Cover


Ein kleiner Vorgeschmack auf meinen 2-Teiler.
Kapitel 1.

Zuvor ein Dank den Menschen, die mein Leben immer wieder auf's Neue bereichern und lebenswerter machen.


Was, wenn man durch einen einzigen Fehler alles im Leben verliert. Was, wenn du das verlierst, wofür du immer geglaubt hast zu atmen? Was für einen Sinn macht ein solches Leben dann noch? Was hält ein solches Dasein noch für dich bereit? Nichts.
Und dann steht man auf den Schienen. Bereit und im Glauben, endgültig flüchten zu können.
Doch was, wenn man eine zweite Chance erhält- unfreiwillig?


Es wäre sinnlos zu beteuern, dass ich das alles nicht gewollt habe. Du würdest es nicht glauben. Verständlich.
Alles was ich dir jetzt noch sagen möchte ist, wie leid es mir tut, für dich, für mich, für uns.
Ich hoffe du kannst mir eines Tages verzeihen.
Du bist und bleibst mein ganzes Leben.

Ich liebe dich, vergiss das bitte nie.

Für Jared.
Auf ewig, deine Coralie.


Es fiel mir sichtlich schwer die wenigen Zeilen auf das Papier in meinem Schoß zu kritzeln. Nicht nur, dass der Zettel recht zerknittert war und es sich schlecht auf einem Bein schreiben ließ. Nein, ich wusste auch nicht was ich ihm genau sagen wollten. Wollte ich mich verabschieden, mich entschuldigen, um Verzeihung bitten oder alles raus lassen? Ich wusste es einfach nicht.
Außerhalb des kleinen Vordaches unseres Lieblingsrestaurants regnete es in Strömen und ich hatte Angst die Tinte würde mir jeden Moment vom Papier fließen. Aber sie tat es nicht. So als sollten diese letzten Worte ihren Empfänger wirklich erreichen. Noch ein letzter Punkt und das Schriftstück war fertig. Aber wie lange saß ich schon hier? Minuten, Stunden? Die Zeit floss an mir vorbei. An diesem Tag hatte für mich alles an Bedeutung verloren. Es war also egal.
Ich steckte meine mageren Memoiren sowie den Stift in die Jackentasche, zog mir die Kapuze über und marschierte raus und in den Regen hinein. Er fühlte sich augenblicklich warm auf den freien Stellen meiner Haut an. Es war der wärmste Sommerregen den ich glaubte je erlebt zu haben. Er roch so frisch und angenehm. Wie ein Tropenwald- mitten in Kanada.
‚Ein schöner Tag‘, dachte ich beiläufig. Die Sonne stand rot am Horizont und tauchte die kleine Stadt in ein strahlendes Gold. Ich wusste ja nicht einmal wie spät es war. Sonntags hatten keine Läden offen, öffentliche Uhren gab es hier nicht und mein Handy hatte ich aus gutem Grund vor dem Restaurant in der Kanalisation versenkt.
Alles in allem war ich leichten Gepäcks und dennoch schweren Herzens unterwegs.
Immer wieder strahlte das goldgelbe Licht der untergehenden Sonne auf mein Gemüt, als wolle sie mich grüßen- ein letztes Mal. Der Regen nahm derweil ab. Aus Strömen wurde Nieselregen. Ich bemerkte wie verdrossen ich die Straßen der Stadt musterte. Ob ich sie wiedersehen würde? Das wusste ich momentan noch nicht wirklich. Doch falls es nicht so sein sollte, wollte ich sie in guter Erinnerung behalten. Ich wollte alles was mich mit meinem nun schier verlorenen Leben noch verband mitnehmen. Es sollte mich auf meiner Reise begleiten. Wo auch immer diese anfangen und enden mochte. Ich bog in die Stirling Avenue ein.
Das vorläufige Ziel schien also erreicht. Ich lief die Veranda hinauf und blieb vor der Tür stehen. Die Tränen, die währenddessen begannen über mein Gesicht zu rinnen, machten es nicht feuchter als der Regen vor ihnen. Aber sie waren wärmer als der Sommerregen, salziger und schwerer.
„Ich liebe dich doch“, murmelte ich der Tür entgegen, also ob er mich hören würde. Aber das tat er nicht. Wahrscheinlich saß er oben in seinem Zimmer. Die Musik dröhnte durch die Wände bis nach außen zu mir. Die Nachbarn vernahmen die Beschallung wohl sicher auch. Das tat er immer wenn er wütend oder traurig war. Machte ich ihn wütend, oder traurig? Das letzte Mal als Jared so rasend war, hatte er erfahren das sein Großvater gestorben sei- drei Tage zuvor. Niemand hatte es für nötig gehalten ihm das noch am selben Tag zu sagen. Er war stinksauer, wütend, erschüttert und zutiefst traurig. Eine explosive Mischung an Gefühlen. Ich wusste wie sehr ihn das mitnahm, wollte ihm helfen und zur Seite stehen, aber vor seiner Raserei riss auch ich lieber aus. Jared schloss sich mehrere Tage oben in seinem Zimmer ein. Ich konnte damals nichts tun, als den Sturm abzuwarten. Gerade lief sogar die dieselbe Band wie damals. Dieselbe Band, die lief, als ihm ein geliebter Mensch starb. Der Tag wurde mir immer unheimlicher. Weil ich wohl glaubte zu wissen was kommen würde?
Mein Finger war derweil schon wie in Trance zur Klingel gewandert, aber in letzter Sekunde konnte ich ihn davon abhalten sie zu drücken.
‚Es bringt doch nichts mehr‘, rauschte es durch meinen Kopf, ‚es ist zu spät. Aus, vorbei, für immer.‘
Und genau diese Worte ließen wieder einen Schwall Tränen aus meinen Augen quellen und ich schluchzte erneut. Das Schluchzen steigerte sich bis ich bitterlich weinend an der Tür heruntersank.
Nun saß ich da. Saß vor der Tür des Menschen, für den ich glaubte zu leben. Der einzige Mensch der mir wirklich etwas bedeutet hatte. Der Mensch, dem ich das Herz gebrochen hatte.
Und auch mein Herz fühlte sich zerbrochen an. Ein letztes Mal breitete es sich aus. Tastete Erinnerungen und Gefühle ab. Kleine Adern verschwanden durch den Türschlitz, glitten die Treppe hinauf, bis an seine Tür. Doch dort kamen sie nicht weiter. Mein Herz war nicht länger in seiner Nähe erwünscht. Die Stränge die uns verbanden, waren zerrissen. Und das war meine Schuld.
Dabei wollte ich das nicht. Nichts von alle dem, habe ich je gewollt.
Was mich dazu geritten hatte Jared und mein damit verbundenes Seelenheil auf’s Spiel zu setzen- zu verlieren, das wusste ich nicht.
Aber es war geschehen. Jetzt musste ich büßen und ich wollte büßen. Die Reue die ich verspürte, war mir der Strafe nicht genug. Ich wollte mir selbst eine Pein auferlegen, schlimmer noch als die des Verlustes den ich erlitten hatte. Die letzen gedanklichen Splitter meines Herzens kehrten zum Trümmerhaufen zurück. Ich konnte nicht länger hier sitzen bleiben.
Langsam stütze ich mich auf den Dielen ab und rappelte mich auf. Mein Körper schien auf einmal eine Last von mehreren Tonnen zu sein. Wieder auf den Beinen sah ich ein letztes Mal über die Veranda, auf der wir so oft gesessen hatten. Im Sommer, wenn wir extra früh aufstanden um die Sonne aufgehen zu sehen. An warmen Nachmittagen, wenn wir draußen das Wetter genossen. Im Herbst, wenn wir, wie kleine Kinder mit Laub um uns warfen. Ein Lächeln triumphierte für ein paar Sekunden über mein tränennasses Gesicht. Doch der Lärm seiner Musik riss mich aus den Erinnerungen und holte mich in grausame Realität zurück alles verloren zu haben. Meine Hand griff in meine Jackentasche. Ich fasste kurz Mut, schob den Zettel rasch durch den Türschlitz und rannte vor’s Haus mitten auf die Straße.
„Ich liebe dich, verdammt nochmal, Jared. Ich liebe dich mehr als alles andere, okay?! Vergiss das nicht? Vergiss es nicht! Und vergiss vor allem mich nicht! Bitte!“, schrie ich zu seinem Fenster hinauf.
Doch plötzlich versagte meine Stimme. Wieder heulte ich los. Weiter zu brüllen wäre wohl eh sinnlos gewesen. Er hörte es ja wahrscheinlich doch nicht. Selbst wenn, würde das nichts ändern. Es würde einfach nichts daran ändern, dass er mich ein für alle Mal verlassen hatte.
Meine Beine begannen sich wieder zu bewegen. Ohne es zu merken rannte ich die Straße hinunter, entgegen der Richtung aus der ich kam. Ich rannte und schluchzte. Weg von hier war alles was ich noch wollte. Weg von meiner Schuld, weg von der Erkenntnis alles verloren zu haben, weg von diesem Leben. Aber ich wusste, ich würde dennoch niemals weg von ihm wegkommen.
Jetzt wurde mir auch klar, wohin ich so apathisch rannte. Das alles musste ein Ende haben. All diese Tränen sollten versiegen, der quälende Gedanke an seinen Verlust, das schlechte Gewissen und die Schmerzen die all das zur Folge hatte- es sollte aufhören, endgültig.
Eine halbe Meile rannte ich die Straße hinunter, bis ich vor lauter Schluchzen Atemnot bekam. Ich konnte nicht mehr weiterrennen. Meine Arme stützen meine Taille, ich ging in die Knie und atmete so tief ich nur konnte. Doch mein Weinen war dabei nicht hilfreich.
Ich ließ mich also einfach fallen und setzte mich auf den warmen Asphalt. Wieder schluchzte ich auf.
Immerzu dachte ich darüber nach wie es so weit kommen konnte. Warum habe ich alles riskiert- alles verloren? ‘Du hast alles verloren‘.
Eine unsichtbare Faust schlug mir augenblicklich ins Gesicht. Der Schmerz den ich dabei spürte war unerträglich. Er zerriss mir die letzten verbliebenen Teile meines Herzens. Ich brüllte weinend auf. Mein Schreien war kläglich und wurde kurz darauf von meinen Tränen erstickt. Schweigend saß ich da und schluchzte, auf dem warmen Asphalt.
Erst jetzt wurde mir klar was wirklich geschehen war. Erst in diesem Moment erwachte ich aus meinem Schock und fiel noch tiefer- auf den Boden der Tatsachen. Das alles war kein böser Alptraum. Nein. Der Schmerz den ich bis jetzt empfand war dumpf gegen das stechende, brennende Gift, das sich jetzt in den Fraktalen meines Daseins ausbreitete. Ich hatte Jared verloren. Alles was mir im Leben lieb und teuer gewesen war, war fort. Das Herz, das noch immer in meiner Brust pochte, war schwach. Es war nun allein, ohne seine Liebe. Die Liebe, für die es schlug. Jetzt erst legte sich wahre Trauer über mich und umhüllte alles. Die Tränen die nun meine Wangen herunterliefen, kamen aus meinem Tiefsten. Zum ersten Mal im Leben wusste ich was „tottraurig“ wirklich bedeutet. Es war der schlimmste Schmerz, den man empfinden kann, ein Ende von allem, der tiefste Abgrund. ‚Du bist und bleibst mein ganzes Leben‘, war die bittersüße Wahrheit.
Nach gefühlten Stunden hob ich den Kopf und sah mich um. Meine Sicht war durch die vielen Tränen etwas getrübt, aber ich erkannte das Schild ein paar Meter vor mir.
1 Meile bis zum Bahnhof.
Ein Blitz schien meinen Körper zu durchfahren.
1 Meile trennte mich also von der scheinbaren Lösung all meiner Sorgen.
Aber sollte es das wirklich gewesen sein? Sich vor den Zug werfen und sein Leben ausradieren lassen? Mir lief bei dem Gedanken ein eiskalter Schauer über den Rücken. Doch je mehr ich darüber nachdachte verschwand er.
Sie würden mich bestimmt vermissen. Jared auch, denn egal was geschehen ist, meinen Tod würde er betrauern. Da war ich mir sicher. Dafür waren wir zu lang ein Paar um mich von heute auf morgen vergessen zu können…
Doch jetzt einfach weitermachen? Undenkbar. Ich war für alle der pure Abschaum. Das Luder, das ihren Freund betrogen hatte. Meine Freunde hassten mich, meine Eltern, Jared... einfach alle.
Aber sie sollten mich vermissen, sie sollten sehen wie sehr ich alles bereute. Und wenn das der einzige Weg war, dann sollte es so sein.
Zu sterben nahm ich dabei recht trocken hin. Obwohl mich alle immer für sensibel und sentimental hielten, hatte noch nie Angst vor Schmerzen oder gar dem Tod gehabt. Als heimlicher Realist nimmt man das Leben und die Menschen so wie sind, andere gibt es halt nicht. Und ein größeres Leiden als mein derzeitiges Dasein gab es nicht. Dachte ich.
Mein Leben war eh noch nie wirklich das Non plus Ultra gewesen. Seit ich denken kann war ich immer nur die Seltsame und Gruselige. Klug aber kein Streber und die Schönste leider auch nicht unbedingt. Ich wurde geärgert, verhöhnt, ausgestoßen. Die wenigen Freunde die ich hatte schätzte ich deshalb umso mehr. Aber auch sie schienen plötzlich vergänglich, wie die unendliche Liebe die Jared mir einst schwor.
Also, was hatte ich zu verlieren?
Auf seltsame Art und Weise machte mir der Gedanke an meinen geplanten Selbstmord Hoffnung.
Hoffnung mein Bild in der Gesellschaft zu retten, Jared zu zeigen wie sinnlos mein Leben ohne ihn war und mit mir selbst Frieden schließen zu können.
Wie erbärmlich muss eine Existenz gewesen sein, dass man sie auf so feige beendet? Ich wusste es.
Meine Tränendrüsen schienen ihre Funktion eingestellt zu haben. Ihr Salz begann schon auf meinen Wangen zu trocknen.
Ich stellte mir bereits vor wie sie um mich trauerten. Sie alle meinetwegen weinen zu sehen bestärkte mich auf eine seltsame Art und Weise. Ich schloss die Augen und lag in einem hölzernen weißen Sarg, trug ein edles schwarzes Kleid und sah zum ersten Mal im Leben zum niederknien schön aus. Alle standen um den Sarg verteilt. Viele weinten unaufhörlich, andere starrten entsetzt und gebannt auf mein blasses, reizendes und erkaltetes Gesicht. Freunde als auch Feinde hatten sich versammelt. Wieder siegte ein Lächeln kurze Zeit über den Schatten auf mir. Erneut sah ich mich um. Mein Blick glitt zur untergehenden Sonne. Es dämmerte bereits. Nicht mehr lang und die Nacht würde hereinbrechen. Wahrscheinlich noch die beste Chance vom Zug übersehen zu werden. Ein neues, mulmiges Gefühl machte sich plötzlich in mir breit.
War es Angst? Schockiert stellte ich fest, dass es etwas anderes war. Weder Angst noch Furcht oder Zweifel. Es war eine Art Kick. Ich wollte das hier durchziehen. Alles um mich herum verwandelte sich auf einmal in einen abgedrehten Filmstreifen und meine Wenigkeit war die Hauptrolle. Endlich kam ich mir im Leben mal cool und mutig vor.
Mein Lächeln wurde wieder ein Stück breiter. Ein letztes Glucksen folgte und mein Schluchzen hörte auf. Ich glaubte tatsächlich einen Ausweg gefunden zu haben.
Mein Körper erhob sich wie der Phönix aus der Asche und meine Beine begannen zu rennen wie nie zuvor. Ich rannte die Straße hinab, wurde schneller und schneller. Bog ab und rannte weiter.
Der Bahnhof rückte wenig später schon in Sicht. Die Sonne war währenddessen allmählich hinterm Horizont verschwunden und es wurde dunkel.
Langsam stoppten meine Füße. Ein paar letzte große Sätze und ich stand bereits auf dem Bahnsteig.
In meiner Euphorie, dieses Worte machte mir selbst schon Sorgen, flog die Zeit und der Weg an mir vorbei.
Jetzt war ich also da. Am Gleis. Der Bahnhof war verlassen. Weit und breit konnte ich keine Menschenseele erkennen. Ich schaute auf die Anzeigetafel. In 12 min fuhr der nächste Zug hier durch. 12 Minuten hatte ich also noch zu leben? Nicht mehr viel. Bittersüß war nur der Gedanke dass ich so umso weniger Zeit hatte es mir anders zu überlegen.
Die letzten 12 Minuten noch zu genießen war in meiner Situation nicht wirklich möglich. Verlassen, gehasst und ohne einen müden Dollar in der Tasche stand ich am Bahnhof.
Was dann? Ich sah mich um. Hinter mir war das Bahnhofsgebäude. Vor mir die Gleise.
Hier würde man mich nicht unbeachtet mitreißen. Außerdem hielt der Zug ja genau vor mir, er hätte dann wohl nicht mehr genug Geschwindigkeit um mich so gut wie schmerzfrei zu überrollen.
Möglicherweise würde er mich noch langsam und gemächlich zermahlen bevor er zum Stehen kommt. Nein danke, aber so ein Märtyrer war ich auch wieder nicht.
Ich stürmte also am Gleis hinunter in Richtung Böschung. Dort würde ich mich noch hinter einen Strauch hocken bis ich den Zug hörte. Noch 10 Minuten verblieben mir. Dieses Gefühl in mir wuchs derweil stätig an. Mein Körper und Geist füllte sich mit konzentriertem Adrenalin. Gut daran war, dass es den Schmerz und die Trauer in mir geringfügig betäubte. Ich drehte mich um.
Leider hatte ich mich viel zu weit vom Bahnhof entfernt um die Anzeigetafel zu sehen.
Doch ich musste weit weg, der Zug sollte Fahrt aufnehmen. Er sollte mich kurz und schmerzlos dem Erdboden gleich machen.
Also rannte ich noch weiter an den Schienen entlang. Das Gebäude lag nun eine knappe halbe Meile hinter mir. Das schien weit genug zu sein. Wie viele Minuten ich wohl noch hatte?
Im selben Augenblick ertönte vom Bahnhof ein schwacher Ton. Der Zug fuhr dem zur Folge jeden Moment ein. Mir blieben also höchstens noch 3 Minuten. Das Adrenalin hatte nun auch die letzte Zelle meines Körpers gefüllt. Ich konnte jetzt nicht mehr zurück. Nicht jetzt, nicht hier, ich konnte nicht. Sie würden mich hassen, verachten und mir nie wieder verzeihen. Aber mein Tod würde Sühne genug sein. Davon war ich überzeugt.
Langsam bewegte ich mich zu den Schienen. Es war dunkel, aber meine Augen hatten sich bereits daran gewöhnt.
In der Ferne erkannte ich den einfahrenden Zug. Ein Schnellzug. Schnell und schmerzlos.
Und eh ich mich versah stand ich bereits mit einem Bein auf den Schienen und zog das zweite rasch nach. Mein Körper zitterte und mir wurde plötzlich eiskalt. Ich fror wie nie zuvor. Mein Kleid wehte im schwachen Nachtwind.
Wieder ein schwacher Ton. Der Zug fuhr los. In spätesten 30 Sekunden würde er mich erreicht haben.
Ich schloss die Augen und dachte an Jared. ‚Ich liebe dich‘, flüsterte er mir jetzt zu.
Und ich liebte ihn, mehr als alles andere. Ich dachte an meine Freunde. Sie winkten und weinten mir nach. Ich dachte an meine Eltern. Sie schrien, streckten die Hände nach mir aus. Aber jetzt war es zu spät.. Ein letztes Mal küsste Jared mich, meine Liebsten umarmten mich und Mum und Dad gaben mir einen Kuss auf die Stirn, wie sie es früher immer taten wenn ich nicht einschlafen wollte.

