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1


Es war mitten in der Nacht, bei Vollmond, in der Wüste Arizonas und das Atmen fiel mir schwer.
Ich spürte, wie die Luft um mich herum immer kühler wurde. Die Klapperschlange, die mich gebissen hatte, war schon lange verschwunden und ich spürte, wie sich etwas veränderte. Anstatt dass das Gift sich in meinem Körper verteilte und mich tötete, spürte ich, wie es langsam aus meinem Körper wich

.
Als der Morgen graute und man bereits die Hitze des Tages ahnen konnte, lebte ich noch immer und fühlte mich stärker und jünger als je zuvor- dabei war ich gerade mal 17.
Was war nur mit mir, dass ich mich trotz des Gifts, das mich eigentlich töten sollte, so stark fühlte? Ich wusste es nicht und wahrscheinlich würde ich es nie erfahren, aber es war ein tolles Gefühl, ein erhebendes. Ich erhob mich vom sandigen Erdboden und blickte der Sonne erwartungsvoll entgegen.
„Wie fühlst du dich, Julia?“, hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir.
Blitzschnell und ohne Furcht drehte ich mich um. Vor mir stand ein junger Mann, etwa 20, mit strahlend blauen Augen und schokobraunen Haaren. Sein Gesicht war freundlich, doch in seinem Blick lag Arroganz und unermessliches Selbstbewusstsein.
„Wer bist du?“, fragte ich ihn misstrauisch.
Er kam einen Schritt auf mich zu und sagte:
„Ich bin Ian.“
„Das sagt ja auch unglaublich viel über dich aus.“
Ich verdrehte die Augen, bevor ich meine nächste Frage stellte.
„Woher kennst du meinen Namen?“
Er lächelte mich eine Spur zu arrogant an.
„Ich kenne deinen Namen, weil ich dich kenne.“
Einen Moment lang sah ich ihn irritiert an, dann meinte ich:
„Aber ich kenne dich nicht.“
´Selbst wenn würde ich dich nicht ausstehen können, arrogante Typen sind einfach nichts für mich.´, dachte ich still bei mir, sagte es aber nicht laut, denn der Typ hatte etwas an sich, das mir sagte, dass ich besser vorsichtig sein sollte. Dass er gefährlich war. Ich starrte ihn an und überlegte, wie gefährlich er mir wohl werden konnte.
Es beschäftigten mich zwei Fragen: Wie kam er hierher und wie sollte ich hier wieder weg kommen?
„Die Tatsache, dass du mich nicht kennst, macht gar nichts.“
So schnell, dass ich es nicht sah, stand er direkt vor mir und zog mich so dicht an sich, wie es ging.
„Denn du wirst mich schon sehr bald sehr gut kennen lernen.“
Verärgert stieß ich ihn von mir.
Was bildete er sich eigentlich ein?!
„Und was, wenn ich dich gar nicht kennen lernen will

?!“, knurrte ich ihn fast wütend an. Er lachte, leise und irgendwie...unheimlich.
„Genau. Gut. Weil du auch so gut alleine zurück findest.“
Er lachte wieder dieses leise, unheimliche Lachen, das mir einen Schauer über den Rücken jagte.
„Ich kenne diese Wüste besser, als irgendjemand sonst, ich würde sogar mit verbundenen Augen aus dieser Wüste finden!“, meinte ich, drehte mich um und ging demonstrativ davon. Einen Moment lang sah er mir verdutzt nach, dann spürte ich förmlich, wie er grinste und mir folgte. Doch ich ignorierte ihn –bis er plötzlich neben mir lief. Abrupt blieb ich stehen.
„Okay, wenn du mich auf die Palme bringen wolltest, hast du es geschafft. Warum rennst du mir dann noch hinter her?“
Er lachte leise.
„Ich renne dir hinter her, weil du mich brauchst. Aus keinem anderen Grund. Weil du mich

brauchst.“
Ich biss mir vor Wut auf die Zunge, doch ich wagte nicht, ihm zu sagen, was ich dachte. Er strahlte so eine Macht aus, dass ich es nicht wagte, einen Streit mit ihm anzufangen. Der Typ machte mich wahnsinnig.
„Ich brauche dich nicht.“, war das Einzige, das ich mich traute zu sagen.
Schweigend gingen wir ein Stück. Doch ich hasste Langeweile und es gab so vieles, dass ich gerne über ihn wüsste.
Doch gab es etwas an ihm, dass mir Angst machte, weshalb ich kein Gespräch mit ihm anfing. Er schien sehr darauf zu achten, mich nichts von seinem wahren Ich sehen zu lassen, als ob er etwas verheimlichen wollte.
Was war es? Hatte es etwas mit mir zu tun? Und was wollte er überhaupt von mir? ER

war ein Geheimnis.
Als wir endlich redeten, hatten wir zwar über meine Familie gesprochen, aber über ihn selbst oder seine Familie hatte ich nichts erfahren. Ich war zu stolz, zuzugeben, dass es mich interessierte, was er verbarg. Aber ich war mir sicher, dass es eine ganze Menge war. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und suchte mir eine unscheinbare Frage aus. „Sag mal...wie alt bist du eigentlich?“
Er sah mich misstrauisch an.
„Warum interessiert dich das?“
„Ich wüsste wenigstens, ob wir vom Alter her zusammen passen oder nicht.“, meinte ich sarkastisch lächelnd.
Er sah mich mit einem merkwürdig verschleierten Blick an. Ich blinzelte verwirrt und der Ausdruck war wieder verschwunden. Ich verstand ihn nicht. Er verwirrte mich. Da es aber noch ein langer Weg war und ich Langeweile verabscheute, erzählte ich ihm von mir. Ich hatte zwar das Gefühl, dass er schon alles wusste, aber das war mir egal. Ich hatte keine Lust mehr, mich über ihn zu wundern.
Irgendwann fiel mir auf, dass ich Durst hatte, großen Durst. Zum Glück war Phoenix nicht mehr weit. Die höchsten Häuser konnte ich bereits am Horizont erkennen. Als ich Ian darauf hinwies, verzog er das Gesicht. War ja klar.
„Passt dir irgendetwas nicht?“, fragte ich ihn gereizt.
So langsam hatte ich ihn und seine Launen satt.
„Die Stadt. Willst du nicht lieber bis zur nächsten warten?“, antwortete er mir direkt. „Oh, natürlich warte ich bis zur nächsten Stadt! Die ist ja auch bloß 2 Stunden Fußmarsch von Phoenix entfernt!“, fuhr ich ihn an.
„Was hast du gegen Phoenix?“, fragte ich ihn wütend.
„Geht dich nichts an.“, blaffte er mich an.
Eingeschnappt lief ich schneller.
„Mir egal, was du machst, aber ich kehre jetzt in die Zivilisation zurück. Auf Nimmerwiedersehen!“
„Mann, stell dich nicht so an! Du wirst es ja wohl bis zur nächsten Stadt schaffen!“, meinte er ebenfalls wütend, auch wenn er versuchte, es zu verbergen.
„Ich sagte doch bereits: Auf Nimmerwiedersehen.“
Ich lief einfach weiter und ließ ihn stehen.
„Du übertreibst gerade, weißt du das?“, rief er mir nach.
„Ich weiß ja nicht, was du für ein Mensch oder Monster bist, dass du nichts zu trinken brauchst, aber ich bin bloß ein Mensch! Du kannst gehen, wohin du willst!“
Er erwiderte nichts, hüllte sich in wütendes Schweigen und folgte mir.
„Wie gesagt, ich brauche dich nicht. Du kannst gerne in die nächste Stadt gehen.“
Meine Stimme klang sicherer als ich mich fühlte.
„Phoenix ist eine schöne Stadt und ich werde dort bleiben.“
„Wenn du wüsstest.“, murmelte er so leise vor sich hin, dass ich mir nicht sicher war, ob er es wirklich gesagt hatte.
„Ich weiß es aber nicht, da du es nicht schaffst, so zu reden, dass Normalsterbliche dich auch verstehen.“, warf ich ihm vor.
„Du würdest es sowieso nicht verstehen.“, murmelte er noch leiser, doch dieses Mal verstand ich ihn.
Ich wirbelte zu ihm herum.
„Probier es aus.“, forderte ich ihn auf.
Er warf mir einen eisigen Blick zu.
„Wenn du unbedingt nach Phoenix willst, werde ich dich wohl oder übel begleiten müssen – unter einer Bedingung.“
„Hatte ich nicht gesagt, ich brauche dich nicht? Aber nur mal so aus Neugier: Für was brauche ich dich?“
„Du brauchst mich, das wirst du schon noch selbst erkennen. Wenn ich dich begleite, gehen wir da hin, wo ich sage und wir gehen erst nach Einbruch der Dunkelheit in irgendwelche Läden, in denen wir jemandem begegnen könnten.“
„Warum?“
„Weil ich es so will.“
Wir starrten uns an. Schließlich gab ich mit einem Schulterzucken nach.
„Meinetwegen.“
Es regte mich auf, dass er so verschwiegen war und ich ihn nicht verstand. Je näher wir der Stadt kamen, desto nervöser und aggressiver wurde er.
Doch hatte ich keinen Nerv mehr übrig, um ihn nach dem Grund fragen zu können. Also dachte ich an meinen einzigen Erfolg des Tages :
Wir gingen nach Phoenix.
Ich musste lächeln. Als er mich lächeln sah, verfinsterte sich seine Miene noch ein bisschen mehr.
Doch das war mir egal.
Denn ich hatte mich gegen ihn durchgesetzt.

2


Als die Nacht bereits kühl und dunkel über Phoenix herein gebrochen war, verließ ich leise das leerstehende Haus, das Ian uns als Versteck ausgesucht hatte, ging in den nächsten Laden und kaufte mir endlich etwas zu Trinken.
Ich setzte mich in einem Park auf eine Bank und genoss das Glücksgefühl, das mich durchströmte, als ich die Sterne betrachtete. Die Nacht war viel zu schön, um mich über Ian zu ärgern oder wütend auf ihn zu sein. Ich spürte, wie die Dunkelheit und die Kühle der Nacht meiner von der Sonne verbrannten Haut und meiner Seele gut taten. Ich verlor allen Schmerz, den ich jemals gefühlt hatte. Ich liebte die Nacht. Doch seit wann?
Es war mir in diesem Moment egal. In diesem Moment war mir alles egal. Die Nacht sollte ewig andauern, am Besten nie wieder enden.
Plötzlich legte sich eine große, kräftige Hand von hinten auf meine Schulter. Mein Herz klopfte vor Schreck so schnell, dass ich das Gefühl hatte, es wolle mir aus dem Brustkorb springen. Doch ansonsten ließ ich mir nichts anmerken.
„Kannst du mir mal erklären, was du hier draußen machst?“, fragte mich Ian gezwungen ruhig und ganz dicht an meinem Ohr.
„Ich sitze hier und genieße die Nachtluft.“, antwortete ich ruhig, obwohl ich innerlich kochte.
Ian hatte diesen perfekten Moment zerstört!
Ian sprang über die Bank auf der ich saß, als wäre es nichts und ging vor mir in die Hocke, um mich ansehen zu können.
„Hast du eine Ahnung, wie gefährlich es hier für dich ist?“
Er sah mir direkt in die Augen und ich konnte seine Wut sehen.
„Es ist doch keine Menschenseele hier.“, murmelte ich leise und senkte beschämt den Kopf. „Ich spreche ja auch nicht von Menschen.“
Ich sah ihn fragend an, doch er schüttelte nur den Kopf. Er zog mich von der Bank hoch. „Komm, wir müssen hier weg. Ich hab noch was zu erledigen.“
Meinen fragenden Blick ignorierte er einfach.
Er zog mich an sich und legte mir einen Arm um die Taille. Das erschreckte mich mehr als sein plötzliches Auftauchen von vorhin.
„Wenn uns jemand begegnen sollte, tu so, als ob wir zusammen wären, sieh niemandem in die Augen und sprich auf keinen Fall.“
Ich nickte nur. Seine Anweisungen waren merkwürdig, aber anscheinend war er wirklich um mich besorgt und verheimlichte mir etwas Unheimliches. Außerdem war ich gerade abgelenkt, denn an der Bank, auf der ich vorhin gesessen hatte, stand nun eine Gestalt, die irgendwie...leuchtete.
Sie schien aus flüssigem Gold gemacht zu sein, ein langes Gewandt zu tragen und keine festgelegten Konturen zu haben. Und doch sah sie mich an. Ich hatte keine Ahnung, woher ich das wusste, doch ich war mir ganz sicher.
„Julia? Hast du mich gehört?“
Verwirrt drehte ich mich wieder zu Ian.
„Was?“
Er sah mich misstrauisch an, dann sah er zu der Bank zurück. Doch die leuchtende Gestalt war verschwunden.
„Komm weiter.“
Ian führte mich aus dem Park hinaus in eines der ärmeren Viertel von Phoenix. Was hatte er hier bitte zu erledigen? Doch das war nicht die einzige Frage, die mich gerade beschäftigte. Also ließ ich mich von ihm mit schleifen und achtete nicht weiter auf meine Umgebung. Ich war ganz in Gedanken versunken. Was war das für eine leuchtende Gestalt? Warum war sie dort gewesen? Und warum hatte sie mich so komisch angesehen?

3


Ian zog mich in irgendeinen dunklen Hauseingang eines halb zerfallen aussehenden Hauses, drückte mich an die Wand und bedeutete mir, still zu sein. Aufmerksam beobachtete er die Straße. Ich folgte seinem Blick – und hätte beinahe entsetzt aufgeschrieen. Doch Ian hielt mir zum Glück den Mund zu.
Auf der Straße waren zwei große, dunkle Gestalten, die sich suchend umsahen. Ian nahm seine Hand wieder von meinem Mund.
„Suchen die etwa uns

?“,formte ich lautlos mit den Lippen.
Ian biss die Zähne zusammen, bevor er mir ebenfalls lautlos antwortete.
„Nicht uns, dich

.“
Mit weit aufgerissenen Augen sah ich ihn erschrocken an.
Mich

?“, wisperte ich entsetzt.
Die beiden Gestalten fuhren zu uns herum. Ian zischte wütend, öffnete die morsche Tür und stieß mich hinein. Bevor er die Tür hinter sich zu schlug, konnte ich einen Blick auf das Gesicht einer der Gestalten werfen : Es war grau und emotionslos.
Entsetzt sah ich Ian an, doch er nahm meine Hand und zog mich einfach hinter sich her. „Ian, was ist hier los? Wer sind die? Und warum suchen sie mich?“
Doch Ian antwortete mir nicht, er führte mich immer weiter in das verfallene Haus.
„Ian!“
Wir waren ganz oben angekommen und Ian verbarrikadierte die Tür hinter uns. Ich lehnte mich keuchend an die Wand und sah ihn an.
„Entweder, du sagst mir sofort, was hier los ist, oder...!“
„Oder was?! Glaubst du, ich mach das hier aus Spaß?! Glaubst du, ich beschütze dich, weil ich nichts besseres zu tun habe?!“, fuhr er mich an, während er sich im Raum umsah.
„Aber vor wem, Ian?!“
Ich stieß mich von der Wand ab und ging auf ihn zu. Ich ignorierte, dass er mich angefahren hatte, dass er etwas über mich wusste und es mir verheimlichte und ich ignorierte seine Wut.
„Was weißt du über mich?“
Ich sah ihm in die Augen und wartete einfach. Er sah mich an.
„Verdammt!“
Er schlug mit der Faust gegen die Wand.
„Ich weiß, wer deine Eltern sind.“, antwortete er, ohne mich anzusehen.
Das war zu viel für mich.
„Oh Gott.“
Ich taumelte gegen die Wand und rutschte daran herunter.
Ich war, seit ich denken konnte, bei meiner Tante aufgewachsen. Die hatte, seit sie mich auf der Türschwelle ihres Hauses gefunden hatte, mit nichts außer einem Brief, nichts mehr von meiner Mutter gehört und wusste nicht, wer mein Vater war. Und jetzt tauchte ein Typ unter absolut merkwürdigen Umständen auf und behauptete, meine Eltern zu kennen. Zudem wurde ich von irgendwelchen komischen, grauen, unheimlichen Typen verfolgt, die irgendetwas von mir wollten.
Ein dumpfes Geräusch vor der Tür. Ich sah auf, erst zur Tür, dann zu Ian.
„Verdammt! Komm mit!“
Ian nahm meine Hand und zog mich hoch. Doch wir waren im obersten Raum eines dreistöckigen Hauses, es gab keinen Ausgang, bis auf die Tür, vor der die grauen Typen lauerten.
„Wohin?“ ,fragte ich Ian.
Ich hatte Angst, ich war seelisch überbelastet, es gab keinen Ausweg und ich ahnte, dass diese Typen keine Freunde waren. Ian sah sich um.
„Ich hoffe, du hast keine Platzangst.“
Ian sah mich an. Ich sah ihn an.
„Lüftungsschacht?“
Er erwiderte meinen Blick.
„Lüftungsschacht.“

„Ich kann es nicht fassen! Erst werde ich in der Wüste von einem Sturm überrascht, verliere die Orientierung, werde von einer verrückten Klapperschlange gebissen, überlebe es unglaublicher Weise, dann treffe ich dich, muss mit dir idiotische Vereinbarungen eingehen, werde von einem komischen Lichtwesen angestarrt, lande hier in diesem Haus, weil wir von grauen Typen verfolgt werden UND

muss durch einen Lüftungsschacht klettern!!“
„Hey, so schlimm ist das nun auch wieder nicht.“, meinte Ian hinter mir.
„Ach, wirklich?“ ,fragte ich mit zusammen gebissenen Zähnen.
„Es könnte schlimmer sein.“
Ich blieb stehen und drehte mich so gut es ging zu ihm um.
„Definiere ‚schlimmer’.“
„Sie könnten versuchen, uns hier irgendwie...“
„Sag’s nicht!“
„...raus zu zwingen!“
Er grinste mich an. Ich stöhnte genervt und verdrehte die Augen, dann krabbelte ich weiter. Ein Poltern vom Eingang des Lüftungsschachts ließ uns beide herum fahren. Qualm kroch langsam auf uns zu.
„Du musstest es ja unbedingt sagen.“
„Krabbel einfach weiter!“
Ich arbeitete mich so schnell ich konnte weiter vor, doch eine kleinere Explosion hinter uns ließ mich erneut herum fahren. Ich sah eine Stichflamme, die in unsere Richtung züngelte.
„Das ist nicht gut.“
Ich sah Ian an.
„Ach, wirklich nicht?!“
„Können wir das später ausdiskutieren? Sagen wir, wenn wir überlebt haben?“ Ich antwortete nicht und robbte weiter – bis ich an einen nach unten gehenden Schacht stieß. „Und was jetzt?“
Ich setzte mich so gut es ging in den Schacht, der geradeaus weiter ging.
„Abwärts.“
Ohne ein weiteres Wort schnappte er mich und ließ sich – mit mir – nach unten fallen. Erschrocken schrie ich, doch das interessierte ihn nicht. Nach einer schieren Ewigkeit landeten wir auf einem Haufen alter Lappen und müffelnder Matratzen.
„Alles okay bei dir?“, fragte mich Ian.
Ich wischte mir die Haare aus dem Gesicht und sah ihn an.
„Ich. Sitze. In. Einem. Müffelnden. Haufen. Von. Abfall!“
„Besser, als wenn da keiner gewesen wäre, oder?“
Er grinste mich an.
„Komm, lass uns verschwinden, bevor sie uns noch finden.“
Er nahm meine Hand, zog mich aus dem Lumpenberg und führte mich vorsichtig aus dem Haus.

Die Sonne ging bereits auf, als Ian und ich in das leerstehende Haus zurückkehrten. Er hielt noch immer meine Hand, als er die Tür hinter uns zuschlug. Erschöpft und total müde sank ich an der Wand auf den Boden.
„Wenn du willst kannst du oben duschen. Ich glaube, das würde dir ganz gut tun.“
Ian kniete sich vor mich.
„Okay.“
Ich streckte ihm meine Hand hin und er zog mich hoch. Ich schleppte mich die Treppe hoch und schlich ins Bad. Als ich in den Spiegel sah, erschrak ich. Meine kastanienbraunen Haare waren total durcheinander, ich hatte überall blaue Flecken und Staub. Ich sah schrecklich aus.
Als ich wieder aus der Dusche kam, fühlte ich mich besser, aber ich spürte auch, wie erschöpft ich war. Mit meinen alten Sachen bekleidet, die zwar etwas ramponiert und dreckig waren, aber sonst ganz okay, ging ich die Treppe runter. Ian hatte irgendwo ein Frühstück besorgt, ich wollte gar nicht genau wissen, wo oder wie. Ich nahm mir eine Scheibe Toast und hielt sie in der Hand. Trotz der Geschehnisse der letzten Nacht – oder gerade deshalb – hatte ich keinen Hunger. Ian musterte mich über seinen Pappbecher mit schwarzem Kaffee hinweg.
„Ich glaube, du brauchst neue Anziehsachen. Im letzten Zimmer ganz oben ist ein Schrank, da müssten Sachen drin sein, die dir passen sollten.“
Ich antwortete nicht, irgendetwas an Ians Gesichtsausdruck sagte mir, dass dieses Haus nicht einfach nur irgendein Versteck war.
„Was wolltest du eigentlich in dem alten Haus?“, fragte ich leise flüsternd.
Ian war angespannt und darum bemüht, seine Gefühle zu verbergen. Also sagte ich erst mal nichts und ging wieder die Treppe nach oben. Meine Gedanken schleppten sich dahin, ich hatte in den vergangenen vierundzwanzig Stunden einfach zu viel außergewöhnliches erlebt. Ich nahm meine Umgebung gar nicht richtig war, ich lief einfach die Treppen bis ins zweite Obergeschoss hinauf, den weißgestrichenen Flur entlang, der durch ein großes Fenster am Ende erhellt wurde, bis zur letzten Tür, öffnete sie und fand mich in einem Zimmer wieder, das eine Wand in einem leuchteten Gelbton gestrichen hatte, die anderen drei Wände waren weiß. Das Zimmer wurde durch ein großes, doppelseitiges Fenster erhellt. Ein riesiges Himmelbett stand so, dass man vom Bett aus die Sterne betrachten konnte. An der gelben Wand, der Wand der Tür gegenüber, stand der Schrank, von dem Ian gesprochen hatte. Ich durchquerte den Raum und betrachtete den Schrank. Er war weiß, eine der beiden Türen hatte einen ovalen, am Rand kunstvoll verzierten Spiegel. Ich öffnete die Tür ohne Spiegel, nahm mir ein frisches, schwarzes Top, eine Jeanshotpan und eine blaue Jacke und zog mich um. Ich schloss die Schranktüren und wollte schon das Zimmer verlassen, als mir ein Foto am Rahmen des Spiegels auffiel.
Darauf war ein Mann, Mitte dreißig, mit schokobraunen Haaren und schokobraunen Augen, die warm und weich in die Kamera sahen, sein Lächeln war ehrlich und liebevoll. Im Arm hielt er ein etwa elfjähriges Mädchen mit strahlend blauen Augen und blonden Locken, die vor Lachen fast von seinem Arm fiel. Und neben den beiden – stand ein ungefähr dreizehnjähriger Junge mit strahlend blauen Augen und schokobraunen Haaren ...

4


Wütend stürmte ich die Treppe runter.
„Ian! IAN!“, rief ich schon im ersten Stock und donnerte die letzten Stufen runter. „Was? Was ist denn?“
Ian sah mir von unten her entgegen, seine Miene war angespannt. Ich knallte ihm das Foto vor die Brust.
„Das. Ist los.“
Ich marschierte an ihm vorbei ins Wohnzimmer, seinem

Wohnzimmer. „Warum hast du mir nicht erzählt, dass das dein

Haus ist? Dass das das Haus deiner Eltern ist? Dass du hier aufgewachsen

bist?“
Ich drehte mich zu ihm um. Er war mir langsam gefolgt, die Hände in den Hosentaschen, in seinem Gesicht konnte ich deutlich sehen, wie erschöpft er war.
„Weil es nicht wichtig ist. Weil sie tot

sind.“
Meine Wut verpuffte so plötzlich, wie sie gekommen war.
„Tot? Aber... seit wann? Und warum?“
Ich sackte auf der hellblauen Couch zusammen. Ian stand vor mir, die Hände noch immer in der Hosentasche.
„Du wolltest doch, dass ich dir erzähle, woher ich deine Eltern kenne.“
Ich sah ihn an und nickte.
„Ich glaube, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dir meine und deine Geschichte zu erzählen.“
Überrascht sah ich ihn an.

„Meine Eltern hatten einen kleinen Buchladen. Kurz nach meiner Geburt lernte meine Mutter eine Frau kennen, die sich sehr für Bücher über Fantasiewesen und –welten interessierte. Deine Mutter. Die beiden freundeten sich an und machten ihre Männer miteinander bekannt. Sie verstanden sich alle vier gut und wurden beste Freunde. Eines Abends, als ich ungefähr ein Jahr alt war, weihten deine Eltern meine Eltern in ihr größtes Geheimnis ein. Sie waren keine normalen Menschen. Sie kamen aus einer anderen Welt, die vom Licht regiert wurde. Doch die Regentschaft des Lichts war von der Dunkelheit bedroht, denn ein Vertrauter des Königs war zum Verräter geworden. Der König hatte seine Tochter in die Welt der Menschen geschickt, um sie vor der Dunkelheit zu schützen. Sie passte sich an, lernte einen Mann kennen und verliebte sich in ihn. Er akzeptierte ihr Geheimnis und heiratete sie. Als ich zwei war, wurde meine Schwester geboren, Lucy.“
Er fuhr mit dem Finger sachte über ihr Gesicht auf dem Bild.
„Ein Jahr nach Lucy´s Geburt wurdest du geboren. Deine Eltern hatten furchtbare Angst, dass der Herr der Dunkelheit dich finden und für seine dunklen Pläne benutzen könnte. Also gaben sie dich zu Maéva, der kleinen Schwester deiner Mutter.“
Ich sah ihn irritiert an, meine Tante hieß Maya.
„Maya ist so was wie ihr Deckname, oder?“
Ich begriff erst jetzt, dass ich in einer Welt voller Lügen aufgewachsen war – und ich selbst war die größte Lüge. Ian nickte knapp.
„Aber...warum hat das mit den Tod deiner Familie zu tun ?“
Ich hatte einen dunklen, schrecklichen Verdacht.
„Nachdem deine Eltern dich zu deiner Tante gebracht hatten, schützte deine Mutter dich zusätzlich mit einem Zauber, damit dich wirklich niemand finden kann. Danach verschwanden sie spurlos. Sie wollten meine Familie aus diesem Krieg raushalten, doch vor sieben Jahren tauchten bei uns die Graumänner auf.“
„Die Graumänner?“
„Die Typen, die uns letzte Nacht verfolgt haben. Krieger des Herrn der Dunkelheit.“
Ich hörte den Hass in seiner Stimme.
„Sie kamen hier her und suchten dich und deine Eltern. Meine Eltern versicherten ihnen, dass sie keine Ahnung hätten, wo ihr seid, doch sie glaubten ihnen nicht. Sie töteten meine Eltern und nahmen Lucy mit, ich konnte nichts dagegen tun. Mich ließen sie schwer verletzt da zum Sterben.“
Er drehte sich mit dem Rücken zu mir und schob sein T-Shirt hoch. Über seinen ganzen Rücken zog sich eine lange Narbe, die aussah, als wäre sie von einem Schlachtermesser oder einem Schwert verursacht worden.
„Was um alles in der Welt haben sie dir angetan?“, flüsterte ich fassungslos und hatte auf einmal großes Mitleid mit ihm.
Er war damals erst 13, fast noch ein Kind, und hatte seine Eltern verloren, seine Schwester verloren und war gefoltert worden.
„Sie haben versucht, meinen Eltern die Wahrheit zu entlocken. Und da mein Vater nichts gesagt hatte, wollten sie mal sehen, ob das ihre Zunge lockern würde.“
Er sagte das mit einem Schulterzucken, als ob das etwas ganz normales war. Fassungslos sah ich ihn an.
„Wie kannst du so locker darüber reden? Sie haben deine Eltern getötet!“
„Ja – vor sieben Jahren. Glaub mir, ich habe getrauert. Und ich will Rache dafür. Aber ich kann nicht mein Leben lang um sie trauern. Ich habe mir geschworen, dich zu beschützen und dich in das Reich deines Großvaters zurück zu bringen und das war´s dann.“ Er sah mich nicht an, er sah aus dem Fenster in den Garten, in dem er früher immer mit Lucy gespielt haben musste.
„Was meinst du damit, das war´s dann? Was hast du dann vor? Du...“
Er hob die Hand und deutete mir, still zu sein. Irgendjemand schlich durch den Garten.

5


Wir sahen uns an.
„Komm mit!“
Ian nahm meine Hand und rannte mit mir zur Treppe. Doch dort warteten bereits zwei maskierte Gestalten und versperrten den Weg. Bevor einer von uns reagieren konnte, packten sie Ian und mich, drehten mir den linken und Ian beide Arme auf den Rücken und schubsten uns zurück ins Wohnzimmer.
„Ja sieh mal einer an, wen haben wir denn da? Ian. Und eine kleine Freundin, wie niedlich.“
Einer der Maskierten, ein großer, kräftiger Typ, kam auf Ian und mich zu.
„David.“, stellte Ian resigniert fest und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wie kommt es, dass immer du die Schönsten der schönen findest?“
David stand vor mir und sah mich an. Er musterte mich mit einem Blick, der mir einen unangenehmen Schauer über den Rücken jagte.
„Wo hast du sie gefunden? Und was hast du mit ihr vor?“
„Das geht dich nichts an, David.“
In Ians Stimme schwang eine sanfte Drohung mit.
„Oh, ich glaube doch, denn ihr zwei hübschen werdet uns wohl nicht mehr so schnell los. Oder willst du, dass ihr etwas schreckliches zustößt?“
David sah Ian herausfordernd an. Ian funkelte ihn wütend an, gab dann aber mit einem verächtlichen Schnauben auf. Ich sah zwischen Ian und David hin und her und wurde das Gefühl nicht los, dass sie über mich gesprochen hatten.
„Bringt sie beide nach oben.“, meinte David und deutete mit dem Kopf zur Treppe.
Ian und ich wurden die Treppe nach oben geschleift und in das Schlafzimmer von Ians Eltern eingeschlossen. Ich setzte mich auf das Bett. Ian tigerte durch das Zimmer.
„Er hat echt den Nerv, mich in meinem eigenen Haus einzusperren!“
Vor lauter hilfloser Wut schlug Ian mit aller Kraft seine rechte Faust gegen den Schrank. Ich saß einfach nur da und wartete, bis er sich abreagiert hatte – und stellte dabei fest, wie muskulös er war.
„Hast du dann mal genug? Kann ich dich jetzt was fragen, ohne Angst haben zu müssen, dass du mich vor Wut fast umbringst?“
Ian atmete tief durch, legte seine Stirn an die Tür des Schrankes, schloss für einen Moment die Augen, atmete erneut tief durch und setzte sich dann vorsichtig neben mich. „Du willst wissen, wer er ist und woher ich ihn kenne.“
„Du hast es erfasst.“
Inzwischen erkannte Ian schnell, was ich wollte – und ich war mir nicht sicher, ob das gut war. Ich mochte es nicht, wenn man mich schnell durchschauen konnte. Ian seufzte. „Ich kenne David schon, seit ich 16 bin. Ich war auf der Suche nach jemandem, der mir behilflich sein konnte. Ich hörte mich um und traf David. Er war genau der richtige für das, was ich wollte.“
Mit einem Seitenblick zu mir fügte er hinzu:
„Er sollte meine Schwester finden. Ich bin mir ganz sicher, dass sie noch lebt, dass sie sie bloß verschleppt haben. Und David sollte sie finden.“
Er knirschte mit den Zähnen vor Hass.
„Was ist passiert?“, fragte ich vorsichtig.
„Als wir uns trafen, damit er mir sagen konnte, was er erfahren hatte, hat er versucht, mich umzubringen. Und seitdem versucht er es immer wieder. Und weil er es nicht schafft, macht er mir das Leben so gut es geht zur Hölle.“
Ian lächelte, als ob das alles ein Spiel wäre.
„Wie oft hat er in den vier Jahren schon versucht, dich umzubringen?“
Irgendwie war mir jetzt schon klar, dass ich es eigentlich gar nicht wissen wollte.
„217 mal, aber wer zählt schon?“
Er lächelte mich an und ich hatte das Gefühl, dass diese Mordversuche ihm all die Jahre über geholfen hatten, zu überleben. Er musste so sehr an seiner Schwester hängen und sie so verzweifelt suchen, dass Davids Mordversuche eine angenehme Abwechslung sein mussten. Und auf einmal wurde mir klar, wie schwer Ians Leben sein musste. Er hatte auch nach sieben Jahren noch nicht aufgehört, Lucy zu suchen.
Wir schwiegen beide eine Weile und ich sah aus dem Fenster. Draußen schien die Sonne und der Himmel war wolkenlos und blau. Im Garten stand David mit ein paar seiner Freunde und rauchte. Unter dem Fenster stand ein Baum und ein starker Ast verlief genau unter dem Fenster...
Blitzschnell drehte ich mich zu Ian um, der noch immer auf dem Bett saß und sich den Nacken rieb. Er sah mich an.
„Du hast eine Idee, wie wir hier raus kommen?“
„Hast du Höhenangst?“
Ian schüttelte den Kopf und ich sah lächelnd zum Fenster. Ian trat neben mich und sah aus dem Fenster. Dann sah er mich zweifelnd an. Ich nickte nur. Seufzend öffnete er das Fenster und ich kletterte voraus, Ian folgte mir. Die Blätter raschelten leise, als Ian und ich uns auf einen der obersten Äste hockten.
„Okay, so weit, so gut. Und wie geht’s jetzt weiter?“, fragte mich Ian.
„Keine Ahnung! Durch den Garten und nichts wie weg?“
Ian schüttelte den Kopf.
„David steht da unten, wir kommen da nicht durch. Wir müssten...“
„Hey! David ! Sie sind weg!!“
Ian und ich sahen uns schockiert an.
„Los! Rauf auf ’s Dach!“, flüsterte Ian mir zu.
Ich kletterte los.
„Verdammt! Findet sie! Vor allem das Mädchen!!“
David war wütend. Ian zog mich auf das Dach und wir balancierten zum anderen Ende. „Kannst du springen?“, fragte mich Ian.
„Wieso?“
„Weil wir hier eine kleine Lücke haben!“, rief Ian und sprang.
„Oh Gott!“
Ich versuchte, nicht an den Abgrund zu denken und sprang. Ian fing mich auf und wir fielen beide.
„Tut – tut mir leid! Ich musste so was noch nie machen und...“
„Halb so schlimm. Komm, wir müssen weiter!“
Ian zog mich wieder auf die Füße und wir rannten weiter, über die Dächer davon.
„Also ganz ehrlich: Ich hätte nie gedacht, dass es so spannend werden würde, dich nach Hause zu bringen.“
Ian fing mich auf, als ich eines der Schrägdächer runter rutschte.
„Nach Hause?“
Ich sah Ian fragend an.
„Natürlich, was hast du denn gedacht? Ich bringe dich zu deinem Großvater zurück. Du warst lange genug von zu Hause weg.“
Er lächelte mich an, doch das Lächeln erreichte weder seine noch meine Augen. Denn ich wusste, dass was auch immer mich dort – wo auch immer das sein würde – erwarten würde, ich wollte viel lieber hier bleiben.
„Was, wenn ich gar nicht zurück will? Was, wenn ich mich hier wohl fühle?“
Ian sah mir lange in die Augen.
„Das würde nichts daran ändern, dass du eine Prinzessin bist. Und dein Königreich dich braucht.“
Ich sah ihn an.
„Und was springt für dich dabei raus?“
„Die Hoffnung, endlich meine kleine Schwester wieder zu finden.“
Er strich mir eine Strähne aus dem Gesicht.
„Und vielleicht die Hoffnung, dir behilflich sein zu können.“
Er stützte seinen linken Arm gegen die Wand und sah mich von oben herab an. Ich lehnte an der Hauswand und sah zu ihm auf. Er verstand mich nicht. Ich wollte keine Prinzessin sein. Ich war nie eine. Und ich würde auch nie eine sein.
Ich öffnete gerade den Mund, um es ihm zu erklären, als ein Schrei links von uns unsere Aufmerksam auf sich zog.
„Hey! Ich hab sie gefunden!“
Links, ungefähr 100 Meter von uns entfernt, stand einer von Davids Kumpanen. Ohne auch nur eine einzige Sekunde zu zögern, nahm Ian meine Hand und rannte los. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
„Hatte ich erwähnt, dass David ziemlich hartnäckig sein kann?“, keuchte Ian und bog scharf links ab.
„Hab’ ich mir fast gedacht.“, antwortete ich kurz und versuchte, mit ihm Schritt zu halten, doch das war gar nicht so leicht.
„Wir müssen es nur zu einem kleinen Versteck schaffen, da können wir dann warten, bis sie es für heute aufgeben, uns zu suchen.“
Für heute.


Na ganz toll.
Ein helles Leuchten, dass eindeutig nicht von einer normalen Lichtquelle stammte, lenkte mich ab. Es schien ein paar Zentimeter über dem Boden zu schweben und kam mir bekannt vor. Es hatte ungefähr die Umrisse einer zierlichen Frau und sie sah mich an.
Und sprach mit mir.
„Folgt mir! Das ist eine Falle, sie wollen euch in eine Falle locken!“


Aus irgendeinem Grund wusste ich sofort, dass die Frau die Wahrheit sagte. Ihre Stimme klang hell und aufgeregt, sie weckte irgendetwas in mir.
„Ian! Das ist eine Falle! Komm mit!“
Ich zog Ian rechts in eine kleine Gasse, immer der Lichtfrau hinterher und ignorierte seinen Widerstand.
„Julia! Was soll das?!“
Ich blieb stehen und sah ihn an.
„Ist es so schwer, mir dieses eine Mal zu vertrauen?“
Er sah mir in die Augen und ich konnte sehen, wie er mit sich kämpfte. Er hatte vor vier Jahren jemandem das letzte Mal vertraut und derjenige hatte versucht, ihn umzubringen. „Bitte Julya! Gleich sind sie euch auf der Spur!“

,wimmerte die Lichtfrau.
Ich wunderte mich nicht einmal darüber, dass sie meinen Namen kannte.
„Bitte, Ian.“ ,flüsterte ich leise und wie um meine Bitte zu unterstreichen, drang das Geräusch einer umfallenden Mülltonne zu uns.
Ian sah mich an und gab auf. Ich sah es in seinen Augen. Ohne auch nur einen weiteren kostbaren Moment zu verlieren, rannte ich weiter und dieses Mal folgte Ian mir.
Ich wusste nicht warum, aber ich vertraute der Lichtfrau. Und ich hatte das Gefühl, dass nur ich sie sehen konnte. Sie führte uns quer durch die Stadt und aus der Stadt hinaus in einen kleinen, bescheidenen Vorort mit großen Häusern, großen Gärten und großen Autos. Zielstrebig führte sie uns zu dem schönsten der Häuser. Es war eine kleine Villa aus dem 19. Jahrhundert in weiß, mit großen, runden Fenstern und einem Teich mit Seerosen im Garten. Es war wunderschön. Staunend blieb ich stehen.

6


Ian stand neben mir und sah mich erstaunt an. Die Tür war unverschlossen. „Wie hast du dieses Haus gefunden?“ ,fragte er endlich, als wir die kühle Eingangshalle betraten. Fragend sah ich ihn an.
„Was meinst du?“
„Dieses Haus ist nicht irgendein

Haus. Es ist das Haus deiner Eltern.“
Er sah mich an und wartete auf irgendeine Reaktion.
„Du meinst... meine Eltern haben hier gelebt?“
Ich sah ihn an.
„Ja. Nur dürftest du das eigentlich gar nicht wissen, du warst zu klein, um dich daran erinnern zu können. Also: Wie hast du dieses Haus gefunden?“
Ians Stimme war pures Misstrauen. Es kränkte mich zutiefst, dass er wirklich dachte, ich könnte irgendwelche hinterhältigen Pläne haben. Ich sah ihn nur ungläubig an und konnte nicht antworten.
„Sie hat das Haus nicht selbst gefunden. Ich habe es ihr gezeigt.“

Aus dem Schatten der Treppe trat die Lichtfrau, nur war sie dieses Mal deutlich als Mensch und Frau zu erkennen. Sie hatte langes, braunes Haar und strahlend blaue Augen, ihre Haut war blass und sie wirkte so zerbrechlich wie Glas. Ian starrte sie entgeistert an.
„Cathrin?“
Die Lichtfrau - die jetzt wie eine normale Frau aussah – lächelte Ian sachte an.
„Hallo, Ian. Wir haben uns lange nicht gesehen.“
„Das kann man wohl sagen.“ ,murmelte Ian.
Irritiert sah ich von einem zum anderen. Dann wand sich Cathrin mir zu. Ein sehnsüchtiger Ausdruck war deutlich in ihren Augen zu erkennen. Und das Gefühl, etwas wichtiges verpasst zu haben.
„Du bist groß geworden. Ich wünschte ...“
Sie brach mit einem traurigen Seufzen ab und wand sich wieder an Ian.
„Du hat sie also hergeführt?“, fragte er.
Cathrin nickte.
„Ich konnte mich draußen nicht zeigen, sonst hätte David mich ebenfalls gesehen. Und das darf nicht geschehen.“
Cathrin sagte das mit solch einer Bestimmtheit, dass mir klar war, dass es wirklich nicht passieren durfte.
„Ich kann auch nicht lange bleiben. Ich bin nur gekommen, um euch hier her zu bringen. Hier seid ihr beide in Sicherheit.“
Ich hörte nur mit einem Ohr zu. Ich versuchte, mich an etwas zu erinnern. An etwas aus längst vergangenen Tagen...
„ Eine kleine Prinzessin spielt fröhlich im Licht,
da kommt die böse Dunkelheit,
doch s Prinzesschen stört das nicht.
Sie spielt weiter vor Glückseligkeit
Beim Vater im Büro
Und wenn sie dann erwachsen ist, ist ihre Mutter froh...“


„Wir werden uns bald wiedersehen, versprochen.“, hörte ich Cathrin gerade sagen, da begann ihr Licht auch schon schwächer zu werden.
„Warte! Bitte! Ich weiß wieder, wer du bist!“
Doch Cathrin war schon weg.
Meine Mutter war gegangen, ohne mir zu sagen, wer sie war.

Ian sah mich an.
„Es tut mir leid, dass ich an dir gezweifelt habe.“
Ich winkte ab. Es gab gerade andere Dinge, die mich mehr beschäftigten. Ich setzte mich auf die kühle Steintreppe.
„Warum hat sie mir nicht gesagt, wer sie ist?“
Ian setzte sich zu mir.
„Weil es zu gefährlich ist.“
„Was? Mir mal die Wahrheit zu sagen?“
Ian lächelte leicht.
„Nein. Es ist zu gefährlich für dich, zu wissen, dass deine Mutter noch lebt. Alle glauben, sie und dein Vater seien tot.“
Ich seufzte und fasste mir an den Kopf. Behutsam legte Ian seinen Arm um meine Schultern und drückte mich leicht an sich.
„Wie hältst du das bloß aus, ohne verrückt zu werden?“
Er dachte kurz nach.
„Ich hatte immer ein Ziel vor Augen. Erst wollte ich meine Eltern rächen und Lucy finden. Dann wollte ich David einfach nur eins auswischen. Und jetzt...“
Er zuckte mit den Schultern. Ich sah ihn an und musste lächeln.
„Und was ist jetzt dein Ziel?“
Er sah mich an und wenn ich mich nicht täuschte, wurde er ein bisschen rot, bevor er antwortete.
„Dich beschützen und dir helfen, so weit es geht.“
Ich lächelte vor mich hin und legte meinen Kopf an seine Schulter. Er ließ es zu und zog mich ein Stück zu sich ran. Und so saßen wir auf der Treppe, bis es so dunkel war, dass das Licht der Sterne alles war, was die Halle erleuchtete.

Am nächsten Morgen erwachte ich in einem hellen Zimmer mit weißen Wänden, einem großen doppelseitigem Fenster und einem cremefarbenen Kleiderschrank. Der Kleiderschrank hatte insgesamt drei große Türen, wovon die mittlere mit einem kunstvoll verzierten Spiegel bedeckt war. Leise stand ich auf und trat ans Fenster. Die Sonne schien hell und angenehm warm vom Himmel, es musste noch früh sein. Ich trat vor den Spiegel und erschrak beinahe. Meine Haare waren ungekämmt und mussten dringend mal wieder gewaschen werden. Auch ich fühlte mich dreckig und verschwitzt. Ich betrachtete den riesigen Schrank nachdenklich. Wenn das Haus meinen Eltern gehörte, müsste ich doch eigentlich in den Schränken wühlen dürfen...
Schließlich siegte die Neugier. Ich öffnete die erste Tür und fand einen Stapel T-Shirts, einen Stapel Tops, frische Unterwäsche und Hotpants. Hinter der zweiten Tür lagen lange Hosen, Pullis und Socken. Und hinter der dritten Tür hingen wunderschöne Kleider auf einer Stange, an den Seiten und dahinter waren Fächer für unzählige paar Schuhe. Ich nahm mir etwas zum Anziehen und ging in das angrenzende Badezimmer.
Nach der Dusche fühlte ich mich besser und für den Tag gewappnet. Ich ging die Treppe hinunter und fand Ian im Wohnzimmer auf der Couch. Als ich gestern Abend ins Bett ging, wollte Ian noch wach bleiben und überlegen, wie wir die nächste Zeit überstehen würden. Anscheinend hatte ihn die Müdigkeit aber auch sehr schnell übermannt. Ich kniete mich neben die Couch und betrachtete ihn. Nur wenn er schlief schien er wirklich entspannt. Ich konnte in seinem Gesicht ablesen, was er schon alles durchgemacht hatte. Und doch war sein Gesicht von einem inneren Frieden erfüllt, der ihn jung und unschuldig aussehen ließ. Sein Gesicht zeigte nichts von der Härte, die er sonst immer den ganzen Tag zur Schau stellte. Es sah beinahe verletzlich aus. Langsam beugte ich mich vor und küsste ihn sanft auf die Wange. Er lächelte im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite. Vorsichtig erhob ich mich und ging in die Küche. Ein Lächeln umspielte die ganze Zeit meine Lippen und tief in mir erwachte ein Gefühl, das mächtiger war als alles, was ich bisher empfunden hatte. Und dabei erwachte dieses neue Gefühl gerade erst.
Ich traute mich nicht, mir in der Küche einen Kaffee zu machen, aus Angst, ich könnte Ian damit aufwecken.
Also ging ich wieder die Treppe hinauf und sah mich um. Oben gab es zwei riesige Schlafzimmer, das in dem ich geschlafen hatte, und eines mit einem etwas größeren, aus dunklem Holz gefertigten Bett, weißen Wänden, zwei riesigen Fenstern und einem helleren Kleiderschrank sowie einer gleichfarbigen Kommode. Dieses Zimmer sah unglaublich edel aus und ich hatte Angst, etwas zu berühren. Die Präsens einer sehr starken und mächtigen Persönlichkeit war immer noch beinahe greifbar in diesem Raum. Behutsam schloss ich die Tür wieder hinter mir und ging zu dem dritten Zimmer in diesem Gang. Es war ein Büro. Ein großes, dunkles, unpersönliches Büro, wo ich mir nicht vorstellen konnte, dass jemand freiwillig und gut drin arbeiten konnte. Der Raum war kühler als alle anderen. Was vielleicht daran lag, dass er auf der Schattenseite des Hauses, vielleicht aber auch einfach am Raum und seiner Ausstrahlung lag. Vorsichtig sah ich mich in dem Raum um und versuchte, die Gänsehaut und das ungute Gefühl zu unterdrücken. Doch das Gefühl, nicht vollkommen allein zu sein, blieb. Ich sah mich erneut um, konnte aber nirgendwo Anzeichen entdecken, dass noch jemand hier war. Der unerklärliche Wunsch, sofort schreiend aus diesem Zimmer zu stürmen, keimte in mir auf. Doch statt zu schreien, verließ ich langsam das Zimmer und ging wieder nach unten. Erst als ich Ian am Fuß der Treppe stehen sah, fühlte ich mich besser.
„Alles okay? Du...siehst blass aus.“, meinte Ian und musterte mich besorgt.
Sein Gesicht hatte den üblichen Ausdruck, kein Zeichen von der inneren Ruhe war mehr zu sehen.
„Ja...alles okay. Es war nur...“
Statt den Satz zu beenden, fröstelte ich.
Ich spürte eine Kälte, die aus mir heraus zu kommen schien, obwohl Ian und ich mitten im Sonnenlicht standen. Ian betrachtete die Gänsehaut, die sich langsam über meine Arme zog und sah alarmiert die Treppe hoch. Ein leises, unverständliches Flüstern schien die Treppe runter zu schleichen.
„Komm mit!“, flüsterte Ian und zog mich leise ins Wohnzimmer.
„Julia...Ich weiß, wie müde du bist...Komm und leg dich ein bisschen hin...Ruh dich ein bisschen aus... Ich kann dich von all deinen Leiden befreien, dir nichts als Frieden geben...“


Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Es fühlte sich an, als ob ein dichter, grauer Nebel in meinem Kopf umher schweben würde und sich langsam aber bestimmt über all meine Gedanken legen würde.
„Julia, komm! Wir müssen hier raus!“
Ich sah Ian an, sah, dass sich seine Lippen bewegten, hörte seine Worte, doch verstand ich ihren Sinn nicht. Kurzerhand hob er mich hoch und rannte mit mir über der Schulter los.
„Julia...du brauchst keine Angst vor mir zu haben...ich will dir helfen...du musst mir einfach nur folgen...“


Ein langer, dunkler Tunnel erschien vor mir, an dessen Ende ein helles Licht erschien. „Komm Julia...folge mir in den Frieden...“


Erschrocken richtete ich mich auf.
„Ian, lass mich sofort runter!“
Verwundert setzte er mich ab.
„Alles okay?“
„Ja, ja. Aber lass uns gehen, bitte.“
Ohne zu warten ging ich weiter.
„Willst du mir sagen, was los ist?“
Ich sah ihn an und biss mir auf die Unterlippe. Ich war mir nicht sicher.
„Ich habe eine unheimliche Stimme gehört, die mich in einen langen, dunklen Tunnel locken wollte, an dessen Ende ein Licht war.“
Ian sah mich an.
„Ich glaube, du hast so eben den Tod kennen gelernt. Er gehört zur Dunkelheit.“
„Den Tod

?“
Ich sah Ian entsetzt an.
„Willst du mir sagen, dass der Tod versucht hat, mich umzubringen

?“
„Jaa...Und das ist nicht gut...gar nicht gut.“
„Ach, wirklich nicht?!“
Ich schloss die Augen und seufzte.
„Tut mir leid. Ich bin einfach...Ich wäre gerade fast gestorben.“
Erschöpft sank ich am nächsten Baum entlang nach unten. Ian kniete sich neben mich und legte sanft seine Hand auf mein Knie.
„Ich weiß, dass das hart ist. Ich bin ihm auch schon begegnet. Aber du darfst jetzt nicht aufgeben.“
Er sah mir in die Augen. Es lag eine unausgesprochene Bitte darin, die dieses neue Gefühl in mir nährte.
„Das wird mir gerade alles zuviel, Ian. Ich hatte immer ein ruhiges, überschaubares Leben.“
„Ich weiß. Und es wird wieder ruhiger. Sobald das hier vorbei ist.“
Ich sah Ian an und spürte die Tränen.
„Sobald was vorbei ist? Ich weiß doch nicht mal, um was es hier genau geht, Ian.“
Ich schluchzte.
„Vor vier Tagen war ich noch ein ganz normales Mädchen. Eine unter Millionen. Und jetzt... Jetzt erfahre ich, dass meine Mutter eine Prinzessin aus einer anderen Welt ist, werde von Graumännern verfolgt, von der Dunkelheit gesucht, vom Tod selbst beinahe umgebracht und... meine Tante hat seit Tagen keine Ahnung, wo ich bin. Sie wird sich Sorgen machen.“
Meine Stimme zitterte. Die Tränen liefen mir über die Wangen und mein ganzer Körper bebte. Ian setzte sich neben mich und zog mich fest an sich.
„Sch, es wird alles wieder gut, Julia. Versprochen. Es wird alles wieder gut.“
Ian zog mich noch enger an sich und ich schlang meine Arme um seinen Bauch. Er hielt mich fest und wartete, bis ich mich wieder halbwegs beruhigt hatte.
„Tut mir leid. Das war einfach alles zu viel für mich.“
Ich lächelte schwach.
„Das ist ja auch verständlich. Es war wirklich ziemlich viel los in den letzten Tagen.“ Ian lächelte mich an.
„Wie hast du das alles eigentlich verkraftet?“
Ich sah ihn an, ohne mich aus meiner Position zu lösen.
„Naja...“
Er strich mir liebevoll eine Haarsträhne aus der Stirn.
„Ich habe nicht alles auf einmal erfahren, so wie du. Außerdem wollte ich es wissen. Weil Wissen meine einzige Chance war, Lucy wieder zu finden.“
„Hm.“
Ich legte meinen Kopf an seine Brust und lauschte seinem Atem. Es hatte etwas beruhigendes, so etwas normales zu tun wie im Gras zu sitzen und einfach nur zu reden. Ian sagte nichts, er hielt mich einfach nur fest und schien es genauso zu genießen wie ich.

