen nicht mal einen höflichen Blick zuwerfen würde.

Aber das schickt sich nicht für eine Lancaster.

Die Leute sind doch hier alle gleich. Was hier zählt, ist, wer hat das meiste Geld, die neuesten Sachen und die beste Familie.

Mit seinem Geld zu prahlen, gehört schließlich dazu, wenn man hier wohnt. Das ist nichts Neues. Mit dieser Tatsache wachsen wir hier alle auf.

Am Haus der Bensons bleibe ich schwer atmend stehen, um meinen Atem wieder etwas unter Kontrolle zu bringen. Dass ich die Ferien über nicht regelmäßig Sport gemacht habe, besser gar keinen Sport, macht sich jetzt mehr als bemerkbar. Eventuell sollte ich doch nochmal überlegen, ob ich nicht lieber öfter auf den Rat meiner besten Freundin Kara hören sollte. Sie hat mir mehr als einmal gesagt, dass ich es spätestens nach den Ferien bereuen würde. Was soll ich sagen, sie hatte wieder einmal recht.

Mein Blick wandert zu dem offenen Fenster am Haus und dann bleibe ich mit diesem irritiert an etwas anderem hängen.

Sie müssten eigentlich verreist sein. Eigentlich sind die Bensons noch bis Ende der Woche im Urlaub.

Und dennoch steht dort eine Leiter an der Hauswand.

Eine Leiter, die zu einem offenen Fenster führt, welches wiederum zum Inneren eines Hauses führt, das momentan eigentlich nicht bewohnt sein sollte.

In meinen Gedanken taucht eine offensichtliche Tatsache auf, an die sehr wahrscheinlich jeder sofort gedacht hätte. Vor meinen Augen könnte sich also ein Einbruch abspielen. Andererseits ist hier einiges eigenartig, was in dieser Nachbarschaft geschieht.

Gerade als ich näher herantreten will, tritt jemand an das Fenster, zu welchem die Leiter führt.

Ich kneife meine Augen konzentriert zusammen, um die Person besser sehen zu können. Ich kann zwar nur Umrisse erkennen, aber er ist definitiv kein Benson.

Dann liege ich mit meiner Vermutung wohl richtig.

»Kann ich weiterhelfen?«, ertönt plötzlich die dunkle Stimme des Unbekannten, sodass ich erschrocken zusammenzucke.

Als ich mich wieder gesammelt habe, lege ich die Hand als Sonnenschutz über die Augen und blicke ihm entgegen. »Hat das einen Grund, warum diese Leiter hier steht?«, rufe ich ihm zu. Wollen wir doch mal sehen, was er zu sagen hat.

»Natürlich.« Ist klar.

Ich lege den Kopf schief. »Und du tust da gerade auch nicht das, was ich denke?«

»Selbstverständlich nicht«, antwortet er direkt, doch stockt dann wieder kurz, ehe er fortfährt. »Was denkst du denn, was ich hier gerade mache, wenn ich fragen darf?«

»Ich könnte einfach die Polizei rufen.«

»Stimmt, könntest du. Du hast es aber noch nicht getan«, entgegnet er gelassen, und ich meine zu erkennen, dass sein Mund sich zu einem Grinsen verzieht. Der hat ja die Ruhe weg. »Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich habe hier noch etwas zu erledigen.« Und dann verschwindet er einfach wieder vom Fenster und wendet sich wieder seinem Einbruch zu.

Er hat tatsächlich das Gespräch beendet.

Ich könnte die Polizei rufen, wenn ich wieder in meinem Zimmer bin, da sich dort noch mein Handy befindet.

Der Typ ist ziemlich dreist.

Die Bensons sind allerdings selbst nicht gerade ohne. Sie würden es vermutlich nicht einmal merken, dass dort jemand eingebrochen ist.

Aber vielleicht sollte ich erst herausfinden, ob ich ihn oder die Bensons weniger leiden kann.

Und es gibt auch nur einen bestimmten Weg, um herauszufinden, wie meine Entscheidung letztendlich ausfallen wird.

Ich werde dem Fremden jetzt wohl einen kleinen Besuch abstatten.

REVERIE

Fest entschlossen gehe ich auf die Leiter zu. Wollen wir doch mal gucken, was er sagt, wenn ich plötzlich neben ihm stehe. Ob er weiterhin eine große Klappe hat, wenn er sich nicht überlegen oder in Sicherheit fühlt? Wir werden sehen.