Ich habe mal gelesen, man hört einen Schnellzug 5 Sekunden bevor er einen erreicht.
Ich hörte nichts in diesem Moment nicht außer das Pulsieren meines Blutes. Eine letzte Träne rollte mir über die Wange…

Es ging alles so unheimlich schnell. Ich hörte den Zug, ich hörte das Pfeifen des Windes, diesen scharfen Luftzug, das grässliche Geräusch der Räder auf den Schienen.
Ich vernahm es jetzt plötzlich. Meine Augen waren nach wie vor geschlossen, ich konnte und wollte sie nicht öffnen, aber die Scheinwerfer des Zuges warfen ein grelles Licht auf meine Lider. Das letzte Licht, das ich je sehen sollte…
Im selben Augenblick erfasste er mich. Ein dumpfer Schlag und mein Körper wurde davon geschleudert. Jetzt verspürte ich Schmerzen. Nichts als unerträgliche Schmerzen. Wie weit und wohin ich geschmettert wurde, war egal. Die Qualen die mein Körper litt, zerfraßen mich. Jeder kleinste Teil von mir wurde in der Luft pulverisiert. Ich verbrannte, wurde überfahren, erfror und erstickt- zugleich. Doch ich flog nur durch die Luft. Lange. Irgendwo in Böschung schlug ich plötzlich auf. Ich konnte nicht schreien, nicht atmen. Ich konnte mich nicht regen.
Mein Arm, ich fürchtete ihn verloren zu haben. Er war nicht da, ich spürte ihn nicht mehr.
Sämtliche Knochen schienen gebrochen und zertrümmert.
Es musste heißen dass ich noch lebte. Ich lebte! Warum? Warum konnte der Zug mich nicht umgehend vernichten?
Meine Augen öffneten sich nicht. Ich war gefangen in einem dunklen schwarzen Loch. Mein gesamter Körper schien gelähmt vom unbeschreiblichen Schmerz der ihn beherrschte. Ich starb soeben tausend Tode. Ich lag da und wartete auf Erlösung.
Die Ohren setzen bei einem Toten als Letztes aus. Benebelt glaubte ich den Zug in der Ferne halten zu hören und einen dumpfen leisen Schrei. Doch mein Kopf begann, bei dieser geringen Konzentration zu der er noch fähig war, augenblicklich zu explodieren und zersprang in tausend Teile.
Ich versuchte nicht weiter in dieses Loch zu sinken. Mir war klar, am Boden warteten neben dem Tod weitere Qualen. Kurz schwollen die Schmerzen ab. Etwas kaltes berührte mein Gesicht.
„Es tut mir leid“, hauchte plötzlich eine Stimme, “ich hoffe Sie können mir verzeihen.“
War ich tot? Verdammt, wer sprach da? Ich lag im Sterben und ein irgendjemand redete mit mir. Und plötzlich steigerte sich der Schmerz wieder. Er schwoll an bis ins Unermessliche. Der Arm, den ich glaubte verloren zu haben- war wieder da. Er brannte- stand lichterloh in Flammen. Ich sah es nicht. Aber er brannte. Ehe ich darüber nachdenken konnte stand bereits der Rest meines Körpers in Flammen. Die tausend Tode dich ich gerade noch gestorben war, waren jetzt ein unbedeutender Bruchteil dieses Infernos. Doch ich schrie auch jetzt nicht, ich konnte nicht. Mein Bewusstsein glitt davon. Ich gab auf und sank nieder.

Was immer da war. Es war jetzt vorbei. Ich schlug am Boden des Loches auf und stieß ein letztes Stöhnen aus.
„Jared“, floss über meine Lippen und ich starb.


Er konnte seinen Augen nicht trauen. Da stand sie, die Liebe seines Lebens und wurde geküsst, von einem anderen Jungen. Jared kannte ihn, er war recht bekannt in der Stadt. Ein Student, lässig, cool und ,natürlich, gutaussehend. Aber das gab ihm nicht das Recht seine Freundin zu küssen. Und ihr gab es nicht das Recht ihn zu küssen. Jared begann innerlich zu rasen.
„Lil!“, brüllte er in einem so wütenden Tonfall, zu dem er nicht einmal wusste fähig zu sein.
Sie fuhr erschrocken zu ihm um. Dieses verdammte Arschloch neben ihr lächelte sie aber weiterhin ekelhaft an. Jared war in diesem Augenblick angewidert. Von ihm. Von diesem grässlich gutaussehenden, sportlichen und schier perfekten Kerl.
Nichts wollte er in diesem Moment lieber als diesem Ryan Carter an die Kehle springen. Jared wollte seine Rechte so oft in seinem Gesicht verstauen bis dieses höhnische Grinsen darin verschwand.
Er ballte die Fäuste und verkrampfte seine Beine- bereit zum Sturm.
„Jared!“. Die sanfte und zugleich furchterregend ängstliche und schwache Stimme, die seinen Namen rief, ließen seine Arme wieder an seinem Körper herabsinken. Langsam trat er näher.
Coralie sah ihn mit ihren weit aufgerissenen grünen Augen an.
„Jared, ich kann dir das... es tut mir, tut mir leid. Das hier..“, brachte sie hervor.
„Ist wohl nicht so wie es aussieht, hm?!“, schnitt ihr Jared das Wort ab und brüllte dabei noch wütender an als zuvor.
Wieder zuckte Lil fürchterlich zusammen und blinzelte wie ein aufgeschrecktes Reh.
„Aber Jared…“, presste sie weiter aus sich heraus.
Das war ihm genug, er machte drei letzte gewaltige Sätze auf sie zu.
„Was? Was ist?! Was zur Hölle soll das?“, schrie er sie an. Die Straße war leer, er brauchte sich also nicht um ungebetene Zuhörer scheren.
„Hey, jetzt bleib doch mal ruhig“, raunzte ihn plötzlich dieser widerwärtige Kerl von der Seite an.
„Ruhig bleiben? Ich glaub wohl ich spinne! Verdammt was soll der Scheiß hier!?“, fuhr ihn Jared mit derselben Wut wie bei Lil an.
„Woho, ich glaube ihr tragt das unter euch aus“, sagte er ins Nichts hinein.
“ Ruf mich einfach an Lil, ok?“ Wieder lächelte er sie an, wie ein Löwe seine Beute und zog ab. Sie hatte dabei keine einzige Sekunde ihre weit aufgerissenen Augen von Jared genommen.
Auch jetzt wo Ryan Carter weg war, sah sie ihn an.
Jared hingegen schaute Ryan nach und überlegte intensiv ihm hinterherzurennen und ihm sein dreckiges Grinsen aus der Visage zu prügeln. Carter zog sich die Sonnenbrille vom Kopf und wenige Sekunden später war er um die Ecke verschwunden.
Als Jared seinen Blick zurückwendete erschrak er innerlich beim Anblick von Lil’s tränennassen weiten Augen. Aber seine Wut beherrschte noch immer seinen Körper und sie schien auch noch lange nicht am Höhepunkt zu sein.
„Und?! Hast du mir vielleicht i r g e n d e t w a s zu sagen?“, er brüllte sie weiterhin im selben Ton an und sie fuhr ein abermals zusammen.
„Jared..“, hauchte Coralie.
„Was? Was? Was, Jared? Jetzt rede!“
„Was du gesehen hast, das wollte ich nicht..“, sie begann dabei zu schluchzen.
„Ach du wolltest nicht dass ich es sehe, ja? Wie lang läuft das schon, hm? Wie lang wolltest du mir das denn verheimlichen, Lil? Sag!“, seine Stimme wurde immer aggressiver.
„Ich kenne ihn noch nicht lange, wir waren in einer Biogruppe.. und haben zusammen gelernt..“
„Ja, und?“
„Bis er mehr wollte als mit nur mit mir lernen..“
„Ach und da dachtet ihr wir praktizieren mal ein paar biologische Vorgänge?! Was verdammt noch mal läuft gerade in deinem Hirn ab? Was Lil, was?!“
„Ich wollte das doch nicht!“, jetzt brüllte auch sie, Jared hatte sie in die Enge getrieben.
‚Wollte das nicht? Hatte er sie zu irgendetwas gezwungen?‘, Jared’s Wut ließ plötzlich nach.
„Nicht gewollt? Noch andere Ausreden?“
„Aber Jared, hör mir doch bitte zu.. Ich liebe dich..und..“
„DU liebst mich? Spar dir deine Witze, ehrlich. Es ist aus Lil. Ich will dich nie, nie wiedersehen. Jetzt verschwinde und pack deine Krokodilstränen woanders aus.
Ich habe genug von dir. Ich dachte ich könnte dir vertrauen, ich dachte wir würden uns wirklich lieben. Geh, hau ab!“, er schrie sie ein letztes Mal mit aller verbliebenen Wut an.
Sie hatte während dessen bitterlich angefangen zu weinen. Jared hasste es wenn sie weinte, denn er liebte sie. Auch wenn seine Rage gerade über allem anderen stand. Er liebte sie, wie am ersten Tag.
Wie an dem Tag vor mehr als 2 Jahren, an dem er sie auf dem Schulball küsste.
Und auch jetzt wollte er eigentlich nichts mehr als sie küssen. Aber an den Lippen die er so liebte, so vergötterte, klebte dieser Ryan. Überall an ihr klebte er und das widerte Jared so unvorstellbar an.
Coralie machte keine Anstalten sich zu bewegen. Sie war starr vor lauter Tränen.
Aber Jared konnte nicht warten bis sie sich wieder in Bewegung setzte.
Er machte kehrt und marschierte los. Hinter sich ließ er Lil in dem Kleid und der Jacke, welche er beide so an ihr liebte, stehen. Der Wind wehte durch ihr Haar und es verklebte an ihrem nassen Gesicht.
Ihr Duft umhüllte Jared und jetzt vergoss auch er eine Träne.
„Jared..“, flüsterte sie nur für ihn noch hörbar,“ ich liebe dich doch.“
Er blieb stehen.
„Aber ich dich nicht mehr. Es ist aus, für immer“, presste er mit dem Rücken zu ihr gewandt hervor und marschierte weiter.
Auch als Jared hörte, wie sie auf die Knien sank, lief er weiter. Er konnte keine Sekunde länger bei ihr bleiben, er musste weg oder er würde sich auf der Stelle übergeben.
Die Sonne stand noch nicht mal im Zenit und der Tag und sowieso der Rest seiner Zeit schien dahin.

