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Ein Projekt von Jörg Schmidt und Jens Böhme (Autor).


1. Kapitel



Meine Mutter



Die Mutter aller Frauen – Eine Vorgeschichte



Nicht, dass das jetzt falsch verstanden wird. Hier handelt es sich nicht um eine Radmutter oder ähnliches, sondern um eine weitaus größere Faszination. Es geht hier einzig und allein um die Frau unter den Frauen. Meine Mutter.
Bevor ich im Sumpf diverser Geschichten, vorwiegend mit weiblichen Inhalts und natürlich meiner Wenigkeit versinke, sollte ich mindestens in einem Satz die Überfrau aller Frauen erwähnen. Jenes weibliche Wesen, welches am Anfang allen männlichen Lebens steht:
Die Mutter.
Sie ist und bleibt die bedeutendste Frau im Leben eines Mannes, bevor er sich irgendwann und dann endgültig von ihr abnabelt. Dann, wenn er in die weite Welt hinaus zieht, um die eine, die ganz spezielle Frau zu finden. Oder auch mehrere.
Gestatten: Tim Schary. Ich bin Durchschnitt. Besser gesagt, ich war Durchschnitt. Unterer Durchschnitt und vielleicht bin ich es auch heute noch? Mein damaliges Menschsein, schon im zarten Kindesalter, war durchzogen von einem bedeutenden Minderwertigkeitskomplex. Es war ein Komplex von ganz besonderer Sorte. Dieses extreme Detail hielt stets an mir fest und nagte an meinem Menschsein, sowie an meiner Mannwerdung. Der Mann in mir konnte sich nicht entfalten und schuld daran war ... meine Mutter. Aber! Jetzt kommt das „aber“. Als ich irgendwann in das öffentliche Leben trat, ja regelrecht geworfen wurde, relativierte sich mein Minderwertigkeitskomplex, der sich vor allem im Beisein von Frauen zeigte. Später trat er dann nur so nebenbei, hier und da, ganz unmerklich wieder auf und erinnerte mich an alte Zeiten; an meine Kindheit.
In meiner Kindheit jedoch tauchte mein Minderwertigkeitskomplex täglich auf. Immer dann, wenn Frauen in mein Leben traten oder sich in mein Leben einmischten. Genau dann, wenn dieser Komplex zuschlug, erfasste mich mit schierer Überraschung eine völlig überwältigende Erkenntnis. Nämlich jene: Das ich die Frau als Frau erkannte. Ihre Existenz konnte ich einfach nicht mehr leugnen.
Das war zu jener Zeit, als mich in mitten meiner unschuldigen Kindheit diese anderen Wesen regelrecht in ihren Bann zogen. Es erwachte in und an mir ein Verlangen auf die andere Seite. Eine bis dahin mir ungekannte Neugier entfesselte sich und genau in diesem Zusammenhang gilt es meinen eigenartigen Minderwertigkeitskomplex zu verstehen.
Die Existenz der Frau, überhaupt der Frauen, veränderte sukzessive mein Leben; auch meinen Minderwertigkeitskomplex. Jedoch sollte der Zeitpunkt, die Transformation dieser mir mit auf den Weg gegebener Anlage, noch ein Weilchen auf sich warten.
Zum Anfang meines Lebens erfuhr ich keine große Anerkennung. Ich war ein Einzelgänger und kochte mein eigenes kleines Süppchen. Ich war ein Einzelkind, ein Muttersöhnchen, ein behütetes rohes Ei, ein Schwimmreifenträger der schlimmsten Sorte. Alles wurde mir in meinem Leben vorgegeben. Mein Elternhaus war sehr konservativ. Jedes Jahr meiner Entwicklung wurde geplant und somit gab es auch keine wesentlichen Höhepunkte von denen es zu berichten gäbe. Alles endete in einem Alltag der Routine.
Gefangen in dieser Tretmühle, in der Umarmung meines Elternhauses, in der fest geketteten Obhut meiner Mutter, packten mich auch keine Sehnsüchte nach mehr. Ich musste keine zwei bis fünfzig Meter beim Hochsprung überspringen, auch wollte ich kein Star werden. Vielleicht eine Art Superman, doch das behielt ich in meinen Träumen für mich. Auch suchte und brauchte ich damals nicht im Geringsten den andersgearteten Gegenpart des Mannes, die Frau. Nein.