7


„Hattest du schon mal einen Freund?“, fragte mich Ian, als es bereits dämmerte.
Ich spürte, wie ich rot wurde.
„Nein, ich...war den Jungs immer zu seltsam, zu verträumt...“
Ich war inzwischen knallrot. Ian lächelte.
„Und du? Hattest du schon eine Freundin?“, fragte ich, um von mir abzulenken.
„Nicht wirklich, ich hatte keine Zeit. Ich war damit beschäftigt, meine Schwester zu suchen.“
Wir schwiegen wieder. Irgendwann drehte ich meinen Kopf ganz leicht zu ihm und betrachtete sein Gesicht. Es leuchtete vom letzten Sonnenlicht des Tages und er sah... beinahe glücklich aus. Ich betrachtete ihn und spürte die letzten Sonnenstrahlen des Tages auf meinem Gesicht. Als Ian meinen Blick bemerkte, lächelte er mich an. Unsere Blicke trafen sich und ich hatte das Bedürfnis, ihn zu küssen.
Doch bevor ich mich entscheiden konnte, beugte Ian sich vor und küsste mich.
Nur ganz kurz und unspektakulär und dennoch verfehlte dieser Kuss seine Wirkung bei mir nicht.
Meine Haut war wie elektrisiert und mein Herz klopfte zu schnell.
Ian lächelte mich an und wartete auf eine Reaktion. Ich erwiderte sein Lächeln. Seine Erleichterung war deutlich zu spüren. Er beugte sich wieder zu mir, aber dieses Mal kam ich ihm entgegen. Und dieses Mal war der Kuss länger und ich hatte das Gefühl, in Flammen zu stehen. In wundervollen, angenehmen, wohltuenden Flammen, die ich nie wieder verlieren wollte.
Als es dunkel war, stand Ian lächelnd auf. Er lächelte schon den ganzen Abend und das gefiel mir. Er reichte mir seine Hand und zog mich hoch.
„Hast du Hunger? Ich kenne einen guten Imbiss, bei dem wir jetzt noch etwas zu essen bekommen würden.“
Ich lächelte, als er seinen Arm um meine Taille legte.
„Klar.“
Lachend verließen wir den Park und torkelten betrunken vor Glück durch die dunklen Straßen.
Doch leider wurden wir vor lauter Glück auch unvorsichtig.
„Ja sieh mal einer an, wen haben wir denn da? Ian und Julia. Sind sie nicht süß?“
Ein unheimliches Lachen schien von allen Seiten zu kommen. Die heitere Stimmung, in der Ian und ich uns befunden hatten, verschwand augenblicklich. Instinktiv zog Ian mich an sich und betrachtete David, der am Ende der Straße ins Licht der Straßenlaterne trat. „Das war wirklich nicht nett von euch, einfach zu verschwinden. Wir haben uns Sorgen gemacht.“
Ian schnaubte verächtlich.
„Es gibt da jemanden, der dich gerne wiedersehen würde, Julia.“
David grinste mich böse an.
„Es wird Zeit, dass du zu mir kommst, Julia. Komm...komm...komm...“

, flüsterte mir der Tod leise ins Ohr.
Panisch krallte ich mich an Ians T-shirt fest.
„Lass Julia in Ruhe! Sie hat mit der ganzen Sache nichts zu tun!“, fuhr Ian David an. „Ach nein? Sie hat viel Zeit mit dir verbracht. Und wenn mich nicht alles täuscht, hat sie sogar die Augenfarbe ihres Vaters. Genau das selbe smaragdgrün.“
Ian und ich sahen David verwundert an. Ich kannte meinen Vater nicht und wusste nicht einmal, was für eine Augenfarbe er hatte. Doch das Verwirrendste war der Hass, mit dem er meinen Vater erwähnt hatte.
„Ach, das wisst ihr gar nicht? Nicht einmal du, Ian?“
David grinste Ian und mich überlegen an.
„Wovon sprichst du?“, wollte Ian angespannt wissen.
„Wollt ihr das wirklich wissen?“, fragte David und begann zu lachen, laut und unheimlich. Ich hörte in der Ferne ein Donnergrollen und sah nach oben. An den Stellen, an denen die Dächer der Häuser nicht den Himmel verdeckten, zogen schwarze Wolken auf. Ein greller Lichtblitz erhellte den Himmel und ein einzelner Regentropfen landete auf meiner Wange. Instinktiv schmiegte ich mich enger an Ian und wartete auf Davids Erklärung.
„Dein Vater, Julia, ist mein Bruder.“
Es begann zu regnen. David musterte mein Gesicht und wartete auf meine Reaktion. Ich starrte einfach nur vor mich hin und versuchte zu begreifen, dass David mein Onkel war. Ian reagierte sichtbarer.
„Was?!“
Er sah von mir zu David und zurück und versuchte zu begreifen, dass mein Onkel versucht hatte, ihn umzubringen.
„Da nun die Familienverhältnisse geklärt sind, können wir das hier ja endlich zu Ende bringen.“
David winkte seinen Helfern zu und Ian spannte alle seine Muskeln an.
„Na, na, na, Ian, das wollen wir doch nicht wirklich anfangen, oder?“
Erschrocken sog ich die Luft ein, als einer der Helfer mich blitzschnell von hinten packte, ein paar Schritte von Ian weg zog und mir ein Messer an den Hals hielt. Ian blieb wie erstarrt stehen und sah mich entsetzt an.
„Überleg dir gut, was du tust.“, säuselte David mit zuckersüßer Stimme und bösem Lächeln. Ian sah zu dem Typen, der mich fest hielt, dann zu mir, dann zu David und dann wieder zu mir. Ich hasste mich dafür, dass er die nackte Panik in meinem Blick sah und aufgab. Zufrieden ließ David ihm die Hände fesseln. David schlenderte auf ihn zu und als er vor ihm stand, schlug er Ian unvermittelt hart und gezielt in den Bauch. Ian krümmte sich vor Schmerz und ich schrie erschrocken.
„Ist das nicht erstaunlich? Für ein einziges, dummes Mädchen gibst du dich gegen mich geschlagen, nach über vier Jahren. Für ein dummes, kleines Mädchen, dass dir nicht einmal helfen kann, setzt du das Leben deiner Schwester aufs Spiel.“
Ian sah blitzschnell zu David.
Ich konnte ihn nicht ansehen. Ich konnte den Schmerz in seinen Augen deutlich sehen und drehte den Kopf weg, um meine Tränen zu verbergen. Ich spürte Ians Blick, doch ich hatte nicht die Kraft, ihn anzusehen. Ich wollte es nicht noch schlimmer machen.
David klatschte in die Hände.
„So, dann lasst uns mal gehen. Ich habe heute Abend noch etwas wichtiges zu erledigen.“ Der Typ, der mich fest hielt, stieß mich vor sich her und meine Tränen vermischten sich mit dem eisigen Regen.
David führte uns zu einem alten, verlassenen Fabrikgebäude in einer trostlosen, verlassenen Gegend. Als ich auf die Tür zugestoßen wurde, sah ich ein helles Leuchten von flüssigem Gold aus dem Augenwinkel. Ich hielt den Atmen an und wagte es nicht, den Kopf zu drehen, aus Angst, jemand außer mir könnte meine Mutter sehen.
„Beweg dich!“, schnauzte der Typ, der mich fest hielt, mich an und stieß mich durch die Tür.
Ian warf ihm einen tödlichen Blick zu, den der Typ mit einer kleinen Bewegung seines Messers erwiderte. Dann sah Ian mich fragend an, doch ich deutete nur ein leichtes Kopfschütteln an.
„Sperrt sie in die Zelle. Für’s erste. Nach Mitternacht werden wir weitersehen.“
Ohne ein Wort wurden Ian und ich durch einen schmalen Flur, eine Treppe hinunter und in eine kleine, dunkle Zelle gesperrt, die aus nichts weiter als vier kalten Wänden, einem eiskalten Boden mit ein paar Strohhalmen, einer schweren Holztür mit einem winzigen Fenster und einem winzigen Fenster in der Wand gegenüber der Tür bestand.
Kaum war die Tür hinter uns ins Schloss gefallen, hielt Ian mich in den Armen. Verzweifelt klammerte ich mich an ihn und spürte seinen warmen Atem an meinem Hals. Es war beruhigend, ihn so nah zu wissen.
„Was, glaubst du, will er?“, fragte ich leise in die Stille hinein.
„Dem Herrscher der Dunkelheit entweder dich oder deine Mutter ausliefern.“, antwortete Ian noch leiser und strich dabei sanft mit seinen Lippen über meine.
Ich fühlte mich ein bisschen schuldig, weil ich in diesem Augenblick nichts sehnlicher wollte, als Ian zu küssen, obwohl wir gerade in einer sehr ungeschickten Lage waren. Seine Lippen waren so sanft, dass sie mich beinahe von meiner Frage ablenkten – was vielleicht auch der Sinn war.
„Was geschieht um Mitternacht?“, fragte ich Ian, bevor er mich vollkommen ablenken konnte.
Augenblicklich zog Ian sich zurück, ohne mich dabei los zu lassen. Er sah mich nicht an. „Ian?“
Ich sah ihn von unten her an, obwohl es so dunkel war, dass ich ihn kaum sehen konnte. „Um Mitternacht ist der einzige Zeitpunkt, an dem besondere Menschen von dieser Welt in deine Welt wechseln können – oder von der Welt des Lichts in diese.“
„Und...was bedeutet das?“ Ian sah mich an, sein Blick war verzweifelt.
„Auch die Dunkelheit kann zu dieser Stunde die Welten wechseln.“
Ich konnte nicht glauben, was Ian da sagte.
„Heißt das...ich meine, bedeutet das...?“
„...dass der Herrscher der Dunkelheit her kommen wird? Vermutlich. Oder eher höchst wahrscheinlich.“
Er lehnte sich an die kalte Wand und zog mich an sich.
„Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht. Ver...“
Schnell aber liebevoll legte ich ihm meinen Finger auf die Lippen.
„Bitte. Versprich nichts, was du nicht halten kannst.“
Ian sah mich an und legte sanft seine Hand an meine Wange.
„Tu ich nicht. Ich lasse nicht zu, dass dir etwas passiert.“
Ich sah ihn an und wusste, dass er meinte, was er sagte. Er legte seine Hand unter mein Kinn und hob es sachte an. Er sah mir in die Augen und lächelte schwach.
„So lange wir zusammen halten, kann uns nichts passieren.“
Sanft legte er seine Lippen auf meine und ich genoss das tröstliche Gefühl. Er ließ sich langsam an der Wand nach unten rutschen und zog mich seitlich auf seinen Schoß. Seine Lippen liebkosten meine rechte Schulter und ich schnappte nach Luft. Lächelnd küsste er mich wieder auf die Lippen.

Schritte auf der Treppe unterbrachen uns.
Ian stand auf, zog mich hoch und stellte sich vor mich. Ein kleines Licht erschien von der Treppe her und mit diesem Licht auch David. Grinsend sah er durch das kleine Fenster in der Tür und betrachtete Ian und mich.
„Und Ian, wie geht es euch? Ist euch warm genug?“
Ian schwieg und funkelte ihn nur zornig an.
„So schweigsam, Ian? Du bist doch sonst nicht um ein Kommentar verlegen.“
Ich spürte, wie Ian sich anspannte und hielt ihn sanft am Oberarm fest.
„Lass es. Er will dich nur provozieren.“, flüsterte ich so leise, dass nur Ian mich hören konnte.
Ian atmete tief durch und stellte sich aufrecht vor mich hin.
„Was willst du?“, fragte Ian David mit unterschwelligem Zorn in der Stimme.
„Im Moment? Gar nichts. Später? Wirst du dann erfahren.“
David grinste und ging wieder. Ian entspannte sich komplett und seufzte. Ich sank gegen die Wand und musste die Tränen zurück halten. Langsam sank ich an der Wand nach unten, ich konnte die Tränen nicht länger zurück halten. Doch wenigstens schaffte ich es, nicht laut zu schluchzen. Ian kniete sich vor mich und legte seine Hand auf mein Knie. Er sagte nichts, sah mich einfach nur an und streichelte mein Knie. Es gab nichts zu sagen. Ich konnte ihm nicht erzählen, dass ich meine Mutter hier gesehen hatte, weil David es sonst auch erfahren würde, da war ich mir sicher. Und ich konnte ihm nicht sagen, dass er mich nicht vor allem beschützen konnte. Und ich wollte nicht über das reden, was nach Mitternacht geschehen würde, ich hatte Angst davor. Wir wussten beide, dass es nichts gutes war. Irgendwann hörte ich auf zu weinen und kuschelte mich an Ian. Er hielt mich fest und küsste mich auf die Stirn. Und dann warteten wir einfach auf das, was auch immer auf uns zu kommen würde. Irgendwann döste ich ein.

Ein lauter Donnerschlag weckte mich. Ian strich mir automatisch übers Haar, er belauschte konzentriert ein leises Gespräch zwischen David und seinem besten „Mitarbeiter“.
„Wie spät ist es?“, fragte ich leise und schmiegte mich noch enger an Ian.
Es war inzwischen ziemlich kalt geworden durch den eisigen Regen.
„Kurz vor Mitternacht.“
Ian klang angespannt.
„Über was reden sie?“
„Über dich.“
Mein Magen verkrampfte sich.
Über dich.


Eine direkte, knappe Antwort ohne Emotionen.
Als Ian klar wurde, wie das gerade rüber kam, sah er mich an.
„Nein, sie...Sie reden darüber, ob sie dich ausliefern wollen, wenn deine Mutter nicht auftaucht oder nicht.“
Ich sah ihn fassungslos an.
„Du meinst, David weiß, wie er meine Mutter her locken kann?“
Ian strich mir mit seiner Hand über die Wange.
„Welche Mutter würde nicht alles dafür tun, ihre Tochter zu retten?“
„A- aber was wollen sie von Cathrin?“, wisperte ich leise.
„Cathrin besitzt Kräfte, die niemand anders besitzt. Der Herrscher der Dunkelheit braucht ihre Kräfte, um die Regentschaft des Lichts zu beenden.“
Ich seufzte. Irgendwie kam zu dem, was ich noch nicht wusste, noch sehr viel dazu.
„Und warum haben sie mich dann gebraucht? Nur als Köder?“
„Anfangs wollte David dich dem Herrscher der Dunkelheit übergeben, weil du ebenfalls sehr mächtig sein müsstest. Doch weil das noch nicht klar ist, will der Herrscher der Dunkelheit deine Mutter, und nicht mehr dich. Also bist du jetzt der Köder, ja.“
Benommen sah ich zu dem Fenster, das auf die Straße zeigte. Der sanfte, helle Schein von flüssigem Gold schimmerte sanft herein.
„Geh weg. Bitte, lauf so schnell du kannst.“, flüsterte ich leise und wusste doch, dass meine Mutter es nicht tun würde.
Welche Mutter würde schon ihre Tochter im Stich lassen?
Ein ferner Kirchturm schlug und Ian und ich zuckten zusammen. Es war Mitternacht. Eine unheimliche Dunkelheit kroch durch das Fenster auf uns zu und ich hatte das Gefühl, darin zu ertrinken. Das kleinste bisschen Licht, das von den Straßenlaternen der weit entfernten Straße zu uns drang, schien ausgelöscht zu werden und einer schwarzen Dunkelheit zu weichen. Ich hatte das Gefühl, zu ersticken. Ian drückte mich fest an sich und versuchte, der Dunkelheit zu entkommen. Doch die Zelle war zu klein, um zu entkommen. Wir standen in der Ecke, die am weitesten von dem Fenster entfernt war und ich versuchte verzweifelt, wieder problemlos Luft zu bekommen, als David runter kam.
„Ihr habt Besuch bekommen.“, meinte David grinsend und öffnete die Zellentür.
Zwei seiner Angestellten traten ein und einer hielt mich am Oberarm fest, der andere drehte mit einer einzigen, schnellen Bewegung Ian den rechten Arm auf den Rücken und führte ihn nach draußen. Einer der oberen Räume war komplett abgedunkelt und in einer der Ecken stand ein großer, dunkler Schatten, der beinahe mit der Wand verschmolz. Ian sah ihn nicht und selbst David sah sich verloren im Raum um.
„David, wo ist sie?! Ich kann mit einer Halbstarken nichts anfangen! Ich brauche Cathrin!“


Die Stimme des Herrschers der Dunkelheit tat mir in den Ohren weh und ich bekam eine Gänsehaut. Ian sah mich unablässig an.
„Natürlich, Herr. Wir werden gleich erfahren, wo sie ist. Entweder so oder so.“
Ich hatte David noch nie so buckeln sehen. Er würde alles tun, um den Herrn der Dunkelheit zufrieden zu stellen. David winkte einen seiner Helfer herbei und der Helfer brachte jemanden mit. Eine junge Frau, die vielleicht etwas älter war als ich, mit blonden Locken und strahlend blauen Augen...
Entsetzt schnappte ich nach Luft und sah sofort zu Ian. Er starrte ungläubig zu seiner Schwester.
„Lucy?“
Sie sah zu ihm und versuchte, ihm mit Blicken etwas zu sagen.
„Du hast sie also wiedererkannt. Wir haben ihr einmal das Leben verschont, wir können es noch einmal tun.“
David hielt Lucy ein Messer an den Hals und drückte ein bisschen fester zu, ich sah einen einzelnen Blutstropfen an ihrem Hals herunter laufen. Ian ließ die Schultern hängen.
„Was willst du, David?“
David stellte sich direkt vor Ian.
„Wo ist Cathrin?“
Ian sah mich an, ich konnte nicht verhindern, dass mir die Tränen kamen. Ian musste sich jetzt zwischen seiner kleinen Schwester und mir entscheiden. Und er hätte mir vorhin beinahe versprochen, sich immer für mich zu entscheiden.
„Ich weiß es nicht. Ich habe einmal mit ihr gesprochen, in ihrem alten Haus, aber seit dem habe ich keinen Kontakt mehr zu ihr.“
Ian log nicht, sagte aber auch nicht die Wahrheit.
„Ich schwöre dir David, wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen. Ich habe Lucy schon einmal verloren, ich würde es nicht riskieren, sie noch einmal zu verlieren.“
Ian sah David direkt an und wohl oder übel musste David ihm glauben.
„Na schön. Dann eben anders.“
David wirbelte zu mir herum und attackierte mich mit seinen Blicken. Erschrocken zuckte ich zurück und prallte gegen meinen unerwünschten Wächter.
„Du weißt also, wo sie ist. Gut! Dann sag es mir.“
Mit größter Anstrengung schaffte ich es, nicht den Kopf zu drehen und zu meiner Mutter zu schauen, deren Leuchten ich aus den Augenwinkeln sehen konnte. Fieberhaft überlegte ich, was ich David erzählen sollte und ob ich ihm überhaupt etwas sagen sollte, als der Herrscher der Dunkelheit aus der Ecke trat.
„Lass mich mit ihr reden. Ich werde schon erfahren, was ich wissen will. Lass mich mit ihr, dem Jungen und seiner Schwester allein.“


„Aber, Herr...“
„Sofort!“


David erwiderte nichts, verbeugte sich kurz, gab seinen Leuten einen knappen Befehl und verschwand. Lucy sank zu Boden, kaum dass sie aus dem Griff um ihren Hals befreit war. Ian stürmte zu ihr, obwohl seine Schulter vorher schmerzhaft verdreht worden war.
„Alles okay?“
Ian sah Lucy mit einem Blick an, der mir einen leichten Stich versetzte.
„Was für ein Glück, dass Ian seine kleine Schwester nach sieben Jahren wieder gefunden hat, oder?“


Ich antwortete nicht, ich wollte Ian und Lucy nicht verunsichern.
„Wenn du mir nicht sagst, was ich wissen will“


Ian und Lucy verschwanden hinter einem komischen, schwärzlichen Schleier, ihre Stimmen klangen wie aus weiter Ferne und ihre Umrisse wirkten unscharf.
„ werden die beiden nicht mehr lange miteinander haben. Und du willst doch nicht, dass den beiden etwas schlimmes zustößt.“


Ich reagierte nicht. Ich konnte den Herrn der Dunkelheit nicht richtig sehen und Ian und Lucy waren noch immer hinter diesem schwarzen Schleier.
„Sag mir, wo deine Mutter ist und den beiden wird nichts geschehen. Sagst du mir nichts“


Der Herrscher der Dunkelheit ballte seine Hand zur Faust und Ian fasste sich an die Brust. Entsetzt sah ich ihn an.
„Es liegt an dir. Wo ist deine Mutter?“


Bei jedem Wort drückte er seine Faust ein bisschen fester zusammen und Ian schien keine Luft mehr zu bekommen.
„Nein. Nein. Ian.“
Ich wirbelte zu dem Herrn der Dunkelheit herum und merkte, wie ich hektisch atmete.
„Sag mir einfach, wo deine Mutter ist.“


Etwas veränderte sich. Der Herrscher der Dunkelheit verlor an Bedrohung für mich. Ich spürte, wie ich mich von ihm und seiner dunklen Macht entfernte und den schwarzen Schleier durchdrang.
Ian und Lucy sahen mich überrascht an. Ich hörte einen wütenden Schrei und sah schnell zu Ian und Lucy.
„Julia, du ... du leuchtest.“
„Was?“
Verwirrt sah ich ihn an.
„Kommt, wir müssen hier weg!“
Ich zog Ian und Lucy hoch und rannte mit ihnen nach draußen.
„Julia! Wir kommen hier nie raus! David und seine Kumpane lauern hier auch noch irgendwo!“
Lucy sah mich an, mit einem wachen, aufmerksamen Blick. Ein goldenes Leuchten, das ich aus den Augenwinkeln sah, brachte mich auf eine Idee.
„Wir müssen die Welten wechseln.“
„Spinnst du?!“
Lucy und Ian sahen mich beide entsetzt an.
„Es ist bei Mitternacht schon schwierig und gefährlich, außerhalb der Mitternachtsstunde ist es schon fast Selbstmord!“
Lucy sah mich an.
„Es ist unsere einzige Möglichkeit!“
Ich hatte auf einmal ein Gespür für die Dunkelheit. Ich spürte, dass die Dunkelheit um uns herum an Gefährlichkeit zunahm.
„Wo ist der nächste Übergang?“
„Du meinst ein Schlupfloch?“, meinte Lucy.
„Was auch immer!“, fuhr ich sie an.
„Da vorne, in der Seitengasse.“, antwortete Ian für sie.
„Kleine Frage: Wie stellst du dir das vor? Du weißt doch gar nicht, wie man die Welten wechselt!“, meinte Ian, als wir in der Seitengasse standen und erst mal Luft holten.
„Ich nicht.“
Ich holte kurz Luft.
„Aber Cathrin.“
Meine Mutter kam – lächelnd und leuchtend wie immer- auf uns zu.
„Hallo Ian. Hallo Lucy. Es ist schön, dass es dir gut geht.“


Ian sah Cathrin ungläubig an.
„Du willst sie das wirklich machen lassen?“
„Redet er gerade von mir, als ob ich nicht da wäre?“, fragte ich Lucy und sah meiner Mutter und Ian beim Diskutieren zu – oder vielmehr Ian beim Diskutieren, Cathrin sah ihn einfach nur an und wartete.
„Das macht er immer so, wenn er sich Sorgen um jemanden macht.“, antwortete sie mir.
„Das ist viel zu gefährlich für sie! Sie könnte dabei sterben!“ ,meinte Ian.
Cathrin machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch Ian redete schon weiter. Mir wurde das langsam zu bunt, ich spürte, wie die Gefahr langsam auf uns zu kroch und immer mächtiger wurde.
„Lucy, du musst mir jetzt erklären, wie wir die Welten wechseln können.“
Lucy sah mich nicht entsetzt an und erwiderte auch nichts, sie wusste, dass ich mich entschieden hatte. „Nimm meine und Ians Hand und konzentrier dich. Je mehr dich mit der anderen Welt verbindet, desto einfacher ist es.“
Ich sah sie schockiert an. Ich hatte keinerlei Verbindung zu der anderen Welt.
„Julya, natürlich hast du eine Verbindung zur anderen Welt. Du wurdest schließlich dort geboren.“
Cathrin hatte sich von Ian abgewandt und lächelte mich an. Cathrin hatte Recht. Ich war die Tochter der Kronprinzessin der anderen Welt, wenn ich keine Verbindung zur anderen Welt hatte, wer dann?
„Ian, gib mir deine Hand.“
Ian sah mich trotzig an.
„Nein.“
Lucy und ich sahen uns an, dann sahen wir beide ihn an.
„Ian, bitte. Wir haben keine Zeit dafür!“
Doch er sah mich weiterhin wütend an. Die Dunkelheit wurde immer bedrohlicher.
„Nein! Ich werde nicht zulassen, dass du dich selbst umbringst!“
IAN

!“
Ich konnte nicht warten, bis Ian mir freiwillig seine Hand gab, der Herrscher der Dunkelheit kam immer näher und wurde immer mächtiger. Es raschelte leise wie von einem langen, schwarzen Umhang am Ende der Gasse und wir drei fuhren erschrocken herum. Der Herrscher der Dunkelheit kam auf uns zu.
Hastig packte ich Ians Hand und wünschte mir, in der anderen Welt zu sein, dort wo das Licht regierte und wir sicher waren.

8


Als ich wieder Luft holte, spürte ich sofort, dass etwas anders war. Das Licht war heller als in der anderen Welt. Aber auch angenehmer und wärmer. Und die Luft war irgendwie sauberer.
„Alles okay?“, fragte ich Ian und Lucy und sah mich nach ihnen um.
Lucy stand japsend auf. Ian lag auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen.
„Ian?“, fragte ich nervös und beugte mich über ihn.
„Es geht ihm gut. Er ist nur ...etwas mitgenommen. So eine Reise ist ziemlich anstrengend für normale Menschen.“, meinte Lucy und klopfte sich den Staub von der Hose.
„Ian? Hey. Alles okay?“
Ich kniete mich neben ihn und sah ihn an.
„Bitte sag mir, dass es wenigstens geklappt hat, wenn du schon dein Leben riskieren musstest.“, meinte Ian mit zusammengebissenen Zähnen.
Gekränkt setzte ich mich auf.
„Mach die Augen auf und sieh selber nach.“
Ich stand auf und beobachtete ihn, während er aufstand. Er funkelte mich wütend an. Lucy versuchte, ihn zu beschwichtigen.
„Ian, sie musste das tun. Der Herrscher der Dunkelheit hätte uns alle sonst getötet!“ „Sie hätte dabei sterben können!“
„Lieber beim Übergang als vom dunklen Herrn!“
Lucy und Ian schrieen sich gegenseitig an und funkelten sich an.
„Stopp! Hört sofort auf! Es bringt nichts, wenn ihr euch jetzt streitet, wie ich am Besten sterbe!“
Ich stand zwischen den beiden und hatte meine Hände in ihre Richtungen ausgestreckt. Als sie aufhörten, ließ ich die Arme sinken und setzte mich auf einen Stein. Ich konnte nicht mehr. Der Übergang von der anderen in diese Welt hatte mich ziemlich viel Kraft gekostet und Ian war wütend auf mich, was ebenfalls an meinen Kräften zerrte.
„Alles okay, Julia?“


Meine Mutter stand vor mir und sah mich an.
„Warum stellt er sich so quer? Ich musste das tun. Wenn wir dort geblieben wären, wären wir jetzt alle tot... Oder?“
Ich sah sie an und spürte erst jetzt die Tränen in den Augenwinkeln.
„Natürlich hast du das richtige getan. Und das wird auch Ian realisieren. Er ist nur besorgt, das ist alles. Er ist von seinen eigenen Gefühlen und Empfindungen überwältigt und muss sich selbst erst zurecht finden.“


Sie kniete sich vor mich und legte eine Hand an meine Wange. Das war das erste Mal, dass sie mich berührte, auch wenn es keien richtige Berührung war, war sie doch immer noch nur eine Lichtgestalt.
„Du darfst nicht vergessen, dass er die letzten sieben Jahre nur Hass, Unzu-friedenheit, Verdruss und Einsamkeit empfunden hat.


Ich dachte einen Moment darüber nach. Ian war wirklich sehr besorgt um mich. Seufzend stand ich auf und ging zurück zu Ian und Lucy. Das Licht meiner Mutter wurde immer schwächer, bis es ganz verschwand.
„Alles okay?“
Lucy lächelte mich an. Ian schnaubte wütend.
„Ich kann ja verstehen, dass du wütend bist, aber das hat sie ja nun wirklich nicht verdient!“, meinte Lucy vorwurfsvoll.
Ian funkelte sie nur wütend an und drehte sich weg. Lucy und ich sahen uns an. Still beschlossen wir, es einfach zu lassen und Ian zu ignorieren. Lucy und ich richteten uns ein Lager für die Nacht und versuchten, mit dem Holz, das wir fanden, ein Lagerfeuer zu entfachen. Wir bekamen es irgendwie nicht richtig hin, hatten aber eine Menge Spaß und lachten viel. Ian saß ein Stück von uns weg und war wieder genauso weit von mir entfernt, wie in der Wüste, als wir uns kennen gelernt hatten. Dieser Gedanke stimmte mich traurig, doch ich war nicht bereit, mir von Ian den Spaß mit Lucy verderben zu lassen. Wenn er schmollen wollte, sollte er das tun. Lucy und ich saßen am Feuer und lachten und redeten die ganze Nacht lang.
„Ist ihm ohne Feuer nicht kühl?“, flüsterte ich Lucy irgendwann leise zu und fröstelte. „Doch, bestimmt. Aber er ist zu überheblich und zu stur, um deshalb zu uns zu kommen.“ Ich lachte leise und sah zu Ian. Er saß allein in der Dunkelheit und ignorierte Lucy und mich. Einen Moment lang sah ich noch zu ihm, dann drehte ich mich wieder zu Lucy und verbannte ihn aus meinen Gedanken.

Ich spürte, wie mir jemand über das Haar strich. Langsam öffnete ich die Augen und sah Ian neben mir knien.
„Hey.“ ,flüsterte er leise und strich mir eine Strähne hinters Ohr.
„Hey.“, erwiderte ich leise und unterdrückte ein Gähnen.
„Es ... tut mir wirklich leid, wie ich mich benommen habe. Ich wollte nur nicht, dass dir etwas zustößt.“
In seinen Augen konnte ich sehen, dass er es ernst meinte. Vorsichtig setzte ich mich auf und sah ihn an. Er sah mir in die Augen und ohne es zu wollen, beugte ich mich nach vorne. Er beugte sich ebenfalls nach vorne.
Ein plötzlicher Lichtblitz und das beklemmende Gefühl, nicht mehr allein zu sein und in großer Gefahr zu schweben, ließ mich zusammen fahren.
„Oh nein.“
Wir sahen beide entsetzt zum Himmel, der sich von einem wundervollen, mitternachtsblauen in einen bedrohlich schwarzen Himmel verwandelte. Lucy fuhr aus dem Schlaf und sah panisch zum Himmel, sie hatte schon die ganze Zeit unruhig geschlafen. „Wir müssen sofort hier weg!“ Ich stand auf und sah zum Himmel.
„Kommt .... da ein Licht auf uns zu oder ... bilde ich mir das ein?“
Lucy und Ian sahen ebenfalls in die Richtung. Der Lichtpunkt kam immer näher und so langsam konnte man erkennen, dass es Lichtgestalten auf fliegenden Pferden waren.
„Seit wann können Pferde fliegen?!“
Ich drehte mich zu Lucy und Ian um, doch Ian schien die Pferde nicht zu sehen. Verwirrt sah ich zu Lucy.
„Er kann sie nicht sehen, weil er aus der anderen Welt kommt. Er muss erst etwas von dieser Welt essen, um die Bewohner sehen zu können. Dann kann er allerdings nie wieder in seine Welt zurück.“, flüsterte Lucy mir leise ins Ohr.
„Aber... wie konntest du ... ?“, murmelte ich leise.
„Ich wurde entführt und es war auch nur kurz. Aber ich kann nicht mehr länger als 24 Stunden in eurer Welt bleiben.“
Lucy klang traurig.
„Du meinst, du musst für immer hier leben?!“
Langsam nickte sie. Ich atmete tief durch. Zumindest konnte es kaum noch schlimmer werden.
Die Pferde landeten direkt vor uns, eines direkt vor Ian. Auch wenn er es nicht sehen konnte, spürte er dessen Atem im Gesicht. Vorsichtig wich er zurück und stand direkt neben mir. Die Reiter auf den Pferden trugen silberne Helme, unter denen schwarze, seidene Haare hervorlugten.
„Wer seid ihr?“ ,fragte einer der Reiter und hielt eine Lanze vor Lucys Gesicht.
„Ich bin Lucy, ich arbeite für eure Majestät als Küchenmagd.“
Lucy sah den vordersten Reiter an.
„Und die beiden?“
Lucy und ich sahen uns an.
„Sie sind ... Freunde von mir ... aus der ... Menschenwelt ...“
Kaum hatte Lucy „Menschenwelt“ gesagt, richteten alle Reiter ihre Lanzen auf Ian und mich.
„Sie sind Menschen!“, meinte einer von ihnen halb fasziniert, halb entsetzt.
„Sie können uns noch nicht mal sehen.“, meinte ein anderer mit einer blauen Feder am Helm, und grinste gemein.
Ich sah ihn verachtend an.
„Verzeihung, aber ich kann euch sehr wohl sehen. Und hören.“
Die Reiter sahen mich an.
„Wie kann das möglich sein, Legodos?!“
Die Reiter sahen sich gegenseitig überrascht und entsetzt an.
„Kann er uns auch sehen ?“, meinte der Reiter mit der blauen Feder und setzte seine Lanze beinahe direkt auf Ians Nasenspitze.
„Hey, lasst ihn in Ruhe!“
Ich stieß die Lanze mit beiden Händen weg und funkelte den Reiter wütend an.
„Das ist doch nicht möglich! Prinzessin Julya ?!“
Die Reiter hinter ihm sanken auf die Knie, als er meinen Namen etwas komisch aussprach. Verwirrt sah ich von den Reitern zu Lucy und Ian. Ian sah ebenfalls irritiert von den Reitern zu Lucy.
„Willst du uns das vielleicht mal erklären?“
„Als Julya in die Menschenwelt gebracht wurde, hat man ihren Namen nur leicht verändert, also eigentlich nur angepasst, weil dein Großvater dachte, das würde der Herrscher der Dunkelheit nicht erwarten. In Wirklichkeit heißt du aber Julya.“
„Ist klar...“,meinte ich und sah mir die Reiter noch mal an.
Sie sahen alle gleich aus. Und wie mir erst jetzt auffiel, waren sie halb Mensch, halb Pferd. Sie hatten den Oberkörper eines starken, jungen Mannes und den Unterkörper und die Beine eines Pferdes mit riesigen Flügeln.
„Und warum kann ich sie nicht sehen?“, fragte Ian.
Lucy und ich wechselten einen schnellen Blick, Lucy schien auf mein Einverständnis zu warten.
„Weil du um sie sehen zu können etwas aus dieser Welt essen musst und wenn du etwas aus dieser Welt isst, kannst du nicht mehr in unserer Welt überleben.“
Ian brauchte einen Moment, bis er verstand, was das bedeutete.
„Oh. Heißt das, dass ich entweder verhungern muss oder für immer hier bleiben?“
„Oh, er kann denken!“, meinte einer der Reiter.
„Halt die Klappe!“, schnauzte ich ihn an und er verstummte sofort.
Ian sah mich nachdenklich an. Eine plötzliche Kälte gefolgt von einer plötzlichen, unnatürlichen Dunkelheit ließen uns zum Himmel blicken.
„Oh nein.“, flüsterten Ian und Lucy.
„Bringt die Prinzessin in Sicherheit!“
Ich bekam nur noch mit, wie einer der Reiter mich packte und abhob.
„Hey! Setz mich sofort wieder auf den Boden! Ich kann meine Freunde nicht allein lassen! Lass mich runter!“
Der Reiter lachte.
„Wenn ich Euch jetzt runter lassen würde, wärt Ihr nichts weiter als eine Pfütze am Boden, Prinzessin.“
Irgendetwas an seinem Ton ließ mich aufhorchen. In seinen Augen lag ein gemeines Funkeln. „Nein!! Lassen Sie mich runter! IAN!“, schrie ich verzweifelt und versuchte, mich zu befreien.
„Der gehört nicht zu uns! Verdammt!“
„Julia!“
Ian rannte los, ohne weiter auf die anderen zu achten oder zu warten.
„Lass. Mich. SOFORT. Runter!!“, schrie ich erneut und schaffte es, den Flügel des Typen zu fassen.
Mit aller Kraft riss ich daran und er jaulte vor Schmerz und ließ mich los. Ich spürte, wie ich langsam zu Boden sank anstatt zu fallen. Ian stand da und fing mich auf dem letzten Stück auf.
„Alles okay?“, fragte er mich und vergrub sein Gesicht in meinem Haar.
Ich nickte nur.
„Wer um alles in der Welt war das?“
Lucy kam keuchend neben uns zum Stehen. Die Reiter kamen zu uns.
„Prinzessin, wir müssen Euch in Sicherheit bringen, am Besten sofort. Wir können nicht riskieren, dass noch einmal etwas geschieht.“
Der mit der blauen Feder ließ sich auf ein Knie nieder und senkte den Kopf. Ich sah Lucy und Ian an.
„Was ist mit Ian und Lucy?“
Zwei der Reiter knieten nieder.
„Okay, das wäre wohl geklärt.“, meinte Lucy und kletterte auf den Rücken eines der Reiter.
Ian sah sich verwirrt um. Einer der Reiter ging zu Ian und setzte ihn auf seinen Rücken. „Okay, das ist ... merkwürdig.“, meinte Ian und versuchte, sich irgendwo fest zu halten. Lucy und ich hatten da weniger Probleme. Ian schien erleichtert, als wir endlich vor einem gigantischen Schloss landeten. Das Schloss war weiß und hatte mindestens vier Türme, einen wundervollen, riesigen Garten mit einem wun-derschönen Rosengarten und einem Teich mit Enten und Fischen drin.
„Das ist ja wunderschön.“, flüsterte ich und sah mich um.
„Ja, das ist es.“
Ich sah Ian an.
„Du kannst das Schloss sehen?“
„Ja. Komischerweise.“
Wir sahen Lucy an.
„Ja, du kannst schließlich auch die Landschaft sehen. Nur die Einwohner nicht.“
Weiter erklärte sie das nicht, denn das kleinere Tor öffnete sich und zwei leuchtende Personen traten durch das Tor zu uns.
„Julya!“
Meine Mutter kam auf mich zu gerannt, in einem wundervollen, weinroten Kleid und ihre Haare waren wunderschön dunkelbraun und gingen ihr bis zur Taille.
„Mum!“
Ich rannte ihr entgegen und spürte eine unglaubliche Erleichterung, als ich in ihren Armen lag.
„Es hat 17 Jahre gedauert, bis ich dich endlich in den Armen halten konnte. Und selbst jetzt kann ich dir nicht sagen, das alles in Ordnung ist.“
Ich spürte, wie ihre Tränen in meine Haare tropften. Ich hielt sie einfach nur fest und genoss das Gefühl der Mutterliebe. Als sie mich wieder los ließ, lächelte sie mich an und die Tränen in ihren Augen funkelten.
„Cathrin, willst du mir nach all den Jahren nicht meine Enkelin vorstellen?“
Mein Großvater war ein hochgewachsener, ergrauter Mann, der trotz aller Sorgenfalten auch immer noch ein schelmisches Funkeln in den Augen hatte. Lucy verneigte sich vor ihm, Ian tat es ihr nach, was mich irritierte.
„Kann nicht mal jemand diesem jungen Mann einen Lilapfel bringen?“
„Einen Lilapfel?“,fragte ich irritiert.
„Einen ganz seltenen Apfel, der – wie man wohl erraten kann – lila ist und dafür sorgt, dass der junge Mann zu deiner rechten hier nicht verhungern muss und dennoch zurück in seine Welt kann.“, erklärte mein Großvater.
Ein Diener in einem schwarzen Anzug brachte auf einem silbernen Tablett einen lilafarbenen Apfel.
„Also, hab ich das richtig verstanden? Wenn ich diesen Apfel oder Lilapfel oder was auch immer esse, kann ich wieder in die andere Welt zurück?“
Meine Mutter lächelte ihn an.
„Das heißt natürlich nicht, dass du musst ...“ Ian sah sie an, nahm den Apfel und betrachtete ihn noch mal genauer.
„Das lila sieht echt krank aus.“, meinte er schulterzuckend und biss hinein.
„Der schmeckt echt interessant ... wie ein ganzer Obstsalat.“
Ian lächelte mich an und biss noch mal in seinen Lilapfel.
„Es freut mich, dass er Euch schmeckt, junger Mann. Da fällt mir ein, dass ich Euren Namen noch gar nicht kenne.“
Mein Großvater lächelte Ian freundschaftlich an.
„Verzeiht, Euer Majestät. Nun, da ich Euch richtig sehen kann, ist es mir eine Ehre, mich vorzustellen. Mein Name ist Ian, ich bin Lucys Bruder.“
Ian verbeugte sich erneut vor meinem Großvater.
„Soso, Lucys Bruder… Es ist mir ein Vergnügen, Euch in meinem Schloss Willkommen zu heißen.“
Er nickte Ian zu.
„Gustav, zeigt unserem Gast doch bitte sein Zimmer. Und Lucy “
Lucy knickste aus Gewohnheit.
„Als erstes musst du nicht mehr vor mir knicksen, Lucy. Du bist keine Küchenmagd mehr.“ Lucy sah den König verwirrt an.
„Du bist doch nun eine Freundin meiner Enkelin, somit keine Küchenmagd mehr. Du wirst ihr doch zur Seite stehen, wenn sie dich braucht, nicht wahr?“
„Äh... Natürlich, euer Majestät.“
„Sehr schön. Dann, Gustav, zeige meiner Enkelin doch gleich ihr Zimmer und Lucy ebenfalls, das nebenan.“
Gustav verneigte sich und deutete Ian, Lucy und mir, ihm zu folgen. Ian lief ganz dicht neben mir die wunderschöne, gewundene Treppe hinauf und berührte ab und zu ganz sanft, fast wie versehentlich, meine Hand. Lucy ging vor uns hinter Gustav her und fuhr beinahe ehrfürchtig über das dunkle, glatte Holz des Geländers.
Gustav zeigte erst Ian und dann Lucy und mir unsere Zimmer. Lucys und mein Zimmer lagen ein Stockwerk höher als Ians.
„Und hier, Prinzessin, euer Schlafgemach.“
Gustav öffnete eine große, dunkle Holztür und ich betrat ein wundervolles, unglaublich schönes Zimmer. Das Zimmer besaß riesige Fenster, einen Balkon, einen wundervollen und gefüllten Kleiderschrank und ein gigantisches Himmelbett, wie man es sich als Kind immer wünschte. Staunend stand ich in der Mitte des Raums und sah mich um, als es an der Tür klopfte. Lucy betrat das Zimmer und lächelte mich an.
„Gustav sagt, um acht gibt es Abendessen. Der König und Cathrin werden bei irgendeinem Herzog erwartet, deshalb essen wir nur zu dritt. Und bis dahin können wir eigentlich machen, was wir wollen.“
Ich erwiderte ihr Lächeln.
„Hast du zufällig Lust, mir den Garten zu zeigen?“
Sie sprang begeistert auf.
„Klar!“

9


Auf dem Weg nach unten stieß ich versehentlich mit Ian zusammen.
„Hey! Ich habe euch grad gesucht!“
Er lächelte mich an und hielt mich einen kleinen Moment länger fest, als unbedingt nötig. „Wir wollten gerade in den Garten, willst du mitkommen? Da gibt es wirklich erstaunliche Dinge zu sehen, die du bei uns niemals glauben würdest.“
Lucy strahlte ihn an.
„Klar. Ich seh’ mir doch gern unglaubliches an.“
Ian lächelte sie an und ging mit uns nach unten. Wieder ging er neben mir her und berührte hin und wieder meine Hand, ohne sie zu nehmen. Ich hatte langsam das Gefühl, wahnsinnig zu werden. Wir traten durch eine gut verborgene Tür in den Garten des Schlosses, der von allen Seiten von hohen Mauern eingegrenzt wurde und dennoch groß genug war, um ein paar sonnige Stunden lang seine Sorgen zu vergessen.
„Das ist ja wunderschön.“, flüsterte ich begeistert und sah mich fasziniert um.
Es gab eine riesige Wiese, ein paar Bäume und sogar einige Tiere.
„Die Tiere gehören alle dem König und sind ganz zahm.“, erklärte Lucy uns und rannte lachend davon und schlug auf der Wiese einfach mal so ein Rad. Ich lief zur Wiese und genoss das Gefühl des Sonnenlichts auf meiner Haut. Ian lief schweigend neben mir her, doch auch er fühlte sich hier wohl. Als wir die Wiese erreichten, schmuste Lucy gerade mit jedem Tier, dass an ihr vorbei kam und nicht schnell genug flüchtete. Ich setzte mich auf das Gras, Ian sich neben mich. Seine Hand war wieder in der Nähe von meiner, und wieder gab es keinen längeren Kontakt. Lucy hatte einen Spielkameraden gefunden, einen niedlichen kleinen Cockerspanier, der mit ihr über die Wiese tollte. Das laute Gebell und Lucys glückliches Lachen war im ganzen Garten zu hören. Irgendwann lehnte ich mich gegen Ian und er legte behutsam sein Kinn auf meinen Kopf. Ich schob behutsam meine Finger zwischen seine und achtete auf seine Atmung. Es gefiel mir, wie er langsam seine Finger um meine schloss. Als er meine Hand hielt, fühlte es sich ein bisschen so an, wie bevor David aufgetaucht war. Bei den Erinnerungen an diesen Ian musste ich seufzen. Ian küsste mich sanft auf die Stirn.
„Was ist?“ ,flüsterte er mir leise ins Ohr.
„Gar nichts. Es ist nur ...“
Ich seufzte.
„Bevor David das zweite mal aufgetaucht ist, warst du ... anders. Glücklicher. Und jetzt ...“
„Jetzt bin ich wieder so verbittert wie am Anfang.“
Er lachte leise, freudlos. Ich sagte gar nichts.
„Es tut mir leid. Ich weiß, dass ich ziemlich ruppig zu dir war, als wir hier ankamen. Es ist nur ... mir hat noch kein Mädchen so viel bedeutet wie du. Und ... ich habe einfach Angst, dass dir etwas zustößt oder ... ich dich verlieren könnte.“
Überrascht sah ich ihn an. Er wich meinem Blick nicht aus und sein Blick war so weich, dass ich beinahe zerflossen wäre.
„Ian.“
Ich lächelte ihn an und spürte, wie mir eine Träne über die Wange lief. Er wischte sie liebevoll mit einem Finger weg, lächelte mich an und beugte sich zu mir vor.
„Wenn ich ihr wärt, würde ich das nicht hier machen.“
Lucy stand plötzlich vor uns und sah auf uns herab.
„Lucy, du nervst vielleicht!“
Ian zog mich enger an sich und sah Lucy wütend an.
„Ich meine ja nur. Julya muss erst noch den Herrn der Dunkelheit besiegen. Und außerdem ist sie eine Prinzessin.“, meinte sie achselzuckend.
„Was soll das denn jetzt schon wieder heißen?“, fragte ich sie und sah sie an.
„Dass wir heute Abend zu viert Essen werden.“
Ian und ich sahen erst uns und dann sie irritiert an, doch Lucy schüttelte nur den Kopf. Bevor einer von uns nachfragen konnte, ging das Tor auf und eines der geflügelten halb Mensch halb Pferde – Wesen trat zu uns.
„Verzeiht Prinzessin, aber Prinz Dustin ist eingetroffen und verlangt, Euch zu sehen.“ Ich warf Lucy einen kurzen Blick zu und sah dann wieder zu dem Pferdemenschen.
„Er verlangt

? Was glaubt er, wer er ist?“, fragte Ian.
„Vielleicht glaubt er ja, er sei ein Prinz, der eine rationale Chance hat, die Prinzessin zu heiraten?“
„WAS?“
Ian und ich sprangen schockiert auf.
„Ganz toll Danielle, wirklich klasse.“, seufzte Lucy.
„Ich soll irgendeinen daher gelaufenen Prinzen heiraten?! Wolltest du mir das auch noch irgendwann vor der Hochzeit sagen?! Aaaaah!!“
Ich warf die Lampe, die auf meinem Nachttisch stand, mit voller Wucht auf den Boden und machte mit der Blumenvase weiter.
„Jules, reg dich ab. Es ist erst mal bloß ein Abendessen.“
„Oh natürlich, weil du dich auch gar nicht darüber aufregst!“, fuhr ich Ian an und suchte ein weiteres zerstörbares Objekt.
„Hey. Hey. Hey!”
Ian packte mich an den Oberarmen und schüttelte mich leicht.
„Jules. Ich weiß, dass es dir nicht passt. Aber anscheinend musst du das tun.“
Ich funkelte Ian an, doch er gab nicht nach.
„Also macht es dir nichts aus, dass ein anderer damit rechnet, dass er mich einmal heiraten wird?“
„Das habe nicht gesagt.“
„Es klingt aber so.“
„Jetzt wirst du unfair.“
„Natürlich werde ich unfair! Ich soll einen arroganten, selbstverliebten Prinzen daten! Und du“
Ich deutete auf Lucy, die am Fenster stand.
„wenn du noch mal vergisst, mir so etwas wichtiges zu sagen, kann ich für nichts garantieren!“
„Okay, ich hab’s verstanden! Es tut mir leid!“
Ein Klopfen an der Tür unterbrach meinen Wutausbruch.
„Verzeiht Euer Hoheit. Das Essen ist angerichtet.“
Ich sah Ian und Lucy verzweifelt an, doch Ian deutete mir, dem Diener zu folgen. Seufzend ging ich ihm nach, die Treppe hinunter und in den Speisesaal.

„Ah, Prinzessin Julya! Welch eine Ehre, Euch endlich nach all den Jahren kennen zu lernen!“
Ein großer, muskulöser junger Mann kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Ian, Lucy und mir klappte der Mund auf.
„Was für ein Muskelprotz.“, murmelte Lucy begeistert.
Ian gab ein undefinierbares Geräusch von sich, als Prinz Dustin mir einen sehr feuchten Kuss auf die Hand drückte.
„Es ist angerichtet. Euer Hoheit.“
Danielle zog mir den Stuhl zurück und ich setzte mich. Ian wollte sich neben mich setzten, doch Prinz Dustin war schneller. Ohne irgendetwas zu sagen setzte Ian sich mir gegenüber und Lucy sich neben ihn. Ich sah Ian in die Augen, während Prinz Dustin mich den ganzen Abend über vollquatschte und Lucy über jeden seiner Witze lachte.
„Endlich ist das vorbei!“
Seufzend ließ ich mich auf mein Bett fallen und schrie ins Kopfkissen. Ian setzte sich neben mich und streichelte mir sanft über den Kopf.
„So schlimm war es doch gar nicht.“
Langsam richtete ich mich auf und sah ihn an.
„Ich hab noch nie eine schlechtere Lüge als das gerade gehört.“
„Na gut, du hast recht. Er ist widerlich. Und das sage ich nicht nur, weil er dir die Hand abgeschlabbert hat.“
Ich musste lachen und auch Ian lächelte.
„Wenn ich den wirklich heiraten müsste, würde ich mich umbringen.“, meinte ich und schmiegte mich an Ian.
Ian legte nach einer kurzen Schrecksekunde seinen Arm um mich und zog mich an sich.
„Wenn er dich zwingen wollte, ihn zu heiraten, würde ich ihn umbringen.“
Ich sah ihn von unten her an.
„Wirklich?“
Er sah mich an.
„Glaubst du wirklich, ich will, dass ein anderer dich heiratet?“
Ich brauchte einen Moment, um den ganzen Sinn seiner Worte zu verstehen. Er wartete, bis ich ihn ansah.
„Bevor ich dich in der Wüste fand, war ich verbittert und von Hass zerfressen. Aber du ... du warst so anders als alle Mädchen, die ich bis dahin kannte. Du hattest keine Angst vor mir - oder hast es jedenfalls trotzdem fertig gebracht, mir zu sagen, was du gerade denkst. Als David uns in meinem Haus eingesperrt hat, wäre ich nie auf die Idee gekommen, durch das Fenster zu türmen. Aber für dich war es so selbstverständlich. Und du hast das alles so akzeptiert, wie es war. Du ... du bist faszinierend. Und das meine ich nicht wie bei einem Projekt oder so. Ich meine einfach ... du bist ...“
Ich musste lachen.
„ ... wundervoll.“
Ich sah Ian an.
„Das hast du schön gesagt. Danke.“
Ich konnte sehen, wie erleichtert er war. Grinsend streckte ich mich zu ihm hoch und küsste ihn. Und es war mir völlig egal, dass ein Stockwerk unter uns ein Prinz schlief, der vor hatte, mich zu heiraten.

Am nächsten Morgen wurde ich von den Sonnenstrahlen geweckt. Ich stand auf, ging auf den Balkon und betrachtete den Garten. Es war wunderschönes Wetter, ich fühlte mich großartig, war glücklich und niemand konnte mir dieses Glücksgefühl nehmen.
Auch nicht meine Mutter, die beinahe zaghaft klopfte, in mein Zimmer geschwebt kam wie eine Fee und mich mit einem zuckersüßen Lächeln bat, mit ihr einen Spaziergang zu machen.
Wir gingen in den Garten.
„Julya ... Es ist sehr schwierig für mich, dich darum zu bitten, aber ...“
Ich sah meine Mutter leicht angespannt an.
„Aber was?“
Instinktiv wusste ich, dass sie mich um etwas bitten wollte, das nicht leicht werden würde. Sie lächelte mich an.
„Du merkst schon, dass es nicht einfach wird, nicht wahr?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Ich habe `leicht` gedacht, aber im Prinzip genau das.“
Cathrin seufzte.
„Es ging schneller, als ich dachte.“
Auf meinen verständnislosen Blick hin, führte sie mich zum See und setzte sich mit mir auf eine weiße Bank.
„Du weißt, warum du hier bist.“
„Nicht so genau.“
„Aber du erinnerst dich noch genau an das, was alles passiert ist, bevor und kurz nachdem du hier angekommen bist.“
„Ja, das weiß ich noch. Sollte ich das vergessen haben?“
Cathrin lächelte mich an.
„Nein, aber es wäre möglich gewesen. Du weißt, dass der Herrscher der Dunkelheit versucht, uns zu vernichten und es einen Verräter am Hof gibt. Wir müssen raus finden, wer der Verräter ist, nur so können wir ihn stoppen. Und um das zu schaffen, müssen wir wissen, wie mächtig du inzwischen bist.“
„Weil ich 17 Jahre in der anderen Welt gelebt habe oder weshalb?“
„Das und weil dein Vater aus der anderen Welt kommt.“
Cathrin bekam einen sehnsüchtigen, schmerzlichen und traurigen Blick, als sie meinen Vater erwähnte.
„Was ... ist eigentlich mit ... meinem Vater?“
Cathrins Blick wurde noch schmerzerfüllter.
„Dein Vater ist ... ein Gefangener des Herrschers der Dunkelheit. Er ... wurde gefangen, als wir versuchten, in diese Welt zurück zu kehren. Er hat mich gerettet.“
Cathrins Augen füllten sich mit Tränen. Ich saß fassungslos da und wusste nicht, was ich tun sollte.
„Ich ... ich wünschte, du hättest ihn kennen gelernt. Er war so ein toller Mensch. Er war so klug und lustig und ...“
Sie verstummte, als mein Großvater auf uns zu kam.
„Da seid ihr ja meine Lieben! Es wird Zeit.“
Die Art, wie er das sagte, gefiel mir gar nicht.
„Was ... ist das eigentlich für ein Test?“, fragte ich Cathrin und konnte nicht verhindern, dass ich nervös klang.
„Es ist nur ein kleiner Test, ob du über besondere Fähigkeiten verfügst oder nicht. Und wie mächtig diese Fähigkeiten sind.“
Ich hatte Mühe, mich an das Glücksgefühl von heute Morgen zu erinnern und weiter neben Cathrin und meinem Großvater her zu gehen.
„Es ist im Prinzip ganz simpel zu erklären.“
„Im Prinzip ...“, murmelte ich leise vor mich hin und konnte das ungute Gefühl nicht länger unterdrücken.
„Wir werden gleich diese Arena betreten. Alles was du tun musst, ist, zu versuchen, irgendwie hinaus zu kommen. Mit allen Mitteln, es ist alles erlaubt.“
Mein Großvater lächelte mich an, als ob das ein riesen Spaß werden würde.
„Ah ... haha, haha, haha ...“
Panik stieg in mir hoch. Ich wusste zwar nicht, was genau auf mich zu kam, aber ich wusste, dass es weder spaßig noch einfach werden würde. Ich sollte in einer Arena gegen irgendetwas oder irgendjemanden kämpfen und versuchen, aus der Arena raus zu kommen. Und ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte.
„Hier kannst du dich vorbereiten. Lucy wird dir helfen.“
Cathrin sah mich sorgenvoll an und küsste mich auf die Stirn, was meine Sorgen nicht wirklich minderte.
„Lucy ... Was genau ... erwartet mich da eigentlich?“
Lucy hörte kurz auf, mir ein Lederarmband um das Handgelenk zu wickeln.
„Ich weiß es nicht. Aber es wird nicht leicht. Wahrscheinlich erwarten dich eine Menge Zauberwesen.“
„U – und wie soll ich gegen die ankommen? Du weißt, dass ich noch nie meine Kräfte benutzt habe!“
„Das ... stimmt so nicht ganz ...“
Ich sah sie an.
„Was? An was denkst du gerade?“
„Du hast uns hier her gebracht, schon vergessen? Das war deine Kraft. Und so schaffst du auch die Arena.“
Lucy hielt meine Hände umfasst und sah mich an.
„Okay.“
Lucy schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und band mir das Lederarmband um.

„Julya? Bist du fertig?“
Ich drehte mich zur Tür um. Meine Mutter stand in der Tür und sah mich an.
„Ja ... ja, ich bin...gleich soweit.“
War ich nicht, aber das merkte wohl jeder, der in meiner Nähe war – also niemand. Lucy war in der Arena, in einem sicheren Teil, was nichts gutes bedeutete und Ian hatte ich heute noch gar nicht gesehen. Mein Mutter warf mir noch einen letzten, entschuldigenden Blick zu und ging wieder. Ich drehte mich um, schloss die Augen und atmete tief durch. Leise Schritte vor der Tür ließen mich die Augen öffnen und mich wieder umdrehen.
„Hey.“ Ian stand in der Tür und hatte den Kopf gesenkt.
„Hey.“, erwiderte ich erleichtert und lächelte ihn an.
Er kam auf mich zu, noch immer mit gesenktem Kopf und ohne mich anzusehen zog er mich an sich und hielt mich fest.
„Ist ... alles okay, Ian?“
Mein Kopf lag an seiner Schulter und meine Hand lag an seinem Rücken.
„Ian?“
Ich schob ihn leicht von mir und wollte ihn ansehen, doch er drehte sein Gesicht weg. „Ian, sie mich an. Sieh mich an.“
Ian drehte den Kopf noch weiter weg.
„Ian. Bitte. Sieh mich an.“
Vorsichtig legte ich ihm meine Hand an die Wange und drehte seinen Kopf langsam zu mir. Seine Wange war verziert mit einer Schürfwunde und er hatte ein Veilchen am linken Auge. „Was ...was ist passiert?“
Ich konnte ihn nur schockiert anstarren.
„Das ist halb so schlimm, wie es aussieht, Jules.“
„Ach, wirklich? Das wäre aber immer noch verdammt schlimm.“
„So ein Quatsch. Es ist nichts, wirklich.“
Ich sah ihn skeptisch an.
„Wer war das?“
„Was?“
„Du hast mich verstanden. Ich will wissen, wer dich so zu gerichtet hat.“
Ich sah ihn an und stemmte eine Hand in die Hüfte.
„Das ist doch ... Musst du dich nicht auf irgendwas vorbereiten?“
„Lenk nicht ab, Ian!“
„Lucy kommt jeden Moment durch die Tür um dich zu holen und du streitest hier mit mir wegen ein paar kleinen Verletzungen.“, versuchte Ian das ganze runter zu spielen.
Wie aufs Stichwort stand Lucy keuchend in der Tür.
„Julya, kommst du? Es warten schon alle.“
„Ich komm gleich, Lucy. Ich muss erst noch was klären.“
Ich drehte mich wieder zu Ian um und sah ihn an.
„Julya, du musst wirklich ...“
„Ich komm ja gleich!“, fuhr ich Lucy an.
„Musstest du sie so anfahren?“, fragte Ian mich, als sie weg war.
„Musst du mir immer ausweichen?“
Ian seufzte.
„Gestern Abend ... hat Prinz Dustin mich gesehen, als ich aus deinem ZImmer gekomen bin. Und heute Morgen ... sind drei riesige Typen aufgetaucht und wollten mich überzeugen, dass es besser wäre, wenn ich mich ... von dir fern halte.“
„Bitte WAS?!“
Cathrin erschien in der Tür.
„Julya. Komm endlich.“
Ich sah Ian an, während Cathrin mich mit sich zog und versuchte, meine Wut in den Griff zu bekommen.