Ohne einen wirklichen Plan und selbst, ohne an die möglichen Konsequenzen zu denken, setze ich meinen Fuß auf die erste Sprosse und klettere schließlich Stufe für Stufe die wacklige Leiter hinauf. Wird schon schiefgehen. Oben angekommen, steige ich durch das geöffnete Fenster ins Haus hinein.

Das ist dann wohl offiziell mein erster Einbruch. Ich stelle mich wieder aufrecht hin und blicke mich um. Wer hätte denn vor ein paar Minuten gedacht, dass ich jetzt unerlaubt in einem Haus stehe. Ich jedenfalls nicht. Ob das so schlau von mir war? Wahrscheinlich nicht, aber das ignorieren wir an dieser Stelle jetzt mal einfach. Solange die Bensons nicht plötzlich wieder aus ihrem Urlaub zurück sind und durch die Haustür hereinkommen, ist doch alles gut. Okay, das hier war definitiv nicht durchdacht. Doch einen Rückzieher mache ich nicht. Dafür ist das Leben zu kurz. Ich will nicht alles tausendmal überdenken müssen.

Von unten drängen Geräusche durchs Haus. Geräusche, die sehr nach einem Fernseher klingen. Das ist doch nicht sein Ernst, oder?

Misstrauisch verlasse ich das Arbeitszimmer, in dem ich mich gerade befinde, und gehe auf Zehenspitzen, um ja keinen Lärm zu machen, die Treppe herunter. Und sieh an, der Fremde sitzt doch tatsächlich auf der Couch und schaut sich in aller Ruhe ein Football-Spiel an. Ernsthaft?

Er bemerkt mich nicht, auch nicht, als ich auf ihn zulaufe und mit verschränkten Armen hinter der Couch stehen bleibe. »Und?«, frage ich. »Hat sich der Einbruch gelohnt?«

Überrascht zuckt er zusammen, springt eilig von der Couch auf und blickt mich mit panischen, weit aufgerissenen Augen an. »Fuck, was tust du hier?« Er sieht sich hektisch um, entspannt sich dann aber wieder, als er bemerkt, dass nur ich hier bin.

»Das könnte ich dich genauso fragen.« Ich zucke gelassen mit den Schultern, umrunde die teure Couch und lasse mich einfach auf die Kissen fallen, während er noch immer steht und den Blick nicht von mir lässt.

Er mustert mich mit einem leicht fassungslosen Ausdruck. »Dir ist aber klar, dass du theoretisch hier jetzt ebenfalls eingebrochen bist?«

»Ja, das ist mir durchaus bewusst.«

»Und was genau tust du dann hier?«, will er wissen. »Solltest du nicht besser bei einer Teeparty, einem Buchclub oder sowas sein, anstatt in Häuser einzubrechen?« Er will mich nicht hier haben. Soll mir recht sein. Ich hatte nicht vor, gleich beste Freunde zu werden.

Ich hebe belustigt eine Augenbraue. »Teeparty?«

»Als ob die Prinzessin hier noch nie bei einer schicken, langweiligen Teeparty war«, entgegnet er und ein spöttisches Lächeln liegt auf seinen Lippen, als er sich von mir abwendet und zu der offenen Küche geht.

War ich. Leider. Mom hat mich schon mehr als einmal zu einer ihrer Freundinnen geschleppt. Aber das muss dieser Idiot ja nicht wissen. »Ich war noch nie auf einer, wenn du es unbedingt wissen willst.«

»So unbedingt wissen wollte ich das eigentlich nicht.« Er öffnet den Kühlschrank und wirft einen Blick rein. »Was mich jedoch interessiert, ist, was jemand wie du hier verloren hat.« Jemand wie ich? Was soll das denn heißen? Er kennt mich doch überhaupt nicht.

»Ich wollte nur, dass jemand wie du nicht ein ganzes Haus ausraubt.« Keine Ahnung, ob das wirklich meine Hauptintention war, und was für ein Mensch er wirklich ist, doch wenn er meint, mich zu verurteilen, werde ich es ebenso handhaben. Welcher normale Mensch bricht auch schon in Häuser ein? Gut, ich …

»Keine Sorge, ich hatte nicht vor, hier irgendwas zu klauen«, versichert er mir, greift im nächsten Moment jedoch in den Kühlschrank und holt eine Packung Erdbeeren raus. »Erdbeere?« Fragend hält er die Packung in meine Richtung.