Ich musste auch nicht in die Ferne Reisen, ich brauchte keine Million, ich lebte und atmete in meinem Kinderzimmer vor mich hin, das ich nicht einmal Aufräumen musste. Und das war gut so! – Dachte ich.
Doch irgendwann kam eine Zeit, da packten mich, hervorgerufen durch andauernde und übertriebene Behütung meiner Eltern und zusätzlich hervorgerufen durch das selbst gewählte Joch des Stubenhockers, des real existierenden Außenseitertums große Selbstzweifel. Selbstzweifel und Selbstmitleid gingen konform und da geschah etwas Sonderbares mit mir. Etwas mit dem ich nicht gerechnet hätte und meine Mutter schon gar nicht.
Da, genau da, kam etwas. Da kam irgendwer. Da erschien irgendjemand. Ein Gott, ein Mentor, der zugleich ein Mann, der ein Kerl war. Einer, wie du und ich oder eben nicht … wie du und ich. Weiß ich, wer diese Zeilen liest? Egal.
Dieser Gott auf drei Beinen war so gigantisch anders wie kein anderer, der mir bis dahin begegnet war. Götter gab es ja zu Hauff, ob in den alten Schriften, im Fernsehen, auf der Bühne oder am Kiosk um die Ecke. Ohne mit der Wimper zu zucken, schob sich dieser Gott zwischen mich und meine Mutter. Dieser Keil war Schicksal, dieser Typ wurde geschickt und sollte mein Leben im Nu verändern. Dieser Mann, der da erschien, führte die sukzessive Abnabelung von der Mutter aller Frauen herbei. Es war niemand anderes als Torben - Torben Großer.
„Nenn mich Großer Torben, mein Freund“, sagte er zu mir als wir einmal ganz ruhig und über die Zukunft sinnierend auf einer Bordsteinkante saßen. Er trank ein Bier Marke Radeberger und ich … eine Cola. Jene süße amerikanische Plärre, die dir nach Jahren des Konsums den Magen weg ätzt.
„Großer Torben?“, murmelte ich fragend und fand das gar nicht mal so schlecht. Denn unsere freundschaftliche Beziehung, in der wir uns nun schon seit einiger Zeit befanden, war eine Schüler-Lehrer-Beziehung, die ich ohne murren akzeptierte. Ich sah ihn an, er sah mich … nicht an. Ich fügte mich gern meinem Schicksal.
Torben Großer war der Mensch, der Mann, der alles hatte, was ich auch wollte. Nicht zu Letzt, weil er mir dafür die Augen öffnete. Er sah gut aus, er wusste was er wollte und ihm lagen die Frauen zu Füßen. Ich lernte ihn mit vollen 19 Lenzen auf dem Buckel kennen. Das war während meiner Studentenzeit. Torben nahm mich an seine Seite und erhob sich zum geistigen Mentor des kleinen Tim Schary - dem Kinderzimmerschary -. So begann er mich über die wichtigen Dinge in der Welt aufzuklären. Er zeigte mir das wahre Leben und er offenbarte mir, wie ich mit dem Mysterium Frau richtig umzugehen habe.
„Hör mal, mein Freund! Als erstes musst du umgestylt werden. So kann sich ja niemand mit dir sehen lassen, selbst ich nicht.“ Sagte er wie ein Vater zu mir und wusste auch sofort, wo es lang geht. Ja, da war er, der Wendepunkt in meinem Leben. Da war sie, na nicht „Sie“, ich meine „Sie - die Veränderung“ und Torben sprach weiter: „Und Tim!“
„Was ist?“ Ich kuckte ihn mit groß aufgerissenen Augen an.
„Das mit der Cola, das gibt sich auch noch.“ Diese Worte hatten etwas hart patriarchalisches, aber zugleich auch eine Art befristete Duldung. So als müsse man dem Säugling langsam von der Milch entwöhnen, um ihn langsam fit für richtige und nahrhafte Flüssigkeit zu machen.