„Julya. Du musst einfach nur versuchen, den goldenen Schlüssel zu finden und ihn zu deinem Großvater bringen. Und bitte, sei vorsichtig.“
Cathrin sah mich an, küsste mich auf die Stirn und ließ mich allein vor den Gittertüren stehen, die mich in die Arena führten. Die Türen gingen auf und ich betrat die Arena, doch ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich konnte nicht aufhören, an Ians Verletzungen zu denken. So schaffte ich es gerade noch rechtzeitig, einem riesigen Greif auszuweichen, der sich auf mich stürzte. Ich warf mich auf den Boden und rollte mich unter einen riesigen Baumstamm.
„Was um alles in der Welt ist denn das?!“
Der Greif landete auf dem Baumstamm und verharrte. Leise fluchend überlegte ich mir, wie ich hier raus kommen könnte. Ein Rascheln am Waldrand lenkte die Aufmerksamkeit des Greifs auf sich. Ohne auch nur darüber nach zu denken rollte ich mich auf der anderen Seite des Baumstamms raus, sprang auf und rannte Richtung Wald. Der Greif war zu sehr mit dem Rascheln am Waldrand beschäftigt. Als ich im Wald war, musste ich erst mal Luft holen. Ich sollte den goldenen Schlüssel holen. Wenn ich einen goldenen Schlüssel verstecken würde, wo würde ich das machen?
Der Greif fauchte und sprang auf das Gebüsch zu, in dem es vorhin geraschelt hatte und ein schneeweißer Hase schoss daraus her vor, um den Hals trug er – eine Goldkette mit einem kleinen, goldenen Schlüssel. Sofort setzte der Greif ihm nach.
„Das ist nicht dein Ernst, oder Cathrin?“, stöhnte ich und jagte dem Hasen und dem Greif nach. Doch der Hase und der Greif waren viel zu schnell für mich.
‚Oh, komm schon! Irgendwie muss ich das doch schaffen können!’ ,dachte ich und überlegte fieberhaft, wie ich es schaffen sollte, an diesen verdammten Schlüssel zu kommen. Ich musste den Hasen fangen, bevor es der Greif tat. Ich beobachtete den Hasen und den Greif. Der Hase war schnell und schaffte es immer wieder ganz knapp, dem Greif mit ein paar Harken auszuweichen. Und er rannte immer im Kreis ... An einer der Stellen, an denen der Hase immer vorbei rannte, stand ein Baum, dessen einer Ast genau auf der Höhe war, dass ich den Hasen erwischen könnte. Schnell kletterte ich auf den Baum und wartete, bis der Hase wieder Richtung Baum rannte. Ich ließ mich rückwärts runter und bekam den Hasen zu fassen.
„Hab dich!“
Ich ließ mich fallen und stand auf beiden Beinen. Der Hase sah mich aus großen, panischen, braunen Augen an. Ein Fauchen hinter mir erinnerte mich an den Greif. Ich wirbelte herum und sah, dass der Greif direkt auf mich zu lief, sehr schnell und er war nur noch wenige Meter entfernt.
„Oh-oh.“
Panisch schloss ich die Augen und wünschte mir, in Sicherheit zu sein. Für einen Moment spürte ich, wie der Wind an mir vorbei raste, dann war alles wieder ruhig und ich öffnete die Augen. Der Hase sah mich an und atmete etwas schneller, aber sonst ging es ihm gut. Dann merkte ich erst, wo ich mich befand – in Ian’s Zimmer.
„Julia!“
Er lag auf seinem Bett und sah mich überrascht an.
„Was machst du denn hier?“
Ich nahm dem Hasen die Kette ab, streichelte ihn kurz und setzte ihn dann auf den Boden. „Ich ... weiß nicht genau ...“
Ich ging zu ihm und warf mich neben ihm aufs Bett. Zögernd strich er mir übers Haar.
„Ich hab den Hasen gejagt und dann hat der Greif mich angegriffen, ich hab die Augen zugemacht und war plötzlich hier.“
Erschöpft lehnte ich meinen Kopf an seine Schulter. Ich spürte, wie er seine Lippen sachte auf mein Haar presste.
„Wenn dein Prinz dich hier findet, dreht er völlig durch.“
„Er ist nicht mein Prinz. Ich kann ihn nicht ausstehen.“
Ich drehte mich zu ihm um.
„Warum nicht?“
Vorsichtig legte ich meine Hand an seine geschundene Wange und er zuckte kurz.
„Warum wohl nicht?“
Er lächelte mich traurig an.
„Du solltest gehen, bevor sie dich hier finden.“
„Nein, ich will bei dir bleiben. Es ist mir egal, was die anderen denken.“, jammerte ich. Er küsste mich auf die Stirn.
„Ich weiß. Aber es ist besser so. Du musst doch glaube ich noch den Schlüssel abgeben.“ „Manno.“
Er lachte leise und küsste mich.
„Du weißt, wie viel du mir bedeutest, oder ?“
Ich nickte.
„Ja. Und du weißt, dass ich nur dich will.“
Ich küsste ihn, länger und gefühlvoller als zuvor. Dann stand ich widerwillig auf.
„Sehn wir uns morgen?“
„Wenn das dein Wunsch ist, Prinzessin.“
Er lächelte mich an, doch ich konnte sehen, wie betrübt er war. Ich nickte erneut, kniete mich hin und nahm den Hasen wieder auf den Arm.
„Bis morgen um 10 im Garten?“
„Ich werde da sein.“, versprach er.
Ich hatte das Bedürfnis, noch irgendetwas zu sagen, doch wusste ich nicht, was. Also nickte ich noch einmal und wünschte mich zurück in die Arena.

„Julya! Alles okay?“
Cathrin stürmte in die Arena, kaum, dass ich aus dem Wald trat und umarmte mich.
„Mir geht’s gut, es ist alles in Ordnung.“, versicherte ich ihr.
Über ihre Schulter hinweg konnte ich Lucy sehen, die Prinz Dustin anhimmelte und hinter ihm her auf mich zu gerannt kam.
„Meine Hochachtung, Prinzessin Julya! Das war grandios!“
„Jaja, wie auch immer.“
Ich sah gerade, wie mein Großvater versuchte, sich aus der Arena zu schleichen – was auch niemand außer mir bemerkte.
„Entschuldigt mich kurz, ich muss ... kurz was schauen.“, entschuldigte ich mich von Cathrin und Lucy und ließ Prinz Dustin einfach stehen.
Vorsichtig schlich ich meinem Großvater nach. Er stand draußen in der kalten Nachtluft und unterhielt sich flüsternd mit einem maskierten Mann. Ich verstand kaum etwas von dem, was sie sprachen.
„... immense Kräfte, noch mächtiger, als ich erwartet habe ...“
Die Stimme des anderen Mannes ließ mich frösteln und verursachte bei mir Gänsehaut. Sie war rasselnd und klang wie Fingernägel, die über Eis gezogen wurden.
„ ... bis zum nächsten Vollmond, oder ...“
„... ist zu kurzfristig ... brauche mehr Zeit ...“
„... Abmachung , oder wir werden ...“
Ich erfuhr nicht mehr, was sie würden, denn die Tür ging auf und ich musste mich schnell verstecken. Es war Cathrin.
„Vater, was machst du hier?“
„Frische Luft holen. Komm, mein Kind, lass uns rein gehen, es ist kalt hier draußen.“ Mein Großvater und Cathrin gingen wieder rein.
Ich kam hinter der Ecke vor, doch der Mann war verschwunden. Mit einem unguten Gefühl schlich ich mich rein.
Den restlichen Abend musste ich mit Prinz Dustin, der mir tierisch auf die Nerven ging, weil er die ganze Zeit versuchte, meine Aufmerksamkeit zu erhalten, und Lucy , die mir auf die Nerven ging, weil sie Prinz Dustin die ganze Zeit anhimmelte, verbringen. Eigentlich wollte ich nur zu Ian, doch ich hatte keine Chance, mich davon zu stehlen. Gegen ein Uhr morgens reichte es mir entgültig und ich ging, während Prinz Dustin auf Toilette war. Auf dem Weg zu meinem Zimmer dachte ich an Ian und daran, wie sehr er sich seit unserer ersten Begegnung verändert hatte. Und daran, was mein Großvater mit diesem komischen Mann besprochen hatte. Doch als ich endlich in meinem Bett lag, schlief ich sofort ein.

10


Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war es schon kurz vor zehn.
„Mist!“
Fluchend hetzte ich durchs Zimmer, zog mich um und sprintete runter in den Garten. Trotz aller Bemühungen kam ich knapp fünf Minuten zu spät.
„Entschuldige. Ich habe verschlafen.“, erklärte ich Ian keuchend und wollte ihn küssen, doch er drehte seinen Kopf ganz leicht, was allerdings schon ausreichte, um mich zu irritieren. Ohne mir irgendetwas anmerken zu lassen, setzte ich mich auf das Gras in die Sonne und lehnte mich gegen den Stamm des Baumes. Zögernd setzte sich Ian neben mich. „Lucy hat mir erzählt, wie großartig du gestern deine Aufgabe erfüllt hast.“
„Ja... das wusstest du aber schon.“, antwortete ich.
„Aber du hast mir nicht alles erzählt.“
„Was hab ich dir denn nicht erzählt?“, fragte ich ihn verwundert.
„So ziemlich alles außer das mit dem Greif, dem Hasen und dem Schlüssel.“
„Dich interessiert, wie ich durch den Wald renne?“
Ich registrierte, dass Ian ein ganzes Stück von mir entfernt saß und Ian irgendwie verkrampft versuchte, sich mit mir normal zu unterhalten. Ich streckte meine Finger vorsichtig in Ians Richtung, doch kurz bevor ich seine Hand berührte, zog er seine Hand weg. Enttäuscht zog ich die Hand zurück.
„Was ist los mit dir, Ian?“, fragte ich ihn leise und konnte nicht verhindern, dass meine Enttäuschung und der Schmerz über die Zurückweisung zu hören waren.
„Nichts, was soll sein?“
Ian sah mich nicht an, während er antwortete.
„Was sein soll? Du bist so... so... anders als sonst, Ian.“
Ich nahm seine Hand, er entzog sie mir sofort wieder.
„Was soll das?“
Ich sah Ian an.
„Jules ...“
Ian war kurz davor, mich in den Arm zu nehmen, doch im letzten Moment entschied er sich dagegen.
„Es ist einfach kompliziert zur Zeit.“
„Kompliziert...“, wiederholte ich hohl und sank zurück gegen den Baumstamm.
„Julia, ich...“
Ian brach mitten im Satz ab.
„Was?“
Ian stand auf und schüttelte den Kopf.
„Ian.“
Ich stand ebenfalls auf.
„Sag mir jetzt endlich, was los ist!“
Ich lief hinter ihm her.
„Nichts, womit du dich beschäftigen musst. Es ist alles unter Kontrolle.“
„Unter Kontrolle?! Merkst du eigentlich, was hier los ist?! Ian!“
Vor lauter Frust und Wut wurde ich immer lauter, doch er blieb nur stehen.
„Ich liebe dich, Ian.“
Endlich drehte er sich um.
„Du entfernst dich immer mehr von mir. Ohne mir zu sagen, warum.“
Unsere Blicke trafen sich und was auch immer er vor hatte, jetzt trat er diese drei Schritte zwischen uns auf mich zu, zog mich an sich und küsste mich. Als er mich wieder los ließ, sah er mich an.
„Ich liebe dich, Jules. Ich liebe dich wirklich. Aber ...“
Er sah kurz in den Himmel.
„Wir sind hier nicht bei uns, in unserer Welt. Hier ist alles anders... du bist hier jemand anders. Es gibt Dinge, die hier von dir erwartet werden. Und ich gehöre nicht zu diesen Dingen.“
„Was meinst du damit?“, fragte ich ihn verwirrt.
„Die Diener ... haben Wetten laufen, wann die Hochzeit von Prinzessin Julya und Prinz Dustin bekannt gegeben wird.“
Geschockt sah ich ihn an.
„Was?“, fragte ich kleinlaut und drückte mich enger an ihn.
Ian hielt mich fest.
„Wer entscheidet das?“, fragte ich ihn.
„Ich weiß es nicht, aber wahrscheinlich hat Cathrin ein gewisses Mitspracherecht.“, antwortete er und küsste mich auf die Stirn.
„Hm.“, machte ich und legte meinen Kopf an seine Brust.
„Was hast du vor?“ ,fragte er mich misstrauisch.
Ich hob den Kopf und lächelte ihn an.
„Nichts, worum du dich kümmern musst.“
Er lächelte mich an.
„Ich will’s gar nicht so genau wissen.“, meinte Ian lächelnd und küsste mich. Sehr lange und sehr gefühlvoll.

„Geh mir aus dem Weg, ich muss mit meiner Mutter reden. Jetzt.“
Ich scheuchte den Diener, der verzweifelt versuchte, mich weg zu schicken, weg und klopfte an die Tür.
„Herein.“, ertönte die sanfte Stimme meiner Mutter und ich trat ein.
„Julya! Was kann ich für dich tun?“
Sie sah von ihrem Schreibtisch auf.
„Oh, ich wollte eigentlich nur mal wissen, wann du mir sagen wolltest, dass schon fest steht, dass ich diesen arroganten Typen von Prinz Dustin heiraten soll und nur der Termin noch festgelegt werden muss.“
Vollkommen ruhig setzte ich mich auf ihren Schreibtisch und ließ die Beine baumeln. Ganz locker legte Cathrin den Stift, den sie gerade in der Hand hielt weg und sah mich an.
„Du hast recht, es war ein Fehler, es dir nicht gleich zu sagen.“
„Allerdings.“
„Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es so ist.“
Cathrin sah mich an, ich erwiderte ihren Blick.
„Ist das so ein Prinzessinnen – Quatsch? Ohne mich.“
„Julya, du bist die Prinzessin dieses Landes und du wirst eines Tages dieses Reich regieren und dazu brauchst du einen Ehemann.“
„Mag sein, aber ich werde nicht Prinz Dustin heiraten.“
„Du musst aber.“
„Oh, weil du das so entscheidest, oder was? Ich bin nicht hier aufgewachsen, ich bin nicht die Prinzessin, die sich alles sagen und gefallen lässt, was man ihr sagt. Und ich bin nicht der Typ Mensch, der seine Gefühle für den Rest seines Lebens unterdrückt, nur damit irgendwelche anderen zufrieden sind! Oder hast du den Prinzen geheiratet, der für dich bestimmt war?“
Cathrin und ich sahen uns lange an.
„Du hast recht. Ich habe ihn nicht geheiratet, weil ich nicht hier war und ich bereue es nicht, denn sonst hätte ich deinen Vater nicht kennen gelernt und es gäbe dich nicht.“ „Also?“
Cathrin sah mich an.
„Die Entscheidung liegt nicht bei mir, Julya. Dein Großvater hat das entschieden. Aber ich werde sehen, was ich tun kann.“
„Okay, aber selbst wenn er sagt, ich soll ihn heiraten, werde ich es nicht. Eher gehe ich mit Ian zurück.“
Cathrin sah mich an.
„Die Entscheidung kann ich dir kaum verübeln.“

Das Glücksgefühl, das ich verspürte, nachdem ich Cathrins Büro verließ, war unglaublich. Ich fühlte mich so glücklich wie schon lange nicht mehr. Ich tanzte beinahe durch die Flure und zu Ians Zimmer. Als ich gerade den Gang betrat, hörte ich laute Stimmen. Vorsichtig schlich ich zu der Ecke und spähte daran vorbei zu Ians Zimmer. Dort stand Prinz Dustin in Ians Tür und redete mit ihm – oder drohte ihm viel mehr.
„Sie ist meine Braut, also halt dich von ihr fern. Ich versteh’ sowie so nicht, was sie von einem wie dir will.“
Das war mir zuviel. Ich trat hinter der Ecke hervor, schnappte mir die Blumenvase von der Kommode und schüttete das Wasser Prinz Dustin über den Kopf.
„Ich entscheide, wen ich heirate. Und wenn du es wagen solltest, Ian noch mal wegen seiner nicht königlichen Herkunft zu diskriminieren, schmeiß ich dich hochkant raus, verstanden?“
Prinz Dustin sah mich wie ein begossener Pudel an, Ian sah beinahe entsetzt und beinahe belustigt aus.
„Ich versteh’ sowieso nicht, warum du mich unbedingt heiraten willst. Es gibt jemanden, der das gerne würde im Gegensatz zu mir.“
„Ach wirklich?“ ,fragten Dustin und Ian gleichzeitig.
„Jungs, ernsthaft. Ihr bekommt ja gar nichts mit.“, meinte ich und verdrehte die Augen. „Ihr habt nicht gemerkt, wie Lucy ihn anstarrt? Nicht mal du, Ian?“
Ich sah ihn an.
„Nein.“, antworteten beide.
„Geh und frag sie, ob sie mit dir ausgehen will. Na los! Los! Los! Los!“
Dustin ging und ich drehte mich zu Ian um.
„Und was machen wir jetzt?“
Ich lächelte ihn an.
„Hm.“
Er zog mich an sich.
„Davon abgesehen, dass du vermutlich schon fast alle Regeln gebrochen hast, gäbe es da noch die ein oder andere die man noch brechen kann.“
Das Funkeln in seinen Augen jagte mir heiße Schauer durch den Körper.
„Du meinst... so Regeln, die man nur zu zweit brechen kann?“
Ich sah ihn fragend an und fuhr mit meinen Händen am Rand seines Hemdkragen entlang. „Genau die.“, hauchte Ian und ich konnte seinen heißen Atem auf meinen Lippen spüren. Ich konnte nicht anders als meine Lippen auf seine zu pressen. Ian zog mich noch enger an sich, hob mich auf seine Arme, trug mich ins Zimmer und schloss die Tür ab.
„Wenn das jemand mitkriegt, sind wir erledigt.“, meinte Ian und küsste mich so leidenschaftlich, dass mir für einen Moment die Luft weg blieb.
„Deshalb macht es ja so Spaß.“
Ich presste meine Lippen auf seine und fuhr mit den Lippen seinen Hals entlang. Ian zog scharf die Luft ein. Ich musste grinsen.
„Gefällt dir das?“, flüsterte ich ihm leise ins Ohr.
„Muss ich dir zeigen, wie sehr?“
Ian und ich lagen neben einander auf dem Bett, dann drehte er uns so, dass er auf mir lag, und stützte sich auf den Ellenbogen ab. Ich legte meine Arme um seinen Hals und zog ihn zu mir nach unten. Ich spürte, wie Ians weiche Lippen von meinen Lippen über mein Schlüs-selbein zu meinem Hals wanderte und dort sanft saugte. Vor Genuss schloss ich die Augen und schnappte nach Luft. „Gefällt dir das?“
Ian grinste mich an.
„Komm her.“
Ich zog ihn wieder zu mir.
„Ian!“
Lucy klopfte wie wild an die Tür.
„Ian! Ich muss dir was erzählen! Mach die Tür auf! IAN!“
Ian und ich sahen uns an.
„Verdammt.”
Ian rollte sich von mir runter und wollte zur Tür gehen.
„Warte! Niemand weiß, dass ich hier bin!“
Er sah mich an, Lucy hämmerte noch immer gegen die Tür.
„Schrank?“, formte Ian mit den Lippen und ich sprang aus dem Bett, rannte zum Schrank und versteckte mich darin.
„Was ist denn so wichtig, Lucy?“, fragte Ian sie gereizt, nachdem er die Tür geöffnet hatte.
„Hattest du was vor?“, fragte Lucy und musterte ihn.
Ich stand im Schrank und betrachtete alles durch die Lücken zwischen den Brettern.
„Und wenn schon.“, murrte Ian.
Lucy starrte ihn einen Moment lang an, schüttelte den Kopf und fing dann wieder an zu reden.
„Dustin hat mich gefragt, ob ich mit ihm ausgehen will! Ist das nicht unglaublich?!“ „Welch Überraschung...“, meinte Ian und schielte zu mir.
„Weißt du was? Geh doch und mach was mit Dustin. Ich freu mich für dich. Viel Spaß.“
Er wollte schon die Tür schließen, doch Lucy hielt ihn auf.
„Warte! Du hast nichts dagegen?“
Ian zuckte mit den Schultern.
„Warum sollte ich? Ehrlich gesagt bin ich sogar ganz froh darüber, sonst würde er ja Julia heiraten wollen...“
„Okay... Bis dann.“
Lucy drehte sich freudestrahlend um und rannte den Gang entlang. Ian schloss die Tür und ich kam aus dem Schrank.
„Also... wo waren wir?“
Er zog mich an sich.
„Ian... ich weiß nicht, ob das so gut ist.“
Ich versuchte, mich zu konzentrieren, denn Ians Lippen wanderten meinen Hals auf und ab. Ich seufzte ergeben. Ian grinste und seine Lippen wurden noch verführerischer. Doch dann klopfte es wieder an der Tür.
„Mist.“, murmelte Ian.
„Soll ich diesmal aus dem Fenster klettern?“, fragte ich ihn lächeln, küsste ihn auf die Wange und ging zur Tür.
„Lucy ist wirklich ein wundervolles Mädchen, ich bin wirklich froh, dass ich sie kennen gelernt habe. Wir sehen uns dann...“
Ich hatte die Tür geöffnet und stand meinem Großvater gegenüber.
„... beim Abendessen.“
„Ian, ich muss mit dir reden.“
Ian und ich wechselten einen schnellen Blick.
„Ich...geh’ dann mal. Wir...sehn uns dann...beim Abendessen.“ Damit ging ich an meinem Großvater vorbei und den Gang entlang.

„Hey!“
Lucy stand plötzlich neben mir.
„Hey.“, meinte ich, warf noch einen Brotkrumen ins Wasser und beobachtete, wie sich die Enten darum stritten.
„Alles okay?“
„Hm.“
Ich lehnte am Brückengeländer und starrte in den Teich.
„Was ist los?“, fragte Lucy und sah mich an. Ich seufzte.
„Okay. Ich.... war vorhin bei Ian...“
„Ja, und?“
Ich warf ihr einen langen, vielsagenden Blick zu.
„Oh... Du meinst, du warst bei ihm. In seinem Zimmer. Und ... habt ihr...?“
„Nein, aber nicht, weil wir nicht wollten, sondern weil du geklopft hast.“
„Ich habe dich gar nicht gesehen.“
„Ich war im Schrank.“
Lucy fing schallend an zu lachen.
„Hör auf.“
Ich stieß sie mit der Hüfte an und lächelte.
„Okay, tu- tut mir leid.“
„Naja, dann ging es ja noch weiter. Dann kam mein Großvater...“
„Dein Großvater?!“
„Jep.“
Ich nickte.
„Was wollte er?“
„Mit Ian reden.“
„Oh...Warum?“
Ich seufzte erneut und schüttelte den Kopf.
„Ich weiß es nicht. Und das macht mir Sorgen.“
Wir standen beide am Geländer und starrten ins Wasser.
„Was wäre das schlimmste, dass dein Großvater zu ihm sagen könnte?“ „Darüber will ich gar nicht nachdenken.“
„Was ist noch?“
„Ach, wahrscheinlich hat das nichts zu bedeuten, aber... Ich habe... meinen Großvater... nach dem Kampf in der Arena... mit einem komischen Mann reden sehen.“
„Und?“
„Ich weiß auch nicht. Es ist einfach ... ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Cathrin meinte, sie entscheide nicht, wen ich heirate und wen nicht, sondern mein Großvater und ich habe das Gefühl, dass mein Großvater nicht so begeistert davon ist, dass Ian hier ist.“
„Was willst du dagegen tun?“
Seufzend drehte ich mich um und lehnte mich mit dem Rücken gegen das Geländer.
„Was soll ich schon dagegen tun? Wenn es hart auf hart kommt, werde ich mit Ian wieder zurück gehen.“
„Du weißt aber schon, dass...?“
„...du nicht mit zurück kannst, ja, ich weiß.“
Ich seufzte.
„Aber ich will nicht hier bleiben, wenn ich nicht mit Ian zusammen sein kann.“
Wir schwiegen beide.
„Wir ... sollten zurück gehen.“
„Ja, es gibt bald Abendessen.“
Wir gingen nebeneinander her.
„Hab ich dir eigentlich schon erzählt, dass Dustin mich zu einem Date eingeladen hat?“, fragte Lucy.
„Ähm ...nein. Aber der Schrank hatte Ohren.“
Wir sahen uns an, grinsten und fingen dann schallend an zu lachen.

11


Als es morgens dämmerte, war ich überrascht, als ich die Morgenröte sehen konnte. Vorsichtig trat ich ans Fenster und sah raus. Der Garten sah aus, als sei er voller Staub, nur dass dieser Staub Wellen warf, die sich an der Schlossmauer brachen. „Was um alles in der Welt ist das denn?“, fragte ich und drehte mich zu Cathrin um.
Sie trat neben mich und runzelte die Stirn.
„Zum Glück kommt es nicht ins Schloss. Wenn ich das richtig sehe, ist das schwarze Magie. In Form von Staub. Der könnte uns gefährlich werden, wenn er ins Schloss kommt.“
„Aber kann Staub nicht durch die Ritzen gelangen?“, fragte ich und sah sie irritiert an. „Normalerweise schon, aber nicht bei diesem Schloss. Schwarzer Magie ist es unmöglich, hier einzudringen. Egal, in welcher Form.“, antwortete sie mir und ging zur Tür.
„Lass uns frühstücken gehen. Wir müssen mit Lucy und Dustin besprechen, was wir jetzt machen wollen.“
Ich musterte den Staub noch mal, dann ging ich ihr nach. Ich hatte ein ungutes Gefühl bei dem Staub. Und wenn ich Ian nicht bald wiedersehen würde, würde ich durchdrehen. Doch erst mal musste ich mich mit Cathrin, Lucy und Dustin besprechen, was auch immer das heißen sollte. Langsam ging ich die Treppe runter und fuhr mit der Hand über das Geländer.
Ich wollte zu ihm und ich konnte spüren, wie es mich zu ihm zog. Doch ich musste stark bleiben. Ich wusste, dass ich nur mich und ihn gefährden würde, wenn ich zu ihm gehen würde.
Vorsichtig blieb ich stehen, schloss die Augen und atmete tief durch. Ich spürte, wie das Zittern meiner Hand nachließ und ich das Geländer wieder fest unter meiner Hand spüren konnte. Die Tatsache, dass meine Magie von meinen Gefühlen gelenkt wurde, war echt frustrierend. Vor allem in solchen Momenten. Doch ich glaubte, dass ich es langsam unter Kontrolle bekam. Ich nahm die Vorzeichen inzwischen wahr und konnte es verhindern, wenn ich keine Magie einsetzen wollte. Doch ganz kontrollieren konnte ich sie noch immer nicht und das nervte mich, denn ich wollte endlich Ian befreien. Außerdem wuchs mit jedem Tag mein Verlangen, ihn zu sehen und ihn wieder in die Arme zu nehmen. Und ein anderes Verlangen. „Julia, kommst du?“ Cathrin sah von unten die Treppe zu mir hoch. „Klar.“, antwortete ich und eilte die Treppe runter.
Kaum betrat ich die große Halle, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Lucy und Dustin saßen am Tisch und starrten vor sich hin, ohne irgendetwas wirklich zu sehen.
„Was ist passiert?“, fragte ich und drehte mich zu Cathrin um.
„Der Staub. Er dringt ins Schloss ein.“, antwortete Lucy und stand auf.
„Aber ich dachte, es ist unmöglich!“
„Das dachten wir auch.“
Dustin stand ebenfalls auf und ging zu Lucy, um sie in den Arm zu nehmen.
„Bis heute Abend wird das ganze Schloss davon gefüllt sein.“
Cathrin sah deprimiert aus dem Fenster. Entsetzt ließ ich mich auf einen Stuhl sinken. „Und was machen wir jetzt?“
„Ich fass es nicht, dass ich das sage, aber du musst zu Ian gehen. Du musst ihn da raus holen und ihr müsst zusammen aus dieser Welt verschwinden. Lucy und Dustin, ihr bereitet alles vor, damit ihr mit ihnen gehen könnt.“
„Aber wir können doch nicht einfach...!“, fing ich an, doch Cathrin unterbrach mich.
„Du wirst gehen, Julya! Ohne Widerrede! Ich werde nicht zulassen, dass du noch hier bist, wenn sie das Schloss einnehmen. Du wirst dich, Ian, Lucy und Dustin in Sicherheit bringen. Das ist ein königlicher Befehl.“, sagte sie mit all ihrer angeborenen, einschüchternden Autorität und ich wich ein kleines Stück vor ihr zurück.
Ich sah sie fassungslos an, dann richtete ich mich auf und sah sie an.
„Wie Ihr befiehlt, Euer Majestät.“
Dann wirbelte ich herum und stürmte aus dem Saal.

Ich fegte die Nachttischlampe von der Kommode.
„Wow, eigentlich sollte man meinen, dass das beim zweiten Mal weniger lustig ist, aber ich glaub, es ist noch lustiger.“
Lucy stand in der Tür mit verschränkten Armen und sah mich an.
„Was willst du?“, seufzte ich und betrachtete den Schnitt, der sich an der äußeren Seite meiner rechten Hand entlang zog.
„Die Frage ist, was du willst.“
Sie schnappte sich eines der Handtücher und wickelte es mir um die Hand.
„Du wolltest doch zu Ian. Du wolltest doch mit ihm zusammen von hier weg. Du wolltest doch keine Prinzessin sein. Du hast doch alles bekommen, was du wolltest.“
„Ja, aber ich wollte es doch nicht so!“, rief ich und fegte ein paar Bücher von der Kommode.
„Glaubst du, Sachen auf den Boden schmeißen hilft da?“
Lucy kam zu mir ins Zimmer und ich ließ mich aufs Bett fallen.
„Nein, aber ich hab keine andere Idee, was mir helfen könnte. Und wenn mir nicht bald was einfällt, wird meine Mutter vermutlich von bösem schwarzmagischem Staub getötet, der Typ, den ich liebe in einer kleinen, dreckigen Zelle verrecken und du und Dustin... Was macht ihr dann überhaupt? Ich meine, du kannst schließlich nicht wieder zurück...“
Ich sah sie an und fasste mir an die Stirn.
„Dafür gibt es garantiert auch wieder eine Zauberpflanze, stimmt’s?“
„Jep, die gibt es. Also musst du dich zumindest nicht um Dustin und mich kümmern.“
Lucy strich mir sanft übers Haar.
„Dann wären da immer noch meine Mutter, die sich von Staub töten lassen will und mein Freund, der in dieser verdammten Zelle feststeckt.“
„Deinen Freund musst du retten. Das wolltest du doch sowieso die ganze Zeit. Und du wirst es auch nicht alleine schaffen müssen. Dustin und ich werden dir helfen.“
Ich setzte mich langsam auf und strich mir die Haare aus der Stirn. Ich seufzte.
„Ich soll also einfach gehen und meine Mutter in diesem verdammten Schloss sterben lassen? Die bösen siegen lassen? Das kann ich einfach nicht.“
Ich schüttelte den Kopf und verschränkte die Beine.
„Selbst wenn ich keine typische Prinzessin bin, konnte ich nicht einfach verschwinden und meine Mutter sich opfern lassen. Das fühlt sich irgendwie ... falsch an.“
Lucy sah mich an.
„Tja, ob du Prinzessin sein willst oder nicht, es steckt dir im Blut. Denn genauso würde eine Prinzessin handeln.“
Ich lächelte schwach.
„Und was deine Mutter angeht... vielleicht kann ich dir da sogar helfen ...“
Ich sah sie an.
„Wie?“
Lucy setzte sich auf und sah mich an.
„Okay, pass auf. In der Bibliothek gibt es eine Reihe von Büchern, die schon uralt sind, in denen du vielleicht etwas finden könntest, um deiner Mutter mehr Zeit zu verschaffen. Falls es eine Möglichkeit gibt, steht sie in einem dieser Bücher.“
Ich sah sie an und überlegte.
„Und wie komme ich zu der Bibliothek?“
Lucy sah mich mit strahlenden Augen an und sprang vom Bett auf.
„Folge mir unauffällig.“
Leise schlichen wir uns aus meinem Zimmer, die Treppe ganz bis nach oben, bis wir vor einer älteren, schmäleren und nicht mehr ganz so stabil aussehenden Wendeltreppe standen, die noch einmal ungefähr zwei Stockwerke hoch führte.
„Ähm, Lucy, bist du dir ganz sicher, dass die Bibliothek da oben ist?“, fragte ich sie skeptisch am Fuß der Treppe und sah ängstlich in die Dunkelheit über uns.
„Ja. Dein Großvater wollte nicht, dass deine Mutter davon erfährt, also hat er sie da verstecken lassen, wo deine Mutter niemals suchen würde.“
„Wer könnte ihr das nur verübeln?“, murmelte ich vor mich hin und sah erneut in die Dunkelheit über mir.
„Sie hatte als Kind große Angst vor der Dunkelheit.“
„Wer könnte ihr das wohl verübeln, wo uns doch die Dunkelheit töten will?“, murmelte ich leise und folgte ihr langsam die Treppe, die bei jedem Schritt gefährlich quietschte, hinauf.
„Lucy, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.“, flüsterte ich leise, als ich gebückt zwischen den Balken entlang ging und verstaubte Buchrücken betrachtete.
„Ich hab’s gleich gefunden. Gib mir noch zwei Minuten, okay?“
Ich fröstelte und zuckte vor einem Spinnennetz zurück.
„Okay, aber beeil dich. Ich hasse Spinnen.“
Misstrauisch beobachtete ich die Spinne und war bereit, sie jederzeit energisch und schreiend von mir abzuschütteln, falls sie es wagen sollte, weiter auf mich zu zu krabbeln.
„Hier, ich hab’s schon. Das ist das Buch.“
Lucy kroch wieder zu mir zurück und wir gingen zurück zur Tür nach unten.
„Woher weißt du eigentlich von den Büchern, wenn nicht einmal Cathrin davon wusste?“, fragte ich sie, als wir die Treppe wieder runter gingen, wobei ich jederzeit erwartete, dass das Metall unter mir nach gab.
„Nur weil die Prinzessin davon nichts weiß, heißt das nicht, dass das Personal die Bücher vergisst. In den ersten Jahren nach meiner Entführung habe ich mich oft hier oben versteckt, wenn ich Heimweh hatte und habe ein bisschen in den Büchern geschmökert. Das hat mich abgelenkt von der fremden Welt und den fremden Menschen und dem Tod meiner Eltern - zumindest für eine Weile.“
Wir standen vor meinem Zimmer und Lucy überreichte mir das Buch. Langsam nahm ich es ihr ab und sah sie an.
„Er hat dich die ganzen letzten sieben Jahre lang gesucht. Er hat nie aufgegeben und er hat sogar David um Hilfe gebeten, obwohl der ihn versucht hat, umzubringen.“
Lucy sah mich an und lächelte stolz.
„Ich weiß. Er war noch nie der Typ, der aufgab, nur weil es schwieriger wurde. Das hat ihn immer noch mehr angestachelt.“
Ich lächelte liebevoll, denn ich kannte Ians Blick, wenn er eine Herausforderung ahnte und meisterte.
„Da hast du Recht.“
Dann seufzte ich. Lucy sah mich mitfühlend an.
„Na komm, suchen wir den Zauber.“
Wir gingen in mein Zimmer, setzten uns zusammen auf mein Bett und durchstöberten die ganze Nacht das Buch, um meiner Mutter zumindest etwas mehr Zeit zu verschaffen.

Cathrin kam auf mich zu und ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie müde ich war. Ich konnte Cathrin sofort ansehen, dass auch sie nicht geschlafen hatte und dass sie eigentlich nicht wollte, dass ich ging und mich in Gefahr begab, doch ich konnte auch nicht bleiben, denn auch hier war es gefährlich. Ohne etwas zu sagen, zog sie mich an sich und drückte mich fest an sich.
„Mum, schon okay. Es wird alles gut, versprochen.“, flüsterte ich ihr leise ins Ohr und sie fing an zu schluchzen.
Ich musste mich zusammen reißen um nicht zu stöhnen und sah Hilfe suchend zu Lucy. Doch Lucy schüttelte nur den Kopf als wolle sie sagen ‚Da musst du alleine durch.’ und drehte sich zu Dustin um. Cathrin ließ mich langsam los und sah mich tapfer an, sie dachte, dass sie mich nie wieder sehen würde, doch wenn ich mich beeilte, würde sie das sehr wohl. Doch das verriet ich ihr besser nicht, schließlich wusste sie nichts von der geheimen Bibliothek auf dem Dachboden. Das Buch, aus dem der Zauber, der das Schloss schützen sollte, stammte, hatte ich in meinen Rucksack gepackt. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich es noch gebrauchen konnte. Cathrin nahm meine Hand und nahm mir das metallene Armband, das meine Kräfte kontrollierte, ab.
„Ich...habe etwas anderes für dich. Deine Kräfte vollkommen zu blockieren wäre irrsinnig, also habe ich den Silberschmied damit beauftragt, etwas zu schmieden, das dich unterstützt.“
Sie griff in ihre Tasche und zog eine wunderschöne, silberne Kette, an der ein silbernes Medaillon hing, heraus. In dem Medaillon war ein winziger roter Stein in Form eines Herzens eingearbeitet.
„Dieses Medaillon sorgt dafür, dass deine Kräfte nicht mehr hauptsächlich auf deine Gefühle reagieren, sondern du sie gezielt einsetzten kannst. Zumindest so lange, wie du sie nicht selbst kontrollieren kannst.“
Behutsam legte sie mir das Medaillon um den Hals. Ich räusperte mich und blinzelte die Tränen weg.
„Äh... Danke, Mum. Das ist wirklich...“
Sie drückte mich noch mal an sich und ließ mich dann los.
„Du solltest gehen. Und zwar schnell.“
Sie sah zu Lucy und Dustin, die schon bereit an der großen Tür standen und nur noch auf mich warteten.
„Ja, sollte ich wirklich.“
Ich drehte mich wieder zu Cathrin um und lächelte zittrig.
„Es wird alles wieder gut, Mum, versprochen. Ich schaff das irgendwie.“
Cathrin lächelte gerührt, doch ich konnte in ihren Augen sehen, dass sie mir nicht glaubte. Doch ich konnte sie jetzt nicht davon überzeugen, ich musste Ian befreien. Und dann sie.
Das Schloss, und somit auch Cathrin, schienen am anderen Ende des Horizonts zu sein, gerade noch so groß, dass man die volle Pracht des alten Gemäuers erkennen konnte und doch so weit weg, dass ich das Gefühl hatte, keinen von beiden je wieder zu sehen. „Jules, wir müssen gehen. Cathrin wäre bestimmt nicht begeistert, wenn sie wüsste, dass du hier stehst und...“
Ich seufzte und drehte mich wieder zu ihnen um.
„Ich weiß.“
Ich streckte meine Hände nach Lucy und Dustin aus und die beiden ergriffen meine Hand. „Okay, mal sehen, ob es klappt. Hoffen wir es.“
Lucy und Dustin atmeten tief durch und nickten. Zittrig holte ich Luft und im nächsten Moment standen wir drei vor Ians Zelle.

„Ian!“, flüsterte ich leise und kniete mich an das Gitter.
„Jules.“
Mir traten die Tränen in die Augen, als ich hörte, wie schwach seine Stimme klang.
„Ich hol’ dich da jetzt raus, okay? Ich hol’ dich da raus, Ian. Jetzt sofort.“, flüsterte ich leise, um mir nicht anmerken zu lassen, wie tränenerstickt meine Stimme klang. Ich zog mich an den Gitterstäben hoch und drehte mich zu Lucy und Dustin um.
„Ihr müsst Wache halten, falls jemand die Treppe runter kommt.“
Dustin zog sein Schwert und Lucy nickte, dann drehten die beiden sich um. Ich hielt meine Hand an das Schloss und konzentrierte mich auf meine Kraft. Ich war erstaunt, wie viel leichter es mir fiel. Das Schloss sprang auf und ich stürmte in die Zelle.
„Ian. Ian.“
Ich stürzte vor ihm auf den Boden und sah ihn an.
„Gott, Ian. Du siehst furchtbar aus.“, flüsterte ich und unterdrückte die Tränen der Erleichterung.
„Wow, das hört man echt gerne.“, flüsterte er leise zurück und lächelte schwach.
Ich lachte leise und fuhr mit meiner Hand über seine Wange.
„Kannst du aufstehen? Oder laufen?“
Ian seufzte und hievte sich stöhnend hoch. Ich hielt ihn fest und legte seinen Arm um meine Schultern.
„Lucy und Dustin warten draußen auf uns, wir müssen uns beeilen und hier weg.“
„Jules, warte, bevor wir gehen muss ich dir noch etwas sagen. Es ist wirklich wichtig.“, meinte Ian, als wir aus der Zelle humpelten.
Lucy kam auf uns zu, sie sah verängstigt aus.
„David will runter kommen. Aber erst muss er noch irgendetwas anderes erledigen.“
„Er will den Staub endlich in das Schloss bringen, aber irgendetwas klappt nicht so, wie es sollte.“
Dustin stand vor uns und nahm Lucys Hand.
„Gut, dann können wir ja verschwinden.“
Ich reichte Lucy die Hand, die nicht Ian stütze und brachte uns wieder ins Freie.

„Au, verdammt!“
Kaum standen wir wieder auf dem Hügel, sank ich ins Gras und Ian mit mir. Ich konnte förmlich spüren, wie mein Knöchel auf die Größe einer Melone anschwoll.
„Alles okay?“
Lucy kniete sich neben mich und betrachtete meinen Knöchel.
„Sie ist gestrauchelt und hat sich den Knöchel verknackst. Das tut zwar weh, ist aber nicht weiter schlimm.“
Ich sah sie böse an.
„Wollen wir tauschen?“
Lucy grinste mich an und stand wieder auf. Ian, der bisher tapfer neben mir gesessen hatte, ließ sich stöhnend ins Gras sinken und ich drehte mich zu ihm um und sah ihn zum ersten Mal seit langem im Licht. Und erst jetzt sah ich, wie schwer verletzt er wirklich war. Sein Auge, das schon Dustin bearbeitet hatte, war zugeschwollen, an seinem anderen ging haarscharf ein sauberer Schnitt, der eindeutig von einem sehr scharfen Messer stammte, vorbei. Wenn der Schnitt nur ein paar Millimeter weiter innen gewesen wäre, wäre er auf dem Auge jetzt blind. Er hatte überall Schnittwunden und blaue Flecken und ich wurde das Gefühl nicht los, dass er die hätte vermeiden können, und trotzdem lächelte er mich mit dem strahlendsten und zärtlichsten Lächeln an, dass ich mir vorstellen konnte. Ich beugte mich über ihn und betrachtete ihn.
„Was hast du nicht getan, dass sie dir so etwas angetan haben?“, fragte ich ihn und strich ihm behutsam mit den Fingerspitzen über das Gesicht.
Meine Haare fielen mir über die Schulter und schirmten die Sonne ab. Er streckte seine rechte Hand und legte sie an meine Wange. Seine Haut war noch immer ganz kalt.
„Was meinst du wohl, was David wollte und ich ihm um Nichts auf der Welt geben würde?“ Er zog mich zu sich runter und küsste mich, obwohl jede noch so sanfte Berührung ihm höllische Schmerzen bereiten musste. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und legte mich einfach neben ihn ins Gras.
„Dir ist klar, dass Dustin und Lucy jetzt zusammen sind, oder?“, fragte ich ihn und schmiegte mich an ihn.
„Besser er und sie als er und du.“, murmelte er und küsste mich auf die Stirn.
„Außerdem ist sie alt genug, auf sich selbst aufzupassen. Sollte Dustin ihr das Herz brechen, wird sie mich schon um Hilfe bitten, wenn sie Hilfe braucht.“
Ich lachte laut auf.
„Lässt dich das ernsthaft so kalt?“
„Ja.“
Ian sah mich an. Ich sah kurz zu Lucy und Dustin und grinste.
„Dann interessiert es dich doch garantiert nicht, dass sie sich gerade küssen, oder?“
Ian fuhr hoch und ich lachte noch lauter.
„Voll erwischt.“
Er sah mich an und lachte dann.
„Du bist unglaublich.“
Er legte liebevoll seine Hand an meine Wange und zog mich zu sich.
„Wir ... müssen gehen. Wir müssen Cathrin aus dem Schloss holen. Und zwar noch vor Sonnenuntergang.“
Ich stand auf und reichte Ian die Hand, um ihm auf zu helfen.
„Was hab’ ich alles verpasst?“, wollte Ian wissen und sah Lucy und Dustin entgegen. „Willst du alles wissen oder nur das Wichtigste?“, fragte ich ihn und verschränkte meine Finger mit seinen.
„Äh... Erst mal nur das wichtigste. Das wirklich interessante dann später.“
Er lächelte mich an.
„Okay, also, nachdem ich bei dir war, bin ich umgekippt, weil meine Kräfte auf meine Gefühle reagieren und ich sie nicht kontrollieren kann. Als es mir besser ging, hat Cathrin versucht, mir beizubringen, meine Kräfte zu kontrollieren, weil wir aber nicht genug Zeit hatten, hat sie mir die Kette machen lassen, die meine Kräfte davon abhält, auf meine Gefühle zu reagieren. Irgendeine Art schwarzmagischer Zauberstaub durchflutet das Schloss und Cathrin hat uns rausgeschmissen, damit uns nichts passiert. Lucy hat mir aber einen Zauber gezeigt, der ihr bis heute Abend bei Sonnenuntergang Zeit gibt und den Staub vom Schloss fern hält, also müssen wir uns beeilen und sie da raus holen. Und zwar möglichst schnell.“
Ian sah mich an.
„Das war die Kurzversion? Wow, dann bin ich ja auf die lange Version gespannt.“
Lucy stand lachend vor uns und sah uns an.
„Seid ihr so weit?“
Ich nickte. Lucy nahm Dustins Hand und reichte mir ihre. Ich sah Ian an.
„Das wird dir gleich nicht gefallen.“
„Aber keine Angst, es kann überhaupt nichts schief gehen.“
Lucy lächelte ihn aufmunternd an. Ian sah sie merkwürdig an.
„Was soll das heißen?“ Doch Lucy lächelte nur und ich brachte uns zurück zum Schloss.

„Dustin und ich gehen schon mal rein und holen Cathrin, du bleibst bei Ian.“
Lucy sah zu Ian, der auf dem Rücken im Gras lag, die Beine angewinkelt und die Hände über den Augen.
„Okay, aber beeilt euch. Der Zauber hält nur noch ein paar Minuten, maximal eine halbe Stunde.“, meinte ich und Lucy nickte.
„Bis Gleich.“
„Viel Glück!“, rief ich ihnen hinter her, dann drehte ich mich zu Ian um und setzte mich neben ihn ins Gras.
„Hey, alles okay? Wie fühlst du dich?“
Ich fuhr mit meiner Hand sanft über seine.
„Als wäre ich überfahren worden. Und das wieder und wieder und wieder.“, stöhnte er und nahm vorsichtig meine Hand.
„Tut mir leid.“, meinte ich zerknirscht und er lachte leise.
„Da kannst du ja nichts für. Und ich finde es toll, dass du deine Kräfte jetzt ohne Gefahr einsetzten kannst. Oder zumindest, ohne dich fast umzubringen.“
Stöhnend setzte er sich auf und sah mich an. Ich lächelte ihn an und lehnte mich an ihn. „Meinst du, wir müssen Lucy und Dustin helfen?“
Ich sah ihn an und überlegte.
„Wahrscheinlich wäre es besser. Ich hab’ irgendwie so ein komisches Gefühl...“
Er stand auf und zog mich hoch. Ich sah zum Schoss und mein Gefühl wurde stärker.
„Wir sollten uns beeilen. Ich glaube, da stimmt was nicht.“
Ian sah mich an und sah dann zum Schloss.
„Dann lass uns gehen.“
Ich wusste schon, dass wirklich etwas nicht stimmte, als wir durch das große Eingangstor gingen. Es schien über allem ein grauer Schleier zu liegen und es war mucksmäuschen still.
„Das ist nicht gut.“, murmelte Ian und sah sich besorgt um.
„Lass uns in den Thronsaal gehen.“, flüsterte ich leise und griff nach Ians Hand. Wir schlichen ins Schloss und durch die Gänge, die unheimlich leer und verlassen schienen, bis wir vor dem Thronsaal standen. Ich wollte die Tür leise öffnen, doch Ian zog mich zurück und bedeutete mir, leise zu sein. Aus dem Thronsaal drangen Stimmen.
„Wer ist das?“, flüsterte ich leise und war überrascht.
„Keine Ahnung.“, flüsterte Ian leise zurück und wir lauschten.
„Wie können Sie nur?! Wie können Sie das bloß tun?!“
Lucy konnte ihre Wut kaum zurück halten. Was auch immer im Thronsaal abging regte Lucy wahnsinnig auf.
„Halt die Klappe, Lucy. Er ist deine einzige Chance, je wieder nach Hause zu kommen.“ „Gar nicht wahr, David! Julia kann es genau so gut machen und überhaupt, wer sagt, dass ich wieder zurück will ?“
Ich schnappte nach Luft, Ians Blick versteinerte, als Lucy Davids Namen nannte, ihre Stimme klang heraus fordernd und alles andere als ob sie klein beigeben würde.
„Wer zum Teufel sind Sie überhaupt und was um alles in der Welt wollen Sie?“, fragte Dustin und David schnaubte verächtlich.
„Das geht dich überhaupt nichts an.“
„Er ist mein Schwager und somit Julyas Onkel.“, flüsterte Cathrin so leise, dass wir sie fast nicht hören konnten.
Ich konnte hören, wie Lucy scharf die Luft einzog und Dustin keuchte.
„Ja, so haben Julia und Ian auch reagiert. Ians Gesichtsausdruck war unbezahlbar.“
David klang widerlich und ich war froh, dass ich sein Grinsen nicht sehen konnte. Ian knirschte wütend mit den Zähnen. Ich zog ihn ein Stück weg und drehte mich zu ihm um. „Was machen wir jetzt?“, fragte ich ihn und sah ihn an.
Ian atmete tief durch, bis er sich wieder etwas beruhigt hatte und sah mich dann an. „Cathrin, Lucy, Dustin und David sind im Thronsaal, aber ich bin mir sicher, dass sie nicht alleine sind, also weiß ich nicht, wie wir sie da raus holen sollen. Gegen David und ein, zwei Wachen hätten wir vielleicht eine Chance, aber wenn es mehr sind...“
Ich wollte gerade etwas sagen, als ich noch eine Stimme hörte, die bisher nichts gesagt hatte.
„Cathrin, sag uns einfach, wo sie ist, dann könnten wir das ganze abkürzen. Wenn wir sie schnell finden, können wir das ganze schnell hinter uns bringen.“
Mein Großvater.


Und er war ganz eindeutig auf Davids Seite. Ich sank gegen die Wand und konnte nicht mehr. Mein eigener Großvater stand auf der anderen Seite und war damit gegen Cathrin und mich.
„Oh Gott.“, flüsterte ich leise und hätte fast nicht mitbekommen, was Cathrin sagte. „Nein, Vater. Nur weil du deine Tochter - und damit auch dein Königreich - verraten hast, werde ich das noch lange nicht tun. Ich habe 17 Jahre lang versucht, meine Tochter vor jemandem zu beschützen, der ihre Kräfte für seine Zwecke ausnutzen wollte, dabei hätte ich sie nur vor dir beschützen müssen.“
Cathrin klang nicht wütend oder hasserfüllt, sie klang lediglich verletzt und so enttäuscht, dass ich mich vermutlich in Grund und Boden geschämt hätte. Ich konnte meine Großvater seufzen hören.
„Okay, wir haben keine Zeit mehr, auf sie zu warten. Ihr Zauber verliert gleich seine Wirkung und dann wird dieses Schloss dem Erdboden gleich gemacht.“, meinte David und klatschte geschäftig in die Hände.
„Dann werden wir sie eben suchen müssen.“, seufzte mein Großvater und ich schreckte auf. Schnell packte ich Ian an der Hand und zog ihn zur Treppe.
„Was machst du?“, wollte er wissen und sah sich immer wieder zur Tür um.
„Der Staub wird das Schloss dem Erdboden gleich machen, wie David gesagt hat, und auch alles, was darin ist. Aber auf dem Dachboden gibt es eine geheime Bücherei, und ich muss die Bücher retten, oder wenigstens ein paar, denn vielleicht steht in ihnen etwas, das uns helfen kann!“, erklärte ich ihm und rannte die Wendeltreppe hoch.
„Okay, und wie sollen wir bitte rechtzeitig wieder raus kommen?“, fragte er mich keuchend, als wir oben angekommen waren.
„Ich bring uns hier raus, und ich weiß auch schon, wo wir dann hingehen. Wo wir uns verstecken, bis wir wissen, was wir machen.“, erklärte ich ihm, während ich jedes Buch, das ich in die Finger bekam, in den Rucksack packte, in dem eigentlich meine Sachen waren, die ich einfach auf den Boden geschmissen hatte, um Platz für die Bücher zu machen.
„Ganz egal, was du machst, ich glaube, du solltest dich beeilen.“, meinte Ian und wich vor dem Staub, der bereits auf den Dachboden drang, zurück.
„Verdammt.“
Ich packte die beiden letzten Bücher ein und rannte zurück zu Ian.
Das Dach begann bereits, zu knarren und die ersten Teile stürzten bereits ab.
Gerade, als sich ein ganzer Balken löste und uns zu erschlagen drohte, konzentrierte ich mich auf den einzigen Ort, an dem ich mich je zu Hause gefühlt hatte und brachte Ian und mich gerade noch rechtzeitig in Sicherheit.

12


Das erste, was ich hörte, war Ians Husten. Ich lag auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen, die Sonne wärmte meine Haut auf und ich hatte ganz vergessen, wie sengend die Sonne in Arizona sein konnte, obwohl ich nur ein paar Tage weg war.
„Jules? Alles okay?“, fragte Ian mich hustend und kroch zu mir rüber.
Ich schirmte die Sonne mit meiner Hand ab und öffnete die Augen.
„Ja, alles okay, ich habe nur die Sonne vermisst. In der anderen Welt war sie irgendwie immer so sanft.“
Ian sah mich an, lächelte dann kopfschüttelnd und setzte sich auf.
„Du hast uns wirklich wieder in unsere Welt gebracht.“, meinte er erstaunt, begeistert und eindeutig erleichtert.
Ich setzte mich auf und sah mich um.
„Ich hab’ da mal ne Frage.“
Ich sah Ian fragend an.
„Hättest du uns nicht näher an die Stadt bringen können?“, meinte er mit einem Blick zu den Hochhäusern Phoenix’, die in weiter Ferne schimmerten.
Ich folgte seinem Blick und musste lachen.
Dann stand ich auf und klopfte mir den Staub von der Hose.
„Na komm schon. Ich hab’ Durst und es ist ein verdammt langer Weg.“
Ian stand auf und nahm meine Hand.
„Wenn du Glück hast, erreichen wir Phoenix noch vor Einbruch der Dunkelheit.“ Ich stöhnte und Ian lachte.

„Oh Gott.“, stöhnte ich und ließ mich auf die Couch in Ians Elternhaus fallen.
„Du siehst dehydriert aus, ich hol dir was zu trinken.“, meinte Ian besorgt und ging in die Küche.
„Mir geht’s gut, ich bin nur erledigt und müde.“, meinte ich schwach, doch ich konnte nicht einmal mich selbst überzeugen.
Ian brachte mir ein Glas Wasser und setzte sich zu mir.
„Danke.“
Er küsste mich auf die Stirn und ich lehnte mich an ihn. Das Wasser half, ich fühlte mich zwar noch nicht wieder ganz gut, aber eindeutig besser. Ich seufzte, zog die Beine an und verschränkte meine Finger mit seinen.
„Was machen wir denn jetzt?“, fragte ich ihn leise und Ian seufzte.
„Wir müssen Cathrin, Dustin und Lucy irgendwie befreien und den Herrscher der Dunkelheit und damit auch David aufhalten. Und was wir bis dahin mit oder gegen deinen Großvater unternehmen sollen ... Keine Ahnung.“
Ich konnte hören, dass er sich Sorgen um Lucy machte und drehte mich zu ihm um.
„Wir werden sie retten, versprochen Ian.“
Er lächelte mich liebevoll an und legte seine Hand an meine Wange.
„Ich weiß, dass wir das irgendwie schaffen. Auch wenn wir beide noch keine Ahnung haben, wie wir das anstellen wollen.“
Ich musste lächeln und küsste ihn. Eigentlich hatte ich ihn nur kurz küssen wollen, doch irgendwie verselbstständigte sich unser Kuss und wurde zu einem langen, intensiven Kuss, der kein Ende mehr fand.
Erst, als wir beide keuchten, gingen wir gerade weit genug auseinander, um wieder atmen zu können.
„Wow.“, war alles, was ich Zustande brachte, als ich wieder sprechen konnte und sah Ian an.
Seine Brust hob und senkte sich genauso schnell wie meine und er sah genauso umgehauen aus wie ich mich fühlte.
„Wow, du sagst es.“, keuchte er und lächelte mich an.
Ich fuhr mit meinen Fingerspitzen gerade stark genug über seine Wange, dass er es spürte, und konnte sein Blut unter der Haut pulsieren spüren, so schnell schlug sein Herz. Er hatte mich die ganze Zeit über beobachtet und als seine Hand nun langsam von meinen Schulterblättern weiter nach unten wanderte, ließ er meinen Blick keine Sekunde los.
Mit jedem Millimeter, den seine Hand weiter nach unten wanderte, erhöhte sich mein Herzschlag wieder, doch ich wollte nicht, dass er damit aufhörte. Ich erwiderte seinen Blick die ganze Zeit über und spürte, wie ich mich nach mehr sehnte. Als seine Hand am Bund meiner Hose angekommen war, stoppte er.
„Bilde ich mir das nur ein oder schlägt dein Herz wirklich so schnell?“, fragte er mich leise und mit einer ungewöhnlich rauen, wenn auch nicht unangenehmen Stimme. Behutsam nahm ich seine Hand, die nicht an meinem Rücken lag, und legte sie auf meine Brust, wo der Herzschlag am Stärksten war, ohne Ian aus den Augen zu lassen. Ians Pupillen weiteten sich kaum merklich, als seine Hand meine Haut berührte und er atmete tief durch.
„Doppel Wow.“
Ich musste lächeln und Ian schmunzelte. Ich seufzte und sah ihn an.
„Mehr fällt dir dazu nicht ein?“
Er sah mich mit einem unergründlichen Blick an und ich hatte das Gefühl, mich in seinen Augen verlieren zu können.
„Doch, mir fiele da noch etwas anderes ein.“, flüsterte er leise mit seiner raueren Stimme und zog mich auf seinen Schoß. Seine Lippen waren unglaublich zärtlich und doch auf eine Art fordernd, der ich mich nur anschließen konnte. Ian presste mich enger an sich und seine Haut berührte nun überall meine, nur noch getrennt von unseren Sachen. Ians Hand, die vorher meinen Rücken hinab gewandert war, fuhr nun ganz langsam wieder nach oben, allerdings unter meinem Top. Als seine Fingerspitzen meinen BH berührten, hielt er inne und löste seine Lippen von meinen.
„Bist du dir sicher, dass du das willst? Gerade jetzt?“, fragte er mich heiser und wickelte sich eine meiner Haarsträhnen um den Finger.
„Ich weiß nicht.“, antwortete ich leise und schmiegte mich an ihn.
„Ich weiß, dass ich dich liebe. Ich weiß auch, dass ich noch nie solche Sehnsucht nach jemandem hatte. Ich weiß nicht genau, ob das der richtige Zeitpunkt ist, aber ich weiß, dass ich das, was wir in deinem Zimmer angefangen haben, unbedingt irgendwann fortsetzten will. Jetzt wäre die Frage, was du dazu meinst.“
Ich sah ihn fragend an und er zog mich ein Stück näher zu sich.
„Ich glaube, das, was du gesagt hast, klingt sehr logisch. Und ich werde garantiert niemals etwas dagegen haben.“
Ich küsste ihn und er zog mich wieder an sich, seine Lippen wanderten meinen Hals hinab und ich konnte spüren, wie es uns immer weiter drängte, wie keiner von uns beiden mehr kontrollieren konnte, was wir taten, doch das störte uns nicht. Wir genossen den unkontrollierten Strudel, der uns immer weiter in die Lust und die Leidenschaft zog, ohne uns etwas antun zu können. Irgendwann ließ ich mich nach hinten auf die Couch sinken und Ian folgte mir. Es war dunkel draußen und wir hatten kein Licht eingeschaltet, das einzige Licht im Zimmer war das des Mondes und die wenigen Strahlen der Straßenbeleuchtung. Ich konnte spüren, wie sich zwischen die Vorfreude auch ein wenig Nervosität mischte, doch ich wollte jetzt nicht nervös werden.
Ian und ich hatten zwar schon darüber geredet, dass wir vorher noch nie eine ernsthafte Beziehung hatten, doch wir hatten noch nie darüber geredet, ob er vor mir schon mal mit anderen Mädchen intimer geworden war. Er war drei Jahre älter als ich und es wäre irgendwie komisch, wenn er wirklich noch nie zuvor mit einer anderen geschlafen hätte. All die Gedanken, die mir schon früher mal hätten einfallen müssen und die ich jetzt absolut nicht gebrauchen konnte, kamen mir jetzt in den Kopf und verunsicherten mich.
Ian schien es zu merken, denn er küsste mich liebevoll auf den Hals und stützte sich seitlich von mir mit den Händen ab, um mich ansehen zu können.
„Hey, was ist los?“, flüsterte er leise und fuhr mir zärtlich mit den Fingerspitzen über die Wange.
„Es ist nur...“
Ich biss mir auf die Lippe und überlegte, wie ich es ihm sagen sollte. Ian sah mich einfach nur an und ich spürte, wie ich zumindest etwas ruhiger wurde.
„Du hast Angst. Und dir fallen gerade jetzt all die Dinge ein, die du dich eigentlich nicht fragen wolltest.“
„Ich hab’ keine Angst... ich bin nur nervös, Ian. Und ja.“, gab ich kleinlaut zu und sah nach unten.
Ian lag noch immer halb auf mir und sah mich an.
„Dir ist klar, dass ich ...“
Ian musste den Satz nicht beenden, ich verstand auch so, was er sagen wollte und nickte. „Ich hab’s mir gedacht.“
„Jules, mein Leben war kein Leben, bevor ich dich kennen gelernt habe. Ich wusste, wie man Mädchen um den Finger wickeln kann und ich wusste, was ich tun musste, um von ihnen zu bekommen, was ich wollte. Aber das hatte absolut nichts mit Gefühlen oder gar Liebe zu tun.“
Er strich mir die Haare zurück und sah mich liebevoll an.
„Ob du es glaubst oder nicht, das erste Mal mit dir wird auch für mich etwas ganz besonderes. Weil es das erste Mal für mich sein wird, bei dem ich jemand anderen besser kenne und mehr liebe als mich selbst.“
Er küsste mich liebevoll auf die Lippen und ich spürte, wie all meine Zweifel und Ängste mit jedem weiteren Kuss immer kleiner und kleiner wurden, bis sie schließlich ganz verschwunden waren. Ians Hände fuhren über meinen Bauch und ich knöpfte langsam sein Hemd auf. Ohne seine Lippen von meinen zu lösen, zog er das Hemd ganz aus und warf es auf den Boden. Behutsam zog er mir das Top über den Kopf und warf es ebenfalls auf den Boden. Keuchend hielt er inne und sah mich an, ich wiederum konnte mich an ihm nicht satt sehen. Bewundernd fuhr ich über seine Bauchmuskeln und spürte, wie sein Blick über meinen Bauch und mein Dekolltée wanderte, gefolgt von seinen Fingerspitzen. Dort, wo seine Finger entlang fuhren, brannte es auf meiner Haut, wie eine flammende Spur, doch es war ein wunderschönes, erfüllendes Brennen. Es machte mir entgegen aller meiner Erwartungen nichts aus, dass ich oben rum nur noch meinen BH trug und es gefiel mir, wie Ian mich ansah. Langsam senkte er seinen Kopf und küsste mich auf den Hals, ich schloss einfach die Augen und genoss es. Erst, als Ians Lippen bereits zwischen meinen Brüsten waren, schnappte ich überrascht nach Luft und riss die Augen wieder auf, doch Ian störte sich nicht daran. Erst, als er den Bund meiner Jeans erreicht hatte, sah er auf und schien mich um Erlaubnis zu bitten, bevor er ganz langsam den Knopf und dann den Reisverschluss öffnete.
„Bleib einfach liegen.“, flüsterte er leise, schob mir die Jeans über die Hüften und zog sie mir dann ganz langsam aus. Ich versuchte, möglichst ruhig liegen zu bleiben, doch ganz schaffte ich es nicht, mein Atem ging zu schnell und ich zitterte leicht. Als meine Hose am Boden lag, legte Ian seine Hand sanft auf meinen Knöchel und fuhr mein Bein langsam nach oben, bis er wieder auf mir lag. Dann drehte er uns so, dass ich mit dem Rücken an der Couchlehne lag und half mir dabei, seine Jeans zu öffnen. Dann zog er sie aus und ließ sie einfach fallen. Er drehte sich zu mir und küsste mich so leidenschaftlich, dass mir die Luft fast weg blieb, obwohl wir beide schon lange keuchten. Ich legte mein Bein über seine Hüfte und halb schob ich mich, halb zog er mich auf sich, so dass er nun mit dem Rücken an dem Kissen lehnte und ich halb auf ihm saß und halb lag. Ian löste seine Lippen gerade weit genug von meinen, dass er sprechen konnte, sein erhitzter Atem strich mir über die Wange.
„Ich liebe dich, Jules. Ich liebe dich so wahnsinnig, dass es fast schmerzt. Und ich will dich, verdammt noch mal. Und zwar jetzt.“, flüsterte er mir keuchend ins Ohr und ich küsste ihn sanft aber verführerisch, bevor ich ihm ins Ohr flüsterte:
„Gut, ich dich nämlich auch.“
Ian fasste mich zärtlich unters Kinn und zog mein Gesicht zu sich, drückte seine Lippen auf meine und ich konnte nicht anders, als mich ihm vollkommen hinzu geben.