Jared knallte die Zimmertür hinter sich zu. Alle Bilder an den Wänden und Schränken wackelten und flatterten bei dem heftigen Windstoß. Er schmiss sich mit aller Wucht auf’s Bett und ergriff die Fernbedienung. Er schaltete die Anlage ein und drehte die Musik auf volle Lautstärke.
Jared wollte all den Stimmen und Gedanken in seinem Kopf entgegen lärmen, sie abschalten.
Er wollte allein sein, völlig allein, ohne andere und ohne sich selbst.
Aber das klappte nicht. Auch bei der maximalen Lautstärke seiner dröhnenden Boxen wollten die Bilder nicht aus seinem Kopf verschwinden. Ryan Carter, der seine Freundin- seine Coralie, küsste.
Und sie, wie sie seinetwegen weinte.
Aber er konnte ihr einfach nicht verzeihen. Warum konnte er nicht darüber hinwegsehen?
Jared schmetterte die Fernbedienung mit aller Kraft gegen die Wand, an der sie zerschellte. Er war noch immer wütend.
Er drehte sich auf den Bauch und vergrub sein Gesicht im Kissen. Seit der ersten Träne die er noch auf der Straße vergossen hatte, war die, die jetzt seine Wange herunterlief, die Zweite.
Schließlich rannen sie ihm in kleinen Schwallen aus den Augen.
Die Musik übertönte zum Glück jedes noch so kleine Schluchzen, das er dabei von sich gab.
So lag Jared da und dachte an nichts. Er dachte wirklich für einen Moment an nichts.
Das Einzige was da grad war, war der Sound der Band, deren Musik nicht nur sein Zimmer, sondern das ganze Haus in sich ertränkte.
Jared ertrank gerade in sich selbst, der Liebe zu Coralie und in der Wut, die wie brodelndes Gift in ihm dahin köchelte. Er war müde und schwach, sein ganzer Körper begann jetzt wo er einfach nur dalag, an zu zittern.
„Verdammt. Verdammt Lil, was sollte das?“, presste er die Worte ins Kissen.
Wieder hatte er ihr unvergleichbar schönes Gesicht im Kopf. Ihre langen braunen Locken, die schillernden grünen Augen, die vielen kleinen Sommersprossen auf ihrer Nase und dieses volle sonnige Lächeln, das sie immer mit sich trug.
Sie stand da, in ihrem Sommerkleid und lächelte ihn mit genau diesem bannend zauberhaften Lächeln an. Doch von einer Sekunde auf die andere trat Ryan hinter ihr hervor, legte seine Hände um ihre Taille und beugte sich vor um ihre Wange zu küssen.
Jared riss sein Gesicht aus dem Kissen, warf sich auf den Rücken und brüllte so laut er nur konnte.
Egal was sie getan hat, er konnte nicht anders als sie lieben, denn Coralie war sein Leben und daran würde sich wohl auch nichts ändern. Und genau diese Einsicht, von einer unendlichen Liebe zu ihr befangen zu sein, ließ ihn abermals aufbrüllen.
Hätte er ihr zuhören sollen? Ihr eine Chance zur Erklärung geben sollen?
Er liebte sie und die Tatsache dass Lil ein anderes Paar Lippen geküsst hatte zog ihm den Boden unter den Füßen weg. Es war nicht Jared der Coralie verlassen hatte. Er fühlte sich verlassen, von ihr, ihrer Liebe und damit dem Rest seiner bis dato vollkommenen Welt.
Jared setzte sich auf und sah sich um. Auf seinem Tisch stand ein Bild von Coralie und ihm. Er schwang sich vom Bett und wankte hinüber.
Er stütze sich mit den Armen auf der Tischkante ab und starrte auf das Bild.
Es war ein Schnappschuss von den Beiden als sie sich bei einem gemütlichen Abend unter Freunden küssten. ‚Den besten und süßesten Schnappschuss auf Erden‘ nannten Lil und seine Freunde es. Jared mochte das Bild sehr. Lil lächelte so unglaublich anmutig während sie sich küssten. Wieder trug sie ein Kleid welches wehte, als Jared sie auf dem Bild hochhob und sich mit ihr im Kreis drehte.
Jared nahm den Rahmen in die Hand, drehte sich zum Fenster um, griff mit einer freien Hand nach seinem Stuhl und zog ihn mit sich. Er platzierte ihn genau vor dem Fenster um hinaus sehen zu können. Jared setzte sich mit einem Gefühl als ließe er mehrere Tonnen sacken. Er nahm das Bild in die Hand und begann es anzustarren.
Und je länger er es anstarrte, desto ruhiger wurde er. Jetzt begann Jared ernsthaft nachzudenken. Was genau ist zwischen den Beiden geschehen? Warum hatte er das alles nicht mitbekommen? Warum hatte sie ihn belogen? Und was meinte sie damit es nicht gewollt zu haben?
Vielleicht hatte sie Angst es ihm zu sagen als es geschah und machte nur gute Mine zu bösem Spiel. Setzte Ryan sie unter Druck? Coralie war ein ehrlicher und gutherziger Mensch. Das was er heute mit ansehen musste- das war sie nicht. Je mehr Jared darüber nachdachte desto brenneder wollte er die Antworten von Lil hören. Er wollte die Antworten hören in der Hoffnung ihr daraufhin verzeihen zu können. Denn er liebte sie und sie liebte ihn, dessen war er sich sicher.
Jared wendete den Blick keine Sekunde von dem Bild.
Er erstarrte auf seinem Stuhl und wartete darauf dass die Sonne unterging und er sich im Schatten der Nacht zurück ins Bett verkriechen konnte. Am nächsten Morgen würde er sie anrufen, ganz sicher.

Die Uhr rannte derweil vor sich hin, eine Stunde verstrich, eine zweite, eine dritte verstrich und es begann leicht und fein zu regen. Zum ersten Mal seit Stunden wandte er den Blick von dem Foto ab und sah dabei zu wie die Regentropfen die Scheibe hinunter rannen.
Die Sonne schien golden durch das Fenster, genau in sein Gesicht. Das Licht war zwar schwach, aber angenehm warm auf der Haut. Die Playlist seiner Anlage lief nun schon zum 4. Mal von neuem an.
Er sah raus auf die Straße. Sie schimmerte durch die Nässe des Regens.
Als er seinen Blick wieder auf das Bild richten wollte, erkannte er im Augenwinkel jemanden in die Straße einbiegen.
Es war Lil. Sie rannte mit der Kapuze über den Kopf gezogen in die Richtung seines Hauses.
Er wollte seinen Augen nicht trauen. War er eingeschlafen? Träumte er?
Jared sprang von seinem Stuhl auf und trat mehr aufgeregt als erschrocken hinter die Lehne.
Währenddessen sah er Lil auf seine Veranda rennen.
Sie würde jeden Moment klingeln. Aber würde er ihr aufmachen wollen? Was wenn die Antworten die er von ihr hören wollte, nicht die waren, die er sich erhoffte?
Was genau wollte er sie eigentlich fragen? Auf seinen Händen sammelte sich kalter Schweiß.
Angespannt wartete er auf das Läuten der Klingel. Aber auch nach gefühlten 10 min hörte er nichts. Jared hörte nichts außer dem extremen Bass seiner Lautsprecher, die er auch jetzt nicht leiser drehte. Er wollte, dass Lil seine scheinbare Ignoranz in Form der Lautstärke seiner Musik vernahm.
Langsam beugte er sich ein Stück ans Fenster vor um sie sehen ob Coralie noch auf der Veranda stand, als sie plötzlich zurück auf die Straße rannte.
„Ich liebe dich, verdammt nochmal, Jared. Ich liebe dich mehr als alles andere, okay?! Vergiss das nicht? Vergiss es nicht! Und vergiss vor allem mich nicht! Bitte!“, schrie sie seinem Fenster entgegen.
Schnell trat er wieder hinter seinen Stuhl. Ihre Stimme war leise trotz dass sie schrie, aber er hatte es vernommen. Sie vergessen? Wie kam sie nur darauf? Er liebte sie und hoffte Lil wisse das, trotz des Streites am Vormittag, ‚an dem ich sie verlassen hatte!‘.
Zwei Schellen schlugen ihm an die Schläfen und er fuhr auf. Jared musste sie aufhalten. Die Beiden mussten reden, das alles klären, jetzt und sofort.
Er stürmte durch seine Zimmertür, die Treppe hinunter in Richtung Haustür, vor der er aber abrupt stehen blieb. Vor seinen Füßen lag ein Zettel, der noch halb unter dem Türschlitz klemmte.
Jared hob ihn auf und las.

Es wäre sinnlos zu beteuern, dass ich das alles nicht gewollt habe. Du würdest es nicht glauben. Verständlich.
Alles was ich dir jetzt noch sagen möchte ist, wie leid es mir tut, für dich, für mich, für uns.
Ich hoffe du kannst mir eines Tages verzeihen.
Du bist und bleibst mein ganzes Leben.

Ich liebe dich, vergiss das bitte nie.

Für Jared.
Auf ewig, deine Coralie.