Ich habe mich mittlerweile ganz zu ihm hingedreht und meine Arme auf der Lehne der Couch abgestützt. »Und weil du nicht vorhast, etwas zu stehlen, räumst du jetzt den Kühlschrank leer?«

Er verdreht die Augen und wendet sich wieder den Erdbeeren zu. »Reg dich ab. Die sind schon nicht mehr ganz perfekt. Als ob die noch gegessen werden, wenn die Leute wieder zurückkommen. Die sind denen dann bestimmt nicht mehr gut genug. Hab gehört, die Besitzer sind mindestens noch die Woche im Urlaub.« Er schiebt sich eine Erdbeere in den Mund und kaut genüsslich. »Sicher, dass du keine willst, Little Miss Perfect?«

Ich rümpfe die Nase, als ich seine neue Bezeichnung für mich höre. »Ich bin nicht perfekt.« Auch wenn das alle wollen und ich es gern wäre. Das ist nicht die Realität.

»Stimmt.« Er grinst. »Schließlich befinden wir uns hier in einem Haus, das weder dir noch mir gehört. Was würden nur die Leute denken, wenn man uns hier erwischt?«

Sie wären entsetzt. »Vermutlich, dass –« Ich halte inne und drehe meinen Kopf ruckartig zur Seite. »Hast du das gehört?«

»Scheiße, die sollten doch im Urlaub sein.« Der Einbrecher wirft beinahe schon die Packung Erdbeeren zurück in den Kühlschrank, ehe er diesen schließlich zuschlägt.

»Vielleicht ist das eine Reinigungskraft oder jemand, der die Blumen gießen soll«, mutmaße ich, während Panik in mir aufsteigt. Was habe ich mir nur dabei gedacht, in ein verdammtes Haus einzusteigen? Wer tut das denn?

»Woher soll ich das wissen? Scheint doch deine Nachbarschaft zu sein, nicht meine. Na ja, meine jetzt eigen…« Er unterbricht sich selbst und lässt den angefangenen Satz dann einfach so im Raum stehen. »Kommst du jetzt oder willst du hier erwischt werden?«

Da war ja was. »Du bist doch hier der Einbrecher. Warum weißt du es denn nicht besser?«, fahre ich ihn an, ehe ich mich meiner Flucht aus diesem Haus widme. Als würde mein Leben davon abhängen, was es womöglich ja auch tut, springe ich im Eiltempo auf und renne zu der Treppe. Ich lasse mich mit Sicherheit nicht erwischen. Wenn der Fremde allerdings erwischt wird, wäre das … tragisch. Er wird schon wissen, was er tut. Der Typ scheint ja ein wirklicher Profi zu sein …

»Aus dem Weg!« Der sogenannte Profi rempelt mich an, um sich dann auf der Treppe an mir vorbeizuquetschen. Geht’s noch?

»Was soll denn dieser Scheiß?«, beschwere ich mich, während ich ihm hinterherlaufe.

»Du warst halt zu langsam.«

Das Nächste, was ich tue, ist, aufzuholen, ihm den Mittelfinger zu zeigen und vor ihm zu dem Fenster zu laufen, durch welches wir hereingekommen sind. Sehr erwachsen, ich weiß. Aber dieser Typ macht mich einfach wahnsinnig.

Am Fenster angekommen, bleibe ich stehen und drehe mich zu dem Typen, der kurz nach mir im Zimmer ankommt. »Der Fernseher läuft noch.«

»Das ist jetzt ziemlich blöd, aber du willst doch jetzt nicht wirklich wieder nach unten rennen? Das wäre dann nämlich wiederum ziemlich dumm von dir.«

»Natürlich nicht.« Eventuell hatte ich ja die Hoffnung, dass er das erledigen würde. Nur leider hat er recht. Würden wir nochmal da runtergehen, wäre das höchst unklug.

»Gut.« Erneut werde ich einfach zur Seite geschoben. »Danke für den Vortritt, Little Miss Perfect.« Mit einem überheblichen Grinsen verschwindet er durch das Fenster nach draußen.