Irgendetwas strich mir über die Wange, dann spürte ich, wie mir Haare aus der Stirn gestrichen wurden. Irritiert blinzelte ich, drehte mich um und sah Ian neben mir liegen. Er sah mich an und lächelte, seine Hand fuhr durch meine Haare.
„Hey.“, flüsterte er leise und küsste mich auf die Stirn.
Ich schmiegte mich an ihn.
„Wie lange bist du schon wach?“, fragte ich ihn und betrachtete das Sonnenlicht auf seiner Haut.
„Seit etwa ’ner Stunde oder so, vielleicht etwas mehr.“, antwortete er schulterzuckend und lächelte.
„Hast du mich die ganze Zeit über beim Schlafen beobachtet?“, fragte ich ihn schockiert und sah ihn an, er lächelte nur milde und küsste mich liebevoll.
„Du siehst wunderschön aus, selbst wenn du schläfst.“, antwortete er schließlich noch und drehte sich so, dass er mich richtig ansehen konnte.
„Willst du Frühstück?“
Ich lächelte und nickte.
„Ich will nur vorher duschen und mir was frisches anziehen.“
Ian warf mir einen anzüglichen Blick zu und grinste mich dann an, bevor er mich noch einmal küsste und aufstand, um sich anzuziehen.
„Du kannst in Lucys Bad duschen, frische Sachen sind im Schrank meiner Mutter.“
„Ist es wirklich okay für dich, wenn ich die Sachen deiner Mutter trage?“, wollte ich skeptisch wissen und sah ihn an.
„Natürlich, es ist inzwischen so lange her, dass ich mich nicht einmal mehr daran erinnern kann, wie sie in den verschiedenen Sachen aussah. Außerdem gäbe es ansonsten nur noch Lucys Sachen, die sie getragen hat, als sie elf war und so wundervoll deine Figur auch ist, ich bezweifle, dass sie dir passen würden.“
Er zog sein Hemd an und stellte fest, dass ein paar Knöpfe fehlten.
„Vielleicht sollte ich mir auch was anderes anziehen.“
Ich lächelte und schüttelte den Kopf. Dann wickelte ich die Decke enger um mich und stand auf.
„Du bist unglaublich.“
Er lächelte mich an und zog mich an sich.
„Vielleicht sollte ich auch mit duschen kommen.“, überlegte er und ich lachte.
„Beeil dich mit dem Entscheiden, ich will schnell duschen.“, meinte ich und streckte mich, um ihn zu küssen.
„Ich komm mit. Ich will schließlich nicht anfangen zu müffeln.“, antwortete Ian, nahm meine Hand und führte mich die Treppe hoch.

„Okay, wir haben gefrühstückt, sind frisch geduscht und in Sicherheit, so weit ich das bisher beurteilen kann. Was machen wir also jetzt?“, fragte ich und sah Ian über den Rand meines Kaffeebechers hinweg an.
„Ich weiß, wir sollten uns dringend etwas überlegen, um Lucy, Cathrin und Dustin zu befreien und die Welt des Lichts zu retten.“
Ich sah ihn an.
„Wo steckt das dicke, fette Aber?“
Ian lächelte.
„Aber es ist so unglaublich schönes Wetter draußen.“
Ich folgte seinem Blick aus dem Fenster, die Sonne schien warm und wunderschön vom Himmel und man musste einfach raus gehen.
„Wer sagt denn, dass wir nicht raus gehen können und uns trotzdem einen Plan ausdenken können?“, meinte ich und drehte mich zu ihm.
„Ich denke, das könnte sogar klappen... Vorausgesetzt, wir lassen uns nicht ablenken.“ „Warum sollten wir uns ablenken lassen? Ich muss meine Mutter und du deine Schwester und ihren Freund retten. Und irgendwie müssen wir noch klären, was ich wegen meinem Großvater unternehmen soll.“
„Wieso muss ich eigentlich Dustin retten?“, grummelte Ian und überging meinen traurigen Kommentar.
Ich seufzte und murmelte:
„Weil er der Freund deiner Schwester ist, nicht meiner. Genau genommen habe ich keine Schwester.“
Ian stand seufzend auf, kam zu mir rum, küsste mich liebevoll auf die Lippen und ging zur Spüle, um seine Tasse abzuspülen. Plötzlich drehte er sich zu mir um und sah mich an. „Tut mir leid. Ich ... weiß nur nicht, wie- wie ich mit so was umgehen soll. Ich bin es nicht gewohnt, dass ... das alles.“
Er räusperte sich und spülte seine Tasse wieder ab. Ich stand auf, ging zu ihm und küsste ihn auf die Wange.
„Ich auch nicht.“
Ich legte meine Arme um ihn und meinen Kopf an seinen Rücken, Ian legte seine Hände auf meine und wir blieben eine Weile so stehen.
„Was hältst du davon, wenn wir in den Garten gehen und uns einen Plan überlegen?“, schlug Ian irgendwann vor und drehte sich zu mir um.
„Okay, ich kann sowieso viel besser denken, wenn ich in der Sonne liege.“
„Okay.“
Ian küsste mich.
„Dann gehen wir in den Garten.“
Er küsste mich wieder.
„Ich hol eine Picknickdecke, du kannst ja schon mal vorgehen.“
Er küsste mich noch einmal, dann ließ er mich los und ging die Treppe hoch. Ich sah ihm nach, seufzte und ging dann in den Garten. Das war das erste Mal, dass ich Ians Garten betrat und ich war sofort in diesen Garten verliebt. Es gab eine Grasfläche, in deren Mitte ein Schwimmteich war, über den eine kleine Holzbrücke reichte, weiter hinten im Garten, unter dem Baum, war eine Sitzecke, daneben ein Brunnen, der leise vor sich hin plätscherte und neben der Garage stand eine Hollywood-Schaukel.
„Wow.“
Erstaunt blieb ich auf der Terrasse stehen und sah mich um. Dann, ganz langsam, ging ich die Stufen hinunter und über den Rasen zu dem Teich. Es gab eine Einstiegsbucht mit drei Stufen, also setzte ich mich auf die oberste und ließ die Füße ins Wasser baumeln. Ich hörte, wie sich die Terrassentür leise öffnete und wieder schloss.
„Dein Garten ist unglaublich. Er ist wunderschön.“
Ian setzte sich neben mich.
„Ja, meine Mum war von dem Garten besessen. Sie wollte, dass er der schönste Garten in der Nachbarschaft wird. Naja, wenigstens das hat sie geschafft. Auch wenn sie nichts davon hat.“
Seine Augen wurden ein bisschen trüb vor Trauer, auch wenn er es sich nicht anmerken lassen wollte. Ich legte meine Hand auf seine und sah ihn an.
„Ich glaube nicht, dass sie ihn für sich gemacht hat.“
Ian sah mich an.
„Wie meinst du das?“
Ich drehte mich zu ihm um und zog ein Bein an.
„Ich glaube, sie hat versucht, den perfekten Garten zu schaffen, damit du und Lucy in ihm aufwachsen könnt.“
Ich drehte mich zum Wohnzimmerfenster, das direkt hinter uns lag, um und zeigte es ihm. „Siehst du das? Vom Wohnzimmerfenster aus kann man perfekt den Teich und die Brücke im Auge behalten. Und siehst du das?“ Ich deutete auf die Terrassentür.
„Von der Terrassentür aus, sieht man direkt auf die Hollywoodschaukel.“
Ich drehte mich wieder zu ihm um.
„Deine Mum hat den Garten so wundervoll hergerichtet und all diese romantischen Plätze angelegt, damit sie dich und Lucy beobachten kann, ohne von euch gesehen zu werden, wenn ihre eure ersten Dates habt. Sie wollte euch die Chance auf Privatsphäre geben, ohne euch ganz aus den Augen zu lassen.“
Ian starrte an mir vorbei zur Terrassentür.
„Da sein ohne gesehen zu werden...“, murmelte er vor sich hin und starrte gedankenverloren in die Luft.
„An was denkst du gerade?“, fragte ich und meine Augen verengten sich misstrauisch.
„Ich überlege, ob es eine Möglichkeit gäbe, das, was meine Mutter für Lucy und mich geplant hatte, bei David anzuwenden.“
„Ich versteh absolut kein Wort von dem, was du sagst.“, meinte ich nur und legte mich auf den Rücken in die Sonne. Ian beugte sich über mich und saß mir in der Sonne.
„Ich sage, wenn wir eine Möglichkeit fänden, nah genug an Lucy, Dustin und Cathrin heran zu kommen, ohne dass David uns sehen würde, könnten wir sie zumindest befreien und uns dann mit ihnen zusammen überlegen, wie wir weiter vorgehen.“
Ich starrte Ians schwarze Silhouette an und dachte nach.
„Okay, erstens: Wie willst du nah genug an sie ran kommen, ohne dass David uns bemerkt? Und zweitens: Wie willst du uns dann alle von dort weg bringen? Ich kann dich und mich von einer Welt in die andere bringen, aber auch nicht, ohne das es Spuren hinterlässt. Vor allem, wenn ich es so oft in so kurzer Zeit mache. Und Cathrin schien nicht gerade in der Verfassung zu sein, sich und zwei weitere eben mal schnell von der Welt des Lichts in unsere bringen zu können.“
Ian ließ sich seufzend neben mir ins Gras fallen.
„Wie ist das eigentlich mit den Übergängen? Erst dachte ich, es würde außerhalb der Mitternachtsstunde gar nicht gehen und dann kannst du es doch.“
Ich seufzte.
„Ich... weiß auch nicht genau, wie das ist, aber... Ich musste gestern erst Dustin, Lucy und mich in deine Zelle, dann Lucy, Dustin, dich und mich wieder zum Schloss zurück bringen, und dann dich uns mich noch einmal in die Wüste Arizonas. Und das alles innerhalb weniger Stunden. Das ist wirklich anstrengend gewesen. Deshalb war ich auch so fertig, als wir hier ankamen, nicht nur weil ich dehydriert war. Und bei Cathrins momentaner Gefühlslage könnte alles mögliche schief gehen.“
Ian sah mich an und fuhr mit seinen Fingerspitzen über meine Lippen.
„Was meinst du lenkt sie ab?“
Ich sah ihm in die Augen und fuhr mit meiner Hand über seine Wange.
„Mein Dad. Sie macht sich immer noch wahnsinnige Vorwürfe, weil sie ihn geschnappt haben und sie ihn nicht retten konnte.“
Ich fuhr mit meinen Fingern durch Ians Haare, das Sonnenlicht ließ sie heller schimmern. „Hast du dir auch Vorwürfe gemacht?“
Ich sah ihm wieder in die Augen und überlegte kurz.
„Ein bisschen. Ich hatte Angst um dich, weil ich nicht wusste, was sie dir alles antun. Und ich wollte dich so schnell wie möglich da raus holen. Und ich wäre fast verrückt geworden, weil ich es nicht konnte...“
Ich erinnerte mich an den Frust, die Angst, das Bedürfnis, Ian wieder bei mir zu haben, und die innere Unruhe, die ich empfunden hatte, als ich nicht wusste, wo er war und wie es ihm ging. Ich zog Ian zu mir nach unten und küsste ihn. Ich musste dieses Gefühl der Ungewissheit gegen ein anderes Gefühl eintauschen, irgendein viel besseres, stärkeres Gefühl. Ians Lippen auf meinen, seine Haut auf meiner und seine sich hebende und senkende Brust waren alles, was ich noch wahr nahm. Langsam schoben sich meine Hände unter sein Hemd, doch Ian zögerte und zog meine Hände schließlich wieder zurück.
„Jules. Das willst du jetzt nicht.“, flüsterte er leise und stützte sich auf einen Ellenbogen.
„Nein, wollte ich nicht.“, keuchte ich leise und setzte mich vorsichtig auf.
„Tut mir leid. Eigentlich... wollte ich nur dieses ... Gefühl los werden. Aber wohl ein bisschen zu sehr.“
Ian lächelte mich an und zog mich an sich.
„Du hättest auch einfach was sagen können.“
Ich legte meinen Kopf an seine Schulter und lachte.
„Eigentlich wollte ich auch noch sagen, dass Cathrin das, was ich ein paar Tage durchmachen musste, schon seit knapp 16 Jahren durchmacht.“
In Ians Augen blitzte es und seine Miene hellte sich auf.
„Was? Was hast du dir gerade ausgedacht?“, fragte ich ihn und sah ihn an.
„Wir müssen deinen Vater retten. Nein, hör zu, jetzt ist der perfekte Zeitpunkt dafür. David ist gerade total auf Cathrin, Lucy und Dustin fixiert und darauf, dich zu finden, also wird niemand bei deinem Vater sein.“, meinte er, noch bevor ich widersprechen konnte.
„Du weißt, wo er meinen Vater fest hält?“, fragte ich ihn.
Ian biss sich auf die Unterlippe.
„Nicht genau, aber ich vermute es.“
Ich zog die Beine an, sodass ich im Schneidersitz saß und sah ihn an.
„Wir müssen also nur meinen Vater finden, befreien und zu Cathrin bringen, damit sie sieht, dass es ihm gut geht und sie sich endlich gegen meinen Großvater zur Wehr setzten kann.“
„Das klingt nach einem guten Plan.“, meinte Ian und blinzelte gegen die Nachmittagssonne. „Lass und gegen, bevor die zurück gebliebenen Wächter zur Nachtruhe zurück kehren.“
Ian reichte mir seine Hand und zog mich hoch.
„Okay. Dann beeilen wir uns besser und befreien dann meine Mutter und deine Schwester.“ Ian zog mich an sich und hob mein Kinn an.
„Nein, wir werden unsere Familie befreien.“
Unsere Familie.


Mir gefiel die Vorstellung.

13


„Okay, in den Jahren, in denen ich nach Lucy gesucht habe und David mir helfen sollte, hat er mich immer, wenn er neue Informationen hatte oder mich umbringen wollte, zu diesem einen Haus eingeladen. Immer zu dem selben. Deshalb gehe ich davon aus, dass es seins ist und dein Vater dort festgehalten wird.“
Ian und ich schlenderten durch die Innenstadt und taten so, als sei alles normal und nicht, als würden wir so bald wie möglich in ein fremdes Haus einbrechen, um einen Mann, der dort seit Jahren gefangen gehalten wurde, zu befreien. Ich lehnte mich an ihn und seufzte.
„Also brechen wir ein und sehen nach, ob er da ist und wenn er nicht da ist, gehen wir wieder. Und was machen wir, wenn er da ist? Ich würde ihn doch gar nicht erkennen.“
Ian lächelte mich an.
„Deshalb gehen wir jetzt auch erst in dieses Café dort an der Ecke und treffen jemanden, der weiß, wie dein Vater aussieht.“
Er deutete auf einen der Tische des Cafés, der in der Sonne stand und als ich die Person erkannte, die an diesem Tisch saß, traute ich meinen Augen nicht.
„Tante Maya?“, flüsterte ich tonlos und sah Ian an.
Ich hatte sie seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gesehen und das letzte Mal dachte ich noch, ich sei ein völlig normales Mädchen. Und jetzt saß sie da, in einem Café, in der Sonne mitten in der Stadt und ich wusste, wer ich wirklich war, was ich alles konnte und vor allem, wer meine Mutter war. Und gleich würde ich erfahren, wer mein Vater war. „Oh Gott.“, flüsterte ich leise und musste schlucken.
Ian nahm meine Hand und drückte sie sanft.
„Sie musste dich anlügen. Sie wollte dich beschützen.“, flüsterte er mir leise ins Ohr und strich mit seinem Daumen über meine Handfläche.
„Das... das ist es nicht. Ich meine... ich war wütend, als ich erfahren habe, dass mein Leben im Prinzip eine Lüge war, aber jetzt habe ich verstanden, warum. Es ist nur... Ich werde gleich erfahren, wer mein Vater ist und wie er aussieht. Das ist... merkwürdig.“ Ich drückte seine Hand fester.
„Keine Sorge, es wird alles gut.“, flüsterte er mir leise ins Ohr, als er Maya zu winkte und lächelte. Maya stand auf und blieb stehen. Sie sah mich an und atmete tief durch, ich konnte sehen, wie angespannt sie war. Ian blieb mit mir vor ihr stehen und wartete einfach ab. Ich ließ seine Hand los und atmete tief durch.
„Hi, Tante Maya. Oder ... Maéva.“
Meine Tante atmete erleichtert aus und nahm mich in die Arme.
„Es tut mir so leid, Jules. Ich hätte dich nicht anlügen dürfen.“
„Ich weiß. Aber ich komm damit klar. Ich ... hatte genug Zeit, es zu verstehen.“
Maya ließ mich los und trat wieder einen Schritt zurück. Ich trat wieder neben Ian und nahm seine Hand, Maya registrierte es und lächelte.
„Dann hat die ganze Katastrophe immerhin etwas gutes. Aber ihr seid aus einem ganz bestimmten Grund hier, oder?“
Sie räusperte sich und setzte sich wieder, Ian schob mir den Stuhl zurück und dann wieder an den Tisch ran. Der Kellner kam und sie bestellte mir meinen Lieblingssalat, zwei Sandwichs und drei Cola.
„Bevor ihr mir sagt, wie ich euch helfen kann: Wie geht es Cathrin? Wie geht es meiner großen Schwester?“
„David hat sie. Und Grandpa steckt irgendwie mit drin. Er hat sie an David verraten und sie kann sich nicht befreien oder will es auch gar nicht.“, antwortete ich leise und sah sie an.
Sie wurde ganz blass, schloss die Augen und kniff die Lippen zusammen.
„Wie kann er so etwas nur tun? Wie kann er nur seine eigene Tochter verraten?“
Ian und ich sagten nichts, denn wir kannten die Antwort darauf auch nicht.
„Okay, darum kümmern wir uns später. Ihr wolltet etwas anderes. Wie kann ich euch helfen?“
Ian räusperte sich. „Wir vermuten, dass David Jules Vater festhält und wollen ihn befreien, wissen aber nicht, wie er aussieht. Aber du weißt es.“
Ian sah Maya an, ich sah zwischen ihm und ihr hin und her, irgendetwas geschah zwischen den beiden, das ich nicht verstand. Der Blick, den sie miteinander wechselten, war so intensiv, dass ich mich ausgeschlossen fühlte. Doch das würde wahrscheinlich noch öfter passieren.
„Er hat die selbe Augenfarbe wie du.“, meinte Maya schließlich und sah mich an.
„Das hat David auch schon gesagt.“, murmelte ich und stocherte in meinem Salat rum.
Maya sah mich erschrocken an.
„Wir hatten die ein oder andere unangenehme Begegnung mit ihm. Bei der ersten haben wir von ihm erfahren, dass er ihr Onkel ist.“, erklärte Ian und verzog leicht das Gesicht bei der Erinnerung.
„Ja, David kann bei solchen Enthüllungen ziemlich ... grausam sein.“
Ich sah Maya an und zog eine Augenbraue hoch.
„Nur bei solchen Enthüllungen?“
Maya lächelte schwach.
„Okay, er ist allgemein grausam. Aber so war er nicht immer.“
Ian und ich tauschten einen ungläubigen Blick.
„Wirklich, noch vor ein paar Jahren war er sogar ziemlich nett.“, versuchte Maya und zu erklären, doch es ging nicht.
„Also seit ich ihn kenne, ist er ein Mistkerl. Und ich kenn ihn seit knapp 4 Jahren.“, meinte Ian. „Ja, und als ich ihn zum ersten Mal traf, hat er von seinem Bruder gesprochen, als wäre er Abschaum.“, fügte ich hinzu.
Maya schüttelte nur traurig den Kopf.
„Ihr kennt ihn gar nicht richtig. Als ich ihn kennen gelernt habe, und das ist inzwischen schon fast 20 Jahre her, war er noch ein ganz anderer.“
Maya klang beinahe sehnsüchtig, was Ian und mich noch ungläubiger schauen ließ.
„Wie dem auch sei, wir wollten eigentlich nur wissen, wie mein Vater aussieht, damit wir ihn befreien können.“, meinte ich schließlich und lenkte wieder auf das eigentliche Thema zurück.
„Richtig. Ich habe ein Foto von ihm, das ich dir geben kann. Deine Mutter ist auch mit drauf, aber ich denke, das macht nichts.“
Maya hob ihre Tasche vom Boden und wühlte darin herum, bis sie einen kleinen Kalender raus holte, ihn öffnete und ein Haufen Bilder zum Vorschein kamen. Auf den meisten war ich drauf, als Baby schlafend unter einem Kirschbaum, als Kleinkind gerade meine ersten Schritte machend, an dem Tag, an dem ich in die Schule kam und alle anderen großen, wichtigen Tage, die meine Mutter nie mit erlebt hatte - Maya schon. Ian beugte sich über den Tisch und sah sich die Bilder an. Er lächelte, doch ich konnte nicht genau sagen, ob es ein belustigtes Lächeln war oder weil er meine Babybilder süß fand. Keiner der Gedanken gefiel mir so richtig. Das aktuellste Foto von mir, das aktuelle Schulfoto, nahm er in die Hand und sah es sich an. Darauf hatte ich meine Haare offen, sie fielen mir locker und leicht wellig über die Schultern, ein paar Strähnen vorne, ein paar Strähnen hinten. Ich hatte eine weiße Bluse angehabt und damit man meinen BH nicht durchsehen konnte, ein schwarzes Top drunter, meine Lippen hatten einen sanften Rotton und das Sonnenlicht war genau im richtigen Moment im richtigen Winkel durch das Fenster geschienen, so dass meine Haare fast rot schienen. Ian sah das Bild an und ich wusste, dass er überlegte, wie er es behalten konnte.
„Vergiss es. Du wirst das Bild schön wieder auf den Tisch legen und dort liegen lassen.“, meinte ich zu ihm und er legte das Bild enttäuscht zurück.
„Ah, hier ist es ja.“
Maya zog ein Bild von ziemlich weit unten heraus und reichte es mir. Es war das Hochzeitsfoto meiner Eltern. Cathrin sah wunderschön aus, viel jünger als zu dem Zeitpunkt, als ich sie das erste Mal gesehen hatte, und unglaublich glücklich. Und mein Dad... er war unglaublich. Er sah toll aus, er hatte meine Augenfarbe, aber beinahe ganz schwarze Haare, die elegant und gleichzeitig wild wirkten, in seinem Smoking sah er unglaublich gut aus und die Art, wie er den Arm um meine Mutter gelegt hatte, zeigte, dass er alles für sie tun würde.
„Das war ein Jahr vor deiner Geburt. Cathrin und Mathew haben immer gesagt, das wäre der zweitschönste Tag ihres Lebens gewesen.“
Maya lächelte mich an, doch ich betrachtete immer noch das Foto.
„Was war der schönste Tag in ihrem Leben?“, wollte Ian wissen.
Maya nahm meine Hand und ich sah auf.
„Julias Geburt. Mathew war vermutlich nervöser als Cathrin selbst.“
Maya lächelte und ein schwaches Lächeln huschte über mein Gesicht.
Cathrin war vielleicht meine Mutter, doch Maya war für mich immer wie eine Mutter gewesen.
„Wir sollten langsam wieder aufbrechen. Es wird bald dunkel.“, meinte Ian plötzlich und sah zum Himmel.
„Stimmt.“, stellte ich fest und stand auf.
Maya stand ebenfalls auf.
„Passt auf euch auf und seid bloß vorsichtig.“
Ich nickte und umarmte sie.
„Ich hab dich lieb, Maya.“, flüsterte ich leise und ließ sie wieder los.
Maya nickte und lächelte. Ian nahm meine Hand und zog mich an sich.
„Ich werde auf sie aufpassen, Maya. Versprochen.“
Ian sah Maya fest in die Augen.
„Ich weiß, dass du das tun wirst, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob es wirklich nötig ist.“
Maya lächelte, winkte und ging davon.
Ian legte seine Hand um meine Taille und führte mich durch die Stadt, zu einem völlig durchschnittlichen Haus, vor dem ein Garten lag, der mit einer großen Rasenfläche und ein paar ordentlichen Schnittblumen wie der Vorzeigegarten aussah.
„Das ist Davids Haus?“, fragte ich leise, als wir uns hinter einer Hecke duckten und konnte es nicht glauben.
„Scheint so. Jedenfalls ist es das Haus, zu dem er mich immer gebeten hat.“
Ian beobachtete das Haus und die Fenster.
„Es sieht nicht so aus, als sei jemand da.“
Ian drehte sich zu mir um und sah mich an.
„Du wartest hier. Ich schau mal, ob ich einen Weg finde, rein zu kommen. Du wartest hier, bis ich wieder komme und wenn ich in 10 Minuten nicht wieder da bin, rennst du so schnell du kannst zurück zu mir. Hast du mich verstanden?“
Ian sah mir fest in die Augen, doch ich sah nicht weg.
„Ich werde dich nicht allein lassen.“
„Jules, ich will nicht darüber diskutieren.“
„Dann verlang das nicht von mir.“
„Jules...“
„Ian.“
Ich kniete mich hin und nahm seine Hand.
„Ich liebe dich. Und ich kann dich nicht allein zurück lassen. Ich werde dich auch nicht allein lassen.“
„Jules, es ist gefährlich.“
„Ein Grund mehr, dich nicht allein zu lassen.“
Ian seufzte und umfasste zärtlich mein Gesicht mit beiden Händen.
„Jules. Ich liebe dich. Und ich will nicht, dass dir etwas passiert. Ich habe Maya versprochen, auf dich aufzupassen.“
„Und wie willst du auf mich aufpassen, wenn ich nicht bei dir bin?“, flüsterte ich leise und versank in seinen Augen.
Ian dachte einen Moment nach und gab sich dann seufzend geschlagen.
„Okay. Aber wenn ich sage ‚Spring’, fragst du in welche Richtung, wenn ich sage ‚Renn’ , fragst du wie schnell und wenn ich sage ‚Duck dich’...“
„...muss ich fragen wie tief?“, fragte ich und grinste ihn an.
Ian lächelte.
„So ungefähr.“
„Aha.“, meinte ich und rutschte näher zu ihm.
„Wenn ich dich bitte, mich zu küssen, würdest du es dann tun?“
Ian zog mich noch ein Stück näher zu sich.
„Ich hätte gar keine andere Wahl als dich zu küssen. Ich könnte gar nicht widerstehen.“, flüsterte er und küsste mich liebevoll auf die Lippen.
„Wir müssen uns beeilen. Wir wollen deinen Vater schließlich befreien, bevor uns jemand sieht.“
Ian schob mich ein Stück von sich weg, stand auf und hielt mir die Hand hin.
Etwas perplex über die plötzliche Abfuhr blieb ich sitzen und sah ihn an.
„Komm schon, bevor ich es mir anders überlege und beschließe, dass dein Vater auch noch bis Morgen warten kann.“
Ich nahm seine Hand und er zog mich hoch.
„Und warum solltest du es dir anders überlegen?“, fragte ich ihn ein wenig maulig und trottete hinter ihm her.
Ian blieb stehen und zog mich an sich, so dicht, dass sich unsere Knie berührten.
„Ganz einfach aus dem Grund, weil, wenn du mir so nahe bist, das Blut aus meinen Gehirn weicht und sich wo anders sammelt. Dort kann ich es aber nicht gebrauchen, wenn ich mir einen Plan ausdenken soll, wie wir deinen Vater am Besten befreien können. Dann brauche ich es in meinem Gehirn.“
Ich sah ihn an.
„Oh. Oh!“, meinte ich, als ich endlich verstand, was er damit meinte.
Er lachte leise und ließ seine Arme ein wenig locker, damit wir nicht mehr so eng standen, hielt mich aber dennoch fest. Dann küsste er mich auf die Wange, nahm wieder nur meine Hand und führte mich durch den Garten.
„Am helllichten Tag irgendwo einbrechen, das wollte ich schon immer mal machen.“, flüsterte Ian leise, als wir vor der Terrassentür standen und holte unter einem der Steine einen kleinen Draht hervor.
„Lass mich raten: Den hast du dahin getan.“, flüsterte ich und sah ihm fasziniert dabei zu, wie er ohne den kleinsten Kratzer zu hinterlassen das Schloss knackte. Die Tür sprang auf und Ian drehte sich grinsend zu mir um.
„Klar. Ich wollte die Chance haben, David jeder Zeit zu besuchen, falls ich das Bedürfnis danach haben sollte.“
Er reichte mir seine Hand und führte mich durch Davids Wohnzimmer in den Flur, zur Treppe.
„Wir müssen in den Keller. Komm.“
Langsam und vorsichtig, um ja keinen Laut zu verursachen, schlichen wir die Treppe runter.
„Unten gibt es drei oder vier Räume, in einem davon müsste dein Vater sein.“
„Also liegen unsere Chancen, ihn beim ersten Mal zu finden, irgendwo zwischen 33 und 25%. Es gibt schlechtere Chancen.“
Ian drehte sich zu mir um und lächelte mich an.
„Nein, es sind vier Türen und wir sind zu zweit. Also haben wir eine 50/50 Chance.“ „Haha.“, meinte ich nur und ging nach rechts, Ian nahm die beiden Türen links. Vorsichtig legte ich meine Hand auf die Türklinke. Sie fühlte sich unnatürlich kalt an und ich hatte das Gefühl, an ihr fest zu frieren. Eine eisige Kälte schien unter der Tür durch zu ziehen und kroch meine Beine hinauf. Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf und ich bekam eine Gänsehaut. Ich hörte, wie Ian die Tür öffnete und sie leise quietschte und drückte die Klinke runter, geräuschlos öffnete sich die Tür. Als ich sah, was hinter der Tür lag, blieb ich wie angewurzelt stehen, die eine Hand auf der Türklinke, die Tür halb geöffnet.
„Die beiden Türen waren es nicht, hast du...?“
Doch Ian konnte seine Frage nicht beenden, denn als er neben mich trat und sah, was ich sah, verschlug es ihm die Sprache. Ich starrte in den runden Raum, der vor uns lag. Er war ungefähr genauso groß wie das Wohnzimmer, das ziemlich genau oben drüber liegen musste, und in jeden Zentimeter der Wand war ein Portrait eingelassen worden. Auf den Portraits waren Schlachten abgebildet, tote Soldaten mit offenen, blutenden Wunden und vor Schmerz verzerrten Gesichtern.
„Igitt.“, meinte ich angewidert, klammerte mich an Ians Arm und vergrub das Gesicht an seiner Schulter.
„Die Bilder stellen das grausamste einer jeden Schlacht dar. Das ist doch typisch David.“, murmelte Ian und ging in den Raum hinein, mich behutsam hinterher manövrierend. „Jules, schau mal genau gerade aus.“, meinte Ian plötzlich und blieb stehen.
„Nein, ich will nicht. Ich mag diese Bilder nicht.“, flüsterte ich.
„Da ist kein Bild. Jetzt schau mal.“
Widerwillig hob ich den Kopf und sah, was Ian meinte. Direkt gegenüber der Tür, durch die wir gekommen waren, lag eine neue Tür. Sie war schwarz, weshalb sie in dem dunklen Raum nicht sofort auffiel. Ian nahm meine Hand und ging vor, zur Tür und öffnete sie langsam. „Ach du Scheiße.“, murmelte Ian und mir klappte der Mund auf.
Vor uns lag ein langer, dunkler Flur, der auf beiden Seiten unendlich viele weitere Türen zu haben schien.
„Was hattest du vorhin gesagt, wie groß unsere Chance ist, ihn auf Anhieb zu finden?“, fragte ich Ian etwas höher als meine normale Tonlage war. Ian sah mich missbilligend an. „Vergiss, was ich gesagt hatte. Fang lieber an, Türen zu öffnen.“

Als ich schon gefühlte hundert Türen geöffnet hatte und immer nicht viel weiter war, hatte ich keine Lust mehr und ließ mich seufzend an der Wand entlang nach unten auf den Boden sinken.
„Ian, ich hab keine Lust mehr.“
Ian schloss die Tür, die er gerade geöffnet hatte und setzte sich seufzend neben mich. „Ich weiß, dass das anstrengend ist, aber wir müssen ihn finden. Du willst ihn doch auch finden... oder?“
„Ja, natürlich. Aber es sind so wahnsinnig viele Türen. Und meine Füße tun weh.“
„Okay, pass auf. Wenn wir jetzt die Türen alle kontrollieren, müssen wir nie wieder her kommen. Wenn wir jetzt aber abbrechen und gehen, müssen wir morgen wieder kommen und noch mal von vorne anfangen, weil wir nicht mehr wissen, bei welcher Tür wir waren.“
Ian sah mich mit leicht geneigtem Kopf an und wartete. Seufzend streckte ich ihm meine Hand hin und ließ mich von ihm wieder auf die Füße ziehen.
„Es können maximal noch ein paar Hundert Türen sein.“, meinte Ian als Aufmunterungsversuch, doch der misslang ihm gründlichst.
„Ich glaube, ich hab Blasen an den Füßen.“
„Die werden auch wieder abheilen.“
„Wie lang ist dieser verdammte Tunnel eigentlich? Wir sind doch schon lange nicht mehr im Garten, oder?“
„Inzwischen müssten wir in einem anderen Stadtteil sein.“
„Glaubst du, er ist überhaupt hier?“
„Ich hab keine Ahnung, Jules.“
„Ich hab Hunger.“
„Ich auch.“
„Und ich hab Durst.“
„Seit wann jammerst du so viel?“
„Ich jammer gar nicht, ich teile dir bloß mit, welche Leiden ich habe.“
„Das ist jammern.“
„Nein, ist es nicht.“
„Oh doch, ist es.“
„Ich jammere nicht. Ich will nur endlich irgendetwas erreichen.“
Ian und ich hatten schon etliches gesehen: Türen, die eine Wand verbargen, Türen, die eine Art Schlafzimmer offenbarten, Türen hinter denen ein Hobbyraum lag, Abstellräume, Speisekammern, und noch so viele andere Arten von Räumen, dass mein Gehirn die Räume schon gar nicht mehr wahr nahm.
„Glaub mir Süße, ich auch.“, meinte Ian erschöpft und öffnete die nächste Tür.
Hinter der ersten Tür war ein kleiner Gang, gerade lang genug, damit Ian und ich zusammen zwischen der ersten und der zweiten Tür stehen konnten.
„Die Tür ist vergittert.“, stellte Ian fest und rüttelte probehalber daran. Ein Geräusch auf der anderen Seite der Tür ließ uns aufhorchen.
„Meinst du...?“, wollte ich wissen, doch Ian bedeutete mir, still zu sein.
Ian tastete den Rand der Tür ab, bis er das Schloss gefunden hatte und machte sich daran, es zu knacken. Ungeduldig stand ich hinter ihm und schaute ihm über die Schulter. Die zwei Minuten, die er brauchte, um das Schloss zu knacken, schienen mir ewig vor zu kommen. Dann endlich ging die Tür leise quietschend auf, ich wollte den Raum betreten, aber Ian hielt mich mit ausgestrecktem Arm zurück und spähte vorsichtig in den Raum.
„Du bleibst hier. Verstanden?“, flüsterte er mir zu und ohne eine Antwort abzuwarten oder mich protestieren zu lassen, ging er schon los.
„Klar, kein Problem. Mach doch, was du willst.“, murmelte ich beleidigt und lehnte mich an die Wand.
Erschrocken zuckte ich zusammen, als es in dem Raum ein leises Geräusch gab, als würde etwas zu Boden fallen und ich hörte Ian vor Schmerz stöhnen. Ohne weiter darüber nachzudenken, rannte ich in den Raum, doch es war so dunkel, dass ich nichts sehen konnte. Gerade, als die Panik in mir aufkeimen wollte, spürte ich, wie meine Kräfte in mein Amulett flossen und das Amulett zu leuchten begann. Es war genau so viel Licht, dass ich alles sehen konnte, ohne geblendet zu werden. Was ich vor mir sah, war irgendwie krotesk. Ian und mein Dad, der nicht wusste, wer ich war, blinzelten gegen das Licht und ließen sich gegenseitig los.
„Jules.“, stöhnte Ian und hob eine Hand vor die Augen.
„Du strahlst.“
Ich stemmte die Hände in die Hüften und verdrehte die Augen.
„Das merke ich auch.“
„Was...? Was um alles in der Welt geht hier vor? Wer seid ihr?“, fragte Mathew und schloss die Augen.
„Wenn du Mathew bist und mit Cathrin verheiratet bist und vor siebzehn Jahren Vater eines kleinen Mädchens wurdest und deine Frau nicht ganz normal ist, kann ich es dir sagen.“, antwortete Ian und gewöhnte sich allmählich an das Licht.
„Woher kennst du meine Frau? Du bist keiner von Davids Handlangern.“, meinte Mathew misstrauisch und beobachtete Ian genau.
„Nein, ist er nicht.“, meinte ich kopfschüttelnd, doch Mathew beachtete mich nicht.
„Bin ich wirklich nicht. Erinnerst du dich noch an deinen besten Freund, Phillip? Er und seine Frau, Maria, hatten eine kleine Tochter, die ein knappes Jahr älter ist als deine Tochter, und einen Sohn.“
Mathew kniff die Augen zusammen und keuchte dann plötzlich auf.
Ian

?“
„In Fleisch und Blut.“, meinte Ian und schien sich etwas zu entspannen.
„Wie hast du mich gefunden? Wie bist du hier rein gekommen? Und hast du etwas von Cathrin gehört? Wie geht es ihr?“
Mathew schien die Frage, ob es Cathrin gut ging, brennend zu interessieren.
„Alles der Reihe nach. Es geht ihr gut, aber ich hab noch mehr Neuigkeiten für dich. Jules?“
Ian hielt mir die Hand hin und ich ging zu ihm.
„Mathew, darf ich dir Jules vorstellen? Ihr richtiger Name ist Julya. Und sie ist deine Tochter.“
Mathews Augen weiteten sich überrascht und er sah mich zum ersten Mal richtig an. Doch erst, als er mir in die Augen sah und seine eigenen Augen wiedererkannte, glaubte er es. „Oh mein Gott. Mein... mein kleines Mädchen.“, flüsterte er heißer, kam auf mich zu und riss mich plötzlich an sich.
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schrecklich ich es fand, dich weggeben zu müssen, auch wenn ich wusste, dass du in guten Händen bist. Es hat mir fast das Herz zerrissen, als ich dich in Maévas Arme legen musste.“
Mathews Duft kam mir auf eine Art vertraut vor, dass ich mich sofort geborgen und sicher fühlte. Es war merkwürdig, weil ich ihn doch eigentlich gar nicht kannte, aber ich vertraute ihm sofort.
„Ich weiß, ihr freut euch gerade über die Familienzusammenführung, aber wir sollten gehen, bevor David auch noch dazu kommt.“, meinte Ian und drängte uns so ein bisschen. „Ja, wir wissen, dass er dein Bruder ist. Er hatte großen Spaß daran, es uns zu erzählen.“, antwortete ich auf Mathews fragenden Blick und nahm Ians ausgestreckte Hand. „Ich glaube, ihr müsst mir nachher noch so einiges erzählen.“, meinte Mathew total vatermäßig und rannte uns hinterher.
„Das können wir nachher alles in Ruhe besprechen, sobald wir in Sicherheit sind!“, rief Ian nach hinten und stieß die Tür zum Keller auf. Mir war gar nicht aufgefallen, dass wir gar nicht so weit in den Flur hinein gegangen waren, dass es mir bloß durch die ganzen Türen so weit vorgekommen war. Ian blieb stehen, als wir die Treppe im Erdgeschoss erreichten und lauschte. Direkt vor uns lag die Terrassentür, die Dunkelheit brach gerade erst über dem Garten herein.
„Leise.“, flüsterte Ian und zog mich hinter sich her.
Erst, als wir im Garten waren und uns im Schatten der Hecken verstecken konnten, hörten wir die Schritte und Stimmen.
„Verdammt, sie kommen schon zurück!“, flüsterte Mathew leise und sah zur Vorderseite des Hauses.
„Dann sollten wir schnell verschwinden, damit wir möglichst viel Abstand zu ihnen haben.“, meinte Ian und schlich die Hecke entlang.
„Wenn wir über die Mauer in den nächsten Garten gehen, sind wir schneller und sie finden uns nicht so leicht.“, flüsterte Mathew.
Ian sah mich an und nickte dann.
„Okay. Jules, du zuerst.“
Er verschränkte seine Finger miteinander und half mir über die Mauer. Als ich mich auf die Mauer gezogen hatte, half ich Ian so gut es ging hoch und Mathew kletterte alleine hoch, als wäre es eine der einfachsten Übungen auf der Welt.
„Los, die Mauer entlang.“, wies uns Mathew an und balancierte die Mauer entlang, wie ein Hochseilartist auf seinem Seil.
Ian und ich sahen uns an, dann nahm er meine Hand und folgte Mathew vorsichtig.
„Passt auf, die Mauer ist bröcklig.“, flüsterte Mathew uns zu und kletterte auf das nächste Hausdach.
„Dafür, dass er die letzten 16 Jahre oder so in Gefangenschaft verbracht hat, ist er noch verdammt fit.“, murmelte Ian und klang ein wenig beeindruckt, auch wenn er das niemals zugeben würde.
„Ich verstehe, was Cathrin an ihm fand.“, murmelte ich zurück und als Ian mich erschrocken ansah, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Als wir das Dach wieder runter rutschten, fing Ian mich auf und zog mich an sich.
„Muss ich jetzt etwa auf deinen Vater eifersüchtig sein?“, knurrte er leise und sah mich an, ich konnte nicht aufhören, zu grinsen.
„Nein. Jedenfalls nicht, solange du mich auffängst, wenn ich falle.“, flüsterte ich zurück, stellte mich auf Zehenspitzen und küsste ihn.
Mathew räusperte sich und Ian und ich drehten uns zu ihm um.
„Das würde zumindest diese Frage beantworten.“, meinte er und zog eine Augenbraue hoch. Ich merkte, wie ich rot wurde, doch es war bereits zu dunkel und Ian nahm meine Hand, ohne auf Mathew zu achten. Langsam und darauf bedacht, unentdeckt zu bleiben, gingen wir weiter.
„Wo genau gehen wir eigentlich hin?“, fragte Mathew, als wir durch die Innenstadt gingen. „Zu mir. Das ist sicherer, als euer altes Haus.“, erklärte Ian und sah sich vorsichtshalber um.
„Ist es immer noch die alte Adresse? Das Haus mit dem tollen Garten, den Maria für euch angelegt hat? Verbringt sie immer noch jeden Tag in der Hollywoodschaukel und liest?“, fragte Mathew und lächelte bei der Erinnerung, ohne zu wissen, dass all dies längst vergangen war.
„Nein, sie liest nicht mehr jeden Tag im Garten. Genau genommen hat sie vor sieben Jahren damit aufgehört.“, flüsterte Ian und wandte den Blick ab.
So unvermittelt an eine Angewohnheit seiner Mutter erinnert zu werden, schien ihn hart zu treffen.
„Maria und Phillip… wurden vor sieben Jahren... von ... von Graumännern ermordet, weil sie euren - oder vielmehr ... meinen - Aufenthaltsort erfahren wollten.“, erklärte ich Mathew und sah Ian nach, der ein Stück vor gegangen war.
Mathew wich alle Farben aus dem Gesicht.
„Sie...? Sie sind... getötet worden, nur weil... weil Cathrin und ich... mit ihnen ... befreundet waren?“, flüsterte er leise und lehnte sich gegen die Wand.
„Dabei ...haben sie Lucy dann verschleppt und Ian... wurde mit einem Schwert schwer am Rücken verletzt...“, flüsterte ich und hatte Mühe, stehen zu bleiben und nicht zu Ian zu rennen.
„Und ich habe das alles wieder zurückgeholt. Ich habe ... all diese schlimmen Erinnerungen wieder in ihm hochgeholt.“
„Das konntest du ja nicht wissen.“, murmelte ich und rieb mir über den Oberarm. „Mathew... ich meine Dad, ich... ich muss nach Ian sehen.“
Mathew nickte und stand wieder auf.
„Ich komme mit. Wir sollten uns eh beeilen, sie werden bald feststellen, dass ich weg bin und mich suchen.“
Ich nickte und ging zu Ian.
„Hey, alles okay?“
Ian lehnte an der Wand und sah zu Boden, als ich vor ihm stand, hob er den Blick und ich sah, wie ihm eine einzelne Träne über die Wange lief. Ich konnte nicht anders als ihn bemitleidend anzusehen, auch wenn ich wusste, dass er so etwas nicht ausstehen konnte. „Es ist echt witzig, was für Kleinigkeiten dich daran erinnern, was du alles verloren hast.“, meinte er mit einem zittrigen Lächeln.
„Ich hatte irgendwie ganz vergessen, dass sie immer im Garten gelesen hat, obwohl ich es immer geliebt habe, wenn sie mir vorgelesen hat oder ich im Garten gespielt habe und sie da saß und gelesen hat.“, flüsterte er und ich konnte nicht anders, als ihm die Träne von der Wange zu küssen und mich tröstend an ihn zu schmiegen.
„Es ist doch gut, wenn du dich daran erinnerst. Dann kannst du sie zumindest nicht vergessen, Ian. Es ist wichtig, dass du dich an so etwas erinnerst.“, flüsterte ich leise und versuchte, die richtigen Worte zu finden, doch irgendwie klang alles daneben.
„Ian.“
Mathew stand hinter uns und sah Ian an.
„Das, was mit deinen Eltern geschehen ist, tut mir wirklich leid. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass sie so weit gehen würden. Glaub mir, wenn ich das gewusst hätte, hätte ich alles getan, um das zu verhindern. Und wenn ich es vorher gewusst hätte, hätte ich nie zu gelassen, dass wir so gute Freunde werden oder dass Cathrin ihnen ihr Geheimnis anvertraut. Wir hätten verschwinden müssen, als es die ersten Anzeichen gab, noch vor Julias Geburt.“
Ian schüttelte den Kopf.
„Nein, Mathew. Du hast meinen Vater gekannt, er hätte nicht zugelassen, dass ihr einfach verschwindet. Er hätte euch mehr oder weniger dazu gezwungen, ihnen zu erzählen, was los ist.“
Er zog mich an sich und schaffte es schon wieder, zu lächeln.
„Außerdem hätte ich Jules dann nicht retten können und sie mich nicht. Und ich hätte sie nicht kennen gelernt.“
Mathew sah uns beide lange an, bis er schließlich nachgab und seufzte.
„Okay, wir klären das alles ganz genau später. Wir müssen uns wirklich beeilen. Sie werden inzwischen festgestellt haben, dass ich verschwunden bin und wenn sie mitbekommen, dass ihr hier seid, werden die Hexenjagden dagegen ein fröhliches Fest gewesen sein.“
Ich sah Mathew an und zog eine Augenbraue hoch.
„Ich bin die Hexe?“
Mathew lächelte mich an. „
Im übertragenen Sinne schon, ja. Da du leider ganz nach deiner Mutter kommst, was die Kräfte angeht, werden sie dich jagen, denn sie brauchen die gesamte königliche Macht, um das Reich übernehmen zu können.“
Ich sah ihn verständnislos an und wollte schon den Mund öffnen, um zu fragen, als ich mich um entschied.
„Das erklärst du mir alles, wenn wir bei Ian sind.“
Dann liefen wir los, denn wir wussten, dass wir in Gefahr waren.