Was sollte das? War das alles? Mehr nicht?
Ein paar Zeilen und sie nahm alles, was geschehen war, hin? Den Betrug, den Streit, die Trennung, einfach alles?!
Das war wieder nicht die Coralie, die er kannte und liebte. Da musste mehr dahinter stecken. Irgendetwas stimmte nicht und das wusste er.
Die Zeilen, die sie anscheinend müßig niedergeschrieben hatte stammten nicht von der aufgeweckten und fröhlichen Lil, die gestern noch mit ihm auf der Veranda saß.
Er hielt den Zettel in der Hand und lief im Flur auf und ab. Er wanderte durch die Küche, das Wohnzimmer auf der Suche nach einer Erklärung was das zu bedeuten hatte.
Als er sich nach einer halben Stunde immer noch keinen Rat wusste, kramte er wie wild in seiner Hosentasche, zückte sein Handy und wählte Lil’s Nummer.
Sie nahm nicht ab, ihr Handy war ausgeschaltet. Zunehmend schlugen Jared’s Wut und Trauer in ernste Besorgnis um.
‚Ich hoffe du kannst mir eines Tages verzeihen.
Du bist und bleibst mein ganzes Leben.
Ich liebe dich, vergiss das bitte nie.‘
Das klang alles mehr nach einem.. einem Abschiedsbrief. Konnte das sein? Hatte sie ernsthaft über so etwas nachgedacht? Jared machte sich wirklich Sorgen. Sein Herz schlug schneller und höher, sein Puls begann beinahe zu rasen.
Wieder wählte er ihre Nummer und wieder- nichts. Er rief bei ihren Eltern an. Aber die wussten auch nicht wo sie sei. Er rief Kelly an- nichts. Abigail- nichts.
Nicht mal ihre besten Freundinnen wussten wo sie war oder wo sie hin wollte.
Jared warf das Telefon auf den Küchentisch, verschränkte die Hände über dem Kopf und versuchte ruhig zu denken und zu atmen.
Wo könnte sie sein? Er musste zuerst das Schlimmste (er wollte nicht daran denken) ausschließen.
Brücken von denen man sich stürzen könnte? Fehlanzeige, es gab keine im Umkreis von 20 Meilen.Einen Highway ebenfalls nicht.
Jared wurde immer unruhiger. Wo? Wo um Himmels Willen konnte sie sein?
Da fiel es ihm wie ein Schlag in die Magengrube ein. Der Bahnhof. Der einzige Ort an dem man sich auf, wieder erschrak er, recht populäre Weise das Leben nehmen konnte.
Seine Besorgnis schlug auf einmal in pure Angst um.
Er rief erneut Lil’s Eltern an, erzählte ihnen was passiert sei und versprach sich sofort auf den Weg zu machen. Lil’s Eltern wurden augenblicklich genauso krank vor Sorge wie er.
Jared legte auf, suchte hysterisch nach seiner Jacke und den Autoschlüsseln.
Nach 10 min der nervenaufreibenden Suche fiel ihm ein, dass sein Dad den Wagen gerade nach Wisconstin fuhr. Er trat einmal kräftig gegen den Mülleimer und rannte wie von Sinnen zur Tür hinaus und die Straße hinunter. Schon nach wenigen Sekunden rannte er nicht mehr, sondern sprintete. Dass es bereits dunkel draußen wurde bemerkte er kaum. Er stürmte in Richtig Bahnhof so schnell ihn seine Füße trugen.
Die knappen 2 Meilen bis zum Bahnhof verwandelten sich für ihn mit jedem weiteren Schritt zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Einen Wettlauf, den er fürchtete zu verlieren.
Als er den Bahnhof nach einer gefühlten Ewigkeit erreicht war es stockdunkel.
Nur die Straßenbeleuchtung wies noch auf Umrisse seiner ferneren Umgebung hin. Jared war am Ende seiner Kräfte. 5 Meter vor dem Bahnhofsgebäude stoppte er. Sein Körper lechzte nach Luft und er atmete so tief er nur konnte.Langsam und völlig apathisch atmend schliff er sich hinüber an die Gleise. Coralie war nirgends zu sehen. Er war ein Stück erleichtert.Doch plötzlich fuhr neben ihm ein Zug ein. Ein Schellzug. Obwohl er Lil nirgendwo erkennen konnte stieg die Angst in ihm auf. Er atmete wieder schneller. Doch Jared war immer noch nicht fähig zu reden, so sehr er es wollte. Er wollte ihren Namen rufen. Jared wollte nichts mehr als wissen wo sie war und ob sie hier war.
Er sah sich um, immer und immer wieder. Er drehte sich förmlich im Kreis. Nirgendwo war sie zu sehen, doch die Angst würde größer, sie schien in zu erdrücken.
Er hörte das schrille Piepen und der Zug fuhr los. Seine Scheinwerfer strahlten die Schienen entlang. In den ersten 50 Metern sah man nichts.
Der Zug beschleunigte und entfernte sich vom Bahnhof. Jared’s Blick haftete an den Schienen, welche vom Licht des Zuges immer weiter erhellt wurden.
Als er sie sah, blieb sein Herz stehen. Er atmete nicht. Er sagte nichts.
Coralie stand auf den Schienen. Sie stand einfach da, mitten zwischen den Eisenschienen. Alles was Jared noch sah, war das Licht, das sie in der Ferne erfasste.
Ein Quitschen der Bremsen ertönte und die Liebe seines Lebens war tot.
Jared sank hinab auf die Knien. Er atmete immer noch nicht. Aber er schrie.
„Coralie!“, holte er mit letzter Kraft aus seiner Kehle hervor.
Im selben Augenblick wurde ihm schwarz vor Augen und er ging zu Boden.


Ihre Beerdigung war so, wie sie es sich wohl gewünscht hätte. All die Menschen die ihr im Leben wichtig waren, hatten sich in ihrem Elternhaus versammelt um gemeinsam Abschied zu nehmen.
Man hatte das Haus in Weiß geschmückt. Sie mochte helle Farben und Lilien.
Man trank Cafe, aß Kuchen und die meisten schwiegen. Nur ein paar tattrige Großmütter und Großtanten sprachen über alte Zeiten.
Gegen 4 Uhr am Nachmittag gingen sie alle zum Friedhof. Lil’s Eltern, Jared, Kelly und Abigail vorn an.
Es war ein langer, fast endloser Marsch, bis sie die Wiese mit dem kleinen ausgehobenen Loch erreichten.
Nach ihrem Tod fand man Jared am Bahnhof und brachte ihn in ein Hospital. Zumindest ihn fand man. Aber von Coralie’s Leichnam fehlte jede Spur. Man analysierte Blut von ihr an der Front des Zuges und vermutete daher, dass ihr Köper wohl weit geschmettert wurde. Und ihre Reste von wilden Tieren, noch bevor die Polizei eintraf, verschleppt wurden.
Alles was man jetzt in dem kleinen Loch versenkte, waren Erinnerungen in einer kleinen Kiste.
Es waren Bilder, ein paar Kleidungsstücke, ein Kuscheltier und Blumen.
Jared hatte seit diesem Tag kein Wort mehr gesprochen. Die Ärzte meinten es sei eine Art Schockzustand auf Grund des posttraumatischen Erlebnisses, nur war dem nicht so. Jared konnte reden, aber er hätte nicht gewusst warum er das sollte. Was gab es noch zu sagen? Sein Dasein war vorbei und war somit zu beschweigen. Und nicht einmal heute gab es etwas, von dem er sich hätte verabschieden können. Alles was von seinem Leben übrig geblieben war, waren Bilder und ein Stein unter dem ihr wunderschöner Körper nicht ruhte.
Und solang er nicht dort in diesem Loch war, blieb Jared stumm und hoffte sie sei da draußen. Denn solange ihr Körper nicht vor ihm lag, solang er nicht in ihr totes Gesicht gesehen hatte und ihre kalte Lippen geküsst hatte, war sie nicht tot. Sie lebte vielleicht nicht mehr, aber sie war noch nicht tot.
Solang ihr Körper da draußen war, würde Jared nicht aufhören zu warten.
Worauf auch immer.