Ich strecke den Kopf nach draußen und sehe, wie er nach unten klettert. »Wie wäre es, wenn du das nächste Mal einfach höflich fragst, Mistkerl?«

Er springt von der Leiter und landet elegant auf dem Boden, als er fast auf der letzten Sprosse ist. »Mach das Fenster zu, wenn du mal langsam deinen Hintern hierher bewegst.«

Ich verspüre schon wieder den Drang, ihm meinen Lieblingsfinger zu zeigen, doch ich unterdrücke es, da ich zusehen muss, dass ich diese Leiter runterkomme. Und, oh Gott, ich glaube, ich höre Schritte, die näher kommen.

Meine Beine setzen sich wie von selbst in Bewegung und klettern hinaus. Weit komme ich jedoch nicht, denn als ich das Fenster zuziehen will, klemmt es oben und lässt sich nicht bewegen. Schön, dann nicht. Der Fernseher läuft unten schließlich auch noch.

Ein Arm legt sich um meine Taille, gerade als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe. Ruckartig werde ich zur Seite gezogen und neben ihn an die Wand gedrängt.

»Was zum Teufel?«, frage ich wütend.

»Sei ruhig«, flüstert er und deutet mit einem Kopfnicken nach oben. »Da ist jemand am Fenster.«

Dann war das ja mal eine ganz knappe Sache. Ich werde nie wieder irgendwo einbrechen.

Wir bleiben eine Weile still nebeneinander stehen, drücken uns an die Hauswand und wagen kaum, zu atmen. Irgendwann, keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist, lässt er von mir ab, räuspert sich und geht nach einem letzten Blick zum Fenster ein paar Schritte von mir weg.

»Das war doch interessant.« Seine Lippen sind schon wieder zu einem Lächeln verzogen. »War das eigentlich ein Angebot?«

Ich lasse von der Wand ab. »Was für ein Angebot?«

»Als ich die Leiter runter bin, meintest du, ich soll dich das nächste Mal höflich fragen«, klärt er mich auf. »War das also ein Angebot, dass du das wiederholen willst?« Was ist denn bitte falsch mit ihm?

»Träum weiter. Das war eine wirklich dumme Idee. Ich bin durch damit.« Auch wenn es im Nachhinein schon aufregend war. Nein, diesen Gedanken darf ich erst gar nicht haben.

»Weißt du.« Er geht langsam nach hinten, nimmt aber dabei nicht einmal den Blick von mir. »Dumme Ideen sind meistens die besten Ideen. Du wirst schon sehen.«

WESTON

»Kannst du mir vielleicht kurz helfen?« Meine Mom kommt mit einem Stapel Umzugskartons in das neue Haus hinein, was von nun an wohl unser Zuhause sein soll. Das haben jedenfalls meine Eltern so entschieden.

Schnell komme ich ihr entgegen und nehme ihr zwei der drei Kisten ab, bevor sie damit noch irgendwo dagegen läuft, weil sie mit all den Kisten unmöglich sehen kann, wohin sie eigentlich geht. »Warum hast du mich nicht vorher gerufen, Mom?«, frage ich und stelle die Kisten neben der Treppe ab, was sie mir daraufhin gleichtut.

»Hab ich doch«, sagt sie gespielt vorwurfsvoll, während ein Lächeln auf ihren Lippen liegt. »Aber du Trottel wolltest mich scheinbar ja nicht hören. Und jetzt komm und hilf deiner armen, alten Mutter. Die Kisten gelangen leider nicht von selbst in das Haus.«

Ich folge meiner Mom zu dem Umzugswagen, der uns den gesamten Weg von Galveston in Texas bis nach Mission Hills in Kansas begleitet hat. Mein Blick wandert auf die andere Straßenseite und somit zu den teuren Häusern, in denen all diese verklemmten Spießer wohnen, die ich nun meine neuen Nachbarn nennen darf.

»Wir passen hier nicht her.« Ich seufze, ehe ich mir einen Karton schnappe und den Blick von den Häusern abwende.

»Ich weiß, aber der Job deines Dads verlangt es. So schlimm ist es doch gar nicht. Wir brauchen nur etwas Zeit, uns an diese Nachbarschaft zu gewöhnen. Das wird schon.«

»Wären wir denn umgezogen, wenn dein Job es verlangt hätte?«

»So ein Angebot hätte auch ich nicht abgelehnt«, antwortet sie. »Veränderungen sind manchmal gar nicht so schlecht, Wes. Und ja, dein Dad hätte es genauso für mich getan.« In ihrem Gesicht taucht ein ehrliches Lächeln auf, als sie bemerkt, dass ich skeptisch bleibe. »Irgendwann wirst du es verstehen.«

»Mein Leben ist aber halt einfach nicht hier, Mom. Hätten wir nicht wenigstens noch ein Jahr warten können, bis ich mit der Schule fertig bin?«

»Noch nicht, Wes. Die Schule hier soll wirklich gut sein und so wie ich dich kenne, wirst du gleich morgen schon tausend neue Freunde haben. Gib der Stadt und den Menschen hier doch erst einmal eine Chance.« Ist klar. Die Leute wirken hier ja auch so sympathisch und wollen ehrliche Freundschaften schließen.