„Wow, es hat sich wirklich nichts verändert.“
Mathew stand staunend mitten im Garten und sah sich alles an. „Maria hat sich wirklich selbst übertroffen. Genau so wollte sie es immer haben.“
„Du hast den Garten noch nie gesehen?“, fragte ich und folgte ihm mit verschränkten Armen durch den Garten.
„Nein, als Cathrin und ich fliehen mussten, war er noch nicht ganz fertig. Aber ich habe immer gewusst, dass sie es schaffen wird.“
Mathew sah sich um und ich konnte sehen, wie begeistert er war. Ich sah zu Ian und konnte sehen, wie stolz Ian auf seine Mutter und ihre Arbeit war und dass er niemals aus diesem Haus ausziehen würde. Ich nahm seine Hand und drückte sie leicht. Ian sah mich an, lächelte und zog mich an sich. Ich schlang meine Arme um ihn und Ian küsste mich auf die Stirn.
„Ich liebe dich.“, flüsterte Ian leise und küsste mich noch mal auf die Stirn.
Ich sah zu Mathew, der noch immer durch den nachtdunklen Garten ging und sich alles ansah. Es war merkwürdig, er war gerade aus knapp 17 Jahren Gefangenschaft befreit worden und schritt durch den Garten seiner Freunde, alles berührend und betastend, als könne er nicht glauben, dass er es wirklich anfassen konnte. Er war beinahe wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal nachts draußen war.
„Ich liebe dich auch, Ian. Und wenn wir das alles endlich überstanden haben, will ich einfach nur jeden Tag mit dir zusammen sein.“
Ich sah ihn an und streckte mich hoch, um ihn zu küssen, doch Mathew hinter uns ließ mich bei einem Blick bleiben. „Wir sollten rein gehen und reden. Wenn ich mich nicht irre, habe ich viel verpasst und ihr wisst auch noch nicht alles.“
Ich konnte Mathews Blick nicht richtig einordnen, er lag irgendwo zwischen dem typischen Blick eines besorgten Vaters und dem Blick eines Mannes, der erst jetzt merkt, dass er das Leben seiner Tochter verpasst hat, ohne sie wirklich zu kennen oder einen der wichtigen Momente mitzuerleben. Ian nickte und Mathew ging schon mal vor, Ian und ich folgten ihm langsam.
„Wir erzählen ihm doch nicht, dass wir... Oder?“, fragte ich ihn unsicher und sah ihn an. „Nein. Oh Gott, nein! Ich bin ja nicht lebensmüde.“, flüsterte Ian leise und klang wirklich besorgt.
„Okay.“, flüsterte ich und wir traten ins Wohnzimmer.
Mathew war gerade in der Küche und holte uns allen Gläser und ein paar Snacks.
„Ich hoffe, es macht dir nichts, dass ich es einfach geholt habe, aber ich habe in diesem Haus fast mehr Zeit verbracht als in meinem eigenen und du hast nichts verändert.“
Ian lehnte sich an die Wand neben der Küche und sah Mathew dabei zu, wie er zielsicher zu den Schränken ging und alles raus holte.
„Nein, kein Problem. Ich kann mich an ein bisschen was von damals erinnern. Vor allem an den Tag, an dem meine Mum plötzlich aufgesprungen ist, wild kreischend durch den Garten gerannt ist und dann ins Haus rannte, in den Wagen sprang und weg fuhr. Gleich darauf bist du in den Garten gerannt gekommen, hast mich hoch geworfen und gelacht, hast mich geschnappt und bist mit mir ins Krankenhaus gefahren. Dad und Lucy saßen schon im Wartezimmer und ich hab nicht einen Moment lang verstanden, was los war.“
Ian lächelte und auch Mathew konnte nicht anders. Ich saß im Wohnzimmer auf der Couch und hörte den beiden zu, wie sie über etwas redeten, das längst vergangen war. Mathew kam mit einem vollen Tablett in die Tür und lachte leise.
„Ja, das glaube ich dir. Du warst ja erst drei. Und bevor wir euch erklären konnten, warum alle so aus dem Häuschen sind, waren du und Lucy schon eingeschlafen.“
Ian setzte sich zu mir auf die Couch, Mathew stellte das Tablett zwischen uns auf den Couchtisch und setzte sich in den Sessel.
„Das war der wohl schönste Tag in meinem Leben. Genau um 23.59 Uhr wurdest du geboren und obwohl Cathrin vollkommen erschöpft war, wollte sie dich nicht einen Augenblick lang weg geben, aus Angst, dass sie dich nie wieder halten würde.“
Mathew sah mich an, seine Augen waren gefüllt vor Liebe bei der Erinnerung, doch ich konnte auch die Trauer sehen, als er sich bewusst wurde, dass das vermutlich der letzte schöne Augenblick mit Cathrin war.
„Cathrin geht es gut. Ich meine, sie ist gerade in Davids Gewalt, aber er hat ihr nichts angetan oder so. Sie ist vermutlich immer noch ziemlich fertig, weil ihr eigener Vater sie verraten hat und sie nicht weiß, wie es dir geht, aber sonst ist sie wohl auf.“, erzählte ich ihm schnell und etwas von der Traurigkeit verflog aus seinem Blick, doch ich wusste, dass, erst, wenn er Cathrin wieder in den Armen hielt, auch der Rest Traurigkeit verschwinden würde.
„Okay, ich würde vorschlagen, ihr fangt mal ganz von vorne an, und erzählt mir alles, damit ich auf dem Laufenden bin.“, meinte Mathew, nachdem er seine Wut runtergeschluckt hatte und Ian erzählte ihm, wie wir uns in der Wüste gefunden hatten.
Anfangs hörte ich aufmerksam zu, denn es interessierte mich wahnsinnig, was er überhaupt in der Wüste gemacht hatte, so weit weg von der Stadt. Ich war zufällig an genau diese Stelle geraten, weil ich immer in die Wüste fuhr, wenn ich nachdenken musste und war von einem Sandsturm überrascht worden, mich dann verirrt hatte und von einer Giftschlange gebissen worden war. Ian hingegen war absichtlich in die Wüste gegangen, weil er wusste, dass ich in Schwierigkeiten war und hatte die ganze Nacht damit verbracht, mich zu suchen. Doch danach kannte ich alles schon und mir war langweilig, also zog ich die Beine an, kuschelte mich an Ian und tat so, als ob ich zuhören würde.
Als Ian endlich geendet hatte, saß Mathew still da und schien nicht ganz damit klar zu kommen, was alles geschehen war. Ich war mir nicht sicher, ob er nur deshalb so still da saß oder weil er nicht glauben konnte, dass sein eigener Bruder erst seine Tochter und dann seine Frau gefangen hielt.
„Ich ... kann nicht glauben, was ihr schon alles durchgemacht habt. Und Cathrin...“
Er verzog vor Schmerz das Gesicht.
„Wie wollt ihr sie befreien? Ganz egal, was ihr vor habt, ich werde euch helfen.“
Mathew sah Ian und mich fest entschlossen an.
„Gut, darauf hatten wir gehofft. Jules meint, dass Cathrin momentan ihre Kräfte nicht einsetzten kann, weil sie gefühlsmäßig überfordert ist mit deinem Verlust, dem plötzlichen Wiedersehen mit Jules und dem erneuten Verlust und dem Verrat, den ihr Vater begangen hat...“
„Wir hoffen einfach, dass wenn sie dich sieht, sich ihre Glücksgefühle über alles andere hinweg setzen und sie ihre Kräfte wieder einsetzen kann.“
Mathew sah uns an.
„Wir wollen nur Cathrin, Lucy und Dustin befreien, mehr haben wir uns noch nicht überlegt.“, fügte ich hin zu, als ich seinen Gesichtsausdruck sah.
„Wir haben keinen Plan, was danach kommt. Aber wir dachten einfach, irgendetwas versuchen ist besser, als rum zu sitzen und nichts zu tun.“
Mathews Gesichtsausdruck entspannte sich etwas, als er erfuhr, dass wir seine Frau nicht ans Messer liefern wollten.
„Okay, wann gehen wir? Ich bin bereit.“
Ian sah mich fragend an, doch ich schüttelte den Kopf.
„Ich aber nicht. Wenn wir jetzt sofort gehen würden, wäre es viel zu anstrengend für mich. Wir müssen bis Mitternacht warten, ansonsten klappt der Übergang nicht.“
Mathew nickte.
„Okay, dann können wir vorher noch vorbereiten. Wir sollten auf keinen Fall unvorbereitet rüber gehen.“
Ich stand seufzend auf.
„Ich geh schlafen. Ihr könnt vorbereiten, wie ihr wollt, aber es ist jetzt 5 Uhr morgens und ich bin müde.“
Ian und Mathew standen ebenfalls auf, Mathew drückte mich.
„Schlaf gut.“
Ian legte mir eine Hand auf den Rücken.
„Mathew, ich denke, du solltest dich auch ausruhen. Es gibt genug Betten, dass du auch ein bisschen schlafen kannst.“
„Schlaft ihr eigentlich zusammen in einem Bett, also... ich meine ...?“
„Dad, bitte.“, jammerte ich und schaffte es, nicht rot zu werden oder beschämt zur Seite zu schauen.
„Ian?“
Mathew sah Ian an. Ian erwiderte seinen Blick, ohne zu blinzeln.
„Okay. Dann... schlafe ich...?“
„Du kannst in Mums und Dads Schlafzimmer schlafen, Jules in Lucys und ich in meinem.“ Mathew nickte.
„Ich... bleib noch ein bisschen unten. Ich hab die Sonne schon seit Jahren nicht mehr aufgehen sehen.“
Ian nickte.
„Gute Nacht, Dad.“, murmelte ich und Mathew lächelte mich an.
„Schlaf gut, mein Schatz.“
Es war merkwürdig, so genannt zu werden, doch ich freute mich auch irgendwie darüber. Ich hatte nie einen Vater gehabt, jetzt brauchte ich ihn zwar eigentlich nicht mehr, aber es war trotzdem schön, einen zu haben.
Als Ian und ich auf dem ersten Treppenabsatz ankamen, blieb ich stehen und sah Ian an. „Was?“, flüsterte er und drückte mich sanft gegen die Wand.
„Du... schläfst nicht wirklich in deinem Zimmer, oder?“, flüsterte ich und sah ihn an, Ian lächelte mich an und strich mir über die Wange.
„Ich weiß nicht, ob ich mich da mit deinem Vater anlegen will.“
„Bitte, Ian. Ich weiß nicht, ob ich heute Nacht alleine schlafen kann. Ob ich alleine sein kann.“
Ich wusste nicht genau, warum ich so panische Angst davor hatte, doch ich wusste, dass ich nicht alleine sein wollte.
„Jules, das könnte Ärger geben, wenn dein Dad uns erwischt.“
„Ich habe nicht davon gesprochen, dass ich mit dir schlafen will.“, flüsterte ich und sah ihn an.
Ian seufzte erneut.
„Also nur kuscheln.“
Er küsste mich auf die Lippen.
„Kein Sex.“
Ich nickte.
„Kein Sex. Außer du willst Ärger mit meinem Dad.“
Ian stieß sich von der Wand ab, nahm meine Hand und küsste mich.
„Lass uns schnell hoch gehen, bevor dein Dad rein kommt.“, meinte Ian mit einem geheimnisvollen Lächeln und zog mich die Treppe hoch.
„Hey, denk dran, kein Sex.“
Ian drehte sich zu mir um und lächelte spitzbübisch.
„Kein Sex. Ist doch klar.“
In Lucys Zimmer angekommen, konnte ich kaum noch stehen und Ian musste mich halb zum Bett tragen.
„Du bist ja wirklich total fertig.“, flüsterte er und hob meine Beine aufs Bett.
„Und morgen soll ich uns alle in die andere Welt bringen. Das wird ein riesen Spaß.“, murmelte ich und lächelte ihn an, bevor ich mich in die Kissen fallen ließ und seufzte. „Ich hoffe nur, das ist bald vorbei. Ich will wieder ein ruhiges, überschaubares Leben, das nicht die ganze Zeit auf den Kopf gestellt wird.“
Ian streifte sich die Schuhe von den Füßen und legte sich neben mich. Sanft küsste er mich auf die Stirn.
„Ich verspreche dir, wenn das hier erledigt ist, bekommst du das ruhigste und überschaubarste Leben, dass du dir nur vorstellen kannst.“
Vorsichtig schob er seinen Arm um mich und ich lächelte glücklich.
„Ich hab grad beschlossen, dass es ganz egal ist, ob mein Leben ruhig und überschaubar ist oder nicht, solange du weiterhin dazu gehörst.“, flüsterte ich und schmiegte mich enger an ihn.
Ian schwieg, dann küsste er mich aufs Haar.
„Ich werde immer zu dir gehören, Jules. Immer.“
Ich hätte etwas erwidert, wenn ich nicht schon fast geschlafen hätte.

14


„Jules? Jules. Jules, wach auf.“
Ian rüttelte leicht an meiner Schulter, widerwillig schlug ich die Augen auf.
„Was ist denn los?“
„Es ist jetzt 19 Uhr, du hast vierzehn Stunden geschlafen und Mathew meinte, ich soll dich wecken, damit du noch was essen kannst.“
Ian küsste mich liebevoll auf die Lippen und sah mich dann an. Er schien schon seit Stunden wach zu sein, er war frisch geduscht und trug frische Klamotten. Stöhnend rollte ich mich aus dem Bett und kam wacklig auf die Beine.
„Unten steht was zu essen. Willst du lieber Brot oder das, was Mathew als Mittagessen versteht?“
Ich seufzte und ging zum Bad.
„Duschen. Und dann seh’ ich weiter.“
Ian lächelte und kam auf mich zu.
„Beeil dich lieber, bevor Mathew alles als Proviant eingepackt hat oder es schon aufgegessen hat.“
Er zog mich an sich und küsste mich zärtlich, beinahe so, als hätte er Angst, mich nie wieder in den Arm nehmen zu können, doch das war schwachsinnig.
„Ich bin unten und rette dir ein bisschen was.“, flüsterte er mir leise ins Ohr und wollte gehen, ohne mich noch einmal anzusehen. Irgendetwas stimmte hier nicht.
„Ian?“, rief ich beinahe schon panisch, als er schon fast durch die Tür war und er drehte sich noch mal um.
„Ja?“
Er sah mich an und in seinen Augen konnte ich nichts erkennen, was meine Panik begründen würde. Ich schüttelte den Kopf, lächelte ihn an und küsste ihn.
„Danke.“
Dann flüchtete ich beinahe ins Bad.

Als ich unter der Dusche stand, versuchte ich, mich zu beruhigen. Ich stellte das Wasser so heiß ein wie möglich, obwohl es Sommer war und draußen unglaublich schwül, denn das heiße Wasser sollte meine Muskeln entspannen. Es half nichts. Ich zitterte innerlich immer noch und ich hatte das ungute Gefühl, dass etwas passieren würde. Und es war definitiv nichts Gutes. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Ian etwas damit zu tun hatte oder es etwas mit Ian. So oder so, ich würde nicht zulassen, dass ihm etwas zu stoßen konnte. Ich konnte nicht viel kontrollieren, und am aller wenigsten meine Kraft, doch Ians Leben würde ich im Notfall gegen mein eigenes tauschen. Mit der Gewissheit, dass ich alles für Ian tun würde und er keine Chance haben würde, irgendwelche Dummheiten zu machen, ganz egal, was er vor hatte, entspannte ich mich ein wenig und fühlte mich bereit, Ian und meinem Dad gegenüber zu treten und uns in die andere Welt hinüber zu bringen.
„Und, fühlst du dich fit genug, um nach Hause zu gehen?“, fragte mich Mathew, noch bevor ich ganz unten angekommen war und band einen Rucksack, der so voll war, dass er fast platzte, zu.
Ich zuckte kaum merklich zusammen, als er ‚nach Hause’ sagte, denn diese andere Welt war nicht meine Heimat. Ich sah zu Ian und Ian schüttelte kaum merklich den Kopf, also sagte ich erst mal nichts dazu. Es hätte vermutlich eh keinen Sinn, Mathew zu erklären, dass die Welt, aus der meine Mutter stammte, nicht meine Welt war. Statt ihn aufzuklären kam ich also die letzten zwei Stufen runter und meinte:
„Meinetwegen könnten wir los.“
Ich sah über Mathew zu Ian und merkte, dass Ian meinen Blick mied. Er hatte also wirklich etwas vor.
„Gut, dann richte ich die letzten Sachen und kurz vor Mitternacht machen wir uns bereit.“ Mathew stützte sich mit beiden Armen auf die Kücheninsel und seufzte.
„Okay, hört jetzt alle beide ganz genau zu. Wir werden nicht viel Zeit haben, denn wenn das stimmt, dass Cathrin ihre Kräfte gerade nicht einsetzten kann, werden sie nur darauf warten, dass du zurück kommst.“
Er sah mich an, ohne seine Haltung irgendwie zu ändern.
„Das bedeutet, dass wir sehr vorsichtig sein müssen. Wir dürfen uns. Auf GAR. KEINEN. FALL. Trennen, verstanden? Wir müssen zusammen bleiben. Alles klar?“
Mathew sah mich an und ich nickte.
„Klar.“
Dann sah er zu Ian.
„Ian, das gilt auch für dich. Wir können Lucy, Cathrin und Lucys Freund nur retten -und gleichzeitig Jules beschützen- wenn wir zusammen bleiben. Alles klar?“
Hatte ich mir nur eingebildet, dass er den Teil, in dem es darum ging, mich zu beschützen, extra betont hatte? Ians Blick sagte mir, dass es nicht so war, denn der Funke von Widerwille, der in seinen Augen gefunkelt hatte, erlosch.
„Klar.“, murmelte er und klang immer noch nicht ganz überzeugend.
„Gut. Bleibt hier unten.“, meinte Mathew, stieß sich ab und rannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch. Ian und ich waren allein in der Küche.
„Ich brauch etwas frische Luft.“, murmelte Ian, ohne mich anzusehen, durchquerte die Küche und ging in den Garten. Ich sah ihm nach und wusste nicht, was ich tun sollte. Sollte ich ihn fragen, was los war?
Sollte ich ihn einfach in Ruhe lassen?
Oder sollte ich sogar verletzt sein, weil er es mir nicht sagte?
Lautlos ging ich zur Terrassentür, verschränkte die Arme, lehnte mich an den Rahmen und beobachtete Ian. Er stand einfach nur da, die Hände in den Hosentaschen, mit hängenden Schultern und starrte vor sich hin. Ich konnte beinahe die Zahnräder in seinem Kopf arbeiten sehen. Er überlegte fieberhaft. Er versuchte verzweifelt, eine Antwort auf eine mir unbekannte Frage zu finden und ich konnte nur vermuten und rätseln, welche Frage ihn gerade beschäftigte, weshalb er es mir nicht sagen konnte.
„Es gibt keine, du kannst aufhören, nach einer zu suchen.“
Ian drehte sich überrascht um und sah mich an.
„Was gibt es keine?“
Ich war selbst überrascht gewesen, als ich mich das sagen hörte, hatte ich es doch eigentlich nicht vor gehabt, doch wenn ich jetzt schon mal den Mund aufgemacht hatte, konnte ich auch genau so gut weiter sprechen.
„Eine Antwort.“, meinte ich, zog die Ärmel meiner Strickjacke über meine Hände, verschränkte die Arme wieder und ging die zwei Stufen in den Garten hinunter, sodass ich vor ihm stand.
„Die Antwort, die du vermutlich schon seit Stunden suchst, auf welche Frage auch immer. Und ich kann nur vermuten, dass du es mir nicht sagst, weil du genau weißt, wie ich reagieren würde.“
Ich sah ihm ihn die Augen und wusste, dass ich recht hatte, wusste, dass ihn diese Frage schon seit Stunden quälte und wusste, dass sie ihn auch weiterhin quälen würde, wenn er keine Antwort finden würde. Er war vermutlich Stunden vor mir aufgestanden.
Genügend Zeit, um etwas zu besprechen, dass ich nicht hören sollte.


Ich keuchte, als mir die Wahrheit dieses Gedankens entgegen sprang. Ich musste Ian nicht ansehen, um zu wissen, dass es wirklich so war, dass Mathew ihm etwas erzählt hatte, als ich noch geschlafen hatte, das ich nicht erfahren sollte. Ich musste mich weg drehen, damit er meine Tränen nicht sah.
„Was hat Mathew dir erzählt?“, fragte ich ihn leise, damit er nicht hörte, wie getroffen ich war. Ich konnte ihn nicht ansehen.
„Jules.“, flüsterte Ian und wollte mich in den Arm nehmen, doch ich drehte mich weg und lehnte mich an einen der Holzbalken.
„Ich weiß nicht, ob ich das kann, Ian.“
Ian stellte sich direkt hinter mich, so nah, dass ich seinen Atem in meinem Nacken spüren konnte.
„Was weißt du nicht, ob du es kannst?“, fragte er mich heißer, versuchte aber nicht noch mal, mich in den Arm zu nehmen. Ich schloss die Augen, atmete tief ein, hielt die Luft kurz an, atmete dann wieder aus und öffnete die Augen wieder.
„Ich weiß nicht, ob ich... das durchstehe. Ich weiß nicht, ob ich es aushalte, wenn ich weiß, dass du etwas vor mir geheim hältst.“
„Jules, es geht nicht anders. Glaub mir.“, versuchte Ian mir zu erklären.
„Hast du mal dran gedacht, dass meine Gefühlslage vielleicht entscheidend sein könnte?“ Ich drehte mich um und sah Ian in die Augen.
„Ich habe zwar die Kette, aber meine Gefühle können meine Kräfte trotzdem blockieren, Ian. So wie bei Cathrin. Dann sitzen wir ebenfalls dort fest, falls ich es überhaupt schaffe, uns rüber zu bringen, ohne uns zu töten.“
Ian zuckte zusammen und wich meinem Blick aus, doch ich legte meine Hand unter sein Kinn und zwang ihn, mich wieder anzusehen. Ohne etwas zu sagen, sah ich ihn an und wartete. „Jules, ich kann es dir nicht sagen. Wirklich nicht. Mathew hat darauf bestanden, dass ich es vor dir geheim halte.“
„Ian...“, wand ich mich, doch Ian hielt mich an den Schultern fest und sah mich ernst an. „Julia, glaub mir. Ich will es dir wirklich sagen, aber...“
Ian seufzte.
„So schlimm?“, fragte ich und lehnte mich an ihn.
„Du hast ja keine Ahnung. Es ist noch viel schlimmer.“, flüsterte er und legte seine Arme um mich. Seine Wärme durchdrang mich und ich fühlte mich ein klein wenig besser. Ian hatte sein Kinn auf meiner Schulter abgelegt und sah zum Haus. Mathew huschte durch das Haus und suchte etliche Dinge zusammen, die wir brauchen könnten.
„Ich liebe dich, Jules. Ganz egal, was passieren wird. Versprich mir, dass du das niemals vergisst.“
Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken hinunter und ich drängte mich enger an ihn. „Ian...“
Er hob meine Kinn an und sah mich an.
„Jules, bitte. Versprich es mir.“
Sein Blick war so fordernd, so eindringlich, dass ich nach unten sehen musste.
„Nein.“
Ich schüttelte den Kopf und weigerte mich, ihn anzusehen. Mein Herz klopfte wie wild und ich hatte das Gefühl, bald in Tränen auszubrechen.
„Das werde ich nicht.“
Er wusste, dass er eventuell sterben würde.
Und er hatte nicht vor, etwas daran zu ändern!
Wut und Verzweiflung durchfluteten mich. Wenn er sich schon umbringen wollte, sollte er das wenigstens mit schlechtem Gewissen machen!
„Jules, bitte! Bitte.“
Er sah mich an und ich konnte die Panik in seinen Augen sehen, doch vor was er Angst hatte, wusste ich nicht. Ich riss mich los und funkelte ihn wütend an.
„Wenn du nicht willst, dass ich es irgendwann vergesse, musst du mich jeden Tag aufs Neue daran erinnern!“, schrie ich ihn wütend an und stürmte zurück ins Haus. Ich ignorierte Ians Rufe, ignorierte Mathews Fragen und rannte einfach die Treppe hoch, bis ich vor der Treppe zum Speicher stand. Als ich das letzte Mal auf einem Speicher gewesen war, war der über mir eingestürzt, doch das konnte mir hier wohl nicht passieren. Hier war niemand, der das Haus einstürzen lassen wollte. Vorsichtig öffnete ich die Tür und trat über die Schwelle. Es war beinahe, als würde ich in eine andere Welt eintauchen. Das Licht der untergehenden Sonne, das durch die niedrigen Fenster fiel, ließ den Staub tanzen und schien alles in ein wärmeres Licht zu tauchen. Ich fühlte mich ruhiger und sah mich neugierig um. Der Speicher war uralt, es musste noch der Originalzustand sein. Alles war mit Holz ausgekleidet, es stapelte sich überall altes, ausrangiertes Zeug. Kinderspielsachen aus dem letzten Jahrhundert, Babykleidung, alte Schränke und alles mit Staub überzogen. Ich stolperte über einige Kisten und riss beinahe einen Stapel Bücher um. Gerade noch rechtzeitig fing ich sie auf, wirbelte dabei aber eine riesige Staubwolke auf. Hustend ließ ich mich auf ein altes Sofa fallen, was eine neue Staubwolke aufwirbelte. Nachdem sich der Staub endlich gelegt hatte, sah ich mir die Bücher, die ich aufgefangen hatte, genauer an. Es waren Fotoalben. Von unten hörte ich Ian und Mathew meinen Namen rufen, doch ich ignorierte sie. Ein Zettel ragte ein kleines Stück aus dem Album heraus und weckte meine Neugier. Vorsichtig, damit ich ihn nicht zerriss, zog ich Zentimeter für Zentimeter heraus. Das Blatt war zweimal gefaltet und an den Rändern schon ganz vergilbt, doch ich konnte erkennen, dass es ein Brief war. Ich zögerte, denn es war nicht mein Fotoalbum und der Brief war bestimmt nicht für meine Augen gedacht, doch dann erinnerte ich mich daran, dass Ian mir etwas verheimlichte und aus Trotz und weil ich die Neugier nicht mehr aushielt, faltete ich ihn behutsam auseinander. Mir blieb die Luft weg, als ich Cathrins Schrift erkannte und beinahe schon ihre Stimme in meinem Kopf hören konnte.
Warum lag in einem Fotoalbum von Ian ein Brief von meiner Mutter? Ich konnte mich nicht auf das, was meine Mutter geschrieben hatte, konzentrieren. Ich wollte eine Antwort auf diese Frage, doch ich fand keine. Ganz langsam fing ich an zu lesen, doch ich musste allein den ersten Satz drei mal lesen, bevor ich den ganzen Satz verstand. Nachdem ich den ersten Satz verstanden hatte, waren alle anderen Gedanken aus meinem Kopf verdrängt und ich konzentrierte mich nur noch auf den Brief, denn ich konnte nicht glauben, was da stand...

Noch bevor Ian die Tür aufmachte, hatte ich ihn kommen hören.
„Hey.“
Er lugte durch die Tür, doch ich sah ihn nicht an. Leise schloss er die Tür hinter sich und setzte sich neben mich aufs Sofa, ließ allerdings ein wenig Platz zwischen uns. Das Fotoalbum mit dem Brief hatte ich schon lange in einem der Schränke versteckt, damit es niemand zufällig fand.
„Was machst du hier?“
„Sitzen.“, antwortete ich, ohne ihn anzusehen und sah auf den staubigen Boden.
„Jules...“
Er seufzte, rieb sich die Hände und hielt mir dann vorsichtig eine hin.
„Wir müssen los. Mathew wollte, dass ich dich hole - was übrigens nicht so einfach war.“ Er versuchte ein schwaches Lächeln. Ich sah ihn kurz an und starrte dann wieder gerade aus.
„Jules, bitte.“
Ian klang gequält und das war gut so. Ich reagierte nicht auf seine Bitte und ließ ihn schmoren.
„Also gut, dann eben nicht.“, seufzte er und klang niedergeschlagen. Ich wollte ihn ansehen, denn es gefiel mir nicht, dass er einfach so aufgab, doch das konnte ich nicht. Er stand mit einem erneuten Seufzer auf, streckte mir seine Hand hin und sah mich an. „Wir müssen los, wenn wir Lucy, Dustin und deine Mutter retten wollen. Und Mathew und ich schaffen es nicht ohne dich, in die andere Welt zu kommen.“
Seufzend stand ich auf, ignorierte seine ausgestreckte Hand jedoch und ging einfach an ihm vorbei. Es war mir egal, ob mein Verhalten kindisch war oder nicht, ich wollte Ian bloß zeigen, dass ich unzufrieden war.
„Jules...“, seufzte er und es klang wehmütig, doch ich drehte mich nicht zu ihm um, sondern ging einfach weiter.
Als ich allein die Treppe runter kam, konnte ich Mathew seufzen hören, er sah an mir vorbei zu Ian, der genau vier Stufen hinter mir ging. Ich sah den fragenden Blick, den Mathew ihm zuwarf und die Erleichterung, als Ian mit zusammen gebissenen Zähnen den Kopf schüttelte.
„Es ist gleich Mitternacht. Wir sollten uns bereit halten.“, meinte Mathew ohne mich oder Ian anzusehen und schulterte den Rucksack. „
Da drüben sind noch zwei Rucksäcke. Jeder von euch nimmt einen und dann gehen wir.“
Ian und ich griffen beide gleichzeitig nach dem selben Rucksack, doch dann zog ich die Hand wieder zurück.
„Jules, komm schon. Das ist doch kindisch.“, flehte Ian und sah mich mit großen, verletzten Augen an.
„Du hast deine Gründe und ich habe meine.“, flüsterte ich nur und nahm den übrig gebliebenen Rucksack.
Ich hängte ihn mir über die rechte Schulter und ging wieder in die Küche zurück, wo Mathew auf uns wartete. Ian fuhr sich mit der rechten Hand durchs Haar und atmete tief durch.
„Mathew...“
Er sah meinen Vater flehend an, doch der schüttelte nur den Kopf.
„Du weißt, dass das nicht geht. Ich hab es dir erklärt. Es tut mir leid, Ian.“
Ian drehte sich von uns weg, um seinen Schmerz zu verbergen, doch ich konnte sehen, wie er litt. Und es brach mir das Herz. Ich hatte zwar vorgehabt, ihn eiskalt zu behandeln, doch ich konnte einfach nicht wütend auf ihn sein, wenn er fast noch mehr litt als ich. „Ma... Ich meine Dad, geh schon mal raus, Ian und ich... kommen gleich nach...“, flüsterte ich leise, Mathew schien zwar verwundert, nickte aber und ging.
Ian lehnte sich mit dem Kopf gegen die Wand und atmete tief durch. „
Ian...“, flüsterte ich und legte ihm meine Hand auf die Schulter.
Er drehte sich zu mir um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand.
„Es tut mir leid, Jules.“, flüsterte er leise und klang total am Ende.
„Ich will es dir wirklich sagen.“
„Ich weiß.“, flüsterte ich zurück und überlegte, was ich machen sollte.
„Jules... Bitte. Ich will nicht, dass wir darüber gehen, solange wir Streit haben.“
Ich seufzte und schaffte es, ihn anzusehen.
„Ich auch nicht.“
Ian zog mich näher zu sich, aber nicht so nah, wie normalerweise immer.
„Dann lass uns nicht mehr streiten, okay? Bitte. Ich muss einfach wissen, dass du mich nicht hasst, wenn wir darüber gehen.“
Ich seufzte.
„Ich könnte dich niemals hassen, Ian.“
Ich drängte mich etwas näher an ihn und küsste ihn ganz sanft auf die Lippen. Ich würde ihm nicht vergeben, aber ich würde ihn auch nicht auf die andere Seite gehen lassen, wenn er glaubte, ich würde ihn hassen. Ian lächelte mich an, anscheinend dachte er, es sei alles wieder gut. Ich ließ ihn in dem Glauben. Er würde schon noch sehen, dass er falsch lag.
„Ich kann dich aber i-mer noch nicht davon überzeugen, mir zu versprechen, dass du niemals vergisst, wie sehr ich dich liebe, oder?“, fragte er mich beinahe scheinheilig und sah mich hoffnungsvoll an. Als Antwort funkelte ich ihn nur wütend an.
„Okay, dann eben nicht.“
Er küsste mich liebevoll und nahm dann meine Hand.
„Wir sollten raus zu Mathew gehen, er wartet bestimmt schon.“
Ich nickte und ließ mich von Ian nach draußen führen.
„Ähm... Was genau macht

er da?“
Ich starrte entsetzt auf die freie Rasenfläche, auf der Mathew einen großen Kreis aus Steinen gebildet hatte und in dessen Mitte stand, die Arme weit ausgebreitet und den Kopf so weit im Nacken, dass das Mondlicht ihm ins Gesicht fiel.
„Er... stimmt sich auf die andere Seite ein...? Schätze ich. Vermute ich jedenfalls.“
Ian sah genau so irritiert aus, wie ich mich fühlte und auch ein bisschen verstört. „Sollen ... wir ihn ansprechen oder warten wir, bis er... wieder da ist?“
Ich wusste nicht, ob ich lachen sollte oder wie ich mich sonst verhalten sollte.
„Ich... weiß nicht genau...“
Ian rieb sich über das Kinn, was ein deutliches Zeichen dafür war, dass er nicht wusste, was er tun sollte. Und dieses Gefühl hasste er. Doch bevor sich einer von uns entscheiden konnte, was wir tun sollten, zuckte Mathew zusammen und atmete keuchend ein und aus.
„Wir müssen uns beeilen.“, flüsterte er und schien um sein Gleichgewicht bemüht zu sein. Ian und ich tauschten einen Blick, dann gingen wir zu ihm und Ian griff meinem Vater ein bisschen unter die Arme.
„Sie sind auf dem Weg hier her. Wir müssen schnell von hier weg.“
Ich hatte keine Zeit, mich darüber zu wundern, woher er das wusste, doch ich wusste, dass er recht hatte, also unterdrückte ich ein Seufzen und legte mir Mathews anderen Arm um die Schultern.
„Haltet euch gut fest. Und auf keinen Fall los lassen.“, wies ich Mathew und Ian an und brachte uns da hin zurück, von wo Ian und ich gekommen waren.

15


„Das ist also aus dem Schloss geworden.“
Mathew trat vorsichtig auf den Boden auf und unter seinem Schuh zerbrach ein Holzstück, das einmal zu einem der tragenden Balken des Schlosses gehört hatte.
„Staub.“
Ich stand mit vor der Brust verschränkten Armen da, wo einst die äußersten Mauern des Schlosses gestanden hatten und sah bestürzt auf die Überreste des einst so wunderschönen Gebäudes. Ian ging durch die Überreste und suchte nach Dingen, die den Einsturz überstanden hatten, doch ich bezweifelte, dass er etwas finden würde. Vielleicht suchte er aber auch nur nach einem Lebenszeichen oder einem Hinweis auf Lucy. Mathew sah sich alles an und ich konnte sehen, wie er versuchte, sich das Schloss vorzustellen, in dem seine Frau die letzten Jahre und ihre Kindheit verbracht hatte.
„Hast du das Schloss je gesehen, Dad?“, fragte ich Mathew und sah ihn an, ohne auf Ian zu achten.
„Nein. Als Cathrin uns gerade rüber gebracht hatte, wurden wir angegriffen und sie war zu schwach, um ... zu kämpfen. Und ich konnte mich von dem Übergang kaum rühren. Ihr ... Vater kam und rettete sie, aber ich... wurde von den Graumännern verschleppt und von David eingesperrt. Er wollte, dass ich ihm verrate, wo wir dich versteckt hatten und wo Cathrin nun war beziehungsweise wie er an sie ran komme konnte.“
Seine Gedanken zerstreuten sich in weite Fernen, die ich nur erahnen konnte und gar nicht genau wissen wollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es sein musste, wenn man von seinem eigenen Bruder gefangen gehalten und in eine relativ kleine Zelle gesperrt wurde, in die kein Sonnenlicht drang.
„Warum hasst David dich eigentlich so sehr?“, fragte ich ihn, ohne vorher darüber nachgedacht zu haben. Mathew seufzte, trat aus dem Schutthaufen, der mal das königliche Schloss war und setzte sich ins Gras, die Beine angewinkelt und die Arme locker auf den Knien.
„Das ist schwierig. Er ist mein älterer Bruder, er war schon als Kind immer der Meinung, dass unsere Eltern mich bevorzugen würden. Ich meine, ja, ich war der jüngere und vermutlich haben sie mich auch ein wenig bevorzugt, aber nie so extrem, wie er es im Nachhinein immer darstellt. Und als Cathrin auftauchte, war ich nicht der einzige, der von ihr verzaubert war...“
Als ich hörte, dass David sich ebenfalls in Cathrin verliebt hatte, stöhnte ich und schloss die Augen. Ian lachte dreckig und ich sah ihn böse an.
„Was? Es ist doch irgendwie witzig.“
Ich sah Ian an und wusste, dass ihm genauso bewusst war wie mir, dass unser Streit noch nicht vorbei war. Doch er war nicht bereit, wenigstens so zu tun, als ob alles okay war. Wir wollten beide etwas erreichen. Nur mit dem Unterschied, dass er beschlossen hatte, anzugreifen. Schnell wandte ich die Augen ab und atmete beruhigend durch die Nase ein. „Als er jedoch merkte, dass Cathrin keinerlei Interesse an ihm hatte, hat er sich immer weiter zurück gezogen und obwohl wir uns eigentlich immer ganz gut verstanden hatten, abgesehen von seinen kleinen Eifersuchtsanfällen, hat er sich, je näher Cathrin und ich uns kamen, weiter von mir entfernt. Anstatt mit mir zu reden, hat er seinen Groll und seine Wut immer weiter geschürt und weiter genährt, bis er sich schließlich in Hass verwandelte.“
Mathew sah mich mit einem unglaublich traurigen Lächeln an.
„Nachdem Cathrin meinen Heiratsantrag angenommen hatte, verschwand David plötzlich spurlos. Aber keine zwei Wochen, nachdem Cathrin erfahren hatte, dass sie schwanger war, tauchte er wieder auf und versuchte alles, um Cathrin dazu zu bringen, wieder in ihre Welt zurück zu kehren, doch sie weigerte sich.“
„Warum?“, fragte ich leise und ignorierte Ian, der in Hörweite durch den Schutt lief. Mathew legte seine Hand an meine Wange und lächelte mich liebevoll an.
„Zum Einen, weil sie nicht wusste, ob es für dich gefährlich wäre und sie dich auf keinen Fall gefährden wollte, zum Anderen wollte sie dich nicht hier aufwachsen sehen. Und sie wollte mich nicht verlassen.“, fügte er lächelnd hinzu und ich erwiderte sein Lächeln. „Dann hast du auch noch nie einen Lilapfel gegessen, oder? Du kannst gar nicht lange hier bleiben.“
Mathew lachte leise und stand auf.
„Rate mal, warum ich drei Rucksäcke mitgenommen habe.“
Er streckte mir die Hand entgegen, ich ergriff sie und er zog mich hoch. Ein leichter Wind kam auf und ich schlang mir automatisch die Arme um den Oberkörper, obwohl es nicht kühl war.
„Wir sollten gehen, bevor uns irgendjemand findet.“, flüsterte ich leise und sah zu Ian, doch Ian blieb hart und ignorierte mich. Mathew nickte.
„Weißt du, wo wir hin müssen? Ich habe nämlich keine Ahnung.“
Ich überlegte kurz und wog die Möglichkeiten ab. Ich wusste nur noch von dem Gebäude, in dem Ian in einer Zelle festgehalten wurde. Es musste Davids Versteck sein.
„Ich hab eine Idee, wo sie sein könnten.“, meinte ich schließlich und sah über die Landschaft, um Ian nicht ansehen zu müssen.
„Gut, wie weit ist es dort hin?“
„Zu weit zum Laufen.“, knurrte Ian und stellte sich neben Mathew.
Ich sah Ian an und konnte nicht glauben, wie kalt seine Augen mich plötzlich ansahen. Nicht einmal, als er mich in der Wüste gefunden hatte, war er mir gegenüber so kalt und abweisend gewesen. Mathew wandte sich an mich.
„Kannst du uns dort hin bringen?“
Ich sah von Mathew zu Ian. Ian sah mich an, seine Augen funkelten mich abfällig an und forderten meine Wut gerade zu heraus. Ich sah wieder zu Mathew und meinte mit sanfter Stimme:
„Ich hab ja wohl keine andere Möglichkeit, oder?“
Ich drehte mich zu Ian um und funkelte ihn wütend an. Ians Augen weiteten sich minimal, doch bevor er etwas sagen konnte, fasste ich Mathew an der Schulter und streckte Ian meine Hand hin.
„Du kannst natürlich auch gerne hier bleiben.“, bot ich ihm mit einem zuckersüßen Lächeln an. Ians Gesichtsausdruck verfinsterte sich, doch er ergriff meine Hand. Für einen Moment drückte er meine Hand und es fühlte sich fast wieder normal an, doch dann lockerte sich sein Griff wieder. Ich sah zu Boden, damit er meine Enttäuschung nicht sah und konzentrierte mich darauf, uns an den richtigen Ort zu bringen.

Kaum standen wir in dem Kellergewölbe, aus dem ich Ian gerettet hatte, schnaubte Ian verächtlich.
„Das war ja klar. Eine bessere Idee hattest du nicht?“
Ich wirbelte zu ihm rum und sah ihn wütend an.
„Nein, hatte ich nicht. Aber du ja auch nicht. Genau genommen hattest du gar keine

Idee, also ist meine immer noch die bessere.“
Ian erwiderte meinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken und ich schnappte nach Luft, als ich in seinen Augen lesen konnte wie in einem Buch. Unsere ‚Versöhnung’ war nichts weiter gewesen, als eine Art Beschwichtigung meiner Gefühle, damit ich uns sicher hier her bringen konnte. Alles, was er gesagt hatte, war genau überlegt gewesen, damit ich ihm glaubte. Doch in Wirklichkeit hatte er mir nie sagen wollen, was Mathew ihm erzählt hatte.
Ich sah zur Seite und kehrte ihm den Rücken zu. Ich konnte nicht glauben, dass er mich ausgetrickst hatte. Ich unterdrückte die Tränen, die sich in meinen Augen sammeln wollten und richtete mich wieder auf. Er war nicht der einzige, der etwas geheim hielt. Und ich hatte beschlossen, Cathrins Brief ernst zu nehmen, auch wenn das, was sie geschrieben hatte, total abwegig klang.
„Wir sollten nach oben gehen, wenn wir sie finden wollen.“, meinte Ian und ich konnte seinen Blick in meinem Rücken spüren.
„Ja, erst müssen wir Lucy, Cathrin und Dustin finden, dann retten und dann kümmern wir uns um David.“
Ich drehte mich wieder zu ihnen um und sah Mahew an.
„Was genau willst du mit David machen?“, fragte Mathew, als wir die Treppe hoch gingen und klang ein wenig zurückhaltend.
„Ich gar nichts. Ich will lediglich dafür sorgen, dass er niemanden verletzt. Aber vielleicht solltest du Ian fragen, was er mit ihm vor hat. Schließlich ist David am Tod seiner Eltern beteiligt gewesen.“
Ich drehte mich zu Ian um und sah ihn an, er blieb wie angewurzelt stehen und wurde ganz weiß.
„Was denn?“, fragte ich unschuldig, drehte mich um und ging weiter.
Oben angekommen sah Mathew sich vorsichtig um.
„Okay, das Haus ist größer, als ich dachte.“
Er sah mich an und sah dann zu Ian, der mit zusammen gepressten Lippen da stand und mich wütend anfunkelte.
„Wollt ihr mir erzählen, was genau gerade zwischen euch läuft?“
Ian schüttelte den Kopf, ich zuckte mit den Schultern.
„Willst du mir sagen, was du Ian gesagt hast und ich nicht hören darf?“
Ich drehte mich zu Ian um.
„Oder willst du mir sagen, warum du der Meinung bist, dich für mich umbringen lassen zu müssen?“
Mathew seufzte und Ian funkelte mich noch wütender an.
„Nein? Auch gut. Dann können wir ja jetzt Lucy, Dustin und Cathrin retten.“
Damit drehte ich mich auf dem Absatz um und stolzierte voraus. Als wir an eine weitere Treppe kamen, die nach oben führte, drängte Mathew sich vor mich.
„Ich gehe oben nachsehen, ihr wartet hier.“
Und schon schlich er die Treppe nach oben. Seufzend lehnte ich mich an die Wand, ließ mich an ihr hinunter rutschen und wartete. Ian lehnte sich an die Wand, verschränkte die Arme und starrte mich nach wie vor mit zusammen gepressten Lippen und wütend an. Ich sah ihn fragend an, doch er sagte nichts, also zuckte ich bloß mit den Schultern und sah in die andere Richtung.
„Woher weißt du es?“, fragte er mich plötzlich so unvermittelt, dass ich mich überrascht zu ihm umdrehte.
„Woher weißt du, dass David am Tod meiner Eltern beteiligt war? Ich hab’s dir nie erzählt.“
Ich sah Ian einfach nur an und überlegte, wie es dazu kommen konnte, dass er mich so wütend ansah und ich es nicht einmal schlimm fand. Gestern noch hätte ich alles getan, um ihn wieder zu beruhigen, doch jetzt hing sein Leben davon ab, das ich es nicht tat. Also schloss ich die Augen, seufzte und lehnte den Kopf gegen die Wand, ohne ihm zu antworten. Ich konnte nur hoffen, dass Cathrin recht behielt. Denn wenn nicht, würde ich Ian auf die eine oder die andere Art verlieren, wenn nicht sogar auf beide. Und ich wusste nicht, wie ich auch nur die eine überstehen sollte.
Als Mathew wieder runter kam, war Ian so sauer, dass er sich keine Mühe mehr gab, seine Wut zu verbergen. Mathew sah mich fragend an, doch ich schüttelte nur abwehrend den Kopf, ich konnte es ihm nicht sagen.
„Sind sie oben?“, fragte ich stattdessen und lenkte Mathew so ab. Er nickte.
„Ja, Lucy und Dustin sind da, aber sie werden bewacht. Cathrin habe ich nirgends gesehen. David und der König sind auch nicht da.“
Ich atmete tief durch, denn ich wusste, dass mir gleich mindestens Mathew widersprechen würde.
„Ich lock die Wachen nach unten, dann könnt ihr sie befreien.“
„Nein.“
Mathew sah mich an, Ian hob lediglich den Kopf und starrte mich fassungslos an.
„Tja, dann lasst euch mal was anderes einfallen, wie ihr die Wachen von Lucy und Dustin weg locken könnt, ohne dass die Alarm schlagen und David Cathrin vermutlich noch mal woanders hin bringt.“
Ich sah die beiden heraus fordernd an, doch keiner sagte etwas.
„Ich kann auf mich aufpassen. Und ihr braucht die Zeit. Wir treffen uns in zehn Minuten wieder unten bei den Verliesen.“
Damit rannte ich die Treppe hoch und hoffte, dass es so klappte, wie ich es hoffte.
Es gab oben einen langen Gang mit drei Türen und ich wusste sofort, in welchem sich Lucy und Dustin befanden, denn ich konnte Lucy hören. Sie war anscheinend immer noch wütend, denn sie regte sich wirklich auf. Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht und ich lehnte mich entspannt gegen die Wand. Ich musste nur warten, bis sie merken würden, dass sie nicht mehr alleine auf dem Gang waren und rauskommen würden. Solange hörte ich Lucy bei ihren Schimpftiraden zu. Nach ungefähr zwei Minuten fuhr einer der Wachen Lucy plötzlich an, sie solle still sein und ich richtete mich auf. Die Tür ging auf, einer der Wachen steckte seinen Kopf raus und ich winkte ihm lächelnd zu. Er sah mich an, erkannte mich und schrie
„Hey! Bleib stehen!“,
obwohl ich noch nicht einmal rannte, und rannte los. Ich wartete, bis sein Kollege ihm folgte, dann rannte ich los. Ich rannte den Gang entlang, rutschte das Geländer der Treppe runter und rannte dann nach links, weg von den Kellern.
„Bleib stehen, du kleine Göre!“
Ich musste lachen, trotz dessen, dass ich gerade gejagt wurde.
„Ich bin 17, keine 12!“, rief ich über die Schulter und schlitterte um die nächste Kurve. In der Wand war eine kleine Einbuchtung, die gerade groß genug war, damit ich mich hinein quetschen konnte, ohne gesehen zu werden und die Wachmänner rannten an mir vorbei. Als ich sicher war, dass sie weg waren, kroch ich wieder raus und sah mich um. Obwohl ich noch nie zuvor in diesem Haus war, hatte ich das Gefühl, jeden Weg zu kennen. Ich wusste, wie ich zurück zu den Kellern kam und ich hatte die kleine Bucht gekannt. Doch da ich mich beeilen musste, hatte ich keine Zeit, länger darüber nach zu denken und rannte zurück zu den Kellern, in denen Mathew, Ian, Lucy und Dustin schon auf mich warteten. „Mir geht’s gut, lasst uns von hier verschwinden.“
Ich reichte Mathew meine Hand und streckte die andere nach Lucy aus, dabei begegnete mein Blick für den Bruchteil einer Sekunde Ians. Er würde irgendetwas dummes anstellen, ich wusste es ganz genau.
„Dustin, pack Ian.”
Ohne zu zögern packte Dustin Ian am Arm und ich nickte zufrieden, bevor ich uns zu den Ruinen des Schlosses zurück brachte.

16


„Julia, können wir kurz reden?“
Überrascht sah ich auf und begegnete Ians Blick. Seine Augen sahen mich an, doch ich konnte kein Gefühl in ihnen sehen. Langsam stand ich aus der Hocke auf, ohne den Blick abzuwenden und schob die Daumen in die Gürtelschlaufen meiner Hotpan. Ich versuchte, irgendetwas in seinen Augen zu lesen, irgendetwas zu sehen oder zu erkennen, doch es war, als würde er mich absichtlich aussperren. Lucy, Dustin und Mathew beobachteten uns, ich wusste es, aber ich konnte mich nicht darauf konzentrieren. Ich hatte mir selbst geschworen, Ians Leben zu beschützen und alles hing davon ab, dass ich es schaffte. Ohne es zu wollen, nickte ich, verschränkte die Arme und folgte ihm. Ich spürte Mathews Blick und konnte mir vorstellen, dass er betete, dass Ian dicht hielt, dass Ian die Kraft besaß, das Geheimnis zu bewahren. Doch da es bei diesem Geheimnis um mein Leben ging, würde Ian eher sterben, als es mir zu sagen. Ian lief ein ganzes Stück, bis wir schon fast außer Sichtweite der anderen waren, erst dann drehte er sich zu mir um.
„Was geht hier ab?“
Ich sah ihn an, sah ihm in die Augen, doch ich konnte noch immer nichts sehen. Es war, als wäre der Ian, in den ich mich verliebt hatte, gegen einen anderen, eiskalten Ian ausgetauscht worden, und das direkt vor meinen Augen.
„Gar nichts, Ian. Du versuchst, mein Leben zu retten und ich versuche, deins nicht zu gefährden. Einer von uns wird versagen, das wissen wir beide. Und keiner von uns will derjenige sein.“
Ich konnte ihm nicht länger in die Augen sehen, in denen kein Gefühl mehr war, und drehte mich weg.
„Ich weiß, das du mir nicht sagen wirst, was Mathew dir erzählt hat und obwohl es mir total gegen den Strich geht, werde ich dich nicht zwingen, es mir zu sagen.“
Ich schloss die Augen, um die Tränen zurück zu halten, denn das, was ich gleich sagen würde, würde ich bitter bereuen. Wenn nicht jetzt sofort, dann später.
„Denn ich kann nicht von meinem Exfreund erwarten, dass er mir seine Geheimnisse anvertraut.“
Aus Ian wich alle Luft, alle Energie, ich wusste es, ohne dass ich ihn ansehen musste. „Ist das dein ernst?“
Ians Stimme klang so rau, so hart, dass ich mich zu ihm umdrehen musste, um ihn anzusehen. Seine Augen waren jetzt wieder voller Gefühle, voller Wut, Verzweiflung, Angst und Trauer. Die Tränen, die ich vorher erfolgreich unterdrückt hatte, kamen jetzt wieder und dieses Mal konnte ich sie nicht unterdrücken.
„Du machst jetzt, hier, mit mir Schluss, weil ich versuche, dein Leben zu retten?“
Ich schüttelte langsam den Kopf und biss die Zähne zusammen.
„Nein, Ian. Nicht deswegen.“
„Weshalb dann?“
Ian stellte sich direkt vor mich und ich hatte Mühe, die Fassung zu behalten.
Ich atmete zweimal tief durch, um mich zu beruhigen, bevor ich mich von ihm wegdrehte. Er verdiente eine gute Begründung, eine, die ihn nicht noch mehr verletzte, doch die konnte ich ihm leider nicht bieten. Ich musste ihn so sehr verletzten, wie ich nur konnte, damit er so viel Abstand wie möglich zu mir nahm. Also versuchte ich ein Lächeln und sah ihn durch einen Schleier aus Tränen an.
Weil ich dich liebe. Weil ich nicht will, dass du auch nur ansatzweise in Gefahr gerätst, nur weil du mich beschützen willst. Und weil ich dich nicht für mich sterben lassen kann.


„Hast du ernsthaft geglaubt, das mit uns hätte eine Zukunft, Ian? Sieh uns doch mal an! Du kommst aus der einen und ich aus der anderen Welt. Ich wurde als Prinzessin geboren und du...“
Ich musste schlucken.
„Du bist aus der Mittelschicht. Irgendwann werde ich dieses Land regieren und einen Prinzen heiraten. Aber du und ich hatten nie wirklich eine Chance.“
Das war unfair.
Ich konnte sehen, wie Ian zusammen zuckte, als ich auf unseren gesellschaftlichen Unterschied wies, gegen den ich mich doch gewehrt hatte und gegen den ich für uns angekämpft hatte. Ian wich ein Stück zurück und ich konnte sehen, wie er unsere Beziehung aufgab.
„So ist das also. Du besinnst dich auf deine Herkunft

. So plötzlich? Aber okay, ich will ja nicht deinen Ruf zerstören.“
Seine Stimme klang so verbittert, dass ich zusammen zuckte.
„Ian...“
Ich sah ihn an und wollte zu ihm gehen, doch er schnaubte und drehte sich weg.
„Lass gut sein, okay? Lass es einfach. Du hast gesagt, was du denkst und du hast Recht. Du wirst eines Tages dieses Land regieren und ich liebe meine Welt und mein Leben, in dem mich keiner herum kommandiert, viel zu sehr, als dass ich je hier bleiben könnte. Früher oder später hätten wir uns eh trennen müssen, wahrscheinlich muss ich dir dankbar sein, dass du jetzt Schluss machst, bevor das zwischen uns wirklich ernst geworden wäre.“
Ians Worte verletzten mich tief und ich wäre am Liebsten zusammen gebrochen, doch das konnte ich mir nicht erlauben.
„Ich wünsche dir viel Glück für dein weiteres Leben, Julia.“
Damit ging er ohne einen Blick an mir vorbei und zurück zu den anderen. Ich stand einfach nur da und wartete, bis er weg war, erst dann brach ich zusammen und ging in die Hocke.
„Jules? Alles okay?“
Lucy hockte sich neben mich und sah mich an. Ich wusste nicht, wie lange ich schon so erbärmlich da saß und weinte.
„Hey, warum weinst du denn so?“
Sie wischte mir mit dem Daumen ein paar Tränen von der Wange, doch es kamen sofort neue. „Ich hab mit Ian Schluss gemacht.“, flüsterte ich leise und sah weg.
„Jules...“, flüsterte sie und nahm mich bemitleidend in den Arm.
„Warum hast du das getan? Du hast ihn doch geliebt. Und er dich genau so sehr.“
Ich kämpfte gegen die nächste Welle von Tränen an, um sprechen zu können und sah sie an. „Wenn ich dir den wahren Grund sage, musst du mir schwören, es niemandem zu sagen, Lucy. Wenn Ian das erfahren sollte, wird er erstens verdammt wütend auf dich sein, zweitens verdammt wütend auf sich selbst sein, drittens verdammt wütend auf mich sein, viertens wäre er verdammt angepisst und fünftens wäre alles, was ich getan habe, um ihn zu schützen, umsonst gewesen. Also?“
Lucy sah mich an.
„Ich schwöre es dir. Weder Ian, Mathew noch Dustin werden je etwas erfahren.“
Ich nickte und seufzte. Dann ließ ich mich auf die Fersen zurück fallen und setzte mich ins Gras.
„Ich hab bei euch auf dem Dachboden einen Brief von Cathrin gefunden. Ich weiß nicht, wie er da hin kam oder wann sie ihn geschrieben hat, aber sie hat ihn an mich geschrieben. Sie ... hat genau die Situation, in der wir uns gerade befinden, beschrieben und mir gesagt, was passieren wird und was ich tun soll.“
Ich atmete zitternd aus, Lucy saß gespannt vor mir, wartete aber, bis ich bereit war, es ihr zu erzählen.
„Der Herrscher der Dunkelheit braucht die gesamte königliche Familie, die ein Anrecht auf den Thron und somit die Herrschaft hat, um das Land übernehmen zu können. Also meinen Großvater, der zur Zeit regiert, Cathrin, die seine älteste Tochter ist und somit nach seinem Tod zur Königin ernannt werden würde und mich, weil ich Cathrins einziges Kind bin. Er muss jeden, der ein Anrecht auf den Thron hat, töten, und zwar persönlich, um dessen Kräfte zu erlangen und den Thron besteigen zu können. Denn alles, was uns königlich macht, ist die Kraft, die durch unsere Adern fließt. Diese Kraft macht meine Familie so mächtig, denn diese Kraft ist die selbe Kraft, die einst dieses Land erschaffen hat. Nur wer diese Kraft in sich trägt, kann den Thron besteigen.“
„Und was ist mit Maya?“, fragte Lucy leise und sah mich mit großen, ungläubigen Augen an. „Maya ist nicht in Gefahr, denn weil sie nur die zweitgeborene ist und Cathrin bereits ein Kind bekommen hat, hat sie auch nach meinem Tod keinen Anrecht auf den Thron mehr.“, erklärte ich ihr und Lucy schien beruhigt.
„Das ist gut für Maya.“, murmelte sie leise und rieb mir über den Oberarm. Ich nickte. „Ian weiß es. Ian weiß, dass der Herrscher der Dunkelheit mich umbringen wird. Und er hat sich in den Kopf gesetzt, mich zu beschützen. Aber dadurch bringt er lediglich sich selbst in Gefahr, denn der Herrscher der Dunkelheit würde ihn töten, ohne zu zögern. Und mir damit natürlich noch weh tun. Er würde Ian so langsam und qualvoll töten, wie es ihm nur möglich ist und ich müsste zusehen, ohne einschreiten zu können. Es wäre die reinste Folter für Ian, weil er sehen müsste, wie ich leide und für mich, weil ich zusehen müsste, wie er stirbt.“
Ich starrte vor mich hin ins Gras.
„Deshalb musste ich alles tun, um ihn von mir fern zu halten. Und selbst jetzt kann ich mir nicht sicher sein, dass er überleben wird.“
Ich musste tief einatmen, um mich zu beruhigen, bevor ich weiter reden konnte.
„Was genau hast du zu ihm gesagt?“, wollte Lucy behutsam wissen und strich mir über den Handrücken.
„Das gemeinste, was mir eingefallen ist.“, flüsterte ich leise und schämte mich wegen dem, was ich zu Ian gesagt hatte.
„Ich habe ihm gesagt, dass wir nicht zusammen sein könnten, weil ich ... ich hier hin gehöre und er nicht. Weil ich eine Prinzessin bin und er kein Prinz. Weil ich eines Tages einen Prinzen heiraten würde und dieses Land regieren würde. Weil wir von Anfang an keine Chance auf eine gemeinsame Zukunft gehabt hatten.“
Ich sah Lucy an und spürte die Tränen in meinen Augen brennen.
„Er hat es mir geglaubt, Lucy. Er hat wirklich gedacht, nach allem, was ich für ihn und für uns getan habe, wäre das mein Ernst. Und er hat gesagt, dass er froh sein müsste, dass ich es beendet habe, bevor