Als ich die Augen aufschlug, war es um mich herum dunkel. Wie lange ich wohl geschlafen hatte? Stunden? Tage? Wie spät es wohl war..
Doch blitzschnell erfasste mein Geist noch weitere Unstimmigkeiten. Das Bett auf dem ich lag, kannte ich nicht. Ich erkannte das Zimmer nicht in dem ich befand.
Wo blieb die Angst?
Ich richtete mich auf, innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde saß ich da und sah mich um.
Ich saß auf einem riesigen Holzbett mit Baldachin. Die zig Decken und Kissen um mich herum waren mit einer dunkelgrauen, edlen Bettwäsche bezogen.
Das Zimmer schien im Allgemeinen sehr modern und trotzdem erschreckend antik eingerichtet zu sein. Lange, dunkle Vorhänge, passend zur Bettwäsche, verhingen die großen Fenster.
Licht drang hindurch. Es war also doch Tag da draußen.
Perplex sah ich mich wieder und wieder um und versuchte dieses Zimmer zuzuordnen. Doch ich erkannte es einfach nicht. Ich erkannte weder das Bett, noch die Vorhänge noch die petrolblauen Wände, weder den massiven Holzschrank, noch die Gemälde die im Zimmer hingen.
Wo war ich also? Wie bin ich hier her gekommen?
„Wo bin ich?“, flüsterte ich leise. Meine Stimme schimmerte dabei so hell wie der Klang eines wasserbenetzten Glasrandes über den man strich. Ich lauschte ihrem Hall. Schnell aber kam ich wieder zu Bewusstsein und sah mich erneut um. Ich blickte auf das Fenster rechts von mir, um erkennen zu können was sich davor befand. Das Licht schien in allen Spektralfarben durch den Schlitz der Vorhänge. Aber ich fühlte mich nicht geblendet, wie es doch üblich sein sollte.
„Wo bin ich“, wiederholte ich meine Frage automatisch, aber im selben flüsternden Ton.
„Nun, vielleicht kann ich dir dabei helfen.“, wurden meine Fragen je von der Stimme vor mir unterbrochen.
Ich fuhr mit dem Kopf herum und blickte geradeaus auf die Tür vorn vor dem Bett.
In der dunklen hölzernen Tür stand ein Mann. Wer war er?
Er schien Mitte bis Ende 20. War ein wenig groß, 1,80m bis 1,90m vielleicht, hatte braunes, längeres aber dennoch kurzes Haar. Sein Gesicht.
In diesem Moment war ich gefesselt. Sein Gesicht war so makellos und blass. Seine Nase, sein Mund und seine strahlend blauen Augen schienen eine einzige göttliche Sinfonie zu sein.
Ich konnte meinen Blick nicht abwenden. All meine Gedanken liefen innerhalb von Sekunden ab.
„Wer bist du?“, fragte ich mit meiner schillernden Stimme ohne den Blick von ihm zu nehmen.
„Nun“, er lächelte. Auch seine Zähne schienen zur ganzen Sinfonie zu gehören.
„Verzeiht aber mir bot sich bis jetzt noch keine Gelegenheit mich vorzustellen. Mein Name ist Everett James Cunningham. Sehr erfreut sie kennenzulernen, Miss..?“
„Miss..“, plötzlich schlug mein anfängliches Selbstbewusstsein in einen Schock um.
„Miss…“, wiederholte ich, in der Hoffnung die Antwort fiele mir vielleicht jetzt ein.
Doch ich hatte keine Antwort auf die wohl einfachste Frage auf Erden. Miss.. doch was hätte kommen sollen, kam nicht aus meinem Mund. Ich riss die Augen auf. Ich wusste nichts.
Wer war ich? Mein Name, Alter, Herkunft, wie sah ich aus?
Nichts. Da war einfach nichts. Keine einzige Erinnerung. Erst jetzt wo ich die Luft hätte anhalten müssen, merkte ich, dass ich noch nicht geatmet hatte, seit ich die Augen geöffnet hatte.
Jetzt atmete ich schnell und schnaubend. Hilfesuchend sah ich den Mann im Türrahmen an.
Ich sah wieder in seine blauen Augen. Aber da fand ich weder die Antwort darauf wer ich war, noch woher ich kam beziehungsweise wie ich hier hin kam.
„Wer bin ich?“, hauchte ich ihm entgegen.
„Du hast kaum Erinnerungen, nicht wahr?“
Erinnerungen? Woran? Kannte ich ihn? Kannte er mich? Was zu Hölle war passiert!
Wortlos schüttelte ich sacht den Kopf, ohne meine Augen von im abzuwenden.
Ich erinnerte mich an nichts. Alles was vor meinem Aufwachen passiert sein musste, war weg.
Gab es überhaupt etwas das vorher geschehen war? Die unendliche Weite in meinem Kopf füllte sich mit genau diesen bohrenden Fragen.
„Erinnerungen woran?“, fragte ich, nur um mich ein letztes Mal von der Leere in meinem Gedächtnis zu überzeugen.
Wieder blieben die Antworten im Echo aus.
„An deinen.. nun ja.. ein Unfall war es denke ich nicht.. an deine letzten Minuten?“, sagte er in einem ruhigen und besänftigendem Ton. Auch seine Stimme schimmerte so hell wie die meine.
Unfall? Ich hatte einen Unfall? Erschrocken schaute ich zum ersten Mal an mir herunter.
Ich hob meine Arme und begutachtete sie. Doch da waren keine Kratzer, keine Schürfungen, generell keine Wunden. Sie waren blass und glänzten leicht im Licht.
Ich betastete rasch mein Gesicht- aber auch da- nirgends etwas zu spüren. Meine Haut war glatt und ohne die geringsten Verletzungen. Nochmals schaute ich an mir herunter.
Ich konnte nicht glauben was ich sah. Das Kleid, welches ich trug, war zerrissen, dreckig und zu meinem erneuten Erschrecken blutüberströmt.
Wo kam das her? Ich hatte keine Schmerzen und anscheinend auch nirgends Wunden. Von wem stammte es dann? Denn Blut war es definitiv. Es roch süß und so stechend nach Kupfer.
Ich konnte Blut.. riechen.
„Was.. was ist passiert?“, ich sah ihn wieder mit meinen weitaufgerissenen Augen an.
„Du hast also wirklich einen völligen Verlust deines Gedächtnisses erlitten..“, sein Lächeln verblasste leicht und er sah jetzt auch mir tief in die Augen.
„Ich denke dennoch dass ich dir ein Stück weit helfen kann und helfen muss. Schließlich bin ich schuld an dem ganzen Dilemma. Du solltest dir vorher etwas anderes anziehen. Dort am Fuß des Bettes liegt ein Kleid. Du kannst es anziehen. Ich erwarte dich im Nebenzimmer und dann werden wir versuchen dir gemeinsam zu helfen. Es gibt einiges was du verstehen und begreifen musst.“, er drehte sich um und hatte bin in Sekunden das Zimmer verlassen und die Tür leise geschlossen.
Ich wollte ihm hinterherrufen, aber bevor ich mir einen Satz zurechtgelegt hatte war er bereits verschwunden.
Ich sah in Richtung Fußende des Bettes. Da lag tatsächlich ein Kleid. Auf den ersten Blick war es angenehm grün, wie die Wiesen von Irland.
Warum kannte ich den Farbton irischer Wiesen, aber nicht meinen eigenen Namen?
Es war zum verrückt werden! Ich schnappte mir das Kleid, sprang aus dem Bett und stand plötzlich auf einem weichen grauen Teppich, natürlich passend zu den Vorhängen und der Bettwäsche. Wer war dieser Everett James Cunningham bloß?
Mit beiden Händen schüttelte ich das Kleid vor mir aus und hielt es fern um es zu betrachten.
Es war.. schön. Grün, mit netten Knöpfchen und Schleifen an den Schultern. Es war unter dem Busen geschnürt. Im Großen und Ganzen also.. sehr mädchenhaft und niedlich.
Ob ich so etwas mal mochte? Ich betrachtete mein zerschlissenes Kleid. Der Schnitt sah ihm zumindest recht ähnlich.
Als ich mich wieder auf mein Kleid konzentrierte schoss mir durch den Kopf, wie ich wohl aussah. Ich konnte mich ja weder an meine Identität noch an mein Äußeres erinnern.
Ich wandte den Kopf um und hielt nach einem Spiegel Ausschau. Zwischen der Tür und dem Schrank stand ein recht großer.
Mit leichtem Schritt ging ich auf ihn zu, atmete noch einmal tief in die Lunge ein, die anscheinend keine Luft mehr brauchte, und stellte mich davor.
Ich sah ein Mädchen, welch Wunder. Mittelgroß, schlank (ich war schlank), sehr blass, lange braune Locken und ein elfengleiches Gesicht.
Ich trat einen Schritt näher und erschrak. Dieses elfengleiche Gesicht war geprägt von einer anmutigen Blässe, grünen, großen Augen, zart rosafarbenen Wangen und Sommersprossen die sich der blassen Haut angepasst hatten.
War das tatsächlich ich? Ich trat wieder ein Stück vom Spiegel weg. Ungläubig musterte ich noch einmal was ich sah. Ich konnte es nicht fassen- ich war hübsch.
Nein, hübsch war kein Ausdruck, ich war zum anbeten schön.
Meine Hände betasteten meine Wangen, fuhren durch die glänzenden brauen Locken und sanken anschließend an meinem schmalen Körper herunter.
Das war wirklich ich.
Ich drehte mich ein letztes Mal vor dem Spiegel hin und her und beschloss mich über meine Schönheit zu freuen, sie aber bescheiden zu beschweigen. Denn eingebildet wollte ich nicht sein.
War ich früher eitel? Ich hoffte nicht.
Ich schaute nochmal zur Tür, um sicher zu gehen allein zu sein.
Blitzeschnell streifte ich mir meinen Fetzen vom Leib und zog mir das irisch grüne Kleid über.
Ich kam mir darin ein wenig albern vor, aber zu den passenden Anlässen wäre es wohl ein echter Hingucker gewesen. Ich besah mich abermals im Spiegel. Wieder war da dieses wunderschöne Mädchen, doch jetzt in einem edlen Kleid. Es stand mir ungemein.
Dieser Mann, Everett, im Nebenzimmer, hatte Geschmack was Einrichtung und Kleidung anging.
Und jetzt da ich umgezogen war, war es auch an der Zeit endlich zu klären was passiert war.
Ich ging zur Tür blieb aber davor stehen. Irgendetwas lähmte mich. Was wenn er mir Dinge sagen würde, die ich nicht hören wollten? Vielleicht hatte ich mein Gedächtnis ja aus einem guten Grund verloren? Doch jetzt war nicht die Zeit für einen Rückzieher.
Ich griff nach der Klinke, öffnete die Tür und schob sie auf.
Ich blickte in einen noch größeren Raum als das Schlafzimmer. In der Mitte ein langer Tisch, förmlich eine Tafel. An den Wänden Bücherregale. Am anderen Ende des Zimmers ein Flügel, eine Geige.
Überall Bilder, Gemälde und antiker Nippes. Doch die Wände waren anders. Sie waren tiefrot, was den Raum aber seltsamer Weise nicht dunkler erscheinen ließ.
In diesen ganzen Reizüberflutungen die das Zimmer mir bereitete, versuchte ich diesen Everett auszumachen.
Ich sah mich um, aber außer weiteren aufmerksamkeitserregende Dingen konnte ich ihn nicht sehen.
Mein Kopf schwenkte nach rechts in Richtung der Tür die aufgeschlagen hatte.
Da stand er- an einer Anrichte und blätterte in einem Buch.
Ich wusste er hatte mich bemerkt aber hatte nichts gesagt.
Plötzlich wendete er sich vom Buch ab und sah mich an. Sein Blick war freundlich, er hatte wieder dieses beruhigende Lächeln aufgelegt.
„Das Kleid steht dir ausgesprochen gut.“, sagte er in diesem hypnotisierenden Ton.
„Ähm danke schön.“, stotterte ich. Aber selbst mein Stottern klang so hell und angenehm.
„Du musst dich für nichts bedanken. Ich denke du sehnst dich nach Antworten, nicht wahr mein Kind?“
Hatte er ‚mein Kind‘ gesagt? Zwischen uns lag doch höchstens ein Jahrzehnt und er sprach wie ein Großvater. Er erschien mir immer fragwürdiger.
„Ja, das stimmt wohl.“, antwortete ich dennoch.
„Dann tritt ein.“ Mit einer Hand winkte er mich ins Zimmer hinein, ging ans andere Ende des Raumes und stellte sich vor ein gigantisches Bücherregal, das fast bis unter die hohen Decken reichte.
Ich folgte ihm wortlos und blieb 2 Meter von ihm entfernt stehen. Er sah mich wieder an.
„ Was ist das letzte woran du dich erinnern kannst?“, fragte er ruhig.
„Dass ich hier aufgewacht bin.“
„Und an Dinge, die davor geschehen sind?“
„Kann ich mich kein bisschen erinnern. Es ist alles weg. Ich dachte du wolltest mir helfen?!“, seine Dummschwätzerei nervte mich ein wenig. Ich wollte Antworten und nicht noch mehr fragen.
„Nichts wäre mir lieber als dir zu helfen. Aber unser Zusammentreffen ist noch nicht sehr lang her.“
„Wie lang?“.
Er kannte mich also.
„Ich habe dich vor ungefähr 2 Tagen, nunja, aufgesammelt, im wahrsten Sinne des Wortes.“
„Aufgesammelt?“ Was meinte er damit? War ich eine Flüchtige? Bin ich von zu Hause abgehauen? Viel wichtiger- hatte ich überhaupt ein zu Hause?
„Wie meinst du das mit ‚aufgesammelt‘?“, fragte ich bohrend.
Er blickte kurz zum Fenster hinaus aber wand sich schnell wieder zu mir um. Sein Lächeln war verblasst.
„Um dir zu erklären was mit dir geschehen ist, muss ich dir von mir erzählen...“
„Ich warte.“
„Vor 2 Tagen geschah es das erste Mal in meinem Leben, dass ich das Haus hungrig verließ..“
„Und was hat das mit mir zu tun?!“
Was interessierte mich sein Hunger?
„Hör mir genau zu und versuch zu verstehen und zu glauben was ich dir sage. Ich verließ das Haus und zog los. Den Hunger den Meinesgleichen verspüren kanntest du sicher nur aus Sagen und Märchen..“
Was erzählte er denn da für Blödsinn?
„..und deshalb wirst du seine Intensität bis jetzt nicht kennengelernt haben. Er treibt dich zu einer Quelle die ihn stillen wird. Und in meiner Not trieb er mich zu dir.“
„Zu mir?“
Hunger? Welche Art von Hunger sollte das sein? Hatte er.. hatte er sich an mir vergangen? Mich so zugerichtet? Ich trat automatisch einen Schritt zurück.
„Ja, zu dir. Es war Nacht. Du standest auf den Schienen nahe eines Bahnhofs als dich ein Zug erfasste..“
„Mich hat ein Zug erfasst?!“
Ich konnte nicht glauben was er da sagte. Ein Zug hat mich überrollt und ich habe es überlebt?!
Hatte ich etwa Selbstmord begehen wollen? Wer verdammt nochmal war ich?
„Nun ja, zum größten Teil. Mein Hunger und die Not ließen mich deinen Körper in allerletzter Sekunde von der Front des Zuges retten, bevor er dich unter sich begraben konnte. Aber du hast fatale Verletzungen erlitten, ich sah keine Chance mehr für dich..“
„Und doch habe ich überlebt“, sagte ich völlig von Sinnen.
Er hatte mir also das Leben gerettet.
„Leider nein.“
„Nein? Aber ich stehe doch hier, oder etwa nicht?“
Wie viele Scherze wollte er mir noch auftischen?
„Dann sag mir. Hast du, seit du die Augen aufgeschlagen hast, auch nur einen Atemzug getätigt?“
„Nein“
Er hatte recht. Ich atmete nicht. Weder jetzt noch vorhin.
„Und hast du dein Herz auch nur ein einziges Mal schlagen hören?“
Ich lauschte und gab Acht.
„Nein.“
Mein Herz schlug nicht mehr. Ein unangenehmes beängstigendes Gefühl beschlich mich.
„Du bist nicht mehr das was du einst warst. So wie du vor mir stehst bist du nicht länger ein Mensch.“
„Kein Mensch? Was meinst du? Was sollte ich dann sein? Ein Geist, ein Zombie? Das ist doch alles ein schlechter Scherz!“
Es reichte mir, ich wollte nichts mehr davon hören. Vom Zug überrollt, überlebt und doch tot. Ich wollte plötzlich einfach nur noch weg. Eine Wut begann augenblicklich in mir aufzukochen. Ich machte kehrt und war bin in einer Sekunde zurück in das andere Zimmer gerannt und hatte mich dort verschanzt.
Ich lehnte an der Tür und atmete tief durch. Aber meiner Lunge schien das egal zu sein. Sie rührte sich genauso wenig wie mein Herz.
Hatte ich vorhin etwas übersehen?
Ich ging also nochmal zum Spiegel und sah hinein.
Würde mein Herz noch schlagen hätte es spätestens jetzt einen Infarkt erlitten.
Das schöne Mädchen von vorhin war verschwunden.
Jetzt sah ich plötzlich nur noch leuchtende, grellgrüne und blutunterlaufende Augen.
Das Elfengesicht war nun geprägt von diesen monströsen Augen und einer noch erschreckenderen Blässe.
Doch das sollte nicht der Hammer sein. Aus den nun ebenfalls fahlen Lippen ragten zwei Eckzähne heraus, wie ich sie nur aus Dracula’s Sagen kannte.
Ich wusste nicht ob das, was ich sah, Einbildung war oder nicht.
Doch das Monster im Spiegel war ich, daran bestand kein Zweifel. Aber was war ich?
Das durfte alles nicht wahr sein.
Ich hoffte das alles sei nur ein Alptraum und ich würde jeden Moment aufwachen. Aber so war es nicht. Ich musste mir an diesem Punkt schell eingestehen nicht mehr menschlich zu sein.
Und mit dieser Erkenntnis die mich auf kuriose Art und Weise beruhigte verschwand auch augenblicklich das Monstrum aus meinem Gesicht.
Innerhalb einer Sekunde stand wieder das schöne Mädchen vor dem Spiegel.
Ich wusste nicht ob das was ich eben noch gesehen hatte Einbildung gewesen war.
Aber ich realisierte recht schnell dass es nicht an dem war.
Mit mir war etwas geschehen und ich wollte wissen, was.
Ich drehte mich also wieder um, um ins Nebenzimmer zu gehen, doch er stand bereits vor mich und ich hätte ihn um ein Haar angerempelt.
Wie war er so schnell ins Zimmer gekommen.
„Möchtest du mir nun glauben und zuhören?“, fragte er wieder im ruhigen Ton.
„Ja.“
Denn etwas anderes blieb mir ja nicht übrig.
„Gut. Der Hunger von dem ich sprach.. Es ist ein Verlangen nach Blut.“
Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Der Blutdurst. Ich hatte vorhin das Blut auf meinem Kleid riechen können, und auch jetzt lag der Geruch noch immer so stechend in der Luft. Ich atmetet nicht, mein Herz schlug nicht- war also untot. Mein Gesicht zierten gruselige Augen und Reißzähne.
War ich etwa so eine Art Vampir?
„Vampire..“, quetschte ich als Antwort hervor.
„Ja. Ich verstehe dass es schwer sein mag es zu glauben, aber das wirst du müssen. Denn du bist mehr als nur ein gewöhnlicher Vampir.“
„Mehr?“
Ich musste das alles erst einmal verarbeiten. Ich war ein Vampir.
„Sag, weißt du wer ich bin?“
„Nun..“
Ich konnte sehen wie er nachdachte.
„..du hattest nichts bei dir was mir Hinweise auf deine Identität hätte geben können. Aber ich glaube du nanntest mir deinen Vornamen bevor du starbst.“
„Wie heiße ich?“
Diese Frage brannte gerade mehr auf meiner Seele als das trockene Gift in meiner Kehle.
„Ich glaube du sagtest Crystal. Dein Name sei Crystal.“
Ich hatte also offensichtlich Selbstmord begangen. Doch ich wurde gerettet.
Was war aus meinem alten Leben geworden?
Gerade war es mir egal, ich hatte es sicher aus gutem Grund beendet.
Alles wovon ich jetzt noch überzeugt war, war die Tatsache dass ich nicht länger ein Mensch war und das Everett ebenfalls keiner war.
Und: Mein Name war Crystal.