Ich glaube nicht, dass ich mit solchen Leuten befreundet sein will. Hier zeigt man, wie viel Geld man hat und wie toll es einem doch geht. Wo wir vorher gewohnt haben, hatten die Menschen zwar ebenfalls Geld, aber das war nicht das Wichtigste in ihren Leben.

All die Menschen, deren Bekanntschaft wir bisher gemacht haben, sind genau gleich. Die gleichen einander alle bis ins kleinste Detail.

Nur eine Person versucht, irgendwie aus der Reihe zu tanzen. Sie ist nicht wie die anderen Menschen hier. Etwas an ihr ist anders. Sie hat sich anders verhalten. Ich kann nur noch nicht sagen, was genau das an ihr ist. Doch es ist auch gut möglich, dass sich dieser Eindruck von ihr als falsch erweist.

Als sie mich heute Morgen in diesem Haus erwischt hat, dachte ich, dass ich jetzt am Arsch bin, die Polizei jeden Moment um die Ecke kommen wird und mich mitnehmen wird. Aber das tat sie nicht. Sie ließ mich einfach so davonkommen und stieg selbst in das verdammte Haus ein.

Außerdem liegt mir dieser leichte Duft von, ich glaube Flieder, in der Nase, den ich an ihr wahrnehmen konnte, als wir gepresst an der Hauswand standen. Das macht es mir quasi unmöglich, nicht an sie zu denken.

»Weston?«, reißt Mom mich aus meinen Gedanken. »Hörst du mir überhaupt zu?« Nein, zugegeben habe ich das tatsächlich nicht getan. Meine Gedanken waren mit etwas, mit jemand anderem beschäftigt.

»Was hast du gesagt?«, frage ich also unschuldig und grinse sie schief an.

Sie verdreht nur schmunzelnd ihre Augen, weil es nicht das erste Mal ist, dass ich so mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt bin, dass ich von allem andern kaum noch etwas mitbekomme. »Ich habe gesagt, dass du den Karton ins Haus bringen sollst. Wir stehen hier sonst noch bis morgen früh herum.«

»Muss ich dann etwa nicht zu dieser Schule mit all den verwöhnten Kindern?« Hoffnung steigt in mir auf, die aber sofort wieder zerschlagen wird. So ein Scheiß.

»Netter Versuch«, kommt es von Mom. »Du kannst übrigens manchmal auch so ein verwöhntes Kind sein, ist dir das eigentlich bewusst? So und jetzt rein mit dir.«

»Das stimmt doch gar nicht«, protestiere ich, komme ihrer Bitte aber augenblicklich nach und gehe mit dem Karton ins Haus.

Da der Karton mit dem Wort Geschirr gekennzeichnet ist, bringe ich ihn gleich zur Küche und stelle ihn dort auf dem runden Tisch ab.

Mein Blick fällt auf die Zeitung, die entweder meine Mom oder mein Dad auf den Tisch gelegt haben muss.

Eine Familie lächelt mir entgegen und das Mädchen auf dem Foto kommt mir nur allzu bekannt vor. Auch wenn ich ihr heute zum ersten Mal begegnet bin.

Reverie Lancaster. Nun hat sie wohl einen richtigen Namen in meinem Kopf.

Aber was ist das nur mit ihr? Ich kann sie einfach nicht durchschauen. Hier ist doch jeder wie der andere. Warum sie nicht? Ist sie wirklich die Ausnahme in dieser hässlichen, falschen Stadt?

Vielleicht ist sie aber ganz genauso, wie ich es von den Menschen hier erwarte, und hat auf den ersten Blick nur einen anderen Eindruck gemacht.

So oder so, ich werde es herausfinden.