es wirklich ernst wurde. Aber das zwischen uns war

ernst, und zwar von Anfang an.“
Lucy sah mich fragend an.
„Aber ihr kanntet euch doch erst ein paar Wochen.“
Ich nickte.
„Schon, aber ...“
Ich stockte und musste schlucken. Ich wusste nicht, ob ich jemandem von dem, was zwischen Ian und mir war, erzählen wollte, doch ich vertraute Lucy und ich brauchte jemanden zum Reden.
„Wir haben miteinander geschlafen.“, flüsterte ich leise und konnte sie nicht ansehen, denn meine Brust zog sich schmerzhaft zusammen, als ich an diese Nacht dachte.
„Oh, Jules.“, jammerte Lucy und zog mich in ihre Umarmung.
Ich legte meinen Kopf an ihre Schulter und tat das, was ich schon die ganze letzte Zeit getan hatte. Ian war der erste gewesen, für den ich etwas empfunden hatte, dass so stark war, dass ich sein Leben über meins stellte. Er war der erste gewesen, der mich so gesehen hatte, wie ich wirklich war und er war auch der erste, der nicht versucht hatte, mich irgendwie zu verbiegen, stattdessen hatte er sich für mich verändert. Er hatte sich von einem arroganten Arschloch in einen liebevollen jungen Mann verwandelt, dessen Lippen mich so zärtlich geküsst hatten und dessen Blick so liebevoll gewesen war, dass mein Herz am Liebsten in meiner Brust zersprungen wäre.
„Es wird alles wieder gut, Jules, ich verspreche es dir. Es wird alles wieder gut. Wenn das hier vorbei ist, kannst du Ian die Wahrheit sagen und ihr werdet wieder zusammen kommen und alles wird wieder gut. Ich verspreche es dir. Es wird alles wieder gut.“, flüsterte Lucy mir sanft ins Ohr und ich hätte ihr so gerne geglaubt, doch ich wusste, dass es alles andere als wahrscheinlich war, dass alles gut werden würde.
Es dämmerte bereits, als ich mich endlich beruhigt hatte.
„Ich weiß, dass ist jetzt sicher hart für dich, aber wir müssen zu den anderen zurück.“ Lucy strich mir ein paar Haare hinters Ohr und sah mich an. Ich seufzte, nickte aber. „Dann lass uns schnell zurück gehen, bevor Mathew noch die Krise bekommt, weil ich seit Stunden verschwunden bin.“
Ich lächelte sie an und stand etwas steif vom stundenlangen Sitzen auf.
„Du siehst furchtbar aus.“, teilte mir Lucy mit und musterte mein verweintes Gesicht. „Was soll’s.“, murmelte ich und wischte mir die letzten Spuren der Tränen weg.
„Glaubst du nicht, es wäre besser für deinen Plan, und vor allem glaubwürdiger, wenn du nicht ganz so verheult aussehen würdest?“
Ein Lächeln stahl sich über meine Lippen, auch wenn es nur ganz schwach war. Lucy dachte an Dinge, die für mich völlig nebensächlich waren. Sie hatte natürlich recht, weshalb ich froh darüber war, ihr alles erzählt zu haben. Gerade jetzt brauchte ich eine Verbündete, die mir beistand und mir half, Ian vor sich selbst zu schützen.
„Wow, ihr habt aber einen langen Spaziergang gemacht.“
Mathew setzte sich wieder ans Lagerfeuer und fing an, seine Suppe zu essen, doch seine Erleichterung war deutlich zu sehen.
„Ja, es war ein ziemlich... ausgedehnter Spaziergang...“
Lucy sah mich an und zwinkerte mir zu.
„Ja, wir haben ganz in der Nähe einen See gefunden und bei dem Wetter konnten wir einfach nicht widerstehen.“
Ich schob mir eine Strähne meiner noch feuchten Haare hinters Ohr und lächelte Mathew an. Mein Gesicht sah nach einer knappen halben Stunde im angenehm kühlen Wasser eines kleinen Waldsees wieder frisch aus und es waren keine Tränenspuren mehr zu sehen. Mathew zog eine Augenbraue hoch.
„Aha.“
Doch mehr sagte er nicht dazu und ich war ihm dankbar dafür. Lucy setzte sich zu Dustin und Dustin legte mit einem liebevollen Lächeln seine Arme um sie. Obwohl ich es nur aus den Augenwinkeln sah, war es wie ein Schlag ins Gesicht und ich musste schwer schlucken, um die Tränen gar nicht erst in meine Augen gelangen zu lassen. Eine Bewegung mir gegenüber ließ mich aufblicken und ich sah gerade noch, wie Ian sich abwandte und zwischen den Bäumen verschwand. Ich sah ihm nach und konnte nicht verhindern, dass meine Augen ihm den traurigsten Hundeblick hinter her warfen, den es gab.
„Was hat Ian denn?“, meinte Mathew und runzelte die Stirn.
Lucy und ich sahen uns an.
„Gar nichts, bloß das verdammte Bedürfnis, sich für andere umbringen lassen zu müssen.“, murmelte ich und stocherte in meiner Suppe rum. „
Habt ihr immer noch diesen Streit? Keine Sorge, in jeder Beziehung gibt es mal kleine Schwierigkeiten, aber ihr werdet es schon überstehen.“
Er lächelte mich aufmunternd an und ich versuchte, ein halbwegs glaubwürdiges Lächeln zustande zu bekommen, doch es ging nicht. Ich sah noch immer zu den Bäumen.
„Ja, kleine Schwierigkeiten...“, murmelte ich und zwang mich dazu, meinen Blick von den Bäumen abzuwenden.
Es irritierte mich, dass Ian Mathew noch nichts erzählt hatte, bisher hatte er Mathew doch alles erzählt- abgesehen davon, dass wir miteinander geschlafen hatten. Mathew war für Ian mehr ein Vater als für mich, er kannte ihn besser und länger als ich. Und doch hatte er ihm nicht erzählt, dass ich mich mit einer total lächerlichen Begründung von ihm getrennt hatte. Ich wollte Mathew grade fragen, ob Ian ihm etwas gesagt hatte, als Ian wieder aus dem Wald kam und zu Mathew ging.
„Mathew, können wir kurz reden?“
Ich sah auf und sah Ian genauso überrascht an wie Mathew. Mathew sah zu mir und ich senkte den Blick wieder, bevor Ian merkte, dass ich ihn ansah.
„Ähm, klar.“
Er stellte die Suppe weg, stand auf und ging mit Ian ein paar Schritte von uns weg. Lucy sah ihnen nach und kam dann zu mir rüber.
„Was machen sie?“
„Reden. Ich weiß aber nicht, worüber.“
Wir sahen beide zu Ian und Mathew und rätselten, worüber sie wohl redeten. Ian stand mit dem Rücken zu uns und ich konnte sehen, wie Mathew immer wieder den Kopf schüttelte und traurig seufzte. Einmal sah Mathew zu mir und dann wieder zu Ian und schien verständnisvoll, wenn auch noch immer traurig, zu nicken. Das Gespräch schien beendet und Lucy und ich drehten uns hastig wieder um. Mathew setzte sich wieder auf seinen Platz neben mir und Ian setzte sich neben Mathew, so weit weg von mir, wie nur möglich. Obwohl ich mich darüber freuen sollte, spürte ich einen stechenden Schmerz in meiner Brust und ich musste mich auf etwas anderes konzentrieren. Lucy griff meine Hand, beugte sich zu mir und drückte sie leicht.
„Du tust das für Ian. Denk dran. Du willst Ians Leben retten.“
Ich atmete tief aus und wiederholte diese drei Sätze wie ein Mantra immer und immer wieder in Gedanken, bis es sich zwar nicht besser anfühlte, aber ich es aushielt. Mathew sah in den Sternenhim-mel und seufzte.
„Was machen wir jetzt eigentlich wegen Cathrin? Wir wissen schließlich noch immer nicht, wo sie ist.“, fragte ich und sah auf den Boden.
Ich konnte nicht aufsehen und ich konnte nicht mal annähernd in Ians Richtung sehen.
„Wir müssen sie finden.“, sagte Mathew laut und entschlossen, wusste aber auch nicht, wo oder wie.
„Als... David uns zurück ließ, meinte dein Großvater zu David, dass er am Meer ein zweites, kleineres Schloss habe, zu dem sie gehen könnten. Ich schätze, sie sind da hin.“, meinte David und sah mich an.
Ich seufzte und starrte in die Flammen des kleinen Lagerfeuers.
„Zu dumm nur, dass ich nicht weiß, wo dieses Schloss sein soll.“
Lucy lächelte mich an.
„Ich weiß aber, wo es ist. Cathrin ist jedes Jahr mindestens einmal da hin gefahren und sie hat mich meistens mitgenommen. Wenn ich dir eine Karte zeichnen würde, würde dir das helfen?“
Ich sah sie an und überlegte.
„Ich könnte nicht garantieren, dass wir genau bei dem Schloss ankommen, aber vermutlich würde es reichen, um uns wenigstens in die Nähe des Schlosses zu bringen.“
Lucy stand auf und suchte sich einen Stock.
„Okay, dann fang ich mal an.“
Sie setzte sich vor mich auf die Erde und begann, in die Erde ein Abbild der Landschaft zu zeichnen. Ich sah den Fleck, an dem bis vor ein paar Tagen noch das Schloss gestanden hatte und die Hügel, über die ich schon gegangen war, den Wald mit dem kleinen See, in dem ich schon gebadet hatte und ein ganzes Stück von diesem Wald und dem See und somit auch der Stelle, an der wir uns gerade befanden, ließ Lucy mit gekonnt platzierten Strichen ein wunderschönes Meer, einen traumhaften Strand und ein niedliches kleines Schloss entstehen. Ich konnte mir genau vorstellen, wie das Schloss aussah und konnte schon beinahe den Sand unter meinen Füßen spüren.
„Wow, ich wusste ja gar nicht, dass du so zeichnen kannst, Lucy.“
Mathew sah mir über die Schulter und staunte.
„Nicht einmal Dad hätte das besser zeichnen können.“
Ian lächelte seine Schwester an und Lucy erwiderte sein Lächeln, auch wenn sie ein bisschen rot wurde.
„Danke.“
Dann sah sie mich an.
„Reicht das?“
Ich lachte.
„Wenn das nicht reicht, werden wir nie dahin kommen. Das ist umwerfend, Lucy. Wirklich.“ Ich stand auf und hielt ihr die Hand hin.
„Sollen wir gleich los? Dann würden wir im Schutz der Dunkelheit ankommen.“
Ich sah alle der Reihe nach an und zwang mich, auch Ian in die Augen zu schauen, doch er wandte den Blick ab.
„Ja, wir sind schon viel zu lange hier.“, meinte Mathew und machte sich daran, alles wieder einzupacken. Lucy und Dustin gingen zum See, um Wasser für das Feuer zu holen, also blieben Ian und ich alleine am Feuer sitzen.
Es war merkwürdig, Ian so nah zu sein, ohne ihn berühren zu dürfen, obwohl ich nichts sehnlicher wollte. Ich spürte, wie meine Finger in seine Richtung zuckten, also verschränkte ich die Arme und legte den Kopf auf meine Knie. Ich konzentrierte mich auf einen Käfer, der am Baumstamm entlang krabbelte und versuchte, Ian zu ignorieren, doch ich konnte seine Anwesendheit nicht einfach vergessen. Ian saß stocksteif auf der anderen Seite und sah überall hin, nur nicht zu mir. Ich setzte mich seufzend auf und sah ihn an. „Ian. Bitte. Ich weiß, dass ich ... es nicht verdient habe, aber ... ignorier mich bitte nicht.“
Kaum hatte ich es gesagt, hasste ich mich dafür, denn meine Stimme hatte viel mehr ausgedrückt als ich wollte. Doch Ian sah mich nicht an, als er antwortete.
„Du hast mit mir Schluss gemacht, Julia. Und anstatt dass ich Abstand nehmen kann, sitze ich hier weiter hin mit dir fest. Also sei mir nicht böse, wenn ich nicht erpicht darauf bin, in deiner Nähe zu sein oder mit dir zu reden.“
Ich zuckte zusammen und sah weg.
„Okay, natürlich. Tut mir leid.“, flüsterte ich und versuchte, nicht verletzt zu klingen. Denn ob ich es wollte oder nicht, Ian hatte recht. Ich hatte mit ihm Schluss gemacht und er musste weiterhin mit mir hier umher wandern, obwohl seine Schwester bereits befreit war. Ich hätte ihm natürlich anbieten können, ihn jetzt sofort wieder in seine Welt zurück zu bringen, doch zum Einen wollte ich ihn nicht gehen lassen, auch wenn es wahrscheinlich besser und sicherer für ihn wäre, und zum Anderen hatte er mich noch nicht darum gebeten. Also hoffte ich, dass er zumindest noch irgendwie hier sein wollte, auch wenn ich mir von Herzen wünschen sollte, dass er so schnell wie möglich hier weg wollte, denn dann wäre er in Sicherheit, und nur dann.
„Warum bittest du mich dann nicht, dich zurück zu bringen?“, fragte ich ihn, ohne ihn anzusehen und lauschte auf eine Antwort.
„Glaub mir, das würde ich gern, sehr gern sogar.“, flüsterte er leise und ich musste schlucken, denn damit hatte ich nicht gerechnet.
„Aber ich kann Lucy nicht einfach hier zurück lassen, ohne zu wissen, dass sie hier auch sicher ist. Das ist der einzige Grund, warum ich noch hier bin. Wenn alles erledigt ist, und es hier wieder sicher ist, bin ich weg.“
Er sah mich zum ersten Mal seit unserem letzten Gespräch wirklich an und lächelte schwach.
„Keine Sorge, ich werde Cathrin bitten, mich zurück zu bringen. Ich werde dich so schnell wie möglich in Ruhe lassen.“
Ich war versucht, ihm die Wahrheit zu sagen. Ich konnte ihn nicht anlügen.
Du tust das für Ian. Denk dran. Du willst Ians Leben retten.


Ich atmete tief durch, nickte und zwang mich zu einem freundlichen Lächeln.
„Okay. Aber ich könnte dich auch zurück bringen. Jedenfalls, wenn es dir nichts ausmacht.“
„Julia, warum tust du das? Hast du nicht verstanden, was ich gesagt habe? Ich brauche Abstand und bekomme ihn nicht. Ich will definitiv nicht von dir zurück gebracht werden. Deshalb helfe ich euch, Cathrin zu finden und lasse mich dann von ihr zurück bringen. Wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, wäre ich schon lange weg.“
Ian flüsterte nur, und doch schnitten mir seine Worte ins Herz, als wären es Messer.
„Ich liebe dich wirklich, Julia, und du hast mit mir Schluss gemacht, weil du glaubst, dass ich nicht gut genug für dich bin. Und du hast mich inzwischen soweit gebracht, dass ich es selbst glaube.“
Er seufzte.
„Also werde ich tun, was das beste ist und werde so schnell wie möglich aus deinem Leben verschwinden.“
Du tust das für Ian. Denk dran. Du willst Ians Leben retten.


Ich nickte erneut und stand auf.
„Hast du es Mathew schon erzählt?“
Ian nickte knapp.
„Vorhin. Und auch, dass ich gehen werde.“
Ich drehte mich aprupt von ihm weg.
„Ich geh mal nach Lucy und Dustin sehen.“, murmelte ich und flüchtete zu den Bäumen. Es war mir relativ egal, wo Lucy und Dustin steckten oder was sie taten, denn sie hatten einander und waren glücklich, während ich einen Exfreund hatte, den ich liebte, und es ihm nicht sagen konnte, weil ich sonst sein Leben in Gefahr bringen würde. Unglücklich, aber nicht in der Lage, zu weinen, setzte ich mich ins Gras und lehnte mich an den nächsten Baum. Der Himmel war wolkenlos und klar, die Sterne strahlten hell und die Nacht war total lau und angenehm - die perfekte, romantische Nacht. Ich lehnte den Kopf gegen den Baum, schloss die Augen und seufzte.
Ich tue das für Ian. Ich will Ians Leben retten. Ich muss Ian dafür so viel Schmerz wie möglich zufügen, auch wenn er mich dann hassen sollte.


Ich konnte Lucy und Dustin irgendwo hinter mir lachen hören, und schlug den Hinterkopf gegen den Baum. Auch wenn es absolut nicht gerechtfertigt war, war ich total eifersüchtig auf Lucy und Dustin. Lucy und Dustin waren an mir vorbei gegangen, ohne mich zu bemerken und waren nun wieder beim Lagerfeuer.
„Hey, wir haben Wasser mitgebracht.“
Lucy lächelte Dustin an und sah sich dann um.
„Hey, wo steckt Jules?“
„Wollte euch suchen gehen.“, antwortete Ian und sah zu dem Fleck, an dem ich verschwunden war.
„Wo bleibt sie? Wir müssen los.“
Mathew sah sich besorgt um. Langsam stand ich auf, setzte ein Lächeln auf und trat wieder aus dem Wald.
„Da seid ihr! Ich muss ja total an euch vorbei gelaufen sein.“
Ich lächelte Lucy und Dustin an und schob mir eine Strähne hinters Ohr. Lucy musterte mich, sagte aber nichts.
„Sollen wir?“, fragte ich und sah Mathew an.
Er nickte und konnte seine Vorfreude kaum noch verbergen. Er hatte auch allen Grund dazu. Schließlich hatte er seine Frau seit fast 17 Jahren nicht mehr gesehen.

17


Der Sand unter meinen Füßen war noch warm von der Sonne des Tages und meine Sandalen baumelten in meiner linken Hand neben der Schulter. Ich stand abseits der anderen und starrte einfach auf das weite, offene Meer. Jedes Mal, wenn Ians Stimme zu mir durch drang, grub ich meine Fingernägel in meine Oberarme und atmete tief durch. Ich hatte Ian so weit gebracht, dass er es in meiner Nähe nicht mehr aushielt. Er war nur noch hier, weil er mich nicht darum bitten wollte, ihn zurück zu bringen und außer mir Cathrin die einzige war, die ihn zurück bringen konnte. Meine Zehen gruben sich in den warmen Sand und ich ließ mich seufzend im Schneidersitz auf dem Sand nieder. Ian hatte vollkommen recht damit, dass er so schnell wie möglich von hier- oder vielmehr mir- weg wollte, ich hielt es in seiner Nähe schließlich auch nicht aus. Und sobald er aus dieser Welt verschwunden war, konnte ich mir wenigstens sicher sein, dass sein Leben nicht mehr wegen mir in Gefahr war.
Überrascht zuckte ich zusammen, als Mathew plötzlich neben mir stand und glücklich seufzte.
„Es ist wirklich wunderschön hier. Ich verstehe, warum Cathrin all die Jahre sich nach diesem Ort gesehnt hat, obwohl sie drüben doch alles hatte.“
Ohne mich anzusehen, setzte er sich neben mich und sah hinauf zu den Sternen.
„Ian hat mir erzählt, was ... du getan hast. Und dass er gehen wird.“
Ich schloss die Augen, biss mir auf die Lippe und verfluchte Mathew innerlich für seine verdammte väterliche Fürsorge. Ob sie jetzt Ian oder mir galt, spielte dabei keine Rolle. Mathew sah mich an.
„Willst du mir erklären, warum du das getan hast?“
„Hat Ian dir das nicht erzählt?“, fragte ich bissig zurück und stand auf.
Mathew sah zu mir hoch und seufzte traurig.
„Doch. Aber ich hätte gerne so getan, als ob du einen besseren Grund als deine Krone gehabt hast.“
„Tja, da muss ich dich leider enttäuschen. Hab ich nicht. Denn ich hatte keine andere Wahl, da eine Prinzessin, die eines Tages Königin sein wird, niemanden lieben oder gar heiraten darf, der nicht ebenfalls adlig ist. Und da mein Großvater, der momentan König ist, hier nach garantiert nicht mehr lange ,wenn überhaupt, König sein wird und ich mir ziemlich sicher bin, dass Cathrin auf die Krone und den Thron verzichten wird, weil sie sonst nicht mehr mit dir zusammen sein könnte, werde ich möglicherweise viel schneller meine mir von Geburt an

auferlegten Pflichten erfüllen müssen, als mir lieb ist. Denn ich bin die rechtmäßige Thronfolgerin und als solche kann ich nicht einfach jemanden lieben oder jemanden heiraten, den ich liebe, sondern muss an alle anderen zuerst denken, und dann an mich!“
Ohne mich zu wundern, woher ich das wusste oder warum ich das sagte, drehte ich mich um und ging, bis das Licht des Lagerfeuers nur noch ein kleiner Punkt war und die Stimmen vom Rauschen des Meeres übertönt wurden.
Niedergeschlagen sank ich in den Sand und dachte nach. Wo auch immer das, was ich zu Mathew gesagt hatte, her gekommen war, ich wusste, dass es wahr war, und zwar alles. Ich wusste einfach, dass mein Großvater nie wieder König werden würde und einen ziemlich schlimmen Verrat begangen hatte und dafür verurteilt werden würde. Ich kannte Cathrin gut genug, um zu wissen, dass sie sich für Mathew und nicht den Thron entscheiden würde. Und ich wusste, dass es somit meine Aufgabe sein würde, dieses Reich zu führen und ich es tun musste, ob ich wollte oder nicht, denn außer mir gab es niemanden. Und vielleicht war es ganz gut, dass ich es Mathew erzählt hatte, dann hatte er zumindest eine Erklärung und vielleicht würde er Ian sagen, dass ich nicht leichtfertig mit ihm Schluss gemacht hatte. Ich biss mir auf die Lippe.
Aber wenn Ian auch nur den Hauch einer Chance sehen würde, dass ich ihn wirklich liebte und eigentlich mit ihm zusammen sein wollte, würde er dann versuchen, mich davon zu überzeugen, dass wir es irgendwie schaffen würden?
Würde er mich dann einfach so mein Leben leben lassen und gehen, obwohl er wusste, was ich für ihn empfand, weil er einsah, dass es nicht gehen würde?
Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht einmal, ob Mathew Ian von unserem Gespräch erzählt hatte oder nicht. Ich seufzte niedergeschlagen, stand auf und klopfte mir den Sand von der Hose und den Schenkeln. Ich würde einfach abwarten müssen, wie sich alles entwickelte. Ich sah über das Meer und sah, wie der erste Streifen des Himmels bereits wieder heller wurde. Der nächste Tag brach an. Der Tag, an dem wir Cathrin befreien wollten. Der Tag, an dem Cathrin Ian wieder in seine Welt zurück bringen würde. Das hieß, mir blieben nur noch ein paar Stunden mit ihm. Dann wäre er ein für alle Mal aus meinem Leben verschwunden.
Lucy lächelte mich an, als ich ans Lagerfeuer zurück kam, doch ich war zu sehr mit all meinen Gefühlen beschäftigt, die sich plötzlich meldeten, als dass ich hätte nett oder höflich oder freundlich sein können, deshalb nickte ich nur und setzte mich mit dem Rücken zu ihnen ans Meer, so dass die Wellen meine Füße umspülten und sah mir den Sonnenaufgang an.
Ich wollte nicht über meine Gefühle nachdenken. Ich wollte Ian nahe sein, um die letzten Stunden auszukosten, doch er wollte mich nicht in seiner Nähe haben. Ich hatte mich so weit es ging in seine Nähe gesetzt, doch zwischen uns waren immer noch ein Meter Strand und eine gefühlt endlose Kluft. Ich ignorierte alles um mich herum und versuchte nach und nach, meine Gefühle zu entschlüsseln.
Ich war wütend, weil Mathew mich für besser gehalten hatte und ich ihn enttäuscht hatte. Ich war traurig, weil ich einsehen musste, dass ich mir meine Zukunft nicht selbst aussuchen konnte, sondern sie von anderen bestimmt wurde. Ich war todunglücklich, weil Ian so einfach glauben konnte, dass er mir nicht wichtig genug war und weil er glaubte, ich hielte ihn für nicht gut genug. Und ich hatte Angst vor der Zukunft.
Ich hatte Angst vor einer Zukunft, in der ich ohne Ian war, mein Leben von anderen bestimmt wurde und ich hatte Angst davor, mich selbst in einer solchen Zukunft zu verlieren. Das einzige, was ich noch hatte, war die Gewissheit, dass wenn die Sonne das nächste Mal untergehen würde, zumindest Ian in Sicherheit war. Und das war wenigstens ein kleiner Funke Hoffnung.
Jemand setzte sich neben mich und ich zuckte leicht zurück, als ich merkte, dass es Ian war. Das kurze Glücksgefühl wurde sofort von Verwunderung überlagert. Ian sah mich nicht an, doch ich wusste, dass er etwas wollte, sonst wäre er nicht hier, neben mir und würde nach den richtigen Worten suchen. Ich sah ihn von der Seite her an und betrachtete sein Profil, in der stillen Hoffnung, es mir für immer einprägen zu können.
„Mathew hat versucht, mir zu erklären, warum du das getan hast.“, meinte er, sah mich aber noch immer nicht an.
Ich drehte den Kopf wieder zum Sonnenaufgang und schloss für einen Moment, in dem ich nicht wusste, ob ich Mathew danken oder verfluchen sollte, die Augen, bevor ich sie wieder öffnete und wartete.
„Ich hab’s immer noch nicht verstanden.“, gab er zu und sah mich an.
Ich wollte nichts mehr, als ihm in die Augen zu sehen, doch ich starrte stur gerade aus. „Was ich aber verstanden habe, war, dass du mich trotz allem liebst.“
Seine Stimme wurde weicher, als er das sagte, und ich wusste, dass er sich Hoffnungen machte. Ich schloss die Augen und dankte Mathew dafür, dass ich Ian jetzt richtig verletzen musste. Seufzend sah ich ihn an.
„Hattest du je einen Zweifel daran?“
Ian sah mir in die Augen und ich konnte in ihnen lesen, wie in einem Buch. Den Schmerz, dass ich überhaupt dazu in der Lage gewesen war, es zu tun, obwohl ich ihn liebte, seine Wut darüber, dass ich es wegen meiner Krone getan hatte, die Verwirrung darüber, dass ich trotzdem so litt und die Sehnsucht, mich in dem Arm zu nehmen, mich zu trösten, mich zu küssen und mir zu sagen, dass alles wieder gut werden würde.
Ich tue das für Ian. Ich will Ians Leben retten. Ich muss Ian dafür so viel Schmerz wie möglich zufügen, auch wenn er mich dann hassen sollte.


Ich schloss die Augen für einen Moment und kämpfte gegen meine Gefühle an, bevor ich sie wieder öffnete und ihn ansah.
„Das ändert trotz allem nichts daran, Ian. Ich bereue nicht, dass wir zusammen waren, und ich bereue auch nicht, dass ich mit dir geschlafen habe, aber es ändert nichts. Es tut mir leid, dass ich zugelassen habe, dass ich anfange, dir so viel zu bedeuten, aber ich wusste nicht, dass wir wirklich so chancenlos sind.“
Ich stand auf, küsste ihn sanft auf die Wange und sah ihn an.
„Ich wollte dich wirklich nicht so verletzen.“
Dann ging ich zurück zum Lager und hoffte, dass er mich jetzt genug hasste, um endgültig zu gehen.

Als die Sonne sich aus dem Meer erhob, schulterte Mathew seinen Rucksack und sah Lucy und Dustin an.
„Ich würde vorschlagen, ihr geht voraus. Ihr wisst, wo das Schloss liegt.“
Lucy nickte und nahm Dustins Hand, die er ihr anbot. Sie sah mich entschuldigend an, doch ich lächelte sie an und sie schien erleichtert. Ich unterdrückte den Drang, mich nach Ian umzudrehen und ging schnell genug, um Mathew ein klein wenig hinter mir zu lassen. Ich wusste, dass Mathew langsamer lief, um Ian aufschließen zu lassen und ihn fragen würde, wie unser Gespräch verlaufen war und ich wollte ihnen die Möglichkeit geben, ungestört reden zu können. Lucy drehte sich zu mir um und winkte mich neben sich. Froh darüber, nicht ganz allein laufen zu müssen, schloss ich auf.
„Was wollte Ian vorhin?“, fragte Lucy und sie und Dustin sahen mich fragend an. Natürlich hatte sie Dustin alles erzählt, es war ja auch nur fair, wenn Ian Mathew alles erzählte und ich Lucy.
„Wissen, ob wir nicht doch noch irgendwie eine Chance haben.“, antwortete ich knapp und stieg über einen Baumstamm, der am Strand lag.
„Und? Habt ihr?“, fragte Dustin und sah mich an.
Seufzend sprang ich von dem Baumstamm.
„Jetzt nicht mehr.“
Lucy strich mir mitfühlend über den Arm.
„Tut mir leid.“
Ich lächelte sie schwach an.
„Das hab’ ich zu Ian auch gesagt.“
Lucy wollte irritiert nachfragen, was ich meinte, doch ich schüttelte nur den Kopf. „Nicht jetzt. Erzähl mir lieber was über das Schloss. Ich muss möglichst alles wissen.“ Lucy seufzte, nickte aber und erzählte mir, woran sie sich noch erinnerte.

Vor uns lag das Schloss und ich war erstaunt, wie genau Lucys Beschreibung gewesen war. Das Schloss war kleiner als das zerstörte und schien auch neuer und strahlender, gleichzeitig sah es aber genau so edel und majestätisch aus wie das andere. Das einzige, was sich wirklich unterschied, war die Tatsache, dass das andere Schloss eine Art Sicherheit, eine Art Schutz, ausgestrahlt hatte, die ich bei diesem vermisste. Es wirkte eher bedrohlich, obwohl es in Mitten des Sonnenlichts lag.
„Normalerweise sieht es nicht so bedrohlich aus. Das liegt daran, dass sich jemand im Schloss aufhält, der kein Recht hat, dort zu sein.“, erklärte Lucy.
„David.“, meinten Dustin, Ian, Mathew und ich gleichzeitig und Lucy nickte.
„Wenn der Herrscher der Dunkelheit auch dort wäre, wäre es noch düsterer.“
„Cathrin ist aber auch da. E strahlt immer noch etwas majestätisches aus, und das kommt bestimmt nicht von meinem Großvater.“, meinte ich leicht abfällig und ging auf das Schloss zu.
Lucy hatte gesagt, selbst wenn David die Tore hätte verbarrikadieren lassen, würden sie sich für mich öffnen, da ich zur königlichen Familie gehörte und ein Recht darauf hatte, das Schloss zu betreten. Mit einer Mischung aus gespannter Neugier und angespannter Nervosität sah ich dabei zu, wie sich das Tor öffnete und trat dann hindurch. Ian, Mathew, Dustin und Lucy folgten mir, und erst, als alle hindurch waren, schloss sich das Tor wieder.
„Wie die Ratten in der Falle.“, hörte ich Ian flüstern und konnte nicht anders, als ihm recht zu geben. Doch trotz der Tatsache, dass ich die Gefahr schon fast schmecken konnte, ging ich selbstbewusster, als ich mich fühlte, weiter und achtete genau auf die Kräfte um mich herum. Es war still auf dem kleinen Hof, auf dem wir uns befanden und ich glaubte nicht, dass uns schon irgendjemand bemerkt hatte. Statt durch das große Eingangsportal, ging ich durch einen der Nebeneingänge und durchquerte die Küche.
„Cathrin wird oben im Turmzimmer gefangen gehalten, weil sie der Meinung sind, sie könne von dort nicht fliehen. David befindet sich im nördlichen Flügel, genau wie mein Großvater. Wenn wir schnell und leise genug sind, können wir Cathrin befreien, ohne dass sie es mit bekommen.“
Ian wusste, was das bedeutete und nickte, auch wenn er nicht begeistert aussah. Ich schluckte und machte weiter.
„Es gibt einen Geheimgang, der zwei Gänge weiter hinter der großen Statue versteckt ist. An der ersten Kreuzung rechts führt er in den Turm und nach links zu einem geheimen Eingang unten am Strand führt. Den werden wir nehmen, um in den Turm zu kommen und dann auch wieder, um aus dem Schloss raus zu kommen.“
Ich knabberte an meiner Unterlippe rum und sah mich in der Küche um.
„Ich weiß nicht, wie viele Wachen in der Nähe des Turms oder gar im Turm sind, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass es einige sind, weshalb ihr irgendetwas brauchen könntet, um euch zu verteidigen. Leider stehen uns nur Küchenutensilien zur Verfügung.“
Ich sah alle an, auch wenn mein Blick zu Ian eindeutig am kürzesten war. Lucy grinste, schlenderte zum Herd und nahm sich eine der Pfannen, die dort stand.
„Da bekommt der Begriff ‚Waffen der Frau’ eine ganz neue Bedeutung.“
Sie schwenkte die Pfanne probehalber und ich musste lächeln. Lucy würde sich schon mal selbst verteidigen können. Mathew und Dustin lächelten ebenfalls und gingen auf Waffensuche. Ian blieb stehen und sah sich um.
„Lucy, weißt du zufällig, wo hier die Messer aufbewahrt werden?“
Lucy deutete auf eine der Schubladen. Ian nahm sich das längste und schärfste Messer und warf es von der einen in die andere Hand.
„Das liegt gut in der Hand.“
Ich drehte mich weg, damit Ian mein Missfallen nicht sah. Messer waren gute Waffen, aber es war all zu leicht, ein Messer gegen seinen Besitzer zu richten. Mathew entschied sich für einen Spanferkelspieß und Dustin wählte einen immens langen Spieß, der einem Degen glich, als Waffe. Ich musterte alle und ihre ausgewählten Waffen und musste schmunzeln. Jeder von ihnen stellte eindeutig eine Bedrohung dar, auch wenn man es nicht sofort sah. Und jeder würde sein Leben verteidigen können. Zufrieden öffnete ich leise die Tür und schlich hinaus, immer darauf gefasst, einer Wache zu begegnen. Durch den ersten Gang kamen wir, ohne einer Wache zu begegnen, doch ich wollte gerade um die zweite Ecke biegen, als ich Schritte hörte.
„Warte!“, flüsterte Ian plötzlich und drückte mich gerade noch rechtzeitig gegen die Wand.
Mein Herzschlag erhöhte sich sofort und ich wusste, dass es nicht an der Gefahr lag. „Mist! Mist! Mist!“, flüsterte ich leise und vermied es, Ian in die Augen zu sehen. Wir mussten warten, bis die Wache wieder weg war und ich hatte das Gefühl, sie brauchte ewig, um an uns vorbei zu gehen. Aber vielleicht lag das auch nur daran, dass Ian direkt vor mir stand und sich unsere Arme auf der ganzen Länge über berührten.
„Danke.“, flüsterte ich leise, als die Wache endlich außer Sichtweite war und drückte mich an Ian vorbei. Den Rest des Weges konnten wir problemlos passieren, und als wir vor der Statue standen, entspannte ich mich ein wenig. Lucy ging sofort zu dem Kerzenleuchter, der den Geheimgang öffnete und wir anderen sahen dabei zu, wie die Statue lautlos zur Seite glitt und den Eingang frei gab. Der Gang wurde alle fünf Meter von einer Fackel erleuchtet, doch man sah anhand der ganzen Spinnweben, dass der Gang seit Jahren nicht mehr benutzt worden war. Ich verzog angewidert das Gesicht.
„Spinnen.“
Dustin nahm Lucys Hand und hob seinen improvisierten Degen höher.
„Dann gehen Lucy und ich vor.“
Er lächelte mich an und ich erwiderte sein Lächeln dankbar.
„Erste Kreuzung rechts, stimmt’s?“, fragte Dustin und ging voran.
Es war erstaunlich leicht, durch den Gang in den Turm zu kommen. Der Gang war breit genug, damit man zu zweit nebeneinander laufen konnte und durch die Fackeln war er auch hell genug. Erst, als wir die Wendeltreppe erreichten, wurde es schwieriger, denn die Treppe war extrem schmal.
„Da kommen wir nie im Leben alle hoch.“, meinte Dustin und blieb stehen.
„Dann bleibt ihr eben hier unten und wartet, während Lucy und ich Cathrin holen.“, schlug ich vor.
„Ich meine, wie schwer kann das schon sein? Wir gehen hoch, holen Cathrin aus dem Zimmer in den Geheimgang und kommen die Treppe wieder runter.“
Lucy lächelte Mathew, Ian und Dustin zuversichtlich an.
„Okay. Aber beeilt euch.“
Mathew schien nicht ganz begeistert, doch es gab keine andere Möglichkeit. Schnell quetschten Lucy und ich uns die Wendeltreppe hoch, bevor einer von ihnen uns doch noch zurück hielt.
„Der Geheimgang führt genau zu Cathrins altem Schlafzimmer. Jetzt muss sie nur noch da sein.“, meinte Lucy und keuchte von dem anstrengenden Aufstieg.
„Sie wird in ihrem Zimmer sein. Vor allem, wenn es schon immer ihr Zimmer war. Mein Großvater ist schließlich mit hier.“, erwiderte ich und hatte endlich die Wendeltreppe hinter mir gelassen.
„Endlich.“
Ich blieb erst mal stehen und holte tief Luft.
„Mein Gott, die Treppe ist ja echt eng.“
Lucy stand neben mir und streckte sich.
„Okay, holen wir Cathrin und dann noch mal die ganze Tortur.“
Lucy stöhnte, folgte mir aber.
„Sieh mal, da ist ein Guckloch.“, flüsterte Lucy und deutete auf ein winziges Loch in der Wand.
„Siehst du irgendwelche Wachen in dem Raum?“, flüsterte ich zurück und ließ sie durch das Loch schauen.
„Mehr als nur Wachen!“, wisperte sie und sah mich mit großen, verschreckten Augen an. „Lass mich mal.“
Bereitwillig rutschte sie zur Seite und ich kniete mich vor das Guckloch. Ich konnte das Zimmer von der Seite sehen. Die Tür war nicht in meinem Blickwinkel, dafür aber das Bett von der langen Seite und Cathrin saß am Fußende des Bettes, so dass ich sie im Profil sah. Direkt vor ihr stand David und funkelte sie wütend an. Mein Großvater stand mit dem Rücken zu den beiden und auch zu mir.
„Oh Gott.“, flüsterte ich und rutschte gegen die Wand.
„Verdammt.“
Lucy setzte sich neben mich.
„Was machen wir jetzt?“
„Sag es!“
Lucy und ich zuckten beide zusammen, als Davids Stimme so unvermittelt und laut zu hören war.
„Nein.“,flüsterte Cathrin leise, aber bestimmt.
„Wir müssen was machen!“, flüsterte Lucy leise und sah mich an.
„Ich weiß! Hast du zufällig auch eine Idee, was wir machen sollen?“, flüsterte ich zurück und lauschte auf David und Cathrin.
„Du zögerst dein und ihr Schicksal nur heraus, Cathrin. Tu euch beiden einen Gefallen und bring sie her!“
„Du lässt das wirklich zu? Du willst wirklich deine gesamte Familie opfern? Hast du mal an Maéva gedacht, Vater?“
Lucy und ich sahen uns an.
„Wir müssen sie irgendwie aus dem Raum locken.“, flüsterten wir gleichzeitig.
„Hast du eine Idee, wie?“, fragte Lucy.
Ich rutschte zurück an das Guckloch und sah mir den Raum ganz genau an.
„Deine Schwester hat mit dem ganzen hier nichts zutun. Sie wird nicht gebraucht. Es geht hier nur um dich und dein Balg.“, bluffte David sie an und Cathrin stand wütend auf.
„Im Gegensatz zu andern bin ich eine gute Mutter und beschütze mein Kind, mit allem, was ich habe!“
Der Teil des Raums, den ich sah, bot nicht viel. Es gab nur eine kleine Porzellanfigur, die auf dem Nachttisch stand.
„Du kannst sie nicht beschützen! Nicht hier vor! Sie wird sterben! So oder so! Ganz egal, was du machst!“
Cathrin sah so aus, als ob sie David gleich an den Hals springen würde.
„Jules, tu was

! Egal was!”, flüsterte Lucy panisch.
„Hetz mich nicht!“
Ich sah mir noch einmal den Raumausschnitt an, doch ich hatte keine andere Wahl. Seufzend ließ ich die Porzellanfigur einmal quer durch den Raum fliegen und hörte, wie sie an der Wand zerbrach. Ich konnte sehen, wie David, Cathrin und mein Großvater überrascht auf die Scherben starrten.
„Sie ist hier.“, verkündete mein Großvater beinahe erleichtert und David grinste, während Cathrin verzweifelt die Scherben anstarrte.
„Ich wusste doch, dass sie kommen würde, um dich zu holen. Sie ist eben wirklich genau wie du.“
Mit einem siegessicheren Lachen drehte David sich um und stolzierte zur Tür hinaus, mein Großvater trottete ihm hinter her und Cathrin blieb alleine im Zimmer zurück.
„Sucht sie! Sie muss hier irgendwo im Schloss sein!“, schrie David seinen Leuten zu und ich konnte ihn die Treppe runter rennen hören.
Cathrin sank benommen aufs Bett und ich wartete noch einen Moment, bis ich mir ganz sicher war, dass weder mein Großvater noch David in der Nähe waren, dann erst ließ ich Lucy den Geheimgang öffnen.
„Mum!“, flüsterte ich, kaum dass die Wand sich einen Spalt breit geöffnet hatte und winkte Cathrin zu dem Geheimgang.
„Komm, wir müssen verschwinden! Und zwar schnell!“
Cathrin sah Lucy und mich überrascht an, beeilte sich aber, durch den kleinen Spalt in den Geheimgang zu schlüpfen und die Tür schloss sich wieder.
„Wie habt ihr hier her gefunden?“, wollte Cathrin wissen und drückte mich fest an sich. „Können wir dir alles später erzählen. Erst mal müssen wir hier weg und aus dem Schloss raus.“
Lucy nickte bekräftigend und Cathrin hatte keine andere Wahl, als uns zu folgen.
„Okay, wir haben’s gleich geschafft. Oh, aber ich sollte dich vorwarnen: Ganz egal, was du gleich siehst, du darfst nicht schreien.“, wies ich meine Mutter an, bevor wir die Wendeltreppe verließen und wieder Mathew, Ian und Dustin gegenüber stehen würde.
„Wieso? Ist irgendetwas passiert?“, wollte Cathrin wissen und sah mich besorgt an. Ich seufzte.
„Es ist so einiges passiert. Aber das wirst du gleich sehen.“
Ich biss mir auf die Zunge.
„Und erfahren.“
Dann stieg ich die letzte Stufe hinunter und wartete, bis Lucy und Cathrin neben mir standen. Gemeinsam gingen wir um die Ecke und als Cathrin Mathew sah, blieb sie wie angewurzelt stehen. Mathew konzentrierte sich mit jeder Faser seines Körpers auf Cathrin und ihre Wahrnehmung war so auf den anderen fixiert, dass wir anderen für sie nicht mehr existierten.
„Mathew.“, flüsterte Cathrin irgendwann kaum hörbar und Tränen des Glücks traten ihr in die Augen. Ohne auch nur noch einen Moment zu zögern ging Mathew zu ihr und zog sie an sich.
„Cathrin. Mein geliebte, geliebte Cathrin.“, flüsterte Mathew und ich konnte hören, wie seine Stimme brach. Ich sah zu Lucy und konnte sehen, wie gerne sie zu Dustin gegangen wäre, doch dann hätte sie mich alleine stehen lassen müssen und sich an Cathrin und Mathew vorbei quetschen müssen. Also blieb sie tapfer neben mir stehen und wartete, bis Cathrin und Mathew den ersten Schock ihres Wiedersehens überwunden hatten. Mein Blick wanderte wie automatisch zu Ian, doch Ian sah mich nicht an. Er kehrte uns anderen den Rücken zu und ich wusste, dass es meine Schuld war.
„Ich hatte schon befürchtet, dich nie wieder zu sehen.“, flüsterte Cathrin und lächelte Mathew liebevoll an. Er küsste ihr die Tränen von den Wimpern und erwiderte ihr Lächeln. „Ich werde nie wieder gehen, versprochen.“
Dann drehte er sich zu uns um.
„Entschuldigt. Wir sollten gehen.“
Seine Augen strahlten vor Glück und er hielt Cathrin nach wie vor fest an seiner Seite. Es war klar, dass er sie wirklich nie wieder gehen lassen würde. Ich unterdrückte ein trauriges Seufzen und mied es, Ian anzusehen.
„Dann lasst uns gehen. Sie stellen schon das ganze Schloss auf den Kopf auf der Suche nach ihr.“
Ian wies mit dem Kopf in meine Richtung, doch er sah mich nicht an und sprach über

mich anstatt mit mir. Ich ließ den Kopf hängen und wusste, dass ich es verdient hatte. Nach allem, was ich ihm angetan hatte, hatte er jedes Recht, mich so mies zu behandeln. Doch es tat trotzdem weh, so plötzlich damit konfrontiert zu werden. Ich atmete tief durch und hob den Kopf wieder. Cathrin nickte, merkte aber nicht wirklich, dass ich unglücklich war. Sie war geblendet von ihrem eigenen Glück. Doch ich konnte nicht sauer auf sie sein, denn sie hatte ihr Glück riskiert und aufgegeben, um mein Leben zu retten.
„Dann lasst uns gehen, bevor meinem Vater einfällt, dass dieser Gang existiert.“
Cathrin verschränkte ihre Finger mit Mathews und ging voran. Dustin wartete, bis Lucy neben ihm stand, nahm dann ihre Hand und die beiden folgten Mathew und Cathrin. Ich seufzte und legte meine linke Hand auf meinen rechten Oberarm.
„Geh vor, du kannst meinen Anblick zur Zeit bestimmt nicht ertragen.“
Ich lächelte Ian schwach an und verbannte die Traurigkeit aus meinen Augen. Ian sah mich an und nickte dann.
„Okay.“
Er ging vor und ich wartete, bis er drei Schritte vor mir ging, erst dann folgte ich ihm und das auch immer mit gleichbleibendem Abstand. Einige Male blieb ich erschrocken stehen, weil ich David und meinen Großvater direkt hinter der Wand reden hörte, doch niemand fand den geheimen Gang und so schafften wir es problemlos aus dem Schloss raus, ohne dass uns jemand sah oder verfolgte.

Kaum betraten wir den Strand, konnte ich Cathrin erleichtert aufatmen hören. Es klang, als würde ihr ein riesiger Stein vom Herzen fallen- meins hingegen wurde schwer, denn ich wusste, was jetzt kommen würde. Ian würde Cathrin bitten, ihn zurück zu bringen, wenn alles vorbei war.
„Ich geh ein bisschen schwimmen.“, teilte ich den anderen mit und stürmte schon auf das Meer zu, ohne darauf zu warten, ob irgendjemand etwas dagegen hatte oder vielleicht sogar mitkommen wollte. In all meinen Sachen und sogar ohne meine Schuhe auszuziehen, stürzte ich mich in die Fluten und hoffte, meine Gefühle davon schwemmen lassen zu können.
Vom Wasser aus sah ich, wie Lucy und Dustin sich zusammen an den Strand setzten und Mathew eine Feuerstelle errichtete, während Cathrin und Ian aus meinem Blickfeld verstanden. Seufzend legte ich mich auf den Rücken und ließ mich treiben. Meine Klamotten waren nass bis auf die Unterwäsche und Ian erzählte Cathrin gerade, dass er gehen würde, während meine Mutter und mein Vater gerade ihre Liebe neu entfachten und Lucy und Dustin frisch verliebt waren.
Irgendwann bemerkte ich Cathrin, die am Strand stand und versuchte, mich auf sich aufmerksam zu machen und ich schwamm zum Strand zurück. Klitschnass kam ich aus dem Wasser und wusste schon, was sie wollte: reden.
Ohne, dass sie ein Wort sagte, folgte ich ihr ein Stück von den anderen weg und ließ mich irgendwann in den Sand sinken.
„Soll ich raten? Ian hat dich gebeten, ihn zurück zu bringen.“, meinte ich und malte Kreise in den Sand. Cathrin seufzte und setzte sich neben mich.
„Er hat mich gebeten, ihn heute noch

zurück zubringen. Und Lucy ebenfalls. Was bedeuten würde, dass Dustin mitgehen würde.“
Mein Finger, der die Kreise malte, hielt kurz entsetzt inne, zitterte, bevor ich ihn zwingen konnte, weiter zu malen.
„Dann schick sie mit.“, flüsterte ich leise und legte den Kopf auf die Knie.
Ich hatte geglaubt, dass ich wegen Ian nicht mehr weinen konnte, doch ich hatte mich geirrt. Die Tatsache, dass er so schnell aus meinem Leben verschwinden wollte, dass er heute noch gehen wollte, tat so sehr weh, dass ich die Tränen nicht zurück halten konnte. Doch ich wollte nicht, dass irgendjemand meine Tränen sah.
„Julya...“
Cathrin seufzte und legte mir einen Arm um die Schultern.
„Du musst das nicht tun. Du kannst ihm auch einfach die Wahrheit sagen. Ich bin mir sicher, er würde es verstehen. Und du könntest mit ihm zusammen zurück kehren. Ihr könntet wieder zusammen sein.“
Cathrins Stimme klang sanft und ich wusste, dass sie mir nur helfen wollte, doch es ging nicht, denn sollte ich ihr Angebot annehmen, und ich wollte nichts mehr, müsste sie auf ihre Zukunft mit Mathew verzichten.
„Nein, kann ich nicht. Und das weißt du. Du würdest das selbe für Mathew tun.“, flüsterte ich und wischte mir ein paar Tränen weg.
„Oh, Schätzchen.“, flüsterte Cathrin und nahm mich in den Arm.
„Es tut mir so leid. Es tut mir so unglaublich leid.“
Ich war mir nicht sicher, ob sie nur die Tatsache meinte, dass ich Ian verlor oder ob sie sich damit auch gleich dafür entschuldigte, dass sie mir solch große Verantwortung aufbürgen würde. Uns war beiden klar, dass sie sich nicht krönen lassen würde und somit ich Königin und Regentin werden musste, sobald der Herrscher der Dunkelheit besiegt war. Und Cathrin wusste, dass sie mir damit jede Chance nahm, meine Zukunft selbst bestimmen und gestalten zu können. Und somit auch jede Chance, Ian irgendwann mal die Wahrheit sagen zu können. Sollte er heute gehen, wäre er für immer weg. Doch ich würde ihn nicht aufhalten. Und ich würde auch nicht mit ihm mitgehen. Wenn ich ihn bitten würde, zu bleiben, wäre er damit wieder in der Schusslinie des Herrschers der Dunkelheit und davor wollte ich ihn unbedingt bewahren. Würde ich aber mit ihm mitgehen, würde ich Cathrin dazu nötigen, Mathew zu verlassen und das konnte ich ihnen nach all den Jahren und all dem Leid, was sie durchgemacht hatten, nicht antun.
Also würde ich mich in mein Schicksal fügen und hoffen, dass es allen anderen besser gehen würde, als es mir ging.

18


Mathew kam sofort auf uns zu, als er uns zurück kommen sah, und zog Cathrin an sich, um ihr einen liebevollen Kuss auf die Wange zu drücken.
Ich ging an ihnen vorbei, ohne auf sie zu achten und setzte mich in den Sand. Ich wollte mit niemandem reden, ich wollte niemanden ansehen und ich wollte nicht darüber nachdenken, dass Ian mir jetzt nicht nur sich weg nahm, sondern auch noch Lucy und Dustin.
Lucy stand vor mir, die Hände in die Hüften gestemmt und sah mich an.
„Ich werde auf keinen

Fall mit Ian zusammen zurück gehen und dich hier alleine lassen.“, verkündete sie mit fester Stimme und sah mich herausfordernd an. Ich starrte wieder auf den Sand vor mir und seufzte.
Ich hatte keine Lust, keine Kraft, mit ihr zu streiten und zu diskutieren, doch sie würde nicht einfach so aufgeben.
„Lucy, bitte. Ich habe gerade wirklich keinen Nerv dafür.“, flüsterte ich, stand auf und entfernte mich vom Lagerfeuer.
„Oh nein, du haust jetzt nicht einfach ab! Jules! Nur weil er mein großer Bruder ist, heißt das noch lange nicht, dass er mir zu sagen hat, was ich tun kann und was nicht!“ Ich ignorierte sie und lief einfach weiter.
„Du bist meine beste Freundin, Jules, und du brauchst jemanden, der dir beisteht! Jemand will dich töten

!“
Ich wirbelte zu ihr rum und sah sie an.
„Ich weiß

! Deshalb will ich ja, dass Ian geht! Oder glaubst du, es ist mir zu langweilig geworden und ich will ihn los werden?!“
Lucy sah mich mit großen Augen an.
„Der Herrscher der Dunkelheit ist hinter mir her. Und er geht im wahrsten Sinne des Wortes dafür über Leichen.“
Ich sah ihr so direkt in die Augen, dass es für sie schon fast unangenehm war.
„Glaubst du allen ernstes, ich will, dass du, Dustin oder Ian eine dieser Leichen seid? Dass einer von euch stirbt?“
Lucy senkte den Blick und sah zu Boden.
„Nein, natürlich nicht. Aber...“
Sie verstummte.
„Ich will dich nicht alleine lassen.“, flüsterte sie schließlich und sah mich an, in ihren Augenwinkeln konnte ich Tränen glitzern sehen.
„Du bist das erste Mädchen, mit dem ich mich verstehe und du bist auch meine beste Freundin. Ich finde allein schon die Vorstellung, dich das alles allein durchmachen zu lassen, furchtbar.“
„Oh, Lucy.“, flüsterte ich und umarmte sie ganz fest.
„Du bist auch meine beste Freundin. Das ist aber nur ein Grund mehr für dich, zu gehen. Und ein Grund mehr für mich, dich weg zu schicken. Also tu mir den Gefallen und geh, lebe dein Leben und werde glücklich.“
Ich schniefte und schloss die Augen, um die Tränen zurück zu halten, doch ganz schaffte ich es nicht.
„Und pass für mich auf Ian auf. Lass ihn nichts dummes machen. Sorg dafür, dass er ein schönes, erfülltes Leben hat, okay?“
Lucy nickte an meiner Schulter und ich beruhigte mich wieder.
„Gut. Dann lass uns zurück gehen. Du musst Dustin noch die ganze Situation erklären.“
Ich lächelte Lucy an und Lucy erwiderte mein Lächeln zittrig.
„Okay.“
Sie hakte sich bei mir ein und gemeinsam schlenderten wir zurück.
Cathrin wartete schon auf uns. Dustin sah uns an, seufzte und schüttelte langsam und traurig den Kopf. Ian schob irgendetwas mit der Schuhspitze umher und mied es, mich, Lucy oder Dustin anzusehen.
„Wir...?“, fing Dustin an.
„Jap.“, antwortete Lucy schnell und Dustin seufzte.
„Alles klar.“
Er stand auf und ging zu Lucy, legte seinen Arm um ihre Taille und küsste sie auf die Stirn. Ich lehnte mich an die Palme, die dem Lagerfeuer am nächsten war und machte mich möglichst unsichtbar. Ich schottete mich gegen jedes Gefühl, jede Empfindung, ab und versuchte, die Zeit, bis Ian, Lucy und Dustin weg waren, zu überstehen, ohne zusammen zu brechen.
„Ich bringe euch zurück, sobald es Mitternacht ist. Ich kann leider nicht so zwischen den Welten wechseln, wie Julya es kann, deshalb müsst ihr euch noch ein bisschen gedulden.“ Cathrin lächelte Ian entschuldigend an und Ian seufzte. Das verlängerte sowohl seine als auch meine Qualen nur. Auch wenn er nichts von meinem zu wissen schien. Seufzend legte ich den Kopf in den Nacken und rutschte langsam am Stamm der Palme nach unten.
Ich sah zu, wie Ian angespannt umher wanderte und immer ungeduldiger wurde. Ich glaubte einige Male zu sehen, wie er zu mir sah, doch ich war mir nicht ganz sicher. Gegen elf ging ich zum Feuer, denn es wurde doch ein bisschen kühl, außerdem wollte ich noch ein wenig Zeit mit Lucy verbringen.
Am Liebsten wäre ich zu Ian gegangen, hätte mich in seine Arme gekuschelt und ihn geküsst, ihm gesagt, dass ich ihn liebe und ihm die ganze Wahrheit gesagt. Doch ich konnte nicht. Nichts von alldem.
„Ich bin immer noch nicht damit einverstanden, zu gehen.“, flüsterte Lucy leise und Dustin drückte sie an sich.
„Ich weiß, Lucy. Aber du hast wenigstens noch Dustin. Und deinen Bruder.“, flüsterte ich leise und sah ins Feuer.
„Willst du ihm die Wahrheit nicht sagen?“, fragte Dustin und sah zu Ian rüber.
„Nein, das würde ihn nur davon abhalten, zu gehen. Und das würde sein Leben gefährden.“ „Und warum kommst du dann nicht mit?“
„Weil Cathrin dann Königin werden würde und als solche nicht mit Mathew verheiratet sein darf. Sie müssten sich trennen.“, antwortete Lucy ihm und Dustin verstand.
„Scheiße.“
Ich nickte.
„Oh ja.“
Cathrin kam zu uns und setzte sich neben mich.
„Ich habe gerade noch mal mit Ian gesprochen.“
Ich verzog das Gesicht.
„Ich bin nicht stark genug, alle auf einmal rüber zu bringen, Julya. Deshalb musste ich ihm sagen, dass ich deine Hilfe dafür benötige.“
Sie sah mich vielsagend an und ich nickte mit zusammen gebissenen Zähnen.
„Okay.“
Ich wusste, dass sie mir ein letztes Mal anbot, Ian alles zu beichten und mit ihm zurück zugehen, doch ich würde ihr Angebot nicht annehmen. Sie seufzte und stand auf.
„Es ist soweit.“
Lucy sah mich mit todtraurigen Augen an. Dustin stand auf und zog sie hoch.
„Komm schon.“, flüsterte er und sah mich entschuldigend an.
Ich stand auf und wappnete mich für den wohl schlimmsten Abschied meines Lebens. Lucy und ich umarmten uns und ich wollte sie nie wieder loslassen. Doch ich wusste, dass ich es musste.
„Ich sollte dich jetzt los lassen. Sonst kann ich Cathrin nicht helfen, euch in Sicherheit zu bringen.“
Ich musste lächeln, auch wenn es idiotisch war.
„Okay. Wir können uns drüben ja noch mal verabschieden.“, meinte Lucy und lächelte ebenfalls. Ich nickte und hielt ihre Hand. Die andere streckte ich Dustin hin. Cathrin hakte sich bei Ian ein und nickte mir zu. Ich nickte ihr zu und atmete tief durch.
„Dann lasst uns euch mal nach Hause bringen.“
Cathrin sah mich verletzt an, denn sie wusste, dass ich nicht gemeint hatte, dass wir sie zu sich nach Hause bringen würden, sondern zu mir nach Hause.
Doch sie konnte mir nicht vorschreiben, wo ich mich zu Hause fühlte, wenn sie schon alles andere bestimmte.

Als meine Füße das Gras von Ians Elternhaus berührten, spürte ich, wie Dustins Beine unter seinem Gewicht nachgaben. Ich packte ihn und schaffte es gerade noch, zu verhindern, dass er auf den Knien landete.
„Lass ihn sich hinsetzten, der Schwindelanfall lässt gleich wieder nach. Er muss sich nur erst an das veränderte Klima gewöhnen. Das dauert höchstens zwei bis drei Minuten.“ Cathrin sah mich an und musste sich an Ian festhalten, lächelte mich aber tapfer an. Ich ließ Dustin langsam ins Gras sinken und Lucy kniete sich neben ihn.
„Warum hat er diesen... Schwächeanfall?“, fragte Lucy und strich ihm sanft über die Stirn.
„Weil er aus der Welt des Lichts stammt und noch nie in dieser Welt war. Aber zumindest muss er keine Frucht essen, um hier bleiben zu können.“
Sie versuchte zu lächeln, doch es klappte nicht so richtig.
„Cathrin, du solltest dich vielleicht auch besser hinsetzen. Du siehst blass aus.“
Ian klang besorgt und führte Cathrin zu den Stufen, die auf die Terrasse führten.
„Danke. Aber es wäre viel einfacher, wenn ich wieder in meiner Welt wäre. Ich war zu lange von hier weg, um einen so schnellen Übergang verkraften zu können.“
Sie sah mich deutungsvoll an und ich seufzte.
„Ich gehe erst, wenn ich weiß, dass es alle unbeschadet überstanden haben.“
Dann kniete ich mich neben Dustin und Lucy und sah Dustin ganz genau an. Dustin sah mich an und ich glaubte, ihn kurz zwinkern zu sehen, dann verdrehten sich seine Augen und er kippte plötzlich um.
„Dustin!“, rief Lucy erschrocken und beugte sich über ihn.
Cathrin stürzte zu ihm und drängte mich von ihm weg.
Ich rutschte nach hinten, zu überrascht, um irgendwie reagieren zu können. Ich hörte Lucy und Cathrin irgendetwas rufen, doch verstand ich nicht, was sie sagten. Mit offenem Mund betrachtete ich die Szene, die sich vor mir abspielte. Ein Schatten bewegte sich links von mir und ich sah erschrocken auf, doch es war nur Ian. Ich sah ihn an und rappelte mich langsam auf. Mein Blick war unverwandt auf Ian gerichtet. Es gab so viel, was ich ihm gerne sagen würde, doch da Dustin sich bereits wieder aufrichtete, hatte ich nicht viel Zeit, bevor Cathrin und ich wieder zurück mussten. Ich musste mich entscheiden, was ich ihm sagen wollte, und zwar schnell. Ich packte Ians Hand und zog ihn in einen Winkel der Terrasse, der nicht einsehbar war.
„Was zum...?“
Doch bevor Ian die Frage beenden konnte, drückte ich ihn gegen den Balken und presste meine Lippen auf seine. Ich konnte seinen Widerstand spüren, doch ich ignorierte es und intensivierte den Kuss nur noch mehr, bis ich spürte, dass er nachgab und den Kuss erwiderte.
„Jules. Jules, warte. Stop. Warte.”, flüsterte Ian leise und schob mich ein Stück von sich weg.
Nicht weit, aber gerade weit genug, um mich ansehen zu können.
„Was um alles in der Welt ist hier los?“, fragte er mich und strich mit seinen Fingerspitzen über meine Wange.
„Nicht, dass mir dieser Sinneswandel nicht gefallen würde, aber... ich versteh ihn nicht.“
Er sah mich an, in seinen Augen konnte ich seine Verwirrung und das Feuer, das dieser Kuss ausgelöst hatte, sehen und ich wusste, dass es ein Fehler gewesen war.
Ich konnte nichts gegen die Tränen machen, die mir nun in die Augen traten.
„Jules, bitte erklär’s mir.“, flehte Ian mich an und ich konnte nur den Kopf schütteln. „Ich kann nicht. Ich kann wirklich nicht, Ian. Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Ich hätte dich nicht küssen dürfen, aber ich konnte dich nicht einfach so gehen lassen. Ich wollte wenigstens eine Erinnerung an dich haben, wenn ich schon nicht mit dir zusammen sein kann. Aber ich habe nicht daran gedacht, dass...“
Ich schüttelte erneut den Kopf und schniefte.
„Ich muss gehen. Es tut mir leid.“, flüsterte ich und drehte mich um, um zu gehen, doch Ian packte mich am Arm und drehte mich wieder zu sich um.
„Ist das dein Ernst, Julia? Du machst urplötzlich mit mir Schluss, mit der Begründung, dass du an deine Herkunft gebunden bist und jetzt küsst du mich, als ob... als ob du mit mir zusammen sein wolltest, nur um mir dann zu sagen, dass es ein Fehler war?!“
Sein Griff um meinen Arm wurde immer fester und seine Stimme klang gepresst, weil er sich anstrengen musste, leise zu sprechen und nicht zu brüllen.
„Sag mir, was verdammt noch mal hier los ist.“, knurrte er und sah mich wütend an.
Ich schluchzte und schüttelte langsam den Kopf.
„Ich kann wirklich nicht, Ian. Glaub mir, ich will unbedingt, aber ich kann nicht. Es tut mir leid.“
Meine Stimme brach, denn ich wusste, dass er mit dieser Antwort nicht zufrieden war. Er ließ meinen Arm schon fast aggressiv los und drehte sich aprupt um.
„Ich fass es nicht, dass du das tust. Schon wieder. Und ich Idiot dich noch immer liebe.“ Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen vor Schmerz.
„Ian...“, fing ich an, doch Ian unterbrach mich, indem er zu mir herumwirbelte.
„Nein, Julia! Ich kann mir deine Entschuldigungen nicht länger anhören!“
Ich zuckte zurück, als hätte er mich geschlagen. Ian drehte sich wieder von mir weg und fuhr sich mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand über die Nasenwurzel.
„Fahr doch zur Hölle, Julia. Ich bin fertig mit dir.“
Ich wich vor seinen Worten zurück, als wären sie ein giftiges Gas. Ich wusste, dass ich es verdient hatte, und doch tat es weh, so etwas aus seinem Mund zu hören. Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und stolperte beinahe die Stufen hinunter. Ich zitterte am ganzen Körper und musste das noch unter Kontrolle bekommen, bevor ich Cathrin unter die Augen trat. Ich atmete durch den Mund, um nicht in Tränen auszubrechen und ballte meine Hände zu Fäusten, um das Zittern zu verbergen. Dustin saß auf dem Gras und Lucy saß neben ihm, Cathrin lief nervös hin und her und wartete nur noch auf mich.
„Lass uns gehen.“, meinte ich zu Cathrin und mied ihren Blick.
„Aber was ist denn mit...?“
„Mum, bitte! Lass und jetzt gehen! Sofort!“
Ich musste sie ansehen und sie sah meine Tränen. Geschockt sah sie mich an, nickte aber und reichte mir ihre Hand.
„Okay. Gehen wir.“
Ich griff nach ihrer Hand und sie zog mich an sich.
Liebevoll strich sie mir übers Haar, küsste mich auf die Stirn und verabschiedete sich ein letztes Mal von Lucy und Dustin.