Nach seinem -Hör mal, mein Freund!- waren wir zusammen zum Friseur gegangen. Besser gesagt zu einer Friseuse, einer Frau, die er wieder von sonst woher kannte oder vor der er ebenfalls wieder erschienen war. Warum wieder? Nun, weil nicht einfach mal so nur vor mir erschien, sondern wie sich später herausstellte auch überwiegend gern vor dem weiblichen Geschlecht. Diese Friseuse jedenfalls, eine seiner Abermillionen Freundinnen, sollte prompt einen anderen Menschen aus mir machen beziehungsweise meinen Haarschopf der gängigen Mode anpassen.
„Was würdest du mir empfehlen“, fragte ich Kerstin, so hieß sie.
„Na die nicht!“ antwortete sie sehr direkt und zeigte auf meinen derzeitige Frisur. Dabei hatte sie so einen seltsamen Blick drauf, wie: Da ist ja Hopfen und Mals verloren. Torben, die Föhnfrisur, hatte nur herzhaft gelacht und das ausgiebig, so dass sich zu diesem Zeitpunkt meine Komplexe, die ja noch vehement vorhanden waren, doch arg potenzierten. Vielleicht war das auch schon eine erste Lektion? Mich erst mal richtig fertig zu machen, um mich danach für den großen Kampf im Liebesleben wieder aufzubauen. Mein Ego wäre dann um einiges besser als zuvor und gestärkt für die Ewigkeit. Vorwärts und Marsch! Vorher jedoch beäugten mich beide akribisch von allen Seiten und ließen sich eine Menge Zeit. Dann aber erhob Torben seine königliche Stimme zu seiner Konkubine und meinte: „Meine liebe Kerstin, mach mal was aus dem Jungen hier. Mach mal aus einem Bubikopf eine richtige Männermähne.“
Gott sprach und es wurde Licht. Besser gesagt mein Haupt wurde lichter. Nicht das mir die Haare ausfielen, sondern sie wurden mir abgeschnitten und nach eingehender Beratung und anschließendem Styling ging ein fremder Mann im Kinderzimmer meiner Eltern umher.
Das war der erste Schritt, der erste Tag meiner nun begonnen Lehrzeit bei Maestro Torben Großer.
Bis zu diesem Zeitpunkt war ich wie gesagt grundsätzlich blind gegenüber anderen Menschen. Sie interessierten mich nicht und es war mir egal, was sie von mir hielten. Stets war ich wohlbehütet gewesen in mitten des alten Lebens, innerhalb der reglementierten Welt meiner Eltern. Doch glaube ich, dass ich mich nun, nach dem Friseurbesuch, in einer Art embryonalen Stadium meines beginnenden wahren Lebens befand. Ich musste letztlich nur noch den Uterus durchstampfen. Gefolgt vom obligatorisch Klaps auf den Po, der mich laut aufschreien lässt und schon bin ich Vollmitglied im Kreise der wahren Männer.
Vielleicht hätte ein kleiner Schlag auf dem Hinterkopf mehr Wirkung gezeigt? In vielerlei Hinsicht vielleicht und ich wäre schon wesentlich eher aus meinem Komplex erwacht? Aber man will ja nicht gleich alles am Anfang schon versauen.
Das dachte sich bestimmt auch Torben und so ging er es nach der Haarenthauptung langsam an.
Meine Eltern hatten mich bis dato und vor allem in letzter Zeit unter regelrecht absolutistischer Kontrolle. Die Welt außerhalb meines Kinderzimmers gab es nicht; nicht wirklich. Ich schwamm voll auf der Welle meines Vaters und meiner Mutter mit. Der Ausbruch, vor allem aus dieser suggestiven Umklammerung meiner Mutter -Meine Junge die Welt da draußen ist schlecht und ungerecht! Hier bei uns ist es sicher. Mach mal lieber das was Mutti sagt!- musste aber irgendwann geschehen.
Wenn auch spät, so kam er - der Ausbruch.