REVERIE

»Glaub mir, ich wäre jetzt viel lieber schon bei dir.« Ich lege das dunkelrote, enge Kleid beiseite und halte mir stattdessen ein Kleid in einem zarten Rosa an. Das zweite Kleid ist locker an den Hüften geschnitten und würde meine Hüften nur sanft umspielen, während das Rote beinahe wie eine zweite Haut anliegen würde und meine Kurven besonders hervorheben würde. Ich liebe beide Kleider, doch ich bin mir nicht sicher, worauf ich heute Lust habe.

»Nach einer Stunde kannst du dich bestimmt verziehen.« Kara wirft mir einen Blick am Handy zu, welches ich angelehnt an den Spiegel auf meinen Schminktisch gestellt habe. »Nimm das rote Kleid.«

Skeptisch werfe ich dem Kleid, welches nun auf meinem Bett liegt, einen Blick zu. »Ich glaube, Dad würde mich umbringen, wenn er sieht, wie kurz es ist und ich so seinem neuen Geschäftspartner unter die Augen trete«, äußere ich meine Vermutung. Es wird wohl das andere Kleid werden.

Kara knirscht unzufrieden mit den Zähnen. »Dann zieh es wenigstens zur Party an. Es kann ruhig jeder sehen, was für eine heiße beste Freundin ich habe.« Sie blickt grinsend in die Kamera. »Außerdem werden Alistair sicher die Augen aus dem Kopf fallen, wenn er dich so sieht.«

Ich rolle mit den Augen. »Ich suche meine Kleidung aber nicht danach aus, was Alistair gefallen könnte.«

Kara hebt eine Augenbraue. »Aber schon danach, was dein Dad sagt?«

»Das ist etwas anderes, Kara«, widerspreche ich. »Das weißt du.«

»Perfektion ist das, was zählt«, sagt sie und versucht dabei, meinen Dad nachzumachen, was ihr zugegeben erschreckend gut gelingt. »Manchmal könnte ich deine Eltern echt mit einer Bratpfanne erschlagen.«

Ich lache. »Erinnere mich dran, alle Pfannen zu verstecken, wenn du das nächste Mal hier bist.«

Sie zuckt mit den Schultern. »Dann bringe ich einfach selbst eine mit. Ich finde immer einen Weg. Was meinst du, was mit meiner Schwester passiert ist?«

Von selbst hebt sich eine meiner Augenbrauen. »Du meinst die, die jetzt in New York studiert?«

»Ach, lass mich doch.« Kara zieht schmollend ihre Unterlippe hervor. »Kannst du mich denn nicht einmal ernst nehmen, Reverie?«

»Tue ich, wenn du nicht andauernd drohst, Menschen zu beseitigen und es dann doch nicht tust«, entgegne ich schmunzelnd.

»Wenn ich also jemanden umbringe oder aus der Stadt schaffe, nimmst du mich endlich ernst?« Okay, das war eigentlich nicht das, was ich ihr vermitteln wollte.

Ich stütze mich mit den Händen auf die Platte meines Schminktisches und sehe auf das Display. »So habe ich das jetzt nicht gesagt.«

»Hab schon verstanden. Ich gehe dann jetzt mal mein nächstes Opfer suchen«, gluckst sie sichtlich amüsiert. »Schreibst du mir, wenn du nachher auf dem Weg bist?«

»Mach ich. Ich kann dir nur noch nicht sagen, wann ich mich hier verziehen kann.« Dass Dad unbedingt dieses Dinner heute machen musste.

»Sonst sag einfach, ich bräuchte deine Hilfe, und komm her.« Sie nähert sich der Kamera. »Und, Reverie, zieh das an, was du möchtest. Egal, was die anderen denken und von dir erwarten. Am Ende des Tages kann man es sowieso nicht allen recht machen.«

Ein verkrampftes Lächeln liegt auf meinen Lippen. »Ich werde es versuchen.«

Danach bin ich wieder auf mich allein gestellt. Man kann es sowieso nicht allen recht machen. Stimmt, kann ich nicht. Will ich eigentlich auch nicht, ich versuche, immer wieder gegen diesen Drang anzukämpfen. Doch letztendlich muss ich es trotzdem tun, ich muss es zumindest versuchen. Wenn ich alle glücklich mache, werde ich es genauso sein. Selbst wenn allein der Versuch, um das zu erreichen, sich manchmal anfühlt, als würde ich ersticken. Irgendwann wird es funktionieren. Das muss es. Denn wie soll ich sonst auch nur im Entferntesten glücklich werden? Ich kenne einfach keinen anderen Weg.