Kaum stand ich wieder auf dem Strand, ließ ich mich auf die Knie sinken und umschlang meine Brust mit meinen Armen. Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und bemühte mich, tief durch zu atmen, bevor ich wegen Sauerstoffmangels noch umkippte. „Jules, alles okay? Süße, beruhig dich. Hey, tief durchatmen. Ganz ruhig.“
Mathew kniete sich neben mich und legte beruhigend seine Hand auf mein Knie.
„Cathrin, was ist hier los?“
Er drehte sich zu ihr um und sah sie an.
„Und versuch gar nicht erst, mir weiß machen zu wollen, dass es am Übergang lag.“
Cathrin seufzte.
„Nein, lag es nicht.“
„Woran dann?“
„An Ian und der verdammten Tatsache, dass ein wahnsinniger Typ des Bösen versucht, mich umzubringen.“, schluchzte ich und ließ mich gegen Mathews Schulter sinken. Mathew nahm mich in den Arm und hielt mich einfach nur fest, ihm fiel nichts mehr ein, was er hätte sagen können.
Irgendwann schaffte ich es endlich, meine Tränen weg zu wischen und stand auf, wenn auch noch ein wenig wacklig.
„Lasst uns vom Strand verschwinden, David und der König haben bestimmt inzwischen bemerkt, dass wir nicht mehr im Schloss sind.“
Ich mied Mathews und Cathrins Blick und folgte den beiden einfach, als sie los gingen. Es war mir vollkommen egal, wo sie mich hin führten, selbst wenn sie mich direkt zu dem Herrscher der Dunkelheit geführt hätten, wäre ich ihnen still und mit hängendem Kopf hinterher getrottet.
Doch sie führten mich nicht zum Herrscher der Dunkelheit, sondern zu einer kleinen Höhle, die direkt am Strand in einem riesigen Felsen versteckt war und unmöglich zu entdecken, wenn man nicht wusste, dass sie da war. Die Höhle hatte einen offenen Teil, der auf einer Seite zum Meer hin offen war und einen kleinen Gang, der in eine kleinere, abgegrenzte Höhle führte. Fast wie ein Extraraum. Doch es interessierte mich nicht. Ich setzte mich einfach an den Rand der Höhle und starrte hinaus auf das Meer, das sich ungefähr fünf Meter unter mir an den Klippen brach. Cathrin setzte sich neben mich.
„Julya, ich weiß, dass es schwer für dich ist, aber...“
Sie seufzte.
„Du hast das aus den richtigen Gründen getan.“
Ich sah sie an.
„Mag sein, aber wird es irgendwann besser?“
Sie wollte schon antworten, als sie inne hielt und zögerte.
„Vielleicht ein bisschen. Aber der Schmerz wird ab sofort ein Teil von dir sein.“
Ich nickte.
„Dachte ich mir fast.“
Ich schob mir die Haare aus der Stirn, seuf-zte und legte den Kopf auf die Knie. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie Cathrin nach hinten in die Höhle schielte und unterdrückte ein wehmütiges Wimmern.
„Schon okay, Mum, du kannst ruhig gehen. Ich werd mich schon nicht die Klippe runter stürzen.“
Ich lächelte sie schwach an und sie sah mich besorgt an.
„Werde ich nicht.“, versicherte ich ihr und sie sah beruhigter aus, doch sie blieb noch neben mir sitzen.
„Ich wollte dir noch danken, dass du ihn befreit und mir zurück gebracht hast.“
Sie lächelte mich an und ich konnte sehen, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Sie sah viel jünger aus als noch vor ein paar Stunden. Ich zuckte innerlich zusammen, als mir wieder einfiel, wer auf die Idee gekommen war, Mathew zu befreien.
„Das war nicht ich. Das war Ian.“, flüsterte ich und spürte, wie sich meine Brust wieder schmerzhaft zusammen zog.
„Aber du hast ihn zu mir zurück gebracht.“
Sie küsste mich auf die Stirn, stand auf und ging. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie meine Eltern ihr Wiedersehen feiern würden, die Möglichkeiten waren begrenzt und eine jagte mir mehr Angst ein als die andere. Ohne dass ich es wollte oder sie daran hindern konnte, wanderten meine Gedanken zu Ian und ein brennender Schmerz wallte in meiner Brust auf, der mir fast die Luft zum Atmen nahm. Ich wusste, dass dieser Schmerz für immer sein würde, denn Ian hatte für immer einen Platz in meinem Herzen. Das einzige, was ich mir erhoffte, war, dass er mit den Jahren weniger werden würde, auch wenn ich mir noch nicht sicher war, ob ich das verdient hatte. Ich wünschte mir aus tiefstem Herzen, dass es Ian besser ging als mir, doch ich wusste, dass ich ihm zu sehr weh getan hatte, als dass er schon über mich hinweg war. Ich hatte nicht nur Ians Herz gebrochen, sondern ihn zudem, jedenfalls seines Erachtens nach, ausgenutzt.
Vielleicht war das der Weg, wie er mich schnell vergessen konnte: gekränkter Stolz.
Doch als mir klar wurde, was er tun würde, um über diese Schmach, von einem Mädchen gekränkt worden zu sein, hinweg zu kommen, wurde mir übel und ich musste den widerlichen Geschmack in meinem Mund los werden. Vorsichtig stand ich auf und verließ die Höhle. Jetzt, da ich wusste, wo der Eingang war, würde ich ihn später auch wiederfinden.
Langsam und so leise wie möglich, schlich ich zum Strand hinunter und suchte dort nach einem kleinen Bach, der mir als Trinkwasserquelle dienen konnte. Die Möglichkeit, dass irgendjemand durch den Wald streifte und nach mir suchte, entfiel mir- bis es beinahe zu spät war. Ich hörte einen Ast knacken, sah auf und schaffte es gerade noch, mich an den nächsten Baum zu drücken, als David plötzlich so dicht neben mir auftauchte, dass ich fast laut aufgeschrieen hätte. Ich presste mich enger an den Baum und hielt die Luft an, aus Angst, David könnte mich bemerken.
„Es kann ja wohl nicht so schwer sein, eine Gruppe von sechs Personen zu finden!“, fluchte er vor sich hin und bedachte speziell seinen Bruder mit einigen unschönen Bezeichnungen, doch auch Cathrin bekam so einiges ab.
„Wieso musste Cathrin auch unbedingt vom diesem Dreckskerl schwanger werden? Hätte sie dieses Balg nicht bekommen, wäre das alles schon längst erledigt. Dann hätte er sie und diesen dämlichen Greis schon längst umbringen können und hätte schon seine verdammte Macht. Wenn ich diese Göre in die Finger bekomme...!“
Was genau er vor hatte, wenn er mich in die Finger bekommen sollte, konnte ich nicht mehr verstehen, denn er entfernte sich wieder von mir und wurde immer leiser, bis er schließlich nicht mehr zu hören war. Ich lauschte ganz genau auf meine Umgebung, bevor ich mich traute, mich wieder zu bewegen. Dann rannte ich.
Ich hatte keine Ahnung, in welche Richtung ich rannte oder warum ich in eben diese Richtung rannte, doch irgendwann stand ich wieder vor der Höhle. Keuchend sah ich mich um, ob mir jemand gefolgt war, doch ich sah niemanden, also schlüpfte ich schnell in die Höhle.
„Julya, Schatz, wo warst du? Wir haben uns Sorgen gemacht.“
Cathrin sah erleichtert aus, bis sie meinen Blick sah. Sofort sah mich alarmiert an, stellte das Brot, das sie in der Hand hielt, weg und kam zu mir rüber.
„Was ist passiert?“
Ich lehnte mich an die Höhlenwand und atmete tief durch, bevor ich antwortete.
„David durchkämmt den Wald.“
Cathrin schien erleichtert darüber, dass es nichts schlimmeres war.
„Das war zu erwarten. Wir müssen jetzt nur vorsichtig sein, damit sie uns nicht entdecken.“
Ich nickte und sank ganz langsam auf den Boden.
„Was haben wir eigentlich für einen Plan? Uns in der Höhle zu verstecken und zu warten, bis sie es langweilig finden und aufgeben?“
Cathrin ging in die kleinere Höhle und kam mit einem Brot und Wasserflaschen zurück, die sie auf einen halbwegs ebenen Tisch stellte.
„Nein. Und wir werden uns nicht mehr lange verstecken. Aber es wäre sinnlos, einfach los zu rennen, deswegen warten wir, bis es wieder hell ist.“
Ich nickte und öffnete die Flasche, die Cathrin mir reichte.
„Und wo wollen wir dann hin? Und was genau machen wir überhaupt gegen David?“
Cathrin antwortete mir nicht, denn Mathew kam und sie küsste ihn liebevoll.
„Wie geht’s dir?“, fragte Mathew mich und sah mich an, ich nickte bloß und zupfte am Etikett der Flasche rum.
„Wie können wir den Herrscher der Dunkelheit besiegen?“, fragte ich, ohne einen von ihnen anzusehen und wartete auf eine Antwort.
„Wir müssen das Amulett zerstören, das er um den Hals trägt. Das Amulett ist die Quelle seiner Kraft, ohne es ist er machtlos.“
„Ah, deshalb will er uns töten. Das, was sein Amulett für ihn ist, fließt bei uns durch die Adern. Um da ran zu kommen, müssen wir sterben.“
Cathrin sah mich nicht an, doch ich wusste, dass sie nickte.
„Wieso überrascht mich das irgendwie nicht wirklich?“, seufzte ich und trank einen Schluck.
Dann sah ich Cathrin an.
„Wie kann man es zerstören?“
Cathrin setzte sich auf einen Stein und sah mich an.
„Bevor wir es zerstören können, müssen wir es erst mal in unseren Besitz bringen.“
„Und wie wollen wir das anstellen?“, fragte ich und wusste, dass mir die Antwort nicht gefallen würde.
„Das ist das Problem. Wir müssen nah genug an ihn heran kommen, um es ihm abnehmen zu können.“
„Was er natürlich nicht zulassen wird.“, meinte ich trocken und pulte weiter am Etikett rum.
„Nein, wird er nicht.“
Cathrin schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen.
„Okay, und was müssen wir tun, um in seine Nähe zu kommen?“, fragte ich sie und sah sie fest an.
„Und versuch gar nicht erst, es zu beschönigen oder so. Ich kann sehen, dass es mir nicht gefallen wird.“
Cathrin seufzte und stellte die Flasche weg.
„Eine von uns... müsste sich gefangen nehmen lassen und... sich zu ihm führen lassen...“ Und sich möglicherweise ziemlich übel behandeln lassen.
Ich senkte den Blick und seufzte.
„Okay. Was mache ich, wenn sie mich zu ihm gebracht haben?“
Cathrin zuckte zusammen und Mathew wich alle Farbe aus dem Gesicht.
„Müsst ihr das wirklich machen? Muss wirklich eine von euch den Köder spielen?“
Mathew umfasste Cathrin enger und ich konnte sehen, dass er sie nicht gehen lassen wollte, es aber auch nicht gut fand, dass ich gehen wollte.
„Eine von uns muss gehen. Ich glaube, es wäre einfacher, wenn ich gehe. Cathrin braucht dich.“
Und ich habe niemanden mehr. Ian hat mich aufgegeben. Er hat uns aufgegeben.
„Außerdem kann ja nichts passieren, oder?“
Ich lächelte ihn an und frimelte das Etikett schließlich ganz ab. Mathew wollte widersprechen, doch er wusste, dass es nicht anders ging. Also schloss er seufzend den Mund und schlang seine Arme um Cathrin.
„Es geht wohl wirklich nicht anders.“
Er küsste sie auf die Schulter und ich sah weg.
Nach allem, was passiert war, war es mir unangenehm, andere dabei zu beobachten, wie sie Zärtlichkeiten austauschten oder sich küssten, denn das erinnerte mich an Ian und das wiederum ließ den Schmerz wieder aufflammen. Ich unterdrückte einen Seufzer und stand auf.
„Wenn ich mich nur fangen lassen muss, kann ich das genau so gut jetzt gleich machen. Warum sollte ich noch länger warten? Ich muss es ja nicht unnötig lange hinauszögern... Oder?“
Ich sah Cathrin an und überlegte, ob es einen Grund geben könnte, warum ich mich erst fangen lassen sollte, wenn es wieder hell war. Cathrin seufzte und löste sich liebevoll aber bestimmt von Mathew.
„Eigentlich nicht. Aber ich habe die meiste Zeit deines Lebens verpasst, weil ich dich zu deinem Schutz weggeben musste. Ich habe fast 17 Jahre lang nur hoffen können, dass es dir gut geht, bis ich dich wieder in die Arme schließen konnte. Und auch das nur auf begrenzte Zeit.“
Sie lächelte mich an und ich wand mich innerlich, denn ich wusste, dass alles, was jetzt noch kommen würde, den Abschied nur noch schwerer machen würde. Cathrin griff nach Mathews Hand und hielt sie fest, bevor sie mich wieder ansah.
„Julya, wir sind deine Eltern und hatten nie die Chance, dich kennen zu lernen. Wir hatten nie die Chance, wirklich deine Eltern zu sein.“
Sie und Mathew sahen mich an.
„Und obwohl wir nichts dazu beigetragen haben, obwohl wir nichts dafür geleistet haben, dass du so geworden bist, wie du bist, sind wir beide wahnsinnig stolz auf dich.“
Mathew lächelte und ich konnte sehen, dass er die Wahrheit sagte.
„Mum, Dad...“, flüsterte ich und achtete darauf, dass diese beiden Anreden so normal und selbstverständlich wie möglich klangen, auch wenn es für mich immer noch komisch war.
Ich wusste nicht genau, was ich ihnen sagen wollte, doch es war nicht wichtig, denn Cathrin ließ mich gar nicht erst so weit kommen. Sie zog Mathew mit zu mir und umarmte mich, Mathew hatte gar keine andere Wahl, als sich der Umarmung anzuschließen. Ich steckte nun zwischen meinen Eltern fest und konnte mich nicht bewegen. Es war merkwürdig, denn irgendwie gefiel es mir, von meinen Eltern umarmt zu werden, doch gleichzeitig war es auch erschreckend. Ich war es nicht gewöhnt, umarmt zu werden oder überhaupt gesagt zu bekommen, dass jemand stolz auf mich war.
Meine Tante hatte mich auch geliebt, aber sie war immer distanziert gewesen. Es hatte mir nichts ausgemacht, denn ich wusste, dass sie mich liebte und hatte den Freiraum genossen. Es hatte mir gezeigt, dass Maéva mich für vernünftig genug hielt, nichts dummes anzustellen.
„Ich sollte jetzt gehen.“, flüsterte ich leise und mit belegter Stimme und löste mich langsam und widerstrebend aus der Umarmung.
„Jules...“, fing Mathew an, doch ich schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen. Cathrin fasste ihn am Arm.
„Lass sie gehen. Je schneller sie geht, desto eher können wir sie wieder befreien.“ Cathrin lächelte ihn an, doch sie und ich wussten, dass es nicht so einfach war. Zum ersten Mal, seit ich wieder hier war, fragte ich mich, warum ich eigentlich immer wusste, was wirklich geschah, oder warum ich immer wusste, was Cathrin nicht aussprach.
Zum Beispiel auch, dass es alles andere als einfach und ungefährlich war, nah genug an den Herrscher der Dunkelheit zu kommen, um ihm das Amulett abzunehmen. Doch Mathew sollte es nicht erfahren, denn ich musste das tun, damit wir eine Chance hatten, das Königreich des Lichts zu retten. Ich atmete tief durch und lächelte tapfer.
„Ich lass’ mich möglichst schnell fangen, ohne es ihnen zu leicht zu machen, sonst werden sie noch misstrauisch.“
Cathrin nickte.
Sei vorsichtig.“
Ich nickte kurz, sah die beiden ein letztes Mal an, wünschte mir kurz, das ich das nicht tun musste, drehte mich dann um und verließ die Höhle.

19


Das einzige, was ich tun musste, war, mich von ihnen verfolgen, ein wenig jagen und dann gefangen nehmen zu lassen. Klang gar nicht so schwer, doch wie ich schnell feststellte, war es schwieriger, als ich angenommen hatte.
Jedes Mal, wenn jemand von Davids Leuten in meine Nähe kam, war mein erster Impuls, mich zu verstecken und ich brauchte fast eine Stunde, bis ich es endlich schaffte, diesen Impuls zu unterdrücken.
Dann war da noch die Schwierigkeit, mich „zufällig“ entdecken, verfolgen und gefangen nehmen zu lassen.
Ich lehnte mich an einen Baum, so dass man mich nicht sah, und überlegte mir, wie ich das am Besten anstellte. Ich lauschte in die Stille um mich herum und konnte ein Stück von mir entfernt David seinen Leuten Befehle zuschreien hören. David würde keine Fragen stellen, wenn er mich sah und ich halbwegs überrascht aussehen würde.
Ich wartete, bis David nah genug war, dann tat ich so, als ob ich gerade aus der anderen Richtung gekommen wäre und mich nach Verfolgern umsah. Als ich hinter mir niemanden sah, drehte ich mich um und wollte weiter laufen, doch dann sah ich David und blieb wie angewurzelt stehen. Er sah mich, doch anstatt dass er erschrocken aussah, so wie ich, stahl sich ein teuflisches Lächeln auf sein Gesicht.
„Julia. Willst du es uns beiden leicht machen oder lieber schmerzhaft für dich?“
Ich sah ihn und ein paar Möglichkeiten, was er mir antun konnte, blitze vor meinem inneren Auge auf. So schlimm, wie die Trennung von Ian war nichts davon.
„Ich bin die Tochter deines Bruders, da müsstest du die Antwort doch schon kennen.“, flüsterte ich, wich langsam zurück, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen.
„Oh, Julia, du müsstest doch wissen, dass du keine Chance hast. Im gesamten Wald laufen meine Leute so dicht umher, dass du keine Chance hast, hier rauszukommen.“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Ich kann nicht anders.“
Dann wirbelte ich herum und rannte, so schnell ich konnte, davon.

David hatte nicht übertrieben, als er gesagt hatte, der Wald sei voller Wachen. Ich konnte keine 20 Meter am Stück rennen, ohne jemandem zu begegnen, der mir dann hinter her rannte, wenn ich mich nicht schnell genug duckte. Und selbst wenn sie mich nicht sahen, folgten sie mir, als sie David schreien hörten. Nach kürzester Zeit rannten mir ungefähr ein Dutzend Männer hinter her, die alle größer, stärker und bewaffnet waren, während ich unbewaffnet war und lediglich schneller rennen konnte als sie. Und selbst das konnte ich nicht mehr lange, denn ich spürte schon, wie meine Beine langsam schwerer wurden. Direkt vor mir tauchte plötzlich einer von Davids Männern auf und ich musste mich ducken, um unter seinen Armen durch zu kommen. Dadurch wurde ich einen Moment zu lange abgelenkt und stolperte über eine Wurzel, die aus der Erde rausragte. Ich schaffte es gerade noch, mein Gleichgewicht wieder zu finden und weiter zu rennen, bevor mich irgendjemand packen konnte.
„Du kannst nicht ewig so rennen, Julia! Auch du wirst irgendwann müde werden!“, rief David mir zu und lachte hämisch.
Ich werde nicht einfach stehen bleiben, damit du mich kriegst!

, dachte ich verbissen und rannte ein bisschen schneller, was keine gute Idee war, denn meine Beine brannten und protestierten bei jedem Schritt. Meine Lunge drohte zu bersten und mein Herz schlug so heftig, dass ich das Gefühl hatte, es würde mir bald die Brust aufreißen.
Ich brauchte eine Pause. Und zwar sofort. Aber ich konnte nicht. Dann würde er mich kriegen. Aber genau das sollte er doch. Aber ich musste es glaubwürdig anstellen. Seufzend lief ich ein kleines bisschen langsamer, um wieder besser Luft zu bekommen und trotzdem noch genügend Abstand zu David zu haben. Er hatte recht. Ich konnte wirklich nicht mehr. Und vor mir lagen noch etliche hundert Meter Wald, in denen noch etliche von Davids Leuten lauerten.
Direkt vor mir sprang einer von Davids Leuten hinter einem Baum vor und knallte mir einen Ast so heftig gegen die Brust, dass alle Luft aus meiner Lunge gepresst wurde und ich keuchend auf die Knie sank. Groß, drohend und gefährlich stand er über mir und grinste mich an.
„Da haben wir ja unser kleines Goldmädchen.“
Ich bemühte mich immer noch, wieder Luft in meine Lunge zu bekommen und gleichzeitig den Schmerz, den der Schlag verursacht hatte, zu kontrollieren, als David keuchend aber mit einem triumphierenden Lächeln zwischen den Bäumen auftauchte.
„Ich sagte doch, dass du nicht ewig so weiter rennen kannst.“
Ich funkelte ihn wütend an.
„Ach, komm schon, Julia. Du hättest so oder so bald stehen bleiben müssen.“
Ich wollte etwas erwidern, doch ich konnte noch immer nicht reden. Meine Brust brannte, ich war mir ziemlich sicher, dass ich dort einen blutigen Kratzer von dem Ast hatte, und irgendwie fand nicht annähernd genug Luft den Weg in meine Lunge.
„Nun gut, wir haben sie. Und es hat Spaß gemacht. Luis, hol sie hoch. Fesselt ihr die Hände auf den Rücken. Sie wird schon erwartet.“
Er sah mich an und ich konnte in seinen Augen sehen, dass er froh darüber war, endlich einmal erfolgreich gewesen zu sein. Einer seiner Männer, Luis wie ich vermutete, zog mich hoch und drehte mir die Arme auf den Rücken. Er gab sich keine Mühe, vorsichtig zu sein, sondern fügte mir die größtmöglichen Schmerzen zu, doch ich biss mir auf die Lippen und unterdrückte den Schrei.
Das war gerade erst der Anfang und ich würde ihnen nicht die Genugtuung geben, sich jetzt schon an meinen Schmerzen zu erfreuen. Die Fesseln schnitten mir ins Fleisch, als Luis mich nach vorne stieß und David mich auffing und seinen Arm um meine Schultern legte. „Weißt du, mein Bruder hatte so ein Talent, aus brenzligen Situationen heraus zu kommen. Ganz egal, was er angestellt hatte, meine Eltern ließen es ihm durchgehen. Aber du“
Er stupste mir auf die Nase und lachte, als ich zurück zuckte.
„Du wirst keine Gelegenheit haben, dich hier rauszuwinden, ganz egal, was du auch versuchen würdest.“
Ich schnaubte verächtlich und er nahm wieder den Arm von meinen Schultern, nur um mich am Oberarm zu packen.
„Gar keine Chance.“
Er packte fester zu.
„Schon verstanden. Ich habe keine Chance, zu entkommen. Schon klar.“, schnaubte ich und stolperte hinter David her.
„Ganz genau.“, meinte David und packte zum Beweis noch fester zu.
„Home sweet Home.”, seufzte David und schleuderte mich einfach von sich.
Ich knallte gegen die Wand und ließ mich einfach an ihr hinunter rutschen.
„Bringt sie runter.“, befahl David seinen Leuten und verließ den Raum.
Ich sah auf und stöhnte innerlich auf. Davids Leute sahen mich mit einer gewissen Vorfreude an, die nichts Gutes erahnen ließ. Und meine Hände waren noch immer auf meinem Rücken gefesselt.
Ganz toll

, dachte ich und musterte die Männer, die langsam auf mich zu kamen.
Dann konnte der Schmerz ja beginnen.



Stöhnend setzte ich mich auf und lehnte mich gegen die Wand. Die Kälte der Mauer half zwar gegen die Blutergüsse, doch sie kühlte mich auch aus. Ich lehnte den Kopf an die Wand und versuchte, nicht daran zu denken, dass meine Arme schmerzten, meine Handgelenke immer noch von den Fesseln pulsierten, der Kratzer in meinem Gesicht noch blutete, meine Rippen bei jedem Atemzug knackten und meine Wirbelsäule sich anfühlte, als ob sie vollkommen verbogen war.
Davids Männer hatten eindeutig gelernt, wie man zuschlägt. Und sie waren gut. Sie verstanden ihr Handwerk. Es gab keinen Knochen in meinem Körper, den sie nicht irgendwie erwischt hatten und ich hatte trotzdem das Gefühl, dass das noch lange nicht alles war. Das einzig positive war, das ich jetzt alleine in meiner Zelle saß und die Fesseln nicht mehr trug.
Schwacher Trost.
Ich schloss die Augen und schluckte. Wenn ich daran dachte, dass ich erst den einfacheren Teil meiner Aufgabe erledigt hatte, wurde mir beinahe schlecht. Und wenn ich daran dachte, dass der schwierigere Teil war, dass ich dem Herrscher der Dunkelheit sein Amulett vom Hals reißen musste, hätte ich am Liebsten angefangen zu heulen.
Ich legte den Kopf in die Hände und hoffte, dass meine Kopfschmerzen möglichst schnell nachlassen würden, auch wenn sie nicht schnell genug nachließen. Ich schloss die Augen und ignorierte alles um mich herum. Ich musste meine Kräfte sammeln, um nachher gegen den Herrscher der Dunkelheit eine Chance zu haben und das konnte ich schon immer am Besten, wenn ich mir das Gefühl vorgaukelte, glücklich zu sein.
Ohne dass ich mich groß anstrengte oder die Erinnerung suchte, sah ich Ian vor mir. Er lächelte mich an, seine strahlend blauen Augen leuchteten vor Glück, seine dunklen Haare wurden leicht vom Wind zerzaust und mich überkam das Gefühl, dass alles wieder gut werden würde. Allein Ians Anblick gab mir ein Gefühl der Hoffnung und ich schob entschieden die anderen Bilder von Ian, die unschönen, von mir.
Ich hielt an diesem einen Bild fest, bis ich mich ein bisschen besser fühlte. Erst dann öffnete ich die Augen wieder -und zuckte erschrocken zusammen, als David direkt vor mir saß.
„Na Prinzessin, gut geschlafen?“
Er grinste mich an und mich überkam das Bedürfnis, ihm eine zu verpassen, doch ich beherrschte mich und sah ihn bloß vernichtend an.
„Ooh, diesen Blick musst du von deiner Mutter haben. Er muss dir im Blut liegen.“
Ich sah ihn irritiert an, doch bevor ich nachfragen konnte, erklärte er es bereits.
„So hat mich bisher nur deine Mutter angesehen, als ich sie anflehte, in ihre Welt zurückzukehren und diesen Versager von meinem Bruder zu verlassen.“
Auch wenn ich es nicht wollte, klatschte ich ihm eine. Es ging so schnell, dass ich nur noch merkte, wie meine Hand hart gegen seine Wange knallte und einen deutlich erkennbaren und roten Handabdruck hinterließ.
„Sag NIE WIEDER etwas gegen meinen Vater!“, zischte ich und funkelte ihn hasserfüllt an. Davids Augen hatten sich überrascht geweitet, jetzt hielt er sich die Wange und spukte ein bisschen Blut zwischen uns auf den Boden.
„Au.“
Sein Blick wanderte wieder zu mir und ich konnte sehen, wie sehr es ihn danach verlangte, mir weh zu tun, doch er durfte nicht.
Der Herrscher der Dunkelheit hatte ein Vorrecht, wenn es darum ging, mir Schmerzen zuzufügen.
Er packte mich grob am Arm und zerrte mich hoch.
„Na los, Prinzessin

, steh auf. Wir müssen los. Beweg dich!“, bluffte er mich an und zog mich hinter sich her.
Völlig benommen von der Tatsache, dass ich meinen Onkel geschlagen hatte und gleich dem Herrscher der Dunkelheit gegenübertreten würde, taumelte ich hinter ihm her, bis wir vor einer riesigen Tür standen. Mir dämmerte langsam, dass ich gar nicht wusste, wo genau ich war oder wie das Schloss aussah, doch dieses Problem musste ich erst mal zurück stellen, denn hinter dieser Tür erwartete mich der Herrscher der Dunkelheit, ich konnte ihn spüren.
Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter, als ich an meine letzte Begegnung mit dem Herrscher der Dunkelheit dachte. Er war mir so... mächtig und angsteinflössend vorgekommen, obwohl ich ihn überhaupt nicht gesehen hatte.
David atmete tief durch, zog sein T-shirt zurecht und klopfte beinahe ängstlich an die Tür. Die Türen schwangen nach innen auf und gaben einen großen, pompösen Raum frei. Er war rund und voller Bogenfenster, die bis zur Decke reichten, doch alle Vorhänge waren zugezogen und schlossen jedes Licht aus. Es war gerade hell genug, um schwache Umrisse erkennen zu können.
Kaum hatten David und ich den Raum betreten, schlossen sich die Türen wieder und ich fühlte mich gefangen.
„Du hast sie also endlich gefunden, David?“, ertönte eine Stimme aus der dunkelsten Ecke des Zimmers und mir stellten sich die Haare auf den Armen auf.
Das letzte Mal hatte mir die Stimme Kopfschmerzen verursacht, doch dieses Mal war es anders. Ich war mir nicht sicher, ob ich es mir einbildete, oder ob er wirklich schwächer war als in meiner Erinnerung.
„Ja, Herr.“
David hielt mich noch immer am Oberarm fest und verbeugte sich, als er antwortete, weshalb ich auch ein Stück in die Knie gehen musste. Ich glaubte, ein Seufzen zu hören, doch ich war mir nicht sicher. Das einzige, was ich mit Sicherheit sagen konnte, war, dass es anders war wie bei unsere letzten Begegnung.
„Du hast bestimmt schon bemerkt, Julia, dass ich anders bin als... du mich in Erinnerung hast. Soll ich dir verraten, warum das so ist?“
Ich sah mich im Raum um und hielt Ausschau nach ihm, doch ich konnte ihn nicht sehen, er verbarg sich zu gut in den Schatten.
„Muss ich auf diese Frage wirklich antworten?“, flüsterte ich leise und schielte zu David.
Er schien sich in der Dunkelheit unwohl zu fühlen. Ein leises Lachen drang aus einer der Ecken, doch es klang, als würde es aus allen gleichzeitig kommen.
„Nein, ich würde es dir ohnehin erklären, denn auch wenn du es bis zu einem gewissen Grad erraten könntest, würdest du niemals den wahren Grund heraus finden.“
Er trat ein paar Schritte vor und ich konnte ihn endlich sehen. Nur schemenhaft, aber immerhin.
„David, du hast deine Aufgabe erst zum Teil erfüllt. Geh und erledige den zweiten.“
David verneigte sich erneut und verließ den Raum wieder, ich wusste, dass keine einzige Wache mit im Raum war.
„Du bist stärker geworden, seit unserer letzten Begegnung.“
Ich wusste nicht, ob ich mich jetzt geschmeichelt fühlen sollte oder eher erschrocken. „Das ist erstaunlich. Und bedauernswert.“
Es klang wirklich so, als ob es ihm leid tun würde, dass er mich töten musste. Er seufzte erneut und setzte sich auf eine der Stufen, die zur Terrasse hoch führten.
„Setzt dich zu mir, Julia. Wir haben eine Menge zu bereden.“
Er klopfte neben sich auf die Treppe und ich spürte, wie es mich dazu drängte, mich neben ihn zu setzten, doch ich verschränkte die Arme und bewegte mich nicht, denn es war nicht mein eigener Wille, der mich dazu bringen wollte, mich neben ihn zu setzten. Er wollte mich dazu zwingen.
„Danke, ich steh lieber. Ich mag es nicht besonders, wenn man versucht, mich zu etwas zu zwingen.“
Ich sah den Herrscher der Dunkelheit an und konnte hören, wie er leise lachte. „Du bist wirklich stärker geworden. Ich frage mich, ob...?“
Er verstummte, ganz in seine Gedanken vertieft und ich merkte, wie sich meine Muskeln anspannten.
„Kennst du meinen alten Freund noch, Julya? Er hat dir das letzte Mal ziemlich große Angst gemacht, wenn ich mich recht erinnere.“
„Julya... Julya... Lass dich einfach fallen... Ich werde dich auffangen ... du kannst mir vertrauen...“


Ich zuckte zusammen, als der unheimliche, graue Nebel wieder in meinem Kopf erschien und ich die Stimme des Todes erkannte. Meine Atmung beschleunigte sich, mein Herz schlug schneller und ich hatte niemanden, an dem ich mich festhalten konnte. Meine Hand flog beinahe schon zu meinem Amulett und ich spürte, wie es langsam aufleuchtete. Der Nebel in meinem Kopf lichtete sich und ich schüttelte den Kopf, um die letzten grauen Fetzen aus meinem Kopf zu bekommen. Der Herrscher der Dunkelheit saß nach wie vor auf der Treppe und lachte, als er sah, dass mich nicht einmal mehr der Tod erschrecken konnte.
„Ich weiß nicht, wie du das geschafft hast, in diesen wenigen Wochen so stark zu werden und ich bin mir ziemlich sicher, dass der Preis, den du dafür bezahlt hast, verdammt hoch war. Oder?“
Er sah mich an und ich wusste, dass er Ian meinte. Ich biss die Zähne zusammen und sagte nichts.
„Nicht alle hätten tun können, was du getan hast. Es bedarf einer ungeheuren inneren Stärke, einen Menschen, der einem so viel bedeutet und den man so sehr liebt, so heftig von sich zustoßen. Und dann auch noch in Kauf zu nehmen, dass dieser Mensch einem nie verzeiht.“
„Das Wissen, dass man ihn nie wiedersehen wird, erleichtert das ganze ein bisschen.“, meinte ich und schlenderte auf die Treppe zu.
Ich hatte keine Ahnung, was genau hier lief, doch ich hatte das Gefühl, dass er nicht einfach versuchen würde, mich zu töten, was mich irgendwie irritierte. Vorsichtig und mit genügend Abstand setzte ich mich ebenfalls auf die Treppe.
„Aber du vermisst ihn trotzdem.“
Das war keine Frage und auch keine Annahme, es war eine Feststellung und dass ich nicht antwortete, sondern nur vor mich hin starrte, bestätigte es ihm.
„Du hast eine schwere Entscheidung getroffen. Und ich glaube, du bist dir über die Folgen noch gar nicht ganz im Klaren.“
Dieses Mal lachte ich.
„Ich wünschte, ich wäre mir über die Folgen nicht im Klaren, dann würde ich mich vielleicht sogar darauf freuen.“
Zum ersten Mal überhaupt drehte ich mich zu dem Mann, der mein Leben zerstört hatte und es auch beenden wollte, um und sah ihn an. Er sah ganz anders aus, als ich erwartet hatte. Ich hatte erwartet, dass der Mann, der mich töten wollte, um das Reich meiner Mutter zu übernehmen, und der so mächtig war, dass er Angst und Schrecken verbreitete, großgewachsen und bösartig mit dunklen Augen und einer gemeinen Ausstrahlung war. Doch die Wirklichkeit sah anders aus.
Der Herrscher der Dunkelheit war ein alter, gebrechlicher Mann, seine Augen waren farblos und sein Haar weiß. Die Gewänder, die er trug, waren sandfarben und hingen an ihm herunter, als würden sie nur ein Gerippe verbergen. Das einzige, was an ihm auffiel, war das Amulett, das er um den Hals trug und aus dem alle Macht, die er besaß, stammte.
„Wie kann es sein, dass ein Mann, der mir bei unserer ersten Begegnung so bedrohlich und sogar tödlich vorkam, in Wirklichkeit ein alter Mann ist?“, fragte ich ihn und sah ihn an.
Er lachte laut auf und sah mich dann an.
„Es ist in der Welt, in der du aufgewachsen bist, wesentlich einfacher, eine Illusion zu erschaffen als in dieser Welt. Hier hingegen kann ich mich nicht hinter einer Illusion verstecken. Doch für manche Männer“
Er lachte.
„reicht es, wenn du in einer dunklen Ecke stehst.“
Dann seufzte er.
„Weißt du, was der größte Unterschied zwischen uns beiden ist?“
Er sah mich an und wartete auf eine Antwort, also schüttelte ich den Kopf.
„Nein.“
Er nahm sein Amulett in die Hand und betrachtete es.
„Siehst du dieses Amulett?“
Er nahm es vom Hals und hielt es, so, dass ich es sehen konnte, jedoch keine Chance hatte, es ihm aus der Hand zu nehmen. Mein Blick heftete sich darauf und ich spürte, wie mein Puls schneller schlug.
„Es hat deiner Großmutter gehört. Sie war meine Schwester und kam aus dem normalen Bürgertum, sie hätte deinen Großvater also eigentlich niemals heiraten dürfen.“
Mein Blick schoss in die Höhe und ich sah ihn an, doch er ignorierte es.
„Doch dein Großvater hat sie wirklich geliebt und hat alles dafür getan, sie heiraten zu können. Er hat sie schließlich auch geheiratet, wie du sicher bemerkt hast. Trotz dessen, dass sie eine bürgerliche war. Er hat einfach so lange gewütet und geschrieen, er hat sogar gedroht, den Thron und die Krone abzulegen -und das wäre eine Katastrophe gewesen, denn er war der einzige Sohn seiner Eltern und sein Vater war schon verstorben, weshalb der Thron dann leer geblieben wäre- bis seine Ratgeber nachgaben und es ihm erlaubten, sie zu heiraten. Danach wollte er, dass seine Kinder, sollten sie sich mal in einen bürgerlichen verlieben, nicht die selben Schwierigkeiten durchmachen mussten wie er, nur um glücklich werden zu können. Also zwang er seine Berater dazu, ein neues Gesetz zu schreiben...“
Ich war mir nicht sicher, ob er die Wahrheit sagte, doch das, was er sagte, fesselte meine volle Aufmerksamkeit und ich spürte, wie meine Atmung schneller ging, als ich erkannte, worauf das hinauslief. Was das bedeutete.
„Meine Familie war wahnsinnig stolz darauf, dass ein Mitglied aus unserer kleinen, bescheidenen Familie nun Königin war. Wir durften sie besuchen, wann immer wir wollten. Naja, jedenfalls bis zu ihrem Tod...“
Ich konnte hören, dass er mit den Zähnen knirschte und fragte mich, was wohl passiert war. Plötzlich sah mich der Herrscher der Dunkelheit wieder an.
„Hat deine Mutter dir je von deiner Großmutter erzählt?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Konnte sie nicht. Aber meine Tante hat mir erzählt, was für ein wundervoller Mensch sie war. Und was für eine noch bessere Mutter.“
Der Herrscher der Dunkelheit schien für einen Moment die Augen zu schließen und zu lächeln.
„Ja, Maéva war ein reizendes kleines Mädchen, immer so voller Freude und Energie. Hat sie dir je von dem Tod ihrer Mutter erzählt?“
Ich schüttelte den Kopf. Irgendwie wurde die Situation immer abstruser. Ich saß mit dem Herrscher der Dunkelheit auf der Treppe zusammen und er erzählte mir Geschichten über meine eigene Familie, zu der er auch noch irgendwie gehörte. Und obwohl ich wusste, dass er es nicht aufgegeben hatte, mich töten zu wollen, saß ich hier ganz ruhig neben ihm und hörte ihm ganz gespannt zu. Nach all den Jahren der Lügen und der Heimlichkeiten war er der erste Mensch, der mir die Wahrheit sagte und das ganz ohne, dass ich ihn zwang.
„Ihre Mutter starb bei einem tragischen Reitunfall, in der Blüte ihres Lebens. Cathrin war gerade erst 7 und Maéva war 5, als sie ihre Mutter verloren.“
Ich nickte, doch wirklich zuhören tat ich nicht mehr. Seit er erwähnt hatte, dass meine Großmutter eine Bürgerliche gewesen war, spuckte ein Gedanke durch meinen Kopf, der mich einfach nicht mehr los ließ.
Es gab ein Gesetz, das mir erlauben würde, mit Ian zusammen zu sein!


„Nach diesem Reitunfall wurde meiner Familie jeder Kontakt zu dem König oder auch Cathrin und Maéva verboten. Dabei gehörten sie zu unserer Familie!“
Ich hörte die Empörung aus seiner Stimme, doch meine Gedanken drehten sich immer noch um dieses Gesetz.
„Der König wusste nichts von dem Verbot, denn seine Berater hatten es ohne sein Einverständnis verhängt. Nachdem ich einen Monat lang versucht hatte, mit dem König zu sprechen und jedes Mal abgewiesen worden war, gab ich es auf. Das einzige, was ich jetzt noch von meiner angeheirateten und königlichen Verwandtschaft hatte, war dieses Amulett.“ Er sah mich an und ich hielt den Atem an, denn etwas hatte sich verändert.
„Du glaubst gar nicht, wie erstaunt ich war, als ich raus fand, welches Amulett mir meine Schwester hinterlassen hatte und welche Kräfte es besaß.“
Keuchend stand ich auf und starrte auf das Amulett.
Ich konnte die Macht, die es plötzlich sammelte, spüren und es gefiel mir nicht, wie es zu leuchten begann. Schnell wich ich zurück und presste mich gegen eine der Säulen.
„Dir war klar, dass ich dich trotz allem töten würde, oder? Natürlich, du bist schließlich ein kluges Mädchen. Auch wenn du nicht weißt, warum.“
Seufzend stand er auf und wirkte noch dünner und gebrechlicher als vorher.
„Wenn mich nicht alles täuscht, wird dir schon dein Leben lang eine Erklärung vorenthalten. Deine Tante hat dir nie erzählt, was mit deinen Eltern passiert ist oder warum du nicht bei ihnen aufwachsen kannst. Ian hat dir anfangs nicht alles, was er wusste, erzählt. Dann hat er dir nicht sagen wollen, was Mathew ihm gesagt hatte. Lauter Geheimnisse, die dir vorenthalten wurden. Und das ist noch nicht einmal alles.“
Er kam langsam auf mich zu und ich wich immer weiter zurück.
„Deine Mutter hat dich, als du gerade einmal ein paar Stunden alt warst, weggegeben.“ „Das musste sie tun, sie hatte keine andere Wahl.“, flüsterte ich und hatte das dringende Bedürfnis, meine Mutter zu verteidigen.
„Aber sollte sie dann nicht unglaublich glücklich darüber sein, dich wieder zu haben? Stattdessen sehnt sie sich nach ihrem Mann und opfert dich, um an das Amulett zu kommen. Was ist das für eine Mutter?“
Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, je näher er mir kam. Was auch immer er mit dem Amulett tat, ich konnte nichts dagegen tun.
„Was ist das für eine Mutter, die ihr einziges Kind auf eine so sinnlose Mission schickt?“, flüsterte er leise und stand nun so dicht vor mir, dass ich seinen Atem auf meinen Wangen spüren konnte.

20


„Eine Mutter, die nicht davor zurück schrecken würde, ihren eigenen Onkel zu töten, sollte er nicht sofort von ihrer Tochter weg gehen.“, flüsterte Cathrin wütend und hielt ein Schwert zwischen die Schulterblätter ihres Onkels.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich sie an und konnte nicht glauben, wie gefährlich meine Mutter aussah.
„Cathrin. Ich hatte ganz vergessen, dass deine Mutter dir beibrachte, wie man mit einem Schwert kämpft und dass du dieses Talent hast, dich anzuschleichen.“
„Vergiss nicht, von wem meine Mutter es gelernt hat.“, fauchte sie wütend und drückte das Schwert ein kleines bisschen fester in seine Schulterblätter.
„Ich bitte dich, Cathrin. Lass mich dich wenigstens ansehen, wenn du mich töten willst.“ „Wer sagt, dass ich dich töten will?“, flüsterte sie und senkte das Schwert weit genug, damit er sich umdrehen konnte.
„Dreh dich um. Aber langsam!“, wies sie ihn an und er gehorchte.
Er stand nun direkt vor mir, mit dem Rücken zu mir und das Amulett war zum Greifen nahe...
Doch irgendetwas hielt mich zurück.
„Wie lange bist du schon hier?“, fragte er und sah Cathrin an und es schien, als hätte er mich vergessen, doch ich wusste, dass es nicht so war.
„Lange genug, um einige interessante Dinge zu erfahren.“
Sie senkte das Schwert, hielt es aber so, dass sie es jeder Zeit wieder gegen ihn benutzen konnte.
„Nicht einmal ich wusste, dass Mutter eine Bürgerliche gewesen ist. Und ich wusste schon mehr, als gut für mich war.“
Sie ließ ihren Onkel keine Sekunde aus den Augen. Ich blieb stehen, wo ich war. Wenn er mich umbringen wollen würde, wäre es ein Fehler, hinter ihm weg zu gehen, außerdem war ich so in Reichweite des Amuletts.
„Bei allem, was du meiner Tochter erzählen musstest, hast du das wichtigste vergessen. Du hast ihr nichts über das Amulett erzählt.“
Der Herrscher der Dunkelheit (ich konnte mich einfach nicht daran gewöhnen, dass er mein Großonkel war) lachte leise vor sich hin.
„Da hast du recht. Ich hatte noch keine Zeit dafür. Außerdem wollte ich es ihr viel lieber zeigen.“
Noch bevor ich irgendetwas spüren konnte, hatte Cathrin ihr Schwert in der Hand und zielte damit auf seine Brust.
Wag es nicht, meiner Tochter das anzutun!

“, schrie sie schon beinahe.
Irritiert sah ich Cathrin an und versuchte zu erraten, was genau er mir nicht antun sollte, doch ich hatte ausnahmsweise mal absolut keine Ahnung, worum es hier ging.
„Du willst deine Tochter beschützen. Das ist löblich. Aber du kannst sie nicht vor allem beschützen.“
Cathrin funkelte ihn an.
„Aber ich werde es wenigstens versuchen.“
Ohne ihren Onkel aus den Augen zu lassen oder auch nur das Schwert ein wenig zu senken, sprach sie mit mir.
„Dieses Amulett, das mein Onkel um den Hals trägt, gehörte einst der Königsfamilie. Er hat also genau genommen gar kein Recht, es zu tragen.“, fügte sie verbissen hinzu. „Dieses Amulett wurde aus einem einzigartigen Stein hergestellt, der niemals die königlichen Hallen hätte verlassen dürfen. Ich weiß nicht genau, warum Mutter es dir gegeben hat, doch ich bin mir sicher, dass sie es dir nicht gegeben hatte, damit du ihre Familie auslöschst!“
Bevor er irgend etwas sagen konnte, meldete ich mich zu Wort.
„Okay, und warum hätte dieser Stein die königlichen Hallen nie verlassen dürfen?“
Cathrin unterdrückte ein sanftes Lächeln.
„Dieser Stein stammt noch aus der Entstehungszeit, aus der auch unsere Kräfte stammen. Es hat die Eigenschaft, Kräfte, die seiner Kraft gleichen, aufnehmen zu können und sie seinem Träger hinzuzufügen -vorrausgesetz, die Kräfte wurden vorher freigesetzt.“
„Also der eigentliche Besitzer getötet.“, flüsterte ich und atmete tief durch.
Cathrin sagte nichts, doch das brauchte sie auch nicht.
„Deshalb sollte das Amulett auch nicht in die falschen Hände geraten. Es wird dadurch einfacher, uns zu vernichten. Und wenn niemand mehr mit der Ursprungskraft lebt, wird auch unsere Welt sterben.“
Ich runzelte die Stirn und Cathrin erklärte weiter.
„Der einzige Grund, warum es in diesem Land noch immer eine Königsfamilie gibt, ist der, dass dieses Land noch immer eine Königsfamilie braucht. Die Kräfte, die wir haben, halten das ganze Königreich am Leben. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir unsere Kräfte kontrollieren können. Nicht nur unser Leben hängt davon ab, sondern auch das Leben aller anderen.“
Ich schluckte schwer, als mir bewusst wurde, was für eine Verantwortung auf mir lastete. „Also, warum hat sie es dir gegeben? Ich weiß, dass sie einen guten Grund hatte, ich weiß aber nicht, welchen, deshalb wirst du es mir jetzt sagen.“
Sie konzentrierte sich wieder auf ihren Onkel und ich brauchte einen Moment, um all die neuen Informationen zu verarbeiten. Ich hörte den Herrscher der Dunkelheit lachen und schob die Gedanken beiseite. Auch wenn Cathrin ihn gefragt hatte, interessierte es mich genauso.
„Sie hat es mir gegeben, weil sie wusste, dass es im Schloss nicht mehr sicher war.“
„Und bei dir genau so wenig.“, murmelte sie leise und sah mich für einen Sekundenbruchteil an. Mir klappte der Mund auf. Dann klappte ich den Mund wieder zu und nickte vorsichtig.
„Warum war es im Schloss nicht mehr sicher?“
„Die Berater deines Vaters waren wohl nicht so vertrauenswürdig, wie dein Vater immer dachte.“
„Das ist nicht wahr und das weißt du.“
„Mag sein, aber deine Mutter war sich sicher, dass es in Gefahr war, und wenn sie nicht ihrem großen Bruder vertrauen konnte, wem dann? Ich habe getan, worum sie mich gebeten hat- jedenfalls, bis ich raus fand, was ich damit tun konnte. Meine Schwester wollte das Schloss von Korruption säubern, ich vollende nur, was sie begonnen hat. Und weswegen sie sterben musste.“
Cathrins Augen weiteten sich überrascht und sie ließ für einen Moment ihre Vorsicht fallen.
„Du meinst...?“
„Der Unfall war kein Unfall. Er war geplant und er sollte tödlich enden. Jemand wollte deine Mutter töten und hat es auch geschafft.“
„Aber...“
Cathrin stand wie erstarrt da, und schloss für einen Moment die Augen, als ich spürte, wie sich etwas veränderte.
„Vater.“, flüsterte sie und wurde blass.
Schlagartig wurde mir klar, dass er irgendetwas mit dem Amulett machte, um uns zu schwächen, denn Cathrin geriet ins Wanken, bis sie schließlich auf die Knie sank.
„Was machst du da?“, fragte sie und versuchte, sich wieder aufzurichten, doch sie schaffte es nicht.
„Das Amulett hat mehr Eigenschaften, als nur freigesetzte Kräfte aufnehmen zu können, meine liebe Cathrin. Es kann die noch nicht freigesetzten Kräfte an sich binden.“
Cathrin seufzte und ließ den Kopf sinken. „
Deshalb fühle ich mich so schwach.“
Ich sah meine Mutter an und richtete mich ein wenig auf. Ich konnte spüren, dass sich meine Glieder schwerer anfühlten, doch es traf mich nicht so hart wie Cathrin. So leise wie möglich stellte ich mich hin und stieß mich von der Säule ab. Es war anstrengender, als es sein sollte, doch immer hin schaffte ich es noch, mich zu bewegen.
„Deshalb fühlst du dich so schwach. Und deshalb hast du das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.“
Bevor ich es mir anders überlegen konnte, sprang ich dem Herrscher der Dunkelheit, der sich zu sehr auf Cathrin konzentrierte, von hinten auf den Rücken, krallte mich fest und griff nach dem Amulett. Bevor ich es lösen konnte, warf er mich vorne über ab und ich knallte gegen die Wand, doch wenigstens hatte ich das Amulett in der Hand. Mit hämmerndem Kopf setzte ich mich wieder auf und sah verschwommen, wie Cathrin sich wieder aufrichtete.
„Nein!“
Der Herrscher der Dunkelheit schrie, als er feststellte, dass er das Amulett nicht mehr trug und wollte auf mich zu stürmen, doch Cathrin hielt ihn auf.
„Julya! Geh und zerstöre das Amulett! Er verliert dadurch auch all seine Kräfte! Geh!“ Mit einer Hand an der Wand und mit der anderen das Amulett umklammernd, stand ich auf und taumelte los. Ich musste härter mit dem Kopf gegen die Wand geknallt sein, als ich gedacht hatte, denn in meinem Kopf war ein stechender Schmerz, der meine Sicht verschwimmen ließ. An der Wand entlang tastete ich mich vor, immer weiter weg von Cathrin und ihrem Onkel. Ich sollte das Amulett zerstören, doch ich hatte keine Ahnung, wie ich das machen sollte. Ich wusste gerade nicht einmal, wie ich aus der Halle raus kommen sollte. Doch nach und nach klärte sich mein Blick wieder und ich lief schneller, bis ich die Tür erreicht hatte. Ich stolperte durch die Tür und suchte etwas, um das Amulett zu zerstören, doch der Gang war leer.
„Mist! Mist! Mist!“
Ich lehnte mich gegen die Wand und atmete tief durch, mein Kopf tat noch immer weh und ich hatte nichts, womit ich das Amulett zerstören konnte. Ich konnte das Amulett in meiner Hand pulsieren spüren und wusste, dass ich es schnell zerstören musste oder wenigstens los werden, doch ich wusste nicht, wie ich es zerstören sollte.
„Jules!“
Mathew kam den Gang entlang auf mich zu gerannt und blieb vor mir stehen, um mir ins Gesicht zu sehen.
„Alles okay?“
Ich schüttelte den Kopf und bereute es sofort.
„Ich muss das Amulett zerstören, doch ich weiß nicht, wie. Und ich bin mit dem Kopf gegen die Wand geknallt. Mein Kopf tut immer noch weh.“
Mathew umfasste mein Gesicht und sah mir in die Augen.
„Okay, okay, ganz ruhig. Ganz ruhig. Die Kopfschmerzen werden schon wieder verschwinden und das Amulett... Was musst du tun? Wie kann ich dir helfen?“
Ich seufzte.
„Keine Ahnung. Zu beidem. Und Cathrin kämpft da drin gegen ihren eigenen Onkel, also kann sie mir auch nicht helfen.“
Mathews Kopf schoss zur Tür und ich musste trotz allem Lächeln.
„Nimm dir irgendetwas, womit du dich verteidigen kannst und geh schon, Dad. Ich muss es wahrscheinlich sowieso selbst raus finden und selbst zerstören.“
Mathew küsste mich auf die Stirn und stand auf.
„Du schaffst das, Schatz.“
Ich nickte und Mathew rannte los.
„Lass dich aber nicht umbringen!“
Ich konnte ihn lachen hören und seufzte. Mein Kopf pochte nach wie vor und ich spürte, wie ich langsam matter wurde. Ich musste mich beeilen. Ich sah mich um. Ein Stück von mir entfernt gab es eine Ritterrüstung, die eine Lanze hielt. Langsam ging ich darauf zu und nahm die Lanze. Das Amulett legte ich vor mir auf den Boden und zielte mit der Lanze genau darauf. Dann stieß ich zu. Doch die Lanze prallte ab, ohne auch nur einen Kratzer zu hinterlassen und das einzige, was ich erreichte, war, dass mein Handgelenk knackte. „Au! Verdammt!“, fluchte ich und presste mein Handgelenk gegen die Brust.
Dann kniete ich mich seufzend hin und betrachtete das Amulett. Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn es sich einfach hätte zerstören lassen.
Ich lehnte mich gegen die Wand und starrte das Amulett an. Ich musste es also mit meinen Kräften zerstören. Und das in meinem angeschlagenen Zustand, denn mein Kopf drohte noch immer zu bersten, und ich wusste, dass diese Aufgabe mich noch mehr schwächen würde. Ich konnte Cathrin und Mathew mit dem Herrscher der Dunkelheit kämpfen hören und wusste, dass ich nicht viel Zeit hatte.
Erschöpft kniete ich mich vor das Amulett, atmete tief durch und schloss die Augen. Ich musste meine Kräfte sammeln, um das Amulett zerstören zu können, doch ich war zu erschöpft, um mich lange genug konzentrieren zu können. Und ich hatte nicht mehr genug Kraft, die ich nutzen konnte, um das Amulett zu zerstören. Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen und zwang mich, an etwas schönes zu denken.
Strahlend blaue Augen funkelten mich glücklich an, meine Hände fuhren durch seine schokobraunen Haare und ich spürte seine warme Haut auf meiner...