Ich trat einige Schritte zurück und ließ mich auf das Bett fallen.
Doch tat ich es weder aus Erschöpfung, noch hatte ich Schmerzen, einen Schock oder dergleichen.
Mein Herz machte abermals keinen einzigen Schlag. Und ich musste einsehen, dass es von nun an so bleiben würde. Es würde also nie wieder Blut durch meine Ader fließen, ich musste von nun an nicht mehr atmen, nie wieder Röte auf meinen Wangen und Wärme auf meiner Haut. Kälte und Tod beherrschten nun diesen Körper- meinen Körper.
Ich hob meine Hände und betrachtete sie symbolisch und musternd.
Warum hatte ich mich vor einen Zug geworfen? Warum hatte Everett mich am Leben gelassen? Und was würde auf mich zukommen, jetzt wo ich kein Mensch mehr war?
Hilfe suchend sah ich den Mann an, der mich erst zu dem gemacht hatte was ich nun war.
„Warum hast du das getan? Warum hast du mich am Leben gelassen? Warum hast du mich nicht einfach sterben lassen, so wie ich es anscheinend vorhatte.“
Er sah zu Boden und kniff die Augen zusammen. Sein Gesicht sah schmerzverzerrt aus.
Plötzlich verschwand der Ausdruck wieder und er sah mich an.
„Weil es mir nicht zusteht Unschuldigen das Leben zu nehmen.“
„Aber ich wollte mein Leben doch anscheinend nicht mehr.“
Sagte ich in, einem entschuldigendem Ton.
„Das ist irrelevant. Du warst zum Zeitpunkt unschuldig am Durst, den meine.. unsere Natur mit sich bringt. Ich war unvorsichtig. Du hast dennoch nach wie vor die Wahl dein Leben zu beenden.“
Mein Leben? Kein Herzschlag, kein Puls, kein Atem. Ich lebte weiß Gott nicht mehr.
Wieder stellte sich mir die Frage warum ich mich nachts auf die Schienen gestellt hatte? Was war geschehen? Auch jetzt wusste ich nicht mehr als meinen Vornamen- Crystal. Nicht mal ein Nachname. Damit musste ich mich abfinden. Jetzt galt es erst einmal herauszufinden was ich war und wer Everett war.
„Ich glaube ich werde die zweite Chance vorerst nutzen. Aber sag mir, was genau hast du aus mir gemacht? Was bist du und was zur Hölle bin ich?“
„Der Biss den ich dir zufügen musste um an dein Blut zu gelangen, hat ein Gift in deinen Körper gebracht. Ein Gift das dich zu dem macht was der Volksmund einen Vampir nennt…“
Wieder zog er ein schmerzverzerrtes Gesicht.
„Aber du? Du bist weitaus mehr als ein gewöhnlicher Vampir. Ich habe dich zu mehr gemacht und das schmerzt mir fast noch mehr als die Tatsache, dir überhaupt die Wahl über Leben oder Tod genommen zu haben..“
„Was meinst du damit? Mich zu mehr gemacht zu haben?“
Mehr? Gab es denn noch schlimmere und düstere Wesen als Vampire?
Im selben Moment wandte er sich zur Tür um.
„Wenn du mir folgen möchtest. Es gibt noch einiges mehr, dass ich dir erklären muss.“
Er verschwand schnell wie ein Blitz im Nebenzimmer.
Ob ich mich auch mit einer solchen Geschwindigkeit bewegen konnte?
Ich prüfte zum ersten Mal meine ‚neuen‘ Sinne. Als ich mich umsah nahmen meine Augen jedes Spektrum des Lichts im Raum wahr und erkannten sogar die Staubpartikel in der Luft gestochen scharf. Sehen war plötzlich das reinste Abenteuer. Jetzt erst fiel es mir auf und ich konnte mich kaum sattsehen. Meine Ohren überfluteten mich mit derselben Intensität ihrer Wahrnehmung. Ich atmete ein und konnte hören wie die Luft durch meine Lunge fegte, ohne jede Gegenreaktion.
Ich hörte draußen vor dem Fenster Straßenlärm, Menschen- ein Ehepaar das sich wegen einem Vorfall auf der irgendeiner Party stritt. Und nebenan könnte ich hören wie Everett in einem Buch blätterte. Ich war überwältigt.
Ich schaute an mir herunter. Wenn meine Sinne schon so scharf waren, zu was war dann wohl mein Körper fähig?
Ich setzte mich in Bewegung und war augenblicklich im Nebenzimmer. Alles rauschte blitzschnell und dennoch klar an mir vorbei. Für das menschliche Auge war ich sicher nur ein Schatten der an ihnen vorbeihuschte.
Ist stand also im Nebenzimmer, noch völlig geplättet von den Dingen zu denen ich fähig zu sein schien. Obwohl ich keinerlei Erinnerungen an mein vorheriges Leben hatte, wusste ich, es war mit diesem nicht zu messen. Die Macht, die Stärke und Überlegenheit die ich nun besaß ließ mich lächeln. Mir wurde bewusst dass für mich ab dem heutigen Tag ein völlig neues Dasein anbrechen würde. Nicht länger als Mensch.
Ich schaute mich nach Everett um. Er saß am Tisch und blätterte in einem Buch.
Ich setzte mich auf den Stuhl ihm gegenüber. Wieder verlief alles bin im Bruchteil einer Sekunde.
Er wandte den Blick vom Buch ab und sah mich mit diesem beruhigendem Lächeln an.
„Du hast wohl die ersten Vorzüge deines neuen Wesens entdeckt.“
„Was kann ich noch. Außer überirdisch gut sehen, hören, riechen und schnell rennen.“
„Jeder deiner Sinne hat sich um ein Maß gesteigert, welches man sich nicht vorstellen kann. Doch hast du einen verloren.“
Einen Sinn verloren?
„Welchen?“, fragte ich zögerlich und der Befürchtung etwas Schlimmes könnte folgen.
„Den Sinn zu schmecken. Leider wirst du Zeit deiner Existenz nie wieder etwas anderes schmecken können außer Blut.“
Schmecken. Nun das war ein Sinn auf den ich wohl verzichten konnte, dachte ich zumindest.
Trotz fehlenden Gedächtnisses glaubte ich zu wissen dass Schokoeis gut schmeckte und ich Blumenkohl hasste.
Doch eine Bestätigung meiner Vermutung würde ich wohl nie erhalten.
„Was ist noch? Was sollte ich sonst noch wissen?“
„Du verfügst auch über schier unvorstellbare Kraft.“
„Kann ich ein Auto anheben, wie Superman?“
„Oh Kind, weitaus mehr als nur eines dieser Fahrzeuge.“, er lachte wie ein Großvater über sein Enkelkind. Sein Lachen klang warm und herzlich.
„Wow. Was noch?“
„Wir ernähren uns von Blut. Woher wir dies beziehen, ist uns freigestellt, solange die Geheimhaltung unserer Existenz nicht gefährdet wird.“
Blut. Ich roch es wieder aus Nebenzimmer. Meine Kehle brannte und lechzte förmlich danach.
Würde ich für das löschen dieses Brennens Menschen töten müssen?
„Muss ich töten?“
„Es gibt kein Gesetz welches dich zum Töten zwingt. Aber wenn du es wölltest, so wähle deine Opfer nicht wahllos und in Überzahlen.“
„Aber ich will nicht töten“
Ich wollte niemanden umbringen. Der Gedanke daran, meine Zähne in jemandes Hals zu schlagen missfiel mir gänzlich.
„So musst du auch nicht töten. Die Welt schuf uns Möglichkeiten dies zu umgehen.“
„Konserven“, sagte ich ein wenig erleichtert.
„Es ist kalt aber stillt den Durst in gleichem Maße.“
Ich musste also nicht töten wenn ich es nicht wollte. Das erleichterte mich ungemein.
„Doch jetzt, so kurz nach deiner Geburt, solltest du dennoch frisches Blut zu dir nehmen. Du musst stark werden.“
„Stark? Ich denke ich bin bereits stark? Wozu also einen Menschen umbringen.“
„Weil du, wie ich schon erwähnte, mehr als ein normaler Vampir bist. Du bist auserkoren mehr als nur ein stümperhafter Blutsauger und düsterer Parasit zu sein. Und um diese Stärke zu erreichen wirst du warmes pulsierendes Blut gebrauchen.“
„Wie meinst du das? Ich bin auserkoren, mehr als ein normaler Vampir?“
War ich etwa eine Überrasse? Ein noch viel schlimmeres Monstrum als ich gedacht hatte?
„Nicht nur die Unsterblichkeit und ewige Jugend haftet von nun an dir…“
Ich war unsterblich? Plötzlich bekam ich Angst. Nie hatte ich mir Gedanken über die Ewigkeit gemacht. Aber jetzt wo er mir sagte dass ich sie überdauern würde machte sie mir wirkliche Angst.
Alles um mich herum würde eines Tages sterben, außer mir selbst. Ich würde selbst die entfernteste Zukunft erleben und alle Katastrophen mit ansehen müssen, die die Natur und die Menschheit hervorbringen würden. Außer- ich starb endgültig.
„.. ich habe auch noch etwas anderes an dich weitergetragen.“
Er schnitt sich selbst das Wort ab um wieder sein Gesicht zu verziehen.
„Was?“
Everett hob den Kopf und sah mich förmlich um Verzeihung bittend an.
„Du bist seit der Stunde, zu der ich dich.. verseucht.. habe, das von nun an wohl mächtigste Schattenwesen dieses Planeten..“
„Ich bin was?!“
Was war gefährlicher und mächtiger als ein Vampir.
„Was heißt mächtigstes Schattenwesen?“
„Lass es mich dir erklären. Wie viel weißt du über Vampire?“
Wieder eine Frage dessen Antwort mich nicht so sehr interessierte, wie die Tatsache wieder etwas Neues zu sein.
„Nicht viel. Nur was man aus Sagen, Erzählung und Dracula-Mythen kennt.“, antwortete ich dennoch höflich.
„Dracula, meine Liebe, war nicht mal annähernd eine Gestalt der Dunkelheit. Er war ein größenwahnsinniger Herrscher, wie viele vor ihm.“
Er versuchte dabei zu lachen.
„Es ist wichtig dass du mir jetzt genau zuhörst um zu verstehen was mit den Vampiren und insbesondere mir und dir geschah.“
„Ja.“
Ich nickte und glaubte einer Erklärung näher zu kommen.
„Gut. Nun. Bereits vor den Zeiten Jesu Christi gab es Wesen die sich von Blut ernährten und schier unsterblich waren. Sie wurden gehasst, gejagt und grausam vernichtet. Doch sie konnten seit je her bestehen. In Schriften fand man Ansätze und Vermutungen, diese einstigen Menschen seien schwerst erkrankt, auf Grund des Bisses eines Tieres, welchem man nur selten und ausschließlich nachts begegnen konnte. Jeder der gebissen wurde, verwandelte sich also innerhalb eines knappen Sonnenlaufes und war unheilbar verseucht.
Die Seuche breitete sich tatsächlich, so besagten es die Schriften, von dem Lande des heutigen Rumänien über ganz Europa aus. Die Vampire, so nannte man sie fortan, trieben nur nachts ihr Unwesen, da das Licht der Sonne wie Gift auf sie wirkte.
Im Volke waren die Geschichten der Seuche bekannt, aber keiner konnte sie belegen, da auch die Verwandelten im Laufe der Jahre klüger und gerissener wurden. Sie jagten immer verstreuter, niemals mehrere Opfer in einer Gegend und begannen sogar Tiere und Herden zu reißen. Sie blieben viele Jahrhunderte unentdeckt. Doch zur Zeit des Mittelalters kam die Seuche wieder auf. Rumänien war am stärksten betroffen. So auch das Adelshaus Timisbóa. Das Ehepaar als auch die Kinder. Und während die Schatten durchs Land zogen und Verwüstung anrichteten, begann Ion Timisbóa damit, diese Wesen zu erforschen. Er, selbst eines von ihnen, suchte nach Antworten für die Abnormalitäten seiner Spezies. Ihre unermessliche Kraft, die scharfen Sinne und ihre ewige Jugend.
Doch zur damaligen Zeit hatte er nur primitive Mittel für seine Forschungen zur Verfügung.
Er begann damit, diese Wesen zu züchten. Timisbóa wählte jedes seiner Opfer sorgfältig aus und verseuchte sie. Und je sorgfältiger und kritischer er seine Probanten wählte, desto stärker wurden die Vampire, die entstanden. Er erkannte wonach er suchen musste. Bald hatte seine Züchtung eine Art Elite hervor gebracht. Und manche dieser ‚Außerwählten‘ zeigten nach ihrer Verwandlung gewisse Gaben. Ein knappes Jahrhundert später wurde Ion Timisbóa getötet, von seinen eigenen Schöpfungen. Jonathan McGarvin machte der Elite weiß, Ion nutze sie aus und hielte sie in ihrer Macht zurück. Er war fest davon überzeugt nicht nur zur obersten Evolutionsstufe auserkoren zu sein- viel mehr glaubte er daran die Vampire sind das, was man Vollendung nennt. Es sei ihnen vorherbestimmt die Menschheit zu unterwerfen und den Platz einzunehmen, der Geschöpfen wie ihm zustünde. Nachdem die Elite ihm zunächst folgte und Timisbóa aus dem Weg geräumt hatte, kehrte sie in England ein, McGarvins Heimat.
Dort spielte er die Elite gegeneinander aus. Nicht mal ein Jahrzehnt später hatte diese sich selbst vernichtet, bis auf Jonathan. Sein Plan schien aufzugehen.
Recht schnell hatte er es in den Adelshof des Großbritanniens geschafft. Jonathan besaß die Gabe, die Aura von Menschen und Tieren zu sehen. Er sah was sie tatsächlich fühlten, unabhängig davon was sie sagten oder taten. Jedes Lebewesen wurde von einer solchen Aura umgeben. Sie ist wie ein Schein der dich umhüllt.
Er spielte die Menschen gegeneinander aus und schlich sich nach oben.
Reich und im Adelsstande angekommen heiratete er eine ebenfalls Adlige.
Jonathan wollte Nachkommen schaffen, die wie er waren und seine Ziele ebenso verfolgen würden.
Aber er musste einsehen dass Vampire unfähig waren weder Kinder zu zeugen noch zu empfangen. Er brauchte eine Lösung und wendete sich an das, was auch Timisbóa tat. Er verwandelte von ihm selbst Auserlesene. Doch keiner von ihnen erbte seine Gabe. Manche entwickelten wie er eine eigene. Aber es diese erschienen ihm meist als unnütz. Also ließ er sie töten.
Er suchte nach einer Möglichkeit seine ‚Nachkommen‘ zu stärken und ließ weitere Unschuldige verwandeln und umbringen. Einer von ihnen war Rasmus Van Driess. Seine Grausamkeit und sein Herrscherwille unterbot Jonathan’s in keinster Weise.
Jonathan war überzeugt Rasmus sei stark genug um die Gabe zu erlangen. Kurz nach Rasmus‘ Verwandlung verabreichte ihm Jonathan etwas seines eigenen Blutes.
Und Rasmus Van Driess wurde zum Erben zweiter Generation. Doch erbte er nicht nur die Gabe des Aurensehens. Er war mächtiger. Es gelang ihm mittels Konzentration Druckwellen im Umkreis von 60 Fuß auszulösen. Er konnte die Druckwellen auf alles um sich herum übertragen. Die Erde, Gegenstände, lebende Wesen. Rasmus war nun also an erster Stelle der Nahrungskette und tötete wie Jonathan einst selbst, seinen Schöpfer.
Van Driess wurde herrschsüchtig und begann das Vereinte Königreich zu tyrannisieren. Er schuf sich anders als seine Ahnen keine Vampire, aus Bedenken sie könnten eines Tages auch ihn vernichten. Rasmus Van Driess herrschte allein und war schier unbesiegbar. Das Land zitterte unter seiner Hand.
Doch auch er hatte einen schwachen Punkt. Er begegnete einer Frau. Ihre strahlende Schönheit ließ das Licht der Sonne fahl erscheinen. Ihr Name war Elisabeth Cunningham.“
„Cunningham?“
Hieß Everett nicht ebenfalls Cunningham?
„Elisabeth Cunningham, die Mutter meiner Brüder und mir.“
Plötzlich brach er für einen Moment ab.
„Du hast Geschwister?“
„Ja. Meine älteren Brüder Victor Jaakon und Winston.“
„Was ist geschehen?“, fragte ich besorgt, denn ich sah wie sich Trauer über ihn legte.
„Wir waren eine einst sehr angesehene Familie. Unser Vater war Richter am Londoner Hofe. Wir wuchsen in harmonischen und wohlgesitteten Verhältnissen auf. Bis Rasmus Van Driess sich wie ein Schatten über die Stadt legte. Er mordete und tötete ausnahmslos.
Im November 1574 kehrten unsere Mutter, meine Brüder und ich des Nachts von einem Ausflug zurück. Sie stieg aus der Kutsche und wollte sich mit uns in Richtung unseres Hauses begeben als wir Rasmus zum ersten Mal begegneten. Wie aus dem nichts stand er vor uns.
Die Nacht hatte ihn uns scheinbar genau vor die Füße gespuckt.
Unsere Mutter stellte sich augenblicklich vor uns und wir verbargen uns hinter ihrem Rücken.
Rasmus Van Driess packte sie und war im Ansatz auch sie zu töten. Ich glaubte bereits in diesem Moment meine geliebte Mutter verloren zu haben.
Doch als er in ihr Gesicht schaute ließ er von ihr ab. Er verschwand so schnell wie er gekommen war.
Mutter war seit dieser Nacht erfüllt von Angst. Nicht um sich, sondern uns.
Einen Tag vor dem Weihnachtsfest ereilte uns dann eine Nachricht die der Beginn unserer Misere sein sollte. Unser Vater sei in seinem Arbeitszimmer im Londoner Gericht kaltblütig ermordet worden. Man wisse nicht von wem, aber als man ihn fand, hatte er keinen einzigen Tropfen Blut mehr in sich. Wir wussten wer ihn getötet hatte. Die ganze Stadt wusste es.
Seit diesem Tage war meine Mutter nicht mehr die barmherzige Frau die ich einst zu kennen glaubte.
Ihre Söhne hatten nicht nur den geliebten Vater verloren. Mutter hatte gänzlich den Verstand verloren. Trauer und Rache erfüllten sie von nun an.
Nach nichts trachtete sie mehr als Van Driess’s Leben. Und ihm nach nichts mehr als ihrer Zuneigung.
Er hatte unseren Vater ermordet und wollte nun die liebreizende und wunderschöne Witwe von Cunningham. Er lud sie in den Hofe ein und unsere Mutter folgte der Einladung.
Rasmus Van Driess war nichts zu schade um die wohl schönste Frau Englands für sich zu haben.
Unsere Mutter verbarg ihren Hass und ihre Vorhaben und machte gute Miene zu bösen Spiel.
Doch er konnte ihre Aura sehen und sah diesen Hass, doch deutete er ihn in seinem förmlich trunkenen Zustand als Missgunst auf Grund Vater‘s Tod.
Sie bat ihn, ihr das ewige Leben zu schenken, um es an seiner Seite verbringen zu dürfen.
Geblendet wie er war ließ er seine Zähne und somit sein Gift im Halse unserer Mutter versinken.
Und kaum hatte er sie wieder herausgezogen riss unsere Mutter ihm den Kopf vom Halse und labte sich an dem Blut, das aus ihm trat.
Rasmus Van Driess war gestürzt und Mutter entfloh in die Nacht. Sie hatte England von der Tyrannei Rasmus’s befreit. Sie kehrte zu uns zurück und lebte als wäre sie menschlicher denn je. Doch von Jahr zu Jahr schwand ihr Verstand. Der Verlust unseres Vaters hatte ihr jegliche Freude und Willen am Dasein genommen.
Meine Brüder und ich wussten um die Last unserer Mutter. Doch Victor und Winston kümmerte es weniger um ihr Leben als um die Macht die sie besaß.
Meine Brüder trieben sie mehr und mehr in den Wahnsinn bis sie sich eines Tages aufgab.
Ich war knappe 22 Jahre als sie uns zu sich rief. Seit Wochen lag sie in ihrem Bett. Ihr Gesicht war blass und eingefallen. Sie hatte seit Monaten kein Blut mehr zu sich genommen.
Unsere Mutter sagte es sei an der Zeit unserem Vater zu folgen und das Leid das sie mit sich trug zu beenden. Sie könne es nicht ertragen wie ihre Söhne heranwachsen und vor ihr verscheiden würden.
Meine Brüder baten sie, ihnen als Andenken die ewige Jugend zu vermachen.
Ich für meinen Teil wollte dies nicht. Ich wollte nicht mit Ansehen wie meine Mutter von mir ging.
Doch ich war der Jüngste und unterwarf mich dem Willen meiner Brüder.
Und so küsste sie uns ein letztes Mal. Ihr Biss entfachte ein Inferno in meinem Körper welches ich bis heute nicht vergessen habe..“
Er ballte seine Hände und biss die Zähne zusammen.
„Auch meine Brüder ereilten die Flammen. In unserer Verzweiflung schlugen auch wir unsere Zähne in den Körper unserer Mutter, die sich nicht wehrte du keinen Ton von sich gab.
Wir löschten das Brennen welches wir uns von ihr gewünscht hatten mit ihrem Blut. Und selbst im Tode blieb sie die schönste Frau Englands. Ihr nun völlig lebloser und zerrissener Körper zerfiel beim ersten Strahl der Sonne zu Asche.
Meine Brüder waren von Geburt an von bösartiger Natur. Victor war gerissen und besaß gewandte Fertigkeiten. Winston hingegen war ein Haudegen. Er ließ die Kraft die er hatte wahllos an allem und jedem aus. Nachdem wir Drei nun endgültig verwaist waren, hielten sie es für ihre Aufgabe die Rasse zu der wir fortan gehörten zu schützen und zu stärken. Auch sie ergriff die Herrschsucht.
Ich jedoch flüchtete in Gossen der Stadt. Das was ich war, verabscheute ich mehr als alles andere. Doch konnte ich mich nicht gegen diesen Durst wehren und tötete ebenfalls. Ich tötete Huren, Bettler, Kranke und undankbares reiches Volk. Ich nahm Leben, die nimmer mehr Rettung gefunden hätten. Auch wenn dies mein Gewissen nicht erleichterte.
So lebte ich einige Jahre bis meine Brüder mich aufsuchten und fanden.
Ein unvorstellbarer Zorn beherrschte sie. Ein Mann namens Eliazar ließ ihnen einen Buch zukommen in welchem die Geschichte die ich dir soeben erzählte verzeichnet war.
Es war eine Art Stammbaum den man uns mit auf den Weg gab.
Doch waren nicht ihre Namen die letzten an der Baumkrone sondern der meine.
Nach unserer Mutter, war angeblich ich es, der sowohl geerbt als auch eine eigene Gabe empfangen haben solle. Meine Brüder unterwarfen mich abermals aus Wut als die Ältesten von uns dreien nicht fähig und ebenbürtig gewesen zu sein ein eigenes Geschenk zu erhalten.
Das Aurensehen, die Druckwellen und die Macht unserer Mutter hatten sie zwar geerbt, aber dort hörte für sie die Erbreihenfolge auf.“
„Welche Gaben besitzt du?“
Ob ich sie ebenfalls hatte?
„Ich suchte nach Eliazar um mir selbst genau diese Frage zu beantworten. Wieder entfloh ich meinen Brüdern. Eliazar lebte in den Höhen eines rumänischen Berges.
Er war 10 Jahre alt und der Sohn Timisbóas. Nach dem Tod seines Vaters verfolgte er die Vampire und verzeichnete ihre Evolution bis hin zu meiner Wenigkeit. Dieses Kind lehrte mich das Anwenden und die Kontrolle meiner Fähigkeiten. Ich lernte schnell die Auren der Lebewesen um mich herum wahrzunehmen und auch die Druckwellen erlernte mein Geist zügig.
Die Gabe meiner Mutter allerdings bereitete mir Schwierigkeiten. Eliazar sagte er habe sie nur ein einziges Mal leibhaftig gesehen. Er hatte Rasmus bis nach England verfolgt und kannte somit auch das Geheimnis meiner Mutter.
Ihr war es vergönnt über die Körper von Menschen und Tieren zu herrschen. Sie habe wohl einer Hure damit das Leben gerettet in dem sie einen Freier lähmte bevor er der Frau die Kehle abschnüren konnte.
Ich versuchte mich zunächst an Tieren. Doch über den Willen anderer Lebewesen zu herrschen missfiel mir. Eliazar half mir mich zu überwinden und lehrte mich das Lenken fremder Körper.
In den Bergen Rumäniens gelang es Eliazar und mir auch meine eigene Gabe zu entdecken.“
Wieder machte er eine Pause.
„Die bisher mächtigste aller Gaben.“
Er sah mich kurz an bevor er den Blick wieder abwandte und zum Fenster hinaussah, welches ebenfalls wie alle anderen Fenster durch Vorhänge verdeckt war.
„Ich bin fähig Dunkelheit und Schatten in Materie zu wandeln. Die Dunkelheit ist für mich greifbar, ich kann sie fühlen, steuern und zu einer Waffe werden lassen. Dunkelheit kann in meinen Händen schärfen schneiden als eine Klinge, höllischer Brennen als jede Flamme und dicker und härter sein als jede erdenkliche Mauer auf Erden. Ich verließ Eliazar, da ich wusste dass ich für ihn den Tod bedeutete. Meine Brüder hatten nicht aufgehört nach mir zu suchen und in den Wäldern Leons fanden sie mich und brachten mich nach England zurück.
Sie benutzten mich, meine und ihre eigenen Gaben um ihr eigenes Imperium zu schaffen.
Sie verwandelten Menschen und hielten sie als Lakaien. Victor und Winston jedoch mussten einsehen, dass sie nur herrschen konnten, wenn das Land sie nicht kannte und ihre Macht nicht unnötig fürchtete. Die Vampire begannen von nun nur noch als Sage im Volke zu leben.
So lebte ich Seite an Seite mit meinen Brüdern in der Gewissheit die mächtigsten Wesen aller Zeiten zu sein. Sie fanden sich nie damit ab, dass ich es war, der stärker war. Victor nutzte meine Gutmütigkeit aus und machte mich zu seiner Waffe. Ich vernichte Feinde die ahnten was wir seien und war für meine Brüder wie ein Schild. Jeden Bauernaufstand schlug ich nieder. Wie ein Sturm löschte ich ihre Fackeln und ließ ihre Körper einander niedermetzeln.
Während der Zeit der Weltkriege, die auch Großbritannien ereilten gelang es mir erneut zu flüchten. Der Krieg spülte mich an die Küste Amerikas, wo ich seit dem verstecke. Vor mir selbst und meinen Brüdern. Das was ich dir in jener Nacht angetan habe ist schlimmer als all die Dinge die ich je zuvor getan habe.“
Er hatte mich zu einem Vampir gemacht. Ich besaß also ewige Jugend, Kraft, Schönheit und.. Gaben?
„Everett?“, hauchte ich ihm entgegen.
„Ja?“, fragte er ohne den Blick vom Fenster zu wenden.
„Habe ich ebenfalls Gaben?“, fragte ich.
Seine Augen kehrten wieder zu mir zurück. Er sah mich an.
„Ja. Ich habe dir mein Blut gegeben um mich selbst zu erlösen. Du bist von nun an das mächtigste Wesen auf Erden.“
Er weinte, aber ich sah keine Träne.
„Es tut mir leid.“, fügte er hinzu.
Plötzlich hatte ich Angst- große Angst.