Ich platze nun mit dieser Frisur von Kerstin zum zweiten Mal durch den Uterus. Diesmal aber durch den, der Alten Welt, hinein in eine Neue, mir unbekannte und im höchsten Grade verlockende Welt. Diese Veränderung führte niemand anderes als Torben Großer herbei.
Oh Verzeihung! Ich meine natürlich den GROßEN Torben.
„Sag mal ist dir das nicht zu blöd, wenn dir deine Mutter immer alles mundgerecht macht und dabei dir dein Leben vorschreibt?“ Fragte er mich als wir am Küchentisch saßen und meine Mutter gerade etwas aus der Wohnstube holte.
„Nein. Wieso sollte es? Ist doch gut so. Bist du etwa neidisch oder was?“
„Ich! ... Und neidisch! Neeeee, mein Lieber, da kennst du mich noch nicht richtig“, brauste er etwas auf.
„Was willst du dann damit sagen?“ Fragte ich.
„Hör mal, Tim!“ Holte er aus. „Ich verzichte gern auf jegliches ‚Hinterhergeräume’ von sonst wem, also auch Verzicht auf das Luxushotel Mama, aber dafür bin ich mein eigener Herr. Dafür bin ich frei und kann tun und lassen was ich will. Niemand quatscht mir rein.“ Er biss genüsslich in eine der Schnitten, die meine Mutter so mundgerecht und mit verschiedenem Belag für uns fertig gemacht hatte, während sie selbst wieder in die Küche zurück kehrte.
„Nein Tim, das ist nicht mein Ding. Auch wenn diese Schnittchen hier“, kauend zeigte er auf den Teller voller belegter Schnitten, „fantastisch schmecken.“ Dabei drehte er sich anschließend um, hin Richtung meiner Mutter, und wiederholte sich. „Wirklich fantastisch Frau Schary, richtige Sahne die Dinger!“
Was für ein Schleimer, dachte ich, fand es aber okay als ich die Freude sah, die sich in den Augen meiner Mutter über das Kompliment wieder spiegelte.
„So bin ich doch lieber jemand“, fuhr er fort, „der jeden Abend trockenes Brot isst und sich dem kulinarischem Genuss fantastischer Schnittchen nur gelegentlich hingibt, also dann, wenn es einem zufliegt, dann, wenn man eingeladen wird oder einem einfach danach ist. Vor allem“, er biss wieder mit voller Inbrunst in die dicke Schnitte mit belegtem Ei, drei Scheiben Wurst, Tomate, Gurke und zarten Salatblättern, getüncht in eine Cocktailsoße, „... vor allem wenn ich diese Gaumenfreude bei einer Künstlerin im Zubereiten von Hochgenüssen erleben darf.“ Dann wandte er sich wieder mir zu, während meine Mutter über seine Worte lächelte. Ich konnte dieses Lächeln nur nicht richtig deuten. Es hatte so etwas von überraschter Freude, errötendem Scham und überlegenen ungläubigem Lächeln gehabt. Doch es gefiel ihr anscheint und sie labte sich an Torbens Kompliment.
„Wenn auch selten, dann jedoch speise ich mit einer unvergesslichen Leidenschaft“, erklärte er. „Davon kann ich dann bis zum nächsten Festmahl zehren. Aber ...“, und das betonte er wieder lauthals, „MANN ist sein eigener Herr!“
„Eigener Herr, welch große Worte“, konstatierte meine Mutter und werkelte nebenbei in der Spüle.
„Ja, Frau Schary! Mir ist das wichtig und ich denke eigene Entscheidungen zu treffen und eigenen Mist auszubaden, trägt unweigerlich zu einer selbstbestimmten und guten Entwicklung bei.“
„Wie alt bist du noch mal, Torben? Um über das Leben so … derart bescheid zu wissen“, fragte meine Mutter ihn und zog dieses so ein wenig in die Länge. Dabei verbarg sie keineswegs den ironischen Unterton, der in ihrer Stimme mitschwang.