»Ein sehr schönes Kleid, das du da trägst«, ist das Erste, was Dad sagt, als ich die Treppe herunterlaufe und er aus seinem Büro kommt. »Die Farbe war eine gute Wahl.«

Ich blicke auf das helle Rosa herab. »Danke, Dad.« Es war die richtige Entscheidung. Das andere Kleid kann ich noch gleich tragen. Das andere ist schließlich das Kleid, das man auf einer Party von den Parker-Zwillingen erwartet. Wären es nur Kara und Alistair, die dort wären, hätte ich einfach in Jogginghose erscheinen können. Die beiden kannten mich schließlich seit dem Kindergarten. Wir haben die anderen schon in allen möglichen Situationen und Verfassungen erlebt. Das meiste kennen wir mittlerweile voneinander. Das meiste, aber nicht alles. In gewisser Hinsicht sind wir alle unberechenbar und überraschen einander und manchmal sogar uns selbst hin und wieder mit unserem Verhalten.

Wie ich heute.

Was war bitte in mich gefahren, in ein mehr oder weniger fremdes Haus zu klettern? Vermutlich ist das eins der Dinge, die ich meinen Freunden lieber nicht erzähle. Schließlich müsste ich dann ebenso den Fremden erwähnen … Warum mache ich mir überhaupt auch nur im Ansatz Sorgen darüber? Ihm war schließlich klar, dass das Risiko besteht, erwischt zu werden, als er eingebrochen ist.

Das laute Klingeln, welches plötzlich durch das Haus schallt, reißt mich aus meinen Gedanken. Das wird dann wohl unser Besuch sein. Ich streiche mein Kleid glatt, setze ein freundliches Lächeln auf und gehe zur Tür, wo ich den Schalter betätige, der das große Tor zu unserer Auffahrt öffnet.

Gerade als das dunkle Auto vor unserer Tür hält, erscheinen Mom und Dad an meiner Seite, sodass wir unsere Gäste als Familie, als geschlossene Einheit begrüßen können. Ein perfektes Bild. Wunderbar, nicht wahr?

Aus dem Auto steigen erst eine Frau und dann ein Mann aus, die beide ungefähr in dem Alter meiner Eltern sind. Während das Lächeln meiner Eltern eher aufgesetzt wirkt, tragen die neuen Geschäftspartner ein echt wirkendes Lächeln auf den Lippen. Besonders die Frau strahlt eine solche Wärme und Freundlichkeit aus, dass ich sogleich das Gefühl bekomme, dass ich sie mögen werde. Vielleicht wird das Dinner ja doch nicht allzu schlimm, wenn unsere Gäste kaum etwas mit den üblichen Bekannten meiner Eltern gemeinsam haben. Es grenzt an ein Wunder, dass dies nun doch passiert.

Ich hoffe nur, dass mein erster Eindruck mich auch nicht täuscht. Wie es schon oft der Fall war.

»Jameson, Lauren, wie schön, dass ihr es heute einrichten konntet«, begrüßt mein Dad die beiden. »Darf ich euch meine reizende Tochter Reverie vorstellen? Reverie, das sind Mr. und Mrs. Morrison.«

»Ach, kein Grund, so förmlich zu sein. Nenn uns ruhig beim Vornamen, Liebes.« Ich werde kurz in ihre Arme gezogen und schüttle anschließend ihrem Ehemann die Hand. »Schön, dich kennenzulernen.«

»Seid ihr gut in der Nachbarschaft angekommen?«, erkundigt sich meine Mom, als wir uns auf den Weg durch die Eingangshalle zum Esszimmer begeben.

»Es ist wirklich schön hier. Wir brauchen zwar doch noch etwas Zeit, um uns einzugewöhnen, aber das wird schon noch.«

Ich höre dem Gespräch nur noch auf halbem Ohr zu und gehe zum Kühlschrank, während die anderen Platz nehmen. Ob ich mir jetzt schon etwas vom Dessert klauen kann? Das Tiramisu, welches vermutlich unsere Haushälterin Louise gemacht hat, lächelt mich beinahe schon aus dem Kühlschrank heraus an. Nichts geht über das Essen von Louise. Was würden wir nur ohne sie machen?

Ein weiteres Klingeln hält mich jedoch von meinem Vorhaben ab.

»Reverie?« Mom blickt mich von unserem Esszimmertisch aus an. »Könntest du an die Tür gehen?« Und nicht an unseren Nachtisch, fügt ihr Blick stumm hinzu. Dann halt nicht.