„Was.. heißt das für mich?“
Der nächste Schock den mein totes Herz verkraften musste.
Wenn nicht schon vorher, hatte es bei diesem den vernichtenden Infarkt erlitten.
„Sie werden nach dir suchen und nicht ruhen bis sie dich haben.“
Er weinte immer noch tränenlos.
„Wer sind ‚sie‘“?
„Meine Brüder und der Rest der ‚neuen‘ Elite.“
„Aber woher wissen sie von mir? Ich denke du bist vor ihnen geflüchtet?“
„Das mag sein, aber die Geburt eines so mächtigen Vampires verstrahlt eine Aura quer über den Globus. Sie mögen mich nicht gefunden haben, aber spätesten jetzt wissen dass es dich gibt und womöglich sogar wo wir sind.“
Seine Brüder. Ich kannte sie nicht einmal. Sie waren fiktive Figuren aus Everett’s Erzählungen, die jetzt auf der Jagd nach mir waren. Sie suchten mich nicht, sie jagten mich.
„Was genau wollen deine Brüder von mir?“
„Deine Macht. Victor und Winston brauchen dich um ihre Stellung zu halten. Das, was du von mir erhalten hast, macht dich zur gefährlichsten Waffe der Welt. Eine Waffe die sie sich um alles in der Welt zu Nutzen machen wollen.“
„Aber.. wenn ich nicht will. Ich will nicht. Ich will nicht!“
Die anfängliche Begeisterung über mein neues aufregendes Dasein schwand nun gänzlich.
Zu etwas auserkoren zu sein mag sich verdammt gut anhören- aber auf eine Hetz hatte ich dabei keine Lust. Jetzt verspürte ich nur noch Angst- pure Angst. Die Gaben die ich angeblich hatte schienen auch gleichzeitig mein endgültiges Todesurteil zu sein.
Die unbekannten fiktiven Brüder aus der Geschichte waren die bösen Hexen und Zauberer die kleine Kinder einfingen und fraßen oder ihnen bei lebendigem Leibe das Herz herausreißen wollen- und sie wollten mein erstarrtes Herz.
Ich wollte das alles plötzlich nicht mehr.
„Du wirst keine Wahl haben. Ein Vampir kann nur durch die Kraft eines anderen vernichtet werden. Und solange du lebst, werden sie nicht ruhen.“
Seine Stimme wurde wieder ernster und die nicht geweinten Tränen versiegten.
„Dann tu was! Mach es rückgängig. Ich wollte schon einmal sterben und jetzt hinder mich nicht noch ein zweites Mal daran!“
Hin oder her. Dieses Leben wollte ich nicht. Der Hokuspokus um diese Gaben, die Jugend, die Kraft, die scharfen Sinne- ich wollte sie nicht, wenn ich dafür alle Ewigkeiten in Angst und Schrecken verbringen müsste.
„Es tut mir leid. Aber ich konnte dich damals nicht in den Tod schicken und ich werde es auch heute nicht tun.“
Jetzt klang er emotionslos und das machte mich rasend.
„Verdammter Egoist! DU hast mich verflucht und DU wirst mir gefälligst helfen etwas dagegen zu unternehmen!“
Ich sprang abrupt vom Stuhl auf. Er fiel hinter mir mit einem lauten Knall auf das Parkett. Ich musste zucken, es war zu laut für meine empfindlichen Ohren.
„Mistkerl“, stieß ich aus, um vom Knall abzulenken und den Rest meiner Wut Preis zu geben.
Ich wandte mich um und war wieder innerhalb eines Augenaufschlags im Nebenzimmer.
Im Zimmer machten meine Füße einen leichten Satz und ich schwebte förmlich auf das Bett zu, auf dem mein Körper mit unvorstellbarer Eleganz landete.
Selbst sich vor Wut aufs Bett zu werfen schien nun ansehnlich und grazil zu sein.
Bei allem gut auszusehen hatte einen gewissen Reiz.
Nichts desto trotz war ich nicht nur wütend sondern auch verzweifelt. Zu verkraften ein Vampir zu sein, schien schon schier unmöglich und jetzt auch noch ein gejagter Hase zu sein?
Das wollte nicht in meinen Kopf.
In ihm herrschte gerade Leere und zugleich unheimlicher Druck.
Crystal, warst du? Was bist du? Was wirst du tun?
Ich konnte mir meine Frage einfach nicht beantworten.
Ich vergrub mein Gesicht im Kissen und wartete darauf vor Verzweiflung los zu heulen.
Die Verzweiflung kam, aber die Tränen nicht.
Konnten Vampire denn nicht weinen? Mein Gesicht blieb dennoch weiter ins Kissen gepresst.
Da ich nicht atmen musste war das auch recht angenehm.
Ich hoffte auf irgendetwas das mich aus meiner Situation holte. Tränen, Schlaf.. Everett.
Er saß unverändert im Nebenzimmer, ich konnte ihn seufzen hören.
Ich fühlte mich plötzlich schwach und müde. Das Kratzen und Brennen in meiner Kehle, dass mich schon seit meinem Erwachen begleitet wurde stärker und nervender.
Der Geruch von Blut stieg mir in die Nase. Neben dem Bett lag nach wie vor das zerschlissene Kleid.
Ohne es wirklich bemerken schwang ich mich vom Bett und stürzte mich auf den Fetzen. Ich nahm ihn in den Mund und saugte die vertrockneten Reste meines eigenen Blutes auf.
Als mir bewusst wurde was ich da gerade tat kam ich mir erbärmlich vor und konnte trotzdem nichts dagegen tun.
Ich verspürte einen Lufthauch hinter mir und augenblicklich hockte Everett neben mir der sanft seine Hand auf meinen Rücken gelegt hatte.
Ich sah ihn an mit dem Fetzen im Mund. Meine Reißzähne hätten sich fest in ihm verbohrt.
„Du hast Durst, nicht wahr?“
Ein Nicken war meine Antwort.
Er lächelte mich an. Nahm mit seiner freien Hand die meine und wir standen auf. Er löste sie wieder und nahm mir die Reste des Kleides aus den Fängen. Ich schwieg, mein ganzer Körper zitterte mittlerweile.
Ich hatte Durst. Oh ja und was für welchen.