„25! 25-einhalb, Frau Schary“, antwortete er und redete im Kauen, „aber das tut ja nichts zur Sache. Eine gesunde Einstellung zu den Dingen ist das A und O. Oder was meinen sie, Frau Schary?“ Mit vollem Mund nuschelte Torben ein wenig. Ich dagegen? Hielt mich zurück und wartete auf eine mögliche Antwort meiner Mutter und trank wie immer - Cola.
„Fünfundzwanzig, soso.“ Meine Mutter kam zurück aus der Wohnstube, lief um den Tisch und sah dabei kurz zu Torben.
„Fünfundzwanzigeinhalb.“ Berichtige dieser immer noch kauend.
„Oh ja, fünfundzwanzigeinhalb …“, wiederholte sie etwas überheblich, „… und da hast du so eine, so eine ...“, sie suchte nach dem richtigen Wort und fand nur, „... so eine vernünftige Einstellung.“
„Hat das was mit Vernunft zu tun“, fragte ich nun meine Mutter.
„Im weitesten Sinne schon. Wer glaubt an seinen eigenen Fehlern wachsen zu können und das Kreuz hat sie selbst zu machen und auszubaden, trägt schon eine gewisse Vernunft mit in sich.“
„Danke Frau Schary!“ Begrüßte Torben diese Einschätzung und sah sich wieder einmal mehr als mein Mentor bestätigt.
„Ja ja, Hut ab, Torben. Aber glaubst du zu wissen, alles was dir widerfahren wird ohne fremde Hilfe durchstehen zu können?“ Meine Mutter drehte sich um und blickte ihn nun direkt in die Augen und erwartete eine Antwort.
„Wenn ich ehrlich bin, nein, aber das hat ja jetzt nichts mit der Freiheit, die ich meine zu tun. ... Also ihre Schnitten sind jedenfalls spitze, Frau Schary.“ Mit einem überlegenem Schmunzeln drehte sich meine Mutter zur Spüle und überlies Torben wieder die Gesprächsführung zwischen uns beiden.
Galant, dachte ich damals. Hat er doch wieder einmal die Kurve bekommen und so das Thema der Freiheit meiner Mutter langsam zugeführt und mir unterdessen eine weitere Lektion erteilt. Nämlich die Lektion, dass eine eigene Meinung, richtig eingepackt, niemanden verletzen oder auf andere Gedanken bringen kann. Gedanken, die wie hier, womöglich mit der Abnabelung Tim Schary’s vom Scharyschen Haushalt zu tun haben könnten. Außerdem noch, das schien etwas Fundamentales zu sein, dass Komplimente bei Frauen essentieller Natur waren und sein mussten, wenn man mit ihnen in friedlicher Koexistenz leben wollte. Genau das merkte ich mir an jenem Tag. Denn wenn schon ein einfaches Kompliment bei der Mutter aller Frauen, meiner Mutter, so derart ankommt, was würde es bei einer anderen Frau wohl anrichten?
Ich lies diese Frage unbeantwortet in meinem Kopf verhallen.
Torben Großer jedenfalls hatte enormen Einfluss auf mein Elternhaus. Auch auf meine Mutter, die eine typische liebenswerte und überfürsorgliche `Mama` aus der DDR war. Ich nannte sie `Mama`, schließlich war sie ja meine Mutter. Zusammen mit ihr und meinem Vater war ich in der DDR aufgewachsen und da beide Elternteile mehr der Jahre vom real existierenden Sozialismus mitbekommen hatten als ich, besaß auch meine Mutter das gewisse Etwas jener DDR-Mütter. Jenes gutmütige Element der uneingeschränkten aufopfernden Fürsorge, was einer lieben DDR Frau auch noch nach der Wende anhaftete und von so manchem Mann schamlos ausgenutzt wurde. Natürlich will ich diese Fürsorge und jene Lieblichkeit nicht nur den Ostmamas zusprechen, nein, sicherlich gibt es auch hier und da eine Westmutti, die ähnliche Charakterzüge aufweist. Aber, man muss schon realistisch bleiben! Realsozialistisch. Meine Mutter gehörte zu einer Generation von `Mamas`, die ein ganz anderer Schlag von Müttern waren als jene von heute. Sie war eine jener Muttis, die die Schnittchen in die Freundesrunde des Kinderzimmers hereinbrachte und dann wieder verschwand ohne sich groß einzumischen, wenn es keinen Streit gab. Das wusste Torben und hatte mich demnach von Anfang an auch entsprechend kategorisiert. Tim Schary. Marke: Muttersöhnchen.