»Schon unterwegs.« Ich hoffe, dass es nicht Alistair und Kara mit einer Bratpfanne sind, die einen Notfall vortäuschen wollen, damit ich hier wegkann. Ihnen zuzutrauen wäre es.

Doch schon als der schwarze Pick-up vorfährt, ist mir klar, dass es nicht meine Freunde sind. Nein, eher im Gegenteil. Denn aus dem Auto steigt der fremde Einbrecher, der mir nun mit einem breiten Grinsen entgegenkommt.

»Willst du mich nicht hereinbitten?«

REVERIE

»Seit wann interessiert es dich, ob man dich hereinbittet?«, frage ich und überlege, ob ich die Tür vielleicht wieder einfach vor seiner Nase zuknallen soll.

»Dich schien das gestern ja auch recht wenig zu interessieren.« Touché. »Also was ist jetzt? Darf ich rein?«

Nein. »Ich weiß nicht, darfst du das?«

»Reverie«, höre ich wie auf Kommando die Stimme meiner Mom. Wie passend. »Leisten unser Gast und du uns noch Gesellschaft?«

»Das ist dann wohl ein Ja«, bestimmt er und geht einfach an mir vorbei, ohne auf eine Einladung meinerseits zu warten. Wie er es halt am besten kann.

Ich seufze genervt auf, ehe ich die Haustür wieder schließe. Dann ist der Einbrecher jetzt wohl in meinem Haus und anscheinend auch in meiner Nachbarschaft. Begegnungen kann man so wohl kaum vermeiden. Dieser Tag läuft ja hervorragend.

Als ich mich umdrehe, bemerke ich, dass er nur ein paar Schritte weitergegangen ist und mich von oben bis unten schamlos mustert. So langsam habe ich das Gefühl, dass diese dreiste Seite ein fester Bestandteil von ihm ist. Nein, ich habe nicht nur das Gefühl, dass es so ist, ich weiß es.

»Kann ich dir helfen?«

»Ich weiß nicht, kannst du das?«, greift er meine Worte von vorhin auf. Kann dieses Essen heute eigentlich noch schlimmer werden?

Ohne ihm zu antworten, laufe ich wieder zu meinen und seinen Eltern ins Esszimmer. An meinem Schatten heften seine Schritte.

»Weston, da bist du ja«, begrüßt seine Mom ihn erfreut, als wir gemeinsam den Raum betreten. Nun hat der Einbrecher wohl endlich einen richtigen Namen. Weston Morrison. Falls ich ihn doch noch anzeigen sollte, ist das ja gut zu wissen …

»Schön, Sie kennenzulernen, Mrs. und Mr. Lancaster.« Weston schüttelt meinen Eltern die Hand. »Tut mir leid für die Verspätung. Ich wollte ein bisschen die neue Nachbarschaft erkunden und habe mich wohl etwas verlaufen.«

»Genau«, kommt es schnaubend von mir. »Verlaufen.« Sich zu verlaufen, ist wohl das neue Einbrechen. Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass es das ist, weswegen er zu spät ist. Welches Haus war es wohl dieses Mal? Ob er dort ebenfalls Erdbeeren im Kühlschrank gefunden hat?

»Wie bitte?«, fragt Mom.

Ich lächle Weston übertrieben freundlich an. »Und wie gefällt dir unsere Nachbarschaft bisher? Gefallen dir die Häuser?«

Er setzt sich auf einen der freien Stühle, sodass nur noch ich stehe. »Ja, eine wirklich schöne Nachbarschaft mit großartigen Häusern.«

»Und die Einrichtung der Häuser?«, frage ich in einem zuckersüßen Ton, der einen glauben lässt, ich meine es nur gut mit meinen Fragen. Aber eigentlich versuche ich, ihn ins offene Messer laufen zu lassen. Ups.

»Ich habe gehört, dass die Arbeitszimmer hier ziemlich geschmackvoll eingerichtet sein sollen«, erwidert er. »Bisher kann ich das aber nicht ganz beurteilen. Wir wohnen ja erst gerade hier. Außerdem ist es ja nicht so, dass ich einfach willkürlich in

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Bella Paasch
Cover: Zeilenfluss
Korrektorat: TE Language Services – Tanja Eggerth
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 13.06.2023
ISBN: 978-3-96714-349-2

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