„Komm, es wird Zeit zu jagen.“
Er lächelte immer noch.
Mir hingegen war weniger nach Lächeln zumute. Meine Kehle brannte und ich zitterte am ganzen Leib. Überall um mich herum roch es süß mit einer Note Kupfer nach meinem getrockneten Blut.
Alles in mir lechzte und schrie danach. Alle meine scharfen Sinne schienen plötzlich verrückt zu spielen. Ich sah Rot.
Ich schaute Everett mit meinen aufgerissenen Augen an und nickte.
„Ja.“, ertönte ein furchterregendes Hauchen aus meiner Kehle.
War ich das? Meine so schillernde Stimme klang wie das Krächzen einer Hexe.
Erschrocken schlug ich mir die Hände vor den Mund. Für einen kurzen Augenblick war der Gedanke an das Brennen verschwunden.
Everett kicherte.
„Du musst ja einen unvorstellbaren Durst haben meine Liebe.“
Sein Kichern steigerte sich. Fand er das etwa lustig? Die Stimmungsschwankungen dieses Mannes brachten mich langsam zur Weißglut.
Er ergriff meine Hand und wir verließen das Nebenzimmer, gingen durch den Raum mit der riesigen Tafel hinein, in den Flur und vorbei an einigen anderen verschlossenen Türen. Vor der vermeidlichen Haustür machten wir halt.
„Warte hier, ich werde noch schnell ein paar Dinge zusammenpacken bevor wir aufbrechen.“
Und eh ich antworten konnte war er wieder verschwunden. Ich hörte die Luftschnitte die er erzeugte, während er wie ein Blitz durch das Appartement huschte, von Zimmer zu Zimmer eilte und klappernde Geräusche machte, wenn er etwas zusammentrug.
Kaum eine halbe Minute später war der Blitz wieder neben mir.
Er trug eine große und wahrscheinlich sündhaft teure Ledertasche um die rechte Schulter.
Erst jetzt fiel mir auf was für einen eleganten Anzug er trug. Schwarze Hose, weißes Hemd, schwarze Weste und eine dezent gestreifte graue Krawatte. Das Jackett hatte er sich lässig über die Schulter geworfen. Dieser Mann sah durch und durch umwerfend aus. Und eigentlich war er ja gerade mal 22, plus die Jahrhunderte, die er als Vampir verbracht hatte.
Wie alt ich wohl eigentlich war? Dem Spiegel zu Folge vielleicht knappe zwanzig.
Ich erwischte mich mit einem verlegenen Lächeln, welches Everett ungemein erwiderte.
Wusste er woran ich dachte?
„Melady, darf ich bitten..“, er machte eine winkende Bewegung in Richtung Tür die er gleichzeitig öffnete.
„..herzlich willkommen in New York.“ Er winkte nun mit einer Hand zur Tür hinaus.
„New.. York? Wir sind in N-e-w Y-o-r-k?!“
Wieder war der Durst kurz verflogen. Ich konnte es nicht fassen. Wir waren in New York.
Durch meinen Kopf rauschten Bilder vom Big Apple, vom Time Square, dem Rockefeller Center, dem Central Park. Ich roch Hot Dogs die gerade an Ständen auf der Straße verkauft wurden, einen schier unvorstellbar großen Mischmasch an Parfums und die stechenden Abgase der Autos und Taxen.
Vor meinem geistigen Auge entstand ein Bild, so bunt- nicht durch Farben. Es waren Gerüche, die es ausmalten. Ich sah die Stadt. Sie lebte, sie bewegte sich. Gerüche entfernten sich, kamen näher, zogen vorüber oder wurden einfach von Winden verweht.
Ich konnte den Knäuel bis in seine kleinsten Bestandteile zerlegen. Und mit klein meinte ich den Kaugummi den ein Mann gerade an seinen Schuhsohlen mit sich trug.
Doch über all das legte sich plötzlich ein anderer Geruch. Er stach heraus und lag über allem. Dieser Geruch übertönte mit einem Mal alles andere um mich herum. Ich schloss die die Augen und wollte dem Geruch, diesem Faden, folgen.
In Trance setzte ich einen Fuß vor den anderen und schwebte dem Ausgang förmlich entgegen.
Was mich das gerade gepackt hatte und nun leitete war das Meer aus Blut, das da draußen durch die Adern von Millionen floss. Dieser Strom der da draußen pulsierte, so warm, lebendig und rot. Jeder einzelne Tropfen davon.
Und ich wollte es mehr als alles andere.


Diese Massen von Blut die da draußen hinströmten, waren plötzlich alles, was das Brennen stillen konnten. Mein Körper bebte während er auf diesen Fluss zuging. Wieder setzte sich ein Fuß vor den anderen. Und mit jedem noch so kleinen Schritt kam der Geruch näher. Er wurde stärker- so stark das mein Geist nichts anderes mehr zuließ als ihn.
Doch etwas hielt mich. Es war seine Hand an meinem Arm.
„Warte, du kannst doch nicht einfach da hinaus spazieren und dich bedienen. Das ist nicht nur, nicht damenhaft, sondern auch schädlich für unsere Spezies.“
Seine Worte kamen recht dumpf in meinem Kopf an, aber ich verstand. Ich versuchte meinen Körper zum stehen bleiben zu zwingen. Doch er wollte nicht, er blieb einfach nicht stehen. Krampfhaft tat ich den nächsten Schritt und parallel wurde der Griff an meinem Arm fester. Ich sah Everett an, aber seine Gesicht war freundlich und gutmütig wie heut schon recht. Das machte mich plötzlich wütend. Ich wollte ihn loswerden. Denn nur er hielt mich von dem Fluss ab. Nur er ließ meine Kehle weiter brennen.
Mein Gesicht verzog sich und ich sah ihn mit Hass an. Er sollte mich loslassen, sofort.
„Lass mich!“, fauchte ihm das Monster in mir entgegen.
„Nein, und jetzt beruhige dich“, antwortete er unverändert gelassen.
Und das machte mich noch rasender.
Ich versuchte ihn abzuschütteln. Doch je mehr ich schüttelte, hatte ich das Gefühl, desto mehr verlor ich den Verstand und die Kontrolle über mich. Überall roch ich das Blut und ich wollte es.
Vor meinen Augen begann alles zu verschwimmen. Ich packte Everett’s Handgelenkt und versuchte es von meinem Arm zu lösen. Ich kreischte und kratzte, aber er ließ einfach nicht los.
Sein Arm war hart wie Marmor- meiner auch.
Ich schlug zu so hart und so oft ich konnte während das Inferno in meinem Hals wuchs und wuchs.
Wohin ich schlug konnte ich bald nicht mehr erkennen, ich sah förmlich rot.
Ich versuchte sein Gesicht ausmachen, fand es und traf es mit der rechten Faust. Ein kleiner Triumph machte sich in mir breit. Gleich würde ich im Strom und Fluss verschwinden.
Doch dann packte er mich plötzlich, drehte mich und hielt mich fest im Arm. Ich war an ihn gefesselt und versuchte nun umso mehr mich zu wehren. Aber ich konnte nicht, er war so stark wie ich. Jedes weitere Fauchen und Kratzen war vergebens. Der Triumph war also nur von kurzer Dauer.
Ich musste still halten. Und je länger ich still hielt, desto klarer schien auch mein Verstand zu werden.
Nach einer gefühlten Ewigkeit sackte ich an Everett’s Seite herab. Doch er hielt mich fest bevor ich auf dem Boden aufschlug.
Schwach und gepeinigt von dem Brennen sah ich ihn an.
„Es tut mir nach wie vor so schrecklich leid“, hauchte er mir weinerlich entgegen.
„Wird wohl nicht so einfach wie ich dachte, was?“, flüsterte ich ungewohnt.
„Nein.“


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Tag der Veröffentlichung: 19.04.2012

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