Durch seine Sicht der Dinge, durch diese neu erfahrende Weltsicht, wollte ich wie er einfach nur weg. Weg von zu Hause, weit weg, überall hin und ebenfalls die so genannte `Freiheit` erlangen.
Die Bundeswehr kam mir da gerade ganz recht, aber irgendwie sollte es nicht sein sollen. Zu jeder Musterung hatte ich einen Krankenhausaufenthalt. Grund war ein Kreuzbandriss, der mich dann nach einigem hin und her letztendlich ausmusterte. Somit kam es, dass ich weiterhin in der Umarmung meines Kinderzimmers verweilte. Soldat spielen, fand also nur im eigenen Heim statt. Das dann auch im Takt fünfe gegen einen, da mir zu dieser Zeit auch die Frauen körperlich noch nicht so wohl gesonnen waren, wie in späterer Zeit.
Der Vorteil, der dabei heraus sprang, war, dass ich mich beruflich weiter entwickeln konnte. Ich gewann ein Jahr und legte mir ein finanzielles Polster zu, das mir irgendwann die Möglichkeit geben sollte mich von meinem Elternhaus abzunabeln. Zur meiner Studienzeit gelangte ich dann aus eigener Initiative an einen Job als studentische Hilfskraft in der hier größten ansässigen Medienfabrik. Diese erste Eigenverantwortung und Selbstbestimmung in der Medienfabrik behielt ich strikt bei. Auch wenn es mir manchmal schwer fiel, ich traf meine eigenen Entscheidungen. Meine Mutter durfte in dieser Hinsicht kein Mitspracherecht haben und nicht den geringsten Einfluss geltend machen. Auch nicht auf Seiten meiner Vorgesetzten. Geschickt hielt ich meine Mutter von wichtigen Menschen in meinem Berufsfeld fern und lies hier und da mal wichtige Entscheidungen durchsickern, wenn sie schon längst gefallen waren.
Fortwährend zu dieser Zeit und später an gewissen Punkten meines Lebens immer wieder erwischte mich doch wieder mal dieser allzeit präsente Mutter- und Minderwertigkeitskomplex. Dieses mütterliche Damoklesschwert, das Klein Schary doch behütet werden muss, das er doch einen und vor allen den richtigen Weg gehen sollte und das dieser Weg, natürlich von meiner Mutter, kontrolliert und beeinflusst werden konnte. Dieses Schwert schwebte über meinem Kopf bis eben zur erwähnten Ankunft von Torben Großer.
Dieser schreckliche Mutterkomplex war auch Schuld daran, dass ich später bei so manchen Frauen immer wieder aufs Neue abgehauen bin. Mich ihnen ganz und gar hinzugeben, versetzte mich in Angst. Jedes Mal ereilte mich dann eine Revolution im Inneren meiner selbst und die Gefahr in alte Abhängigkeitsmechanismen abzudriften und das Gleichgewicht zu verlieren, es erhöhte sich vehement mit jedem zusätzlichen Argument, dass einer erneuten Umklammerung entsprach. Dazu aber später mehr.
So zeichnete sich nach und nach eine kontinuierliche Veränderung in meinem Leben ab, die sich so dahin zog, wie sich eben Veränderungen hinziehen. Mal etwas schneller, dann wieder etwas langsamer
Obwohl noch immer das Kinderzimmer der Mittelpunkt der Welt, meiner Welt war, so war doch die Abnabelung von zu Hause nicht mehr aufzuhalten und die Frau aller Frauen musste sich gegen den von sonst-woher-gesandten Torben Großer geschlagen geben. Nur noch mit kleinen Vetos konnte die brachiale Entwicklung eines Kinderzimmerhelden, eines Jungen zum Manne, verzögert werden.


Impressum

Texte: © Jens Böhme
Tag der Veröffentlichung: 22.03.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Eine Leseprobe für Literaturagenten und Verlage

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