Ich konnte spüren, wie eine angenehme, füllende Wärme meine Brust füllte und mir neue Kraft gab.
Ein liebevolles Lächeln kam mir über die Lippen und ich behielt es vor meinem geistigen Auge, ohne die Augen zu öffnen und legte meine Hände auf das Amulett, um meine Kräfte hinein fließen zu lassen und es so von innen heraus zu zerstören.
Doch das Amulett wehrte sich. Es wollte die Kräfte, die es zerstören würden, nicht aufnehmen.
Ich atmete tief ein und verstärkte meine Kraft, so weit ich konnte.
Er zog mich an sich und ich spürte seine Hände auf meinem Rücken, seine Lippen lagen an meinem Hals. Ich lächelte, denn das war alles, was ich wollte. Was ich brauchte...


Ich konnte spüren, wie meine Kräfte langsam, fast widerwillig endlich in das Amulett sickerten. Und ich spürte ebenfalls, wie mir der Schweiß auf die Stirn trat. Wenn ich das Amulett nicht bald zerstört hatte, würde es mich zerstören. Ich atmete tief durch und verstärkte den Druck auf das Amulett. Ich würde es zerstören, allein schon für Cathrin, auch wenn es mich umbringen würde. Ich konzentrierte mich auf das, was mich so glücklich gemacht hatte und missachtete den Schweiß auf meiner Stirn, das Zittern meiner Hände und die Tatsache, dass mein Atem viel zu unregelmäßig ging vor Anstrengung.
Seine Fingerspitzen strichen mir sanft über die Wange und ich fühlte dieses Prickeln, als er sich ein wenig streckte, die Decke verrutschte und seinen nackten Oberkörper nicht länger verbarg. Er lächelte mich von oben herab an und beugte sich langsam zu mir runter...


Ich zwang meine Kräfte in das Amulett. Ich hatte meine Augen noch immer geschlossen, um mich besser auf mein Bild konzentrieren zu können, doch als ich es leise knacken hörte, riss ich die Augen auf. Ich sah einen kleinen, sehr feinen Riss im Stein des Amuletts und mein Herz klopfte schneller vor Freude. Ich hatte es bald geschafft. Ich musste nur noch ein bisschen mehr...
„NEIN!“, hörte ich Cathrin und Mathew panisch schreien, als ich ein Surren hörte und einen plötzlichen Schmerz im Rücken zwischen den Schulterblättern spürte. Ich schnappte vor Schmerz nach Luft und geriet ins Wanken, doch ich schaffte es, nicht umzukippen. Ich spürte, wie warmes Blut durch mein T-shirt sickerte und meinen Rücken hinunter lief, doch ich gab nicht auf. Ich sah das Amulett jetzt vor mir und ignorierte den Tumult um mich herum. Der Riss weitete sich aus und ich wusste, dass es nicht mehr lange dauerte, bis der Stein zerbrechen würde -vorrausgesetzt, dass ich noch so lange durchhielt. Das Zittern meiner Arme breitete sich auf meinen ganzen Körper aus und ich hatte Mühe, mich weiterhin auf das Amulett zu stützen. Langsam, viel zu langsam für mich, wurde der Riss immer länger und durchzog ungefähr die Hälfte des Steins. Ich schloss die Augen und ignorierte den Schmerz in meinem Rücken und das warme Blut, das langsam mein T-shirt hinunter lief und konzentrierte mich ein letztes Mal.
Ich hörte sein leises Lachen direkt neben mir und drehte mich auf die Seite, um ihn ansehen zu können. Sanft zog er mein Kinn hoch und drückte seine Lippen auf meine. Dann sah er mich an. „Ich liebe dich, Jules.“, flüsterte er zärtlich und küsste mich liebevoll.


Trotz des Schmerzes in meiner Schulter verlagerte ich mein Gewicht auf meine Arme und presste meine Kräfte noch weiter in das Amulett, bis der Stein schließlich mit einem letzten, endgültigen Knacken entzwei brach.
Ich hörte einen lauten, entsetzten Schrei, dann konnten meine Arme mein Gewicht nicht länger tragen und ich sank zu Boden. Ich lag keuchend auf dem Boden und mein Blick verschwamm, doch ich erkannte, dass der einst so mächtige Herrscher der Dunkelheit entsetzt in sich zusammen sank.
Mein Kopf tat weh, mein Rücken tat weh, ich blutete ziemlich schlimm und meine Kräfte hatte ich aufgebraucht, um das Amulett zu zerstören.
„Jules! Oh, Jules. Jules! Hey, kleines, bleib wach, bitte. Komm schon, du musst die Augen offen lassen. Jules!“
Mathew richtete mich auf.
„Verdammt. Cathrin! Er hat sie im Rücken getroffen!“, rief Mathew und ich konnte die Angst in seiner Stimme hören.
„Nein! Nein, nein, nein, nein, nein! Was hast du getan?!“
Cathrin kniete sich neben mich und strich mir die Haare aus der Stirn.
„Julya.“, flüsterte sie leise und ich hörte das Zittern in ihrer Stimme.
Unter allergrößtem Kraftaufwand drückte ich ihr das Amulett in die Hand. Sie sah es an und lachte leise.
„Jules.“
Sie strich mir über den Arm und wischte sich eine Träne von der Wange.
„Wir müssen sie hier weg bringen. Wir müssen... wir müssen sie... sie verarzten und...“ „Wir müssen den Pfeil aus ihrer Schulter ziehen.“, meinte Mathew ruhig und ließ mich wieder auf den Boden sinken, sodass ich seitlich lag.
„Schätzchen, das... das wird gleich weh tun, okay?“
Cathrin strich mir übers Haar, ich war zu schwach, um ihr zu antworten.
„Okay, ich zieh ihn jetzt raus.“, meinte Mathew und legte eine Hand an meine Schulter und mit der anderen umfasste er den Pfeil. Er zog und ich wimmerte vor Schmerz.
„Schsch, ist ja gut, Schatz. Es ist vorbei. Es wird alles wieder gut.“
Ich wusste, dass Cathrin es hoffte, doch es war mir egal, wenn nicht alles wieder gut werden würde. Ich war erschöpft, mir tat alles weh und alles, was ich wollte, war schlafen.
Stimmte gar nicht.


Alles, was ich wollte, war Ian. Und wenn ich schlief, war er bei mir. Also ließ ich mich in die Dunkelheit sinken und versank glücklich in einer Welt ohne Schmerzen und dafür mit Ian.

Obwohl ich mich dagegen wehrte, konnte ich spüren, wie mein Bewusstsein langsam erwachte. Und mit dem Erwachen kehrte auch der Schmerz zurück. Erst war es nur ein dumpfes Gefühl, ein leichter Druck in meinem Kopf, meinem rechten Handgelenk und meinem Rücken, dann steigerte es sich über ein dumpfes Pochen langsam aber stetig zu einem stechenden Schmerz im Handgelenk und im Rücken während der Kopf bei einem dumpfen Pochen blieb. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und drehte mich unruhig hin und her, unfähig, die Augen zu öffnen.
„Julya. Julya, schsch, es ist alles okay. Es ist alles in Ordnung, mein Schatz. Du bist in Sicherheit. Es ist vorbei.“, flüsterte Cathrin mir leise ins Ohr und strich mir übers Haar. Flatternd öffnete ich die Augen und sah sie fiebrig an.
„Mathew, sie braucht etwas zu trinken.“, flüsterte sie noch leiser und drückte ihre Lippen auf meine Stirn.
„Wir müssen irgendwie ihr Fieber senken.“, flüsterte Mathew heiser und reichte ihr ein Glas Wasser.
„Ich weiß, aber wir müssen auch etwas gegen ihre Schmerzen tun. Sie leidet.“
„Habt ihr nicht irgendwelche Medikamente dagegen?“
Cathrin seufzte.
„Keine, die wir jetzt zur Hand hätten.“
„Verdammt. Und jetzt?“
Cathrin küsste mich auf die Stirn und stand auf.
„Jetzt müssen wir sie schlafen lassen und hoffen, dass das Fieber sinkt.“
„Und wenn das nicht funktioniert?“
Cathrin ging zu Mathew und drehte sich noch einmal seufzend zu mir um.
„Dann haben wir ein ernsthaftes Problem.“
Leise öffnete sie die Tür und die beiden ließen mich allein. Irgendwann war ich so erschöpft vom Hin- und -Herwerfen, dass ich trotz der Schmerzen wieder in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.
Als ich das nächste Mal aufwachte, fiel Sonnenlicht durch die Vorhänge und ich setzte mich vorsichtig auf. In meinem Kopf drehte sich für einen Moment alles und ich ließ mich zurück in die Kissen sinken. Erst, nachdem der Schwindel wieder nachließ, bemerkte ich das volle Ausmaß meiner anderen Schmerzen. Mein Handgelenk war bandagiert und ich erinnerte mich an das Geräusch, als es brach und zuckte zusammen. Mein Rücken tat weh und ich spürte die Wunde, spürte, wie es sich angefühlt hatte, als das Blut meinen Rücken hinunter gelaufen war und die Spitze des Pfeils sich immer tiefer in meine Haut gebohrt hatte. Meine Stirn glühte noch leicht, doch es war nichts, worüber man sich allzu große Sorgen machen musste. Ich drehte mich auf die Seite, vom Fenster weg, und überlegte, wie fit ich mich fühlte. Obwohl ich gerne aufgestanden wäre, musste ich mir eingestehen, dass das alles andere als eine gute Idee wäre. Ich rollte mich zusammen und schloss die Augen. Ich hörte, wie die Tür leise geöffnet wurde und jemand rein kam, doch ich blieb liegen und rührte mich nicht.
„Jules? Wie fühlst du dich?“
Mathew setzte sich neben mich auf die Bettkante und strich mir über die Haare.
„Ungefähr so wie dreimal umgebracht und immer noch nicht tot.“, flüsterte ich leise und versuchte, zu lächeln.
„Dein Fieber ist besser geworden. Das ist gut. Cathrin und ich hatten schon Angst, dass es schlimmer werden würde.“
Er legte den Arm unter meinen Kopf und ich rutschte näher an ihn, denn im Gegensatz zu mir fühlte er sich kühl an.
„Wie lange habe ich eigentlich komatös die Zeit verbracht?“, fragte ich ihn und stellte fest, wie matt meine Stimme jetzt schon wieder klang, obwohl ich nur ein paar Minuten wach war.
„Mehr oder weniger drei Tage. Aber Cathrin meinte, nachdem du dich so verausgabt hattest, wäre das normal. Du hast wirklich sehr viel Kraft gebraucht, um das Amulett zu zerstören.“
Ich dachte daran, wie erschöpft ich war, noch bevor ich anfing, das Amulett zu zerstören und musste ihm recht geben. Ich hatte mich total verausgabt.
„Und was hab ich alles verpasst?“
Mathew wollte gerade antworten, als die Tür aufging und Cathrin rein kam.
„Mathew, kannst du Julya und mich ... kurz allein lassen? Sie... sollte erfahren, was alles passiert ist, während sie geschlafen hat.“
Alarmiert durch ihren Ton richtete ich mich auf.
„Wieso? Was ist los?“
Mathew seufzte und küsste mich auf die Stirn.
„Klar. Aber reg sie nicht zu sehr auf. Sie ist in erster Linie deine Tochter.“, erinnerte er sie, küsste sie auf die Wange und ging.
„Was ist passiert?“, fragte ich sie und sah sie nervös an.
Cathrin antwortete nicht sofort, sie kam zu mir und setzte sich auf die Bettkante.
„Viel. Und das meiste davon... wird dir nicht gefallen. Und manches hat mit dir zu tun.“ „Dachte ich mir schon.“, murmelte ich und seufzte.
Gleich würde ich erfahren, wie meine vorbestimmte Zukunft aussehen würde. Und obwohl ich wusste, dass ich es nicht ändern konnte, und es auch nicht ändern wollte, traten mir die Tränen in die Augen.
Bevor Cathrin sie sehen konnte, unterdrückte ich sie und atmete tief durch.
„Als aller erstes wollte ich dir sagen, dass mein Onkel nun keine Bedrohung mehr darstellt. Er ist nur noch ein alter, wenn auch verbitterter, Mann und wartet zur Zeit in einer Zelle auf sein Urteil.“
Ich nickte und wartete darauf, dass sie fortfuhr, doch sie zögerte.
„Dein Großvater ... ist vor einigen Tagen gefunden worden. Er hatte einen Herzinfarkt und ist vor ein paar Stunden gestorben, weshalb ...“
„... so schnell wie möglich eine von uns gekrönt werden muss.“, flüsterte ich und spürte, wie Panik in mir aufwallte.
„Ich weiß, dass du das nicht machen willst, Julya. Deshalb habe ich die letzten Tage damit verbracht, dieses Gesetz, das mein Onkel erwähnt hat, zu finden. Und ich habe es gefunden.“
Ich sah sie mit großen Augen an und wagte es nicht, zu hoffen.
„Ich habe es gefunden und es ist noch gültig, weshalb ich Mathew nur noch offiziell hier heiraten muss und mich dann zur Königin krönen lassen kann.“
Sie lächelte mich an.
„Du musst also nicht dein Leben oder deine Zukunft aufgeben.“
Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen und bevor ich es verhindern konnte, schluchzte ich los und Cathrin nahm mich in den Arm. Sie hielt mich einfach nur fest und versuchte, mir zu erklären, dass ich ein ganz normales Leben führen könnte, wo auch immer ich wollte und dass ich wieder mit Ian zusammen kommen könnte, nachdem ich mich wenigstens zur Prinzessin krönen hatte lassen.
Doch sie verstand nicht, dass ich das nicht konnte. Ich hatte Ian so verletzt, so schlecht behandelt und ihm so gemeine Sachen gesagt, ich hatte ihm das Herz gebrochen und ihn dazu gebracht, mich zu hassen, weil ich geglaubt hatte, ihn nur dadurch retten zu können und weil ich dachte, dass wir sowieso nicht zusammen sein konnten.
Cathrin dachte, dass ich vor Freude weinte, doch die Wahrheit war:
Ich weinte, weil ich jetzt absolut keine Ahnung mehr hatte, was aus meiner Zukunft werden sollte.

21


„Ich verstehe nur noch immer nicht, warum meine Mutter sterben musste oder wer sie umbrachte. Ich habe alles versucht, doch es gab keine Hinweise darauf.“
Sie seufzte traurig und stand auf.
„Eine Sache wäre da noch. Die Hochzeit und die Krönungen sind für übermorgen geplant. Mathew und ich haben uns überlegt, dass wir gerne Lucy und auch Ian dabei hätten, sie haben niemanden mehr außer uns.“
Innerlich verkrampfte ich, doch ich schaffte es, zu nicken und sogar zu lächeln.
„Dann wird Dustin auch kommen wollen.“
Cathrin nickte und lächelte mich entschuldigend an.
„Ich weiß, dass das viel von dir verlangt ist, aber... Ich bin nicht annähernd so stark wie du und ich muss hier alles vorbereiten...“
Ich sah sie fassungslos an.
Bat sie mich gerade im Ernst, Lucy, Dustin und Ian abzuholen?!
Nach allem, was passiert war?!
„Ich weiß, dass es nicht einfach für dich ist, aber es geht leider nicht anders.“
Sie konnte mir nicht in die Augen sehen.
„Gleich kommt ein Arzt, der dich untersuchen wird. Er wird dir ein Elixier geben, dass dir zumindest die Müdigkeit nimmt, dann kannst du wieder aufstehen. Wenn der Arzt sein Okay gibt, kannst du sie heute Abend abholen, Lucy weiß Bescheid.“
Sie küsste mich auf die Stirn.
„Und wenn die Zeremonien vorbei sind, kannst du dich entscheiden, welches Leben du führen willst: Das mit deinem Vater und mir hier oder das mit Ian, Lucy und Dustin auf der Erde.“
Hieß im Klartext:
Entweder ich blieb hier und gab meinen freien Willen auf oder ich ging zurück nach Phoenix und litt jeden Tag Höllenqualen.
Keine der beiden Optionen gefiel mir wirklich gut und doch hatte ich keine andere Wahl, als mich für eins von beidem zu entscheiden.

Ich schaffte es gerade, meine Tränen weg zu wischen und mich wieder so weit zu beruhigen, als es an der Tür klopfte. Ein junger Mann lugte vorsichtig herein und lächelte mich schüchtern an.
„Verzeiht, Prinzessin. Kann ich herein kommen?“
Seine grünen Augen glichen zwei Smaragden und trotz seiner- für einen Arzt sehr ungewöhnlichen- Jugend konnte man sehen, dass er viel Erfahrung hatte. Ich lächelte schwach und nickte.
„Natürlich.“
Er trat ein und kam zögernd auf das Bett zu. Er war allerhöchstens 25 Jahre alt, also acht Jahre älter als ich, und sein Gesicht sah noch viel jünger aus. Er war großgewachsen und schlank und er bewegte sich, als sei er sich noch nicht ganz sicher, wie er seine Arme und Beine koordinieren musste. Alles in allem wirkte er ziemlich niedlich- auf eine merkwürdige, mir unbekannte Art und Weise. Er blieb vor dem Bett stehen und sah mich verlegen an.
„Äh...“
Ich hätte fast angefangen zu lachen, doch ich schaffte es, ein Lachen zu unterdrücken und mich etwas aufzusetzen.
„Sie können sich ruhig setzen. Ich nehme mal an, dass sie der Arzt sind, von dem meine Mutter gesprochen hat.“
Er wurde rot, als er merkte, dass er sich noch gar nicht vorgestellt hatte und setzte sich hastig auf die äußerste Bettkante.
„Natürlich, verzeiht. Ich bin der königliche Schlossarzt Doktor Ben Joseph.“
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und ließ seine Augen für einen Moment funkeln.
„Zu Euren Diensten, Prinzessin.“
Ich versuchte, das Lachen zu unterdrücken, doch es ging nicht.
„En- entschuldigt, dass ich so lache, aber es ging nicht anders.“, kicherte ich, als der schlimmste Lachanfall vorbei war und versuchte, tief durchzuatmen, um mich zu beruhigen. „Ihnen kann man nichts übel nehmen, Prinzessin. Außerdem zeigt Lachen, dass es Ihnen schon besser geht als noch vor ein paar Stunden.“
Er lächelte mich an und ich erwiderte sein Lächeln.
„Ihre Mutter bat mich, Ihnen dieses Elixier zu geben, damit sich Ihre Kräfte schneller regenerieren.“, meinte er plötzlich und bückte sich nach seiner Tasche.
Als er sich wieder aufrichtete, schien er distanzierter als zuvor. Er räusperte sich und nahm ein kleines, gläsernes Fläschchen aus seiner Tasche. In dem Fläschchen war eine dickflüssige, klebrige, giftgrüne Flüssigkeit und ich sah ihn mit hochgezogener Augenbraue und ungläubigem Blick an.
„Soll ich das allen Ernstes trinken?“
Er taute wieder ein wenig auf und lächelte mich amüsiert an.
„Ich weiß, es sieht ziemlich eklig aus, aber es schmeckt nicht halb so schlimm, wie es aussieht.“
„Das wäre allerdings immer noch verdammt eklig.“, gab ich zu bedenken und dieses Mal lachte er.
„Wenn es Euch so viel ausmacht, kann ich dafür sorgen, dass es nach Pfefferminze schmeckt. Falls es Euch dann leichter fallen würde, dieses Elixier zu trinken.“
Ich lächelte ihn dankbar an.
„Das wäre wundervoll.“
Ich sah ihn misstrauisch an.
„Schmeckt das dann wirklich nach Pfefferminz?“
Er sah mich an und lächelte.
„Bei uns gilt es als Straftat, die Prinzessin anzulügen. Oder ihr irgendetwas vorzuenthalten.“
„Das nenn ich mal eine sinnvolle Regelung.“, murmelte ich und dachte daran, wie Ian und ich uns gestritten hatten und ich diesen Brief gefunden hatte, nur weil er mir etwas vorenthalten hatte.
„Diese Kräuter lassen das Elixier besser schmecken. Ihr solltet es nur möglichst bald trinken, bevor die Wirkung der Kräuter wieder nachlässt.“
Er lächelte mich freundlich an und ich nahm ihm die Flasche, die er mir entgegen streckte, ab. Misstrauisch betrachtete ich die Flasche, bevor ich sie seufzend an die Lippen hob und mit einem Zug austrank.
„Wäh, ist das ekelhaft!“, würgte ich und hustete.
„Hat es nicht nach Pfefferminz geschmeckt, Prinzessin?“, frage mich Ben beunruhigt und wurde blass.
„Doch, doch. Aber nicht annähernd stark genug, um den ekelhaften Geschmack überdecken zu können.“, würgte ich hervor und suchte nach irgendetwas trinkbarem, mit dem ich den Geschmack los werden konnte. Ich fand das Wasserglas, das auf meinem Nachttisch stand und stürzte das Wasser hinunter.
„Okay, das hilft nicht.“
Ich verzog das Gesicht und Ben musste lachen.
„Wartet, ich habe ein Hustenbonbon, das helfen müsste.“, meinte er und wühlte grinsend in seiner Tasche herum.
Er zog ein kleines, silbernes Schächtelchen heraus und reichte es mir. Dabei fiel ein Zettel runter und automatisch griff ich danach.
„Was ist das?“, fragte ich ihn und hob ihm den Zettel hin, auch wenn ich meine Neugier nicht verbergen konnte. Ben lächelte mich an und reichte mir den Zettel wieder.
„Das Rezept der Bonbons. Es stammt von Eurer Großmutter. Sie hat es meinem Vater gegeben, damit er für Ihre Mutter und Ihre Tante diese Bonbons herstellte.“
Ich faltete den Zettel auseinander und vor Überraschung blieb mir die Luft weg.
„Das ist wirklich von meiner Großmutter?“, fragte ich ihn und sah ihn an.
„Ja.“
Er nickte und sah mich irritiert an.
„Wieso? Prinzessin?“
Ich atmete tief durch und beruhigte mich wieder. Ich unterdrückte das Zittern in meiner Stimme, als ich es ihm erklärte.
„Ich habe vor ein paar Tagen in... einem Fotoalbum einen Brief gefunden und ich dachte, es wäre von meiner Mutter, aber er war von meiner Großmutter.“
Ich sank in die Kissen zurück und konnte nicht glauben, was das hieß. Was das bedeutete.
Es bedeutete, dass nicht Cathrin das alles vorrausgesehen hatte, sondern meine Großmutter.
Es bedeutete, dass meine Großmutter schon vor mehr als 40 Jahren

wusste, dass es eines Tages so kommen würde, auch wenn sie dachte, dass es ihre Tochter und nicht ihre Enkelin traf.
E bedeutete, dass meine Großmutter irgendwie eine Möglichkeit gefunden hatte, in die andere Welt zu kommen.
Und es bedeutete, dass ich endlich wusste, warum jemand meine Großmutter umgebracht hatte.
So schnell ich konnte sprang ich auf und ignorierte den Schwindel, der durch das zu schnelle Aufstehen ausgelöst wurde, und rannte zur Tür. Es war mir egal, dass ich barfuß und nur in einem leichten, weißen Nachthemd durch die Flure rannte, es war mir egal, dass mich alle anstarrten und es war mir auch egal, dass ich verrückt aussehen musste, wie ich so um die Ecken preschte.
Ich musste mit dem Onkel meiner Mutter reden, und zwar sofort. Er war zwar ein Mistkerl, der versucht hatte, mich umzubringen, doch er war vermutlich auch der einzige, der die gesamte Wahrheit kannte. Und ich musste es wissen.
„Was hat sie dir erzählt?“
Keuchend sank ich vor der Gefängniszelle auf die Knie und sah ihn an, die Wachen hinter mir sahen irritiert von mir zu ihm. Ich konnte sehen, wie der ehemalige Herrscher der Dunkelheit in seiner dunklen Ecke saß und grinste, bevor er sich dazu aufraffen konnte etwas näher zu rutschen.
„Ich weiß nicht, was Ihr meint, Prinzessin.“, antwortete er und warf den Wachen einen eindeutigen Blick zu.
Seufzend stand ich auf und drehte mich zu den Wachen um.
„Verschwindet. Sofort.“
Sie wollten widersprechen, doch ich stemmte die Hände in die Hüften und funkelte sie an. „Sofort

!“
Sie verneigten sich kurz, drehten sich um und gingen, wenn auch zögerlich.
„Sie war eine Seherin, hab ich recht? Deine Schwester. Sie konnte in die Zukunft sehen.“ Ich setzte mich wieder hin und sah meinen Großonkel an.
„Wie hast du es rausgefunden? Bisher hat es noch niemand entdeckt, noch nicht einmal Cathrin, obwohl sie ein Talent dafür hat, etwas heraus zu finden.“
Er lächelte mich an, doch ich ignorierte es.
„Zufall.“, antwortete ich nur und sah ihn weiterhin an.
Er seufzte, bevor er mir antwortete.
„Ja, war sie. Sie hatte diese Gabe schon seit ihrer Geburt, doch meine Eltern hielten es für besser, es geheim zu halten. Dann, als sie 18 war, traf sie den König und er verliebte sich in sie. Er brachte es durch, sie ins Schloss zu holen und weil sie ihn liebte, erzählte sie ihm von ihrer Gabe. Er akzeptierte es und das war es. Sie bekamen zwei Kinder und führten eine glückliche Ehe und ein schönes Leben. Doch eines Tages stand sie plötzlich vor meiner Tür, total verängstigt und aufgelöst, mit dem Amulett in der Hand und meinte zu mir, dass ich ihr helfen müsste, das Leben ihrer Töchter zu retten. Also bat ich sie in mein bescheidenes Haus und sie erzählte mir von ihrer letzten Vision.“
Er seufzte und lehnte den Kopf gegen die Wand.
„Sie hatte gesehen, wie eine Macht, die sie nicht erkennen konnte, ihre Töchter töten würde. Genau genommen hat sie gesehen, wie ein dunkler Schatten eine nach der anderen im Schlaf tötet. Und zwar auf so grauenvolle Weise, dass sie die Wachen vor den Zimmern der beiden hat verdoppeln lassen.“
Er lachte dunkel.
„Aber... Es kommt niemand ins Schloss, sobald die Tore geschlossen wurden. Und zu den Gemächern schon zweimal nicht. Es sei denn...“
Ich riss die Augen auf, als mir dämmerte, was das bedeuten musste.
„Jemand aus dem Schloss hat meine Mutter und meine Tante töten wollen?“, fragte ich ihn und sah ihn mit riesigen Augen an.
„Ja und nein. Jemand aus dem Schloss, ja, aber nicht jeder aus dem Schloss kann auch nur in die Nähe der Gemächer der Prinzessinnen kommen. Es gibt nur eine handvoll von Leuten, die wussten, wo der Zugang zu den Gemächern lag.“
„Wer gehörte zu diesen Leuten?“, fragte ich ihn und es war mir egal, dass er hören konnte, wie dringend ich es wissen wollte. Er seufzte.
„Lass mich mal kurz überlegen... Die Prinzessinnen wussten natürlich, wie sie in ihre Zimmer kommen. Zudem wussten es noch... hm... zwei Kammerzofen, deine Großmutter und, natürlich, der König höchstpersönlich. Ansonsten wusste es absolut niemand.“
Er betonte ‚absolut’ auf eine Weise, die mir deutlich machte, dass es wirklich nur diese vier Personen gewusst hatten. Und er wusste auch, wer genau es war.
„Wer?“, fragte ich ihn und sah ihm genau in die Augen.
„Wer von diesen vieren war es?“
Ich hatte einen üblen Verdacht, doch ich wagte es nicht einmal, diesen in Gedanken auszuformulieren.
„Oh, Prinzessin. Du enttäuschst mich. Bisher hast du immer schön jedes Puzzleteil an das andere gesetzt und fast das gesamte Rätsel alleine gelöst.“
Er sah mich an und seine Augen funkelten.
„Du weißt, wer es war. Du willst es dir nur nicht eingestehen.“
Ich sah ihn an und wusste, dass er meinen Verdacht nur bestätigte.
„Aber warum sollte der König seine eigenen Töchter töten wollen?“
„Julya, also nun wirklich. Komm schon, streng dein hübsches Köpfchen mal ein bisschen an! Was verleitet Menschen, und vor allem Männer dazu, die Menschen, die einem am meisten bedeuten, zu töten?“
„Macht.“, stöhnte ich und konnte es nicht fassen.
Ich lehnte den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen.
„Warte... Wenn er seine Töchter, die ja die Ursprungsmagie in sich tragen, töten wollte, indem er ihr Blut vergießt... Er wollte sie töten, um ihre Magie in sich aufnehmen zu können?!“
Entsetzt sah ich meinen Großonkel an und konnte sein Nicken nicht ertragen.
„Ich verstehe nur immer noch nicht... Er hat meine Großmutter doch geliebt. Und er hat Cathrin und Maya- ich meine natürlich Maéva- geliebt. Sie waren seine Töchter! Welcher Vater kann seinen Töchtern so etwas antun?“
Der Herrscher der Dunkelheit lachte.
„Ich vergesse immer wieder, dass du ja nicht hier aufgewachsen bist und gar nicht alle Geheimnisse kennst.“
Ich sah ihn fragend an und er seufzte.
„Wenn ein normaler Bürger wie ich das Amulett besitzt und Träger der Ursprungsmagie tötet, kann er diese Kräfte nutzen. Wenn aber ein Träger der Ursprungsmagie das Amulett besitzt und einen Träger der Ursprungsmagie tötet, kann er nicht nur seine Magie vermehren, sondern kann, wenn er unschuldige Träger tötet, auch noch ein ewiges Leben führen. Das ist für manche sehr verlockend.“
„Er... Er hätte das Leben seiner Kinder für ein ewiges Leben geopfert?!“
Der Herrscher der Dunkelheit nickte.
„Was um alles in der Welt stimmt mit diesem Mann nicht?!“
Der Herrscher der Dunkelheit schüttelte den Kopf.
„Keine Ahnung.“
Ich atmete tief durch und drückte mir die Handballen auf die Augen.
„Gut, mein Großvater ist also ein durchgeknallter Psychopath. Er wollte also seine Töchter töten und weil das nicht klappte, hat er seine Frau töten lassen und hat dann seine Pläne aufgegeben? Warum?“
„Wenn du die Kräfte von jemandem in dich aufne-men willst, musst du dazu das Amulett tragen. Doch meine Schwester gab mir das Amulett.“
Ich verstand.
„Er hat aufgehört, weil er das Amulett nicht mehr hatte. Sie hat seine Pläne vereitelt. Deshalb hat er sie auch töten lassen.“, fügte ich bitter hinzu und spürte den Hass in mir aufwallen.
„Genau. Was, wie ich allerdings sagen muss, das dümmste war, was er hätte tun können, denn dadurch erfuhr er nie, wo das Amulett sich befand. Bis ich es ihm sagte.“
Er grinste mich an und mir fiel es wie Schuppen von den Augen.
„Als ich diese komische Prüfung machen musste, hat er mit jemandem geredet und wollte noch ein wenig mehr Zeit. Das war einer deiner Leute, stimmt’s? Er hat die Sache zwar angefangen, doch du bist der Verlockung genauso verfallen wie er. Du hast ihm angeboten, die Unsterblichkeit zu teilen, wenn er dir im Gegenzug hilft, Cathrin und mich aufzutreiben, damit ihr uns zusammen töten könnt.“
Angewidert von dem Gedanken, dass gleich zwei Mitglieder meiner Familie mich töten wollten, wandte ich mich ab.
„Ganz egal, was Cathrin sich für eine Strafe für dich ausdenkt, ich hoffe, dass du ewig hier unten sitzen wirst. Das ist bestimmt schlimmer für dich, als wenn sie dein Leid schnell beenden würde.“
Dann rannte ich die Treppe wieder hoch und hielt erst an, als ich in dem Zimmer war, in dem ich aufgewacht war, knallte die Tür zu und lehnte mich keuchend dagegen.

„Oh Gott, Prinzessin Julya! Ich weiß ja, dass Ihr sehr stark seid, doch auch Ihr solltet es nach solch einer Anstrengung langsam angehen!“
Überrascht sah ich auf und stellte fest, dass Ben das Zimmer nicht verlassen hatte, sondern gewartet hatte, bis ich zurück kam.
Als er sah, dass ich ein Nachthemd trug, sah er beschämt zur Decke.
„Verzeiht, Prinzessin.“
Ich seufzte.
„Nein, Sie können nichts dafür, dass ich im Nachthemd durch das halbe Schloss renne. Also tun Sie mir bitte den Gefallen und hören Sie auf, sich ständig zu entschuldigen. Und bitte, ich bin nicht als Prinzessin aufgewachsen und bin es nicht gewöhnt, immer mit ‚Prinzessin’ angesprochen zu werden. Mein Name ist Julia oder wenn es unbedingt sein muss auch Julya, aber nicht Prinzessin.“
Ich ging zum Bett und setzte mich auf die andere Bettkante.
„Prinzessin... Ich meine Julya... Ist alles in Ordnung? Sie sehen...“
„... verärgert, aufgebracht, wütend, ratlos und total durcheinander aus? Ja, bin ich auch. Und nein, es ist nicht alles in Ordnung. Ich muss Lucy herholen. Und zwar sofort. Ich brauche jemanden zum Reden.“, flüsterte ich und seufzte.
Ben streckte zögernd seine Hand nach meiner aus und drückte sie leicht.
„Nun ja... Ich bin Ihr Arzt und ich kann es Ihnen erlauben, zu gehen. Und die einzige Bedingung, die Ihre Mutter hatte, war, dass es Ihnen besser geht. Dass Sie wieder bei Kräften sind. Und nach Ihrem Sprint aus diesem Raum und wieder hinein ist es wohl eindeutig, dass Ihre Kräfte wieder vollständig regeneriert sind.“
Er lächelte mich aufmunternd an.
„Sie... erklären mich also für gesund? So dass ich gehen kann?“
Ich lächelte ihn an und er nickte.
„Ja. Ich bin dazu verpflichtet, meinen Patienten zu helfen, gesund zu werden. Und es wäre auch ohne Doktortitel zu erkennen, dass sie eine harte Zeit durch machen und ihre Freundin an ihrer Seite brauchen.“
Er sah mich an und in seinen Augen war etwas, dass mich dazu brachte, ihm erzählen zu wollen, was mich bedrückte.
„Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wenn ich hier bleibe, wie es sich meine Eltern wünschen, werde ich ein Leben in einem goldenen Käfig führen. Ich werde nie wieder das Stechen der heißen Sonnenstrahlen in Phoenix spüren, werde nie wieder die Trostlosigkeit der Wüste sehen, einen Hot Dog an meinem Lieblingsstand essen oder mich draußen auf die Veranda vor das Haus meiner Tante setzten und die Sterne betrachten. Aber wenn ich gehe... werde ich jeden Tag darauf hoffen, dass der Junge, den ich liebe, die Wahrheit erkennt und mir verzeiht, auch wenn ich genau weiß, dass es nicht passieren wird, weil ich ihn zu sehr verletzt habe, als dass er mir je verzeihen könnte.“
Ich lächelte traurig und Ben seufzte.
„Wie kann man Ihnen böse sein, Prinzessin? Ich bin mir sicher, dass es nichts gibt, was man Ihnen nicht verzeihen könnte.“
Ich lachte schwach und stand wieder auf.
„Wenn Sie wüssten, Ben, wenn Sie nur wüssten. Ich bin auch nur ein Mensch und ich habe ihn wohlwissend verletzt, indem ich seinen schwächsten Punkt gegen ihn eingesetzt habe. Das wird er mir nicht verzeihen. Niemals.“
Ben stand auf und sah mich mitfühlend an.
„Ich werde Eurer Mutter sagen, dass Ihr so weit seid, zu gehen. Ich bin mir sicher, sie wollte noch einmal mit Euch reden.“
Ich nickte und Ben verneigte sich leicht, drehte sich um und verließ das Zimmer. Ich nahm mir eine Jeans, ein Top und Turnschuhe aus dem Schrank und zog sie an, bevor ich mich wieder auf das Bett setzte und wartete. Ich hatte soeben sämtliche Familiengeheimnisse auf einmal gelüftet und mir war klar, dass ich Cathrin nichts davon erzählen würde. Sie hatte jetzt alles, was sie wollte:
Ihren Mann, ihre Tochter und ihr Königreich.
Und ich würde ihr das nicht antun.
Ich würde ihr nicht schon wieder ihr Glück zerstören.

Es klopfte und ich hob den Kopf, als Cathrin herein kam.
„Doktor Ben hat mir gesagt, dass es dir wieder gut geht und du bereit bist, zu gehen.“ Sie lächelte mich an und ich erwiderte ihr Lächeln, auch wenn es nicht echt wahr.
„Lucy, Dustin und Ian sind in Lucys und Ians Elternhaus. Lucy hat gesagt, es ist okay, wenn du sie abholst, allerdings solltest du nicht einfach bei ihnen auftauchen. Deswegen wirst du zu unserem alten Haus gehen und von dort zu Fuß zu Lucy und Ian.“
Ich nickte und atmete tief durch, denn auch wenn Cathrin es nicht wusste, tat es mir weh, auch nur daran zu denken, Ian wieder gegenüberstehen zu müssen.
„Wenn du soweit bist, kannst du jetzt gleich los.“
Ich stand auf und atmete unauffällig durch, bevor ich aufsah und Cathrin anlächelte.
„Sei vorsichtig.“, meinte sie und küsste mich auf die Stirn.
„Natürlich, Mum.“
Ich lächelte sie an und sie nickte.
Es gab nichts, dass mir körperlich gefährlich werden könnte. Alle Verrückten waren entweder tot oder saßen in einer Zelle.
Das einzige, auf das ich aufpassen musste, war mein Herz.
Doch das war leider unwiderruflich verloren.
Mit einem letzten Lächeln verschwand ich und ließ Cathrin alleine in dem Zimmer stehen.

22


Langsam ging ich die Marmortreppe im Haus meiner Eltern hinunter, meine Hand fuhr über das wunderschöne Geländer und ich spürte die Kälte des Metalls. Obwohl ich versuchte, mir darüber nicht allzu bewusst zu werden, war dies der Ort, an dem ich mich in Ian verliebt hatte- oder es zumindest zum ersten Mal gemerkt hatte.
Langsam, fast als wolle ich die Begegnung heraus zögern, ging ich durch die Eingangshalle auf die Tür zu. Das Sonnenlicht blendete mich, doch ich genoss die Hitze, die sich auf meiner Haut ausbreitete und trat aus dem Haus.
Der Weg zu Ians und Lucys Haus kam mir viel kürzer vor, als er war, obwohl ich so langsam ging, wie ich nur konnte. Nach einer halben Stunde stand ich trotzdem vor der Haustür und mir fiel auf, dass ich schon so oft in diesem Haus war, aber noch nie hatte ich es durch die Eingangstür betreten.
Ich spürte, wie meine Nervosität stieg, als ich auf die Klingel drückte und betete, dass nicht Ian die Tür öffnen würde. Ich hörte Schritte auf der anderen Seite der Tür und glaubte, mein Herz würde explodieren.
Die Tür öffnete sich und ein ungefähr 19-jähriges, hübsches Mädchen stand vor mir. Überrascht sah ich sie an und sie sah mich genau so irritiert an.
„Äh... Hi.“, meinte sie und lächelte mich an.
„Kann ich dir helfen?“
Ich betrachtete ihre großen, freundlichen, rehbraunen Augen, ihr langes, blondes, glattes Haar und ihre zierliche Figur.
„Äh... ja. Entschuldige.“
Ich schaffte es, sie anzulächeln.
„Ich... bin Julia...“
„Oh, Lucy’s Freundin! Ian hat mir erzählt, dass ihr am Wochenende campen geht.“
Sie lächelte mich an und trat beiseite, um mich ins Haus zu lassen.
„Ich wollte ja mitgehen, aber Ian meinte, dass er mal wieder was mit Lucy machen müsse, nachdem sie endlich aus dem Internat zurück ist. Warum Lucy dann ihre Freundin und ihren Freund mitnehmen muss, versteh ich allerdings nicht. Nicht dass ich das schlimm fände, ich dachte nur, dass ein Pärchen-Campingausflug vielleicht auch ganz nett wäre...“
Ich ging an ihr vorbei ins Haus und drehte ihr den Rücken zu.
„Ist Lucy oben?“, fragte ich nur und war schon halb die Treppe hoch, bevor sie antworten konnte.
„Ja, aber du solltest vorher klopfen, Dustin ist...!“
Ich hörte nicht mehr, was Dustin war, doch es war mir auch egal. Ohne zu zögern stürmte ich in Lucys Zimmer, knallte die Tür hinter mir wieder zu und sank gegen die Tür, rutschte an ihr hinunter und vergrub das Gesicht in meinen Händen. Ich versuchte, nicht laut zu schluchzen, doch ganz schaffte ich es nicht.
„Jules?“
Lucy kletterte vom Bett und kniete sich vor mich.
„Hey, alles okay?“
Sie hob meinen Kopf an und sah mich an.
„Du ... hast also Annabelle kennen gelernt?“
Annabelle

?“
Sie seufzte und setzte sich neben mich.
„Ja... Ian kannte sie anscheinend schon von früher... Er hat sie angerufen, gleich nachdem er am nächsten Tag aufgewacht ist. Tut mir leid.“
Sie legte ihre Arme um mich und zog mich an sich und ich weinte an ihrer Schulter.
„Dustin, kannst du mal bitte runter gehen und Ian sagen, dass wir... in zwanzig Minuten aufbrechen werden? Er soll... Annabelle wegschicken und sich bereit halten. Jules und ich bleiben noch achtzehn bis neunzehn Minuten hier.“
Dustin, der die ganze Zeit auf dem Bett gesessen hatte, stand auf und kam zu uns. „Jules.“
Lucy stupste mich leicht an und ich rutschte zur Seite, um Dustin raus zu lassen. Dustin tätschelte mir beim Rausgehen leicht die Schulter, dann ging die Tür wieder zu.
„Sie hat mir die Tür aufgemacht. Sie hat mir allen Ernstes die verdammte Tür aufgemacht. Als ob das ihr Haus wäre. Als ob sie hier wohnen würde.“
Ich schluckte.
„Als ob das zwischen Ian und ihr wirklich ernst wäre.“
Ich lehnte den Kopf gegen die Tür und starrte traurig an die Decke.
„Jules...“, fing Lucy an und ich schloss die Augen.
„Ich weiß, Lucy. Ich weiß, dass ich es nicht anders verdient habe. Und mir war klar, dass er eine andere finden würde.“
Ich seufzte.
„Aber ich hätte nicht gedacht, dass er so schnell eine andere finden würde. Oder dass es so weh tun würde. Dass sie mir nach nicht einmal einer Woche die Tür zu seinem Haus aufmachen würde.“
Ich lachte leise. Dann seufzte ich und sah Lucy an.
„Ist es was ernstes zwischen ihnen?“
Lucy schüttelte den Kopf.
„Ich glaube nicht. Aber ich weiß es nicht.“
Ich seufzte und schwieg.
„Weißt du, ob sie...?“
Lucy antwortete mir nicht sondern biss sich auf die Lippe.
„Was?“, fragte ich und richtete mich auf.
„Ich... Ich weiß es nicht genau. Aber sie waren abends schon aus und... er kam erst morgens wieder...“, flüsterte sie leise und mied meinen Blick.
Ich knallte meinen Kopf gegen die Tür, wieder und wieder und wieder, um nicht erneut in Tränen auszubrechen.
„Tut mir leid.“
Lucy sah mich an und tätschelte mir das Knie.
„Hör auf damit!“, fuhr ich sie an und sie zuckte zurück.
„Entschuldige. Es ist nur...“
Ich seufzte.
„Ian... hat genau das selbe gemacht, bevor er mich das erste Mal geküsst hat.“, flüsterte ich und Lucy verstand.
„Schon okay. Komm, wir sollten langsam runter gehen.“
Ich stöhnte und Lucy zog mich hoch.
„Du musst ihm irgendwann wieder gegenüber treten.“, erinnerte mich Lucy.
„Ja, schon. Aber... muss ich das wirklich, wenn seine neue Freundin daneben steht?“
Lucy öffnete mir als Antwort die Tür.
„Du willst mich echt fertig machen, oder?“, grummelte ich und folgte ihr dennoch die Treppe runter.
Noch bevor ich den letzten Treppenabsatz betrat, konnte ich sie lachen hören. Sie hatte ein fröhliches, glückliches und schönes Lachen, was es mir noch schwerer machte, sie zu hassen. Dann hörte ich Ian Lachen und mein Magen verkrampfte sich.
„Lucy, ich kann das nicht.“, flüsterte ich und drehte mich um, weil ich wieder die Treppe hoch rennen wollte, doch Lucy packte mich am Arm.
„Jules, komm schon. Spring über deinen eigenen Schatten und stell dich deiner größten Angst.“
„Aber...“, fing ich an, doch dann erschien Annabelle am Fuß der Treppe.
„Hey. Da seid ihr ja. Ian wartet im Wohnzimmer.“
Sie lächelte uns an und ging in die Küche.
„Sollte sie nicht eigentlich schon weg sein?“, flüsterte ich und folgte Lucy die letzten Stufen hinunter.
„Eigentlich ja.“, murmelte Lucy und ging ins Wohnzimmer.
„Lucy.“
Ian sah Lucy an, doch er war eindeutig nicht erfreut. Dann sah er mich und seine Miene versteinerte.
„Julia.“
„Ian.“
Ich nickte kurz und sah dann überall hin, nur nicht mehr zu ihm. Ich biss mir auf die Lippen, um mich davon abzuhalten, irgendetwas zu sagen, was ich bereuen könnte.
„Was macht Annabelle noch hier? Wir wollen los, Ian. Und warum ist sie überhaupt an die Tür gegangen? Das ist dein Zuhause, nicht ihrs.“
Lucy sah ihren Bruder herausfordernd an, doch Ian zuckte nur die Schultern.
„Sie wollte noch nicht gehen. Und ich werde sie bestimmt nicht einfach rausschmeißen.“ Ich zuckte zusammen, auch wenn es keinen wirklichen Grund gab, doch etwas an der Art, wie Ian das sagte, erinnerte mich an das, was ich ihm angetan hatte. Dustin stand neben Lucy und schüttelte nur den Kopf, als Annabelle ins Wohnzimmer trat. Sie hatte einen Rucksack in der Hand und ging zu Ian.
„Und ich kann wirklich nicht mitkommen?“, fragte sie ihn, lächelte ihn an und reichte ihm den Rucksack.
„Nein, kannst du nicht.“, knurrte Lucy wütend und Ian lächelte Annabelle an.
„Du hast es gehört.“
Er beugte sich zu ihr runter und küsste sie sanft auf die Lippen. Ich drehte mich weg und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, doch ein kleiner Schluchzer kam mir trotzdem über die Lippen.
„Julia? Alles okay?“, fragte mich Annabelle und ich drehte mich wieder zu ihr um.
„Ja, alles klar.“
Ich lächelte sie an.
„Ich... bin nur gegen Hibiskus allergisch und draußen im Garten steht ein ganzer Strauch davon. Deshalb tränen meine Augen auch.“, erklärte ich ihr und mied Blickkontakt, denn ich wusste, dass Lucy und Dustin mir nicht glaubten.
„Okay.“
Annabelle seufzte.
„Dann geh ich mal. Ich will euch ja nicht von eurem Campingausflug abhalten. Ciao.“
Sie streckte sich und küsste Ian und ich ‚musste niesen’.
„Viel Spaß.“
Sie lächelte uns alle an und ging dann zur Wohnzimmertür.
„Du wirst mir fehlen!“, rief sie, dann hörte ich die Haustür zufallen.
Langsam drehte ich mich um und atmete tief durch.
„Bringen wir’s hinter uns.“
Damit ging ich zur Terrassentür und ging in den Garten. Die anderen folgten mir. Auf der Rasenfläche drehte ich mich um und streckte Lucy und Dustin meine Hände entgegen. Die beiden nahmen meine Hände und Lucy hielt Ian die Hand hin. Seufzend nahm er ihre Hand und ich konnte es gar nicht erwarten, wieder in das Königreich meiner Mutter zurück zu kehren. Und das bedeutete schon einiges.

Kaum berührten meine Füße wieder den Boden, ließ ich Lucy und Dustin los und ging ein paar Schritte weg.
„Oh, man.“, murmelte Ian und ich hörte, wie er sich hinlegte.
„Ich geh Cathrin bescheid sagen, dass ihr da seid. Sie wird euch begrüßen wollen.“, meinte ich und rannte beinahe schon ins Schloss.
„Julya! Du bist wieder da!“
Ich drehte mich um und sah Cathrin hinter mir auf mich zu kommen.
„Ja.“
Ich lächelte sie zittrig an.
„Ähm... Lucy, Dustin und Ian warten draußen, ich... dachte, du willst sie vielleicht begrüßen.“
Cathrin nickte.
„Okay. Willst du nicht mitkommen?“
„Äh... Ich hab sie doch schon gesehen. Ich hab sie hergebracht. Und ich muss einfach mal eine Weile allein sein. Sie zu holen war doch anstrengender, als ich gedacht hatte.“
Zwar nicht körperlich, dafür aber um so eine größere seelische Belastung.
„Ich... will einfach mal eine Weile durchatmen.“
Damit drehte ich mich um und rannte zurück in das Zimmer, in dem ich die letzten Tage einquartiert worden war.
Das aller erste, was ich tat, war, die Vorhänge, die noch immer zugezogen waren, aufzureißen und alle Fenster weit aufzureißen. Ich brauchte jetzt Sonnenlicht, viel Sonnenlicht, und frische Luft. Eines der Fenster war kein Fenster, sondern eine Balkontür und ich trat auf den Balkon. Nachdem der Herrscher der Dunkelheit seine Macht verloren hatte, hatte das kleine Schloss, in dem Cathrin gefangen gehalten worden war, seine Spur von Bedrohlichkeit verloren und nun würde Cathrin von hier aus regieren, bis das Hauptschloss wieder aufgebaut worden war. Ich lehnte mich gegen das kunstvoll verzierte Geländer und seufzte schwer. Obwohl die Sonne schien, die Vögel zwitscherten und es keinen friedlicheren Ort geben konnte, spürte ich, wie es in mir drin wütete und stürmte. Ian hatte eine alte Freundin von sich angerufen, kaum dass ich weg war. Und sie war ihm natürlich verfallen. Wie hätte sie ihm auch widerstehen sollen? Ian war einfach großartig. Man musste sich einfach in ihn verlieben. Und natürlich hatte sie es.
Aber ... er?
Nach allem, was wir zusammen durchgemacht hatten? Das konnte ich nicht glauben. Aber er musste glauben, dass aus ihnen etwas werden könnte, denn sonst würde er sich nicht solche Mühe mit ihr geben...
„Hey, Jules!“
Ich zuckte erschrocken zusammen, als Lucys Stimme so unvermittelt durch mein Zimmer zu mir auf den Balkon drang.
„Jules?“
„Hier!“, antwortete ich und hörte Lucy durch das Zimmer kommen.
„Wow, was für eine Aussicht.“
Lucy stellte sich neben mich und betrachtete die Landschaft. Das Meer, den Himmel und ein Stück Wald.
„Ja, findest du?“
Sie sah mich an und seufzte.
„Jules. Du darfst dir das mit Annabelle nicht so zu Herzen nehmen.“
Ich lachte, doch es mischten sich Schluchzer mit rein.
„Woher kannte er sie überhaupt? Niemand findet so schnell einen Ersatz. Niemand. Und niemand lässt sich so schnell auf einen Typen ein, auch nicht und schon gar nicht, wenn sie ihn vorher kannte und einmal Sex mit ihm hatte.“
„Ich weiß nicht, woher sie sich kannten. Aber du hast recht, sie müssen vorher schon was mit einander gehabt haben. Aber ich mag Annabelle nicht. Sie ist irgendwie merkwürdig.“ Jetzt musste ich wirklich lachen, und zwar laut.
„Komm schon, Lucy! Ich hab sie vielleicht fünf Minuten gesehen und konnte sie nicht hassen, obwohl sie mit dem Typen zusammen ist und wohnt und vermutlich auch schläft, den ich liebe! Also wie willst du sie komisch finden können, wenn du die letzte Woche mit ihr verbracht hast? Mit ihren strahlend blonden Haaren, ihren rehbraunen Augen und ihrer zierlichen, graziösen Gestalt, die Jungs einfach das Hirn vernebeln muss?“
Ich klang viel verbitterter, als ich mich anhören wollte.
„Ich glaube nicht, dass Ian sie wirklich liebt. Er hat dich zu sehr geliebt, als dass er dich in nur ein paar Tagen vergessen könnte. Und ich glaube, er liebt dich noch immer.“, flüsterte sie leise und ohne mich anzusehen.
Ich schüttelte den Kopf.
„Das tut er nicht, Lucy. Ich habe ihm viel zu sehr weh getan, als dass er es noch könnte.“, flüsterte ich leise und schloss die Augen.
Ich ging zur Balkontür und setzte mich gegen die Schlosswand in die Sonne. Lucy setzte sich neben mich.
„Okay, lassen wir dieses Herzschmerzthema erst mal. Ich muss dir was erzählen, dass außer mir und meinem Großonkel, der übrigens der Herrscher der Dunkelheit war, niemand weiß. Oh, doch, mein Großvater noch, aber der ist gestorben.“
Lucy sah mich mit großen Augen an.
„Was?! Wann?“
„Vor einigen Stunden. Herzinfarkt. Aber es war vermutlich besser so. Wenn er überlebt hätte... hätte Cathrin ihn wegen Hochverrats verurteilen müssen.“
Lucy schnappte nach Luft und sah mich entsetzt an.
„Was...?“
Also fing ich an, ihr die ganze verrückte Geschichte meiner Familie zu erzählen.
„Das... das klingt wirklich ziemlich verrückt und die Tatsache, dass es wahr ist, ist irgendwie...“
„...erschreckend?“, schlug ich Lucy lächelnd vor und nickte.
„Ich weiß.“
„Und das alles musstest du alleine raus finden? Und du konntest bisher mit niemandem darüber reden?“
„Nein, konnte ich nicht. Und ich kann es immer noch niemandem außer dir sagen. Für Cathrin würde eine Welt zusammenbrechen. Und das kann ich ihr nicht antun.“
„Versteh ich. Und die ganze Sache mit Ian macht es noch schwieriger. Aber... warum hast du ihn dann eingeladen?“
„Ich hab ihn nicht eingeladen. Cathrin und Mathew wollten euch bei ihrer Hochzeit dabei haben, weil ihr ja sonst niemanden mehr habt.“
„Oh... Und Cathrin schickt dich, um uns zu holen.“
„Sie musste ja alles vorbereiten. Außerdem meinte sie, ich wäre stärker als sie. Und ich hatte auch nicht wirklich Lust, ihre Krönungsfeier und meine Krönungsfeier und die Hochzeit vorzubereiten.“
„Warte mal... deine Krönungsfeier? Du lässt dich wirklich krönen? Aber... wenn du dich krönen lässt, bleibst du dann hier?“
„Weiß ich noch nicht. Cathrin meinte, dass ich die Wahl habe, wo ich dann leben will. Ich müsste mich krönen lassen, weil ich ihre Tochter und die rechtmäßige Thronerbin bin, aber sie lässt mir die freie Wahl, wo ich leben möchte. Ob ich hier bei ihr und Mathew in einem goldenen Käfig bleiben will oder ob ich zurück zu Maya gehe und es riskiere, Ian dabei zuzusehen, wie er glücklich alt wird. Zusammen mit Annabelle.“
Ich knirschte mit den Zähnen.
Es klopfte an der Tür uns Cathrin betrat den Raum.
„Lucy, wie schön, dich zu sehen. Julya, du brauchst noch ein Kleid für die Zeremonien. Cynthia wird dir eines schneidern, aber dafür braucht sie deine Maße.“
Eine Frau trat hinter ihr in den Raum und knickste leicht. Ich stand vom Boden auf.
„Lucy kann doch aber bleiben, oder?“
Cathrin lächelte und nickte.
„Natürlich.“
Ich seufzte erleichtert und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag wirklich.

23


„Wow. Du... du siehst… wow. Du siehst unglaublich aus, Jules.“
Lucy sah mich mit großen, vor Erstaunen geweiteten Augen an und kam aus dem Staunen gar nicht wieder heraus.
„Danke.“
Ich lächelte sie an und drehte mich ein wenig, um mich im Spiegel betrachten zu können. Cynthia hatte wirklich ein unglaubliches Kleid geschneidert. Und das innerhalb von knapp zwei Tagen. Ich hatte die Tage vor den Zeremonien damit verbracht, Ian aus dem Weg zu gehen, weshalb ich entweder alleine durch das Schloss gestreift war, mich mit Lucy unterhalten hatte, mit Lucy und Dustin im Garten gewesen war oder mir von Ben irgendetwas hatte erklären lassen. Ben war ein herzensguter Mensch und er hatte viel Geduld, die er auch brauchte, wenn er versuchte mir zu erklären, wie die verschiedenen Medikamente hergestellt wurden oder wie sie wirkten.
Hin und wieder hatte ich Cathrin bei etwas helfen müssen und war dabei Ian begegnet, doch sonst hatte ich ihn nur beim Essen gesehen und das war auch gut so.
Jetzt stand ich also in einem umwerfenden Kleid vor dem Spiegel und die erste Zeremonie, die Hochzeit, würde in einer knappen Stunde anfangen. Da Cathrins Kleid nicht mehr weiß sein konnte, weil sie schon mit Mathew verheiratet war und auch schon eine Tochter hatte, hatte sie sich entschieden, ein dunkelblaues Kleid zu tragen, weshalb ich weiß tragen würde.
Ich schnitt eine Grimasse, als ich daran dachte, dass das eigentlich auch nur eine Flunkerei war. Doch dann fiel mein Blick auf mein Spiegelbild und alle Gedanken verschwanden aus meinem Kopf. Ich sah wirklich umwerfend aus, ohne prahlen zu wollen.
Das Kleid war ärmellos und das Oberteil eng anliegend, was meine Taille noch schmaler schienen ließ. Ab der Hüfte fiel es in einer Art Bogen ab und reichte bis zum Boden, die Ränder waren mit Strasssteinen verziert und es waren winzige Muster mit einem silbernen Faden hinein gestickt. Das Kleid war ein Meisterstück und ich sah wie ein weiteres Kunstwerk aus. Cathrin trat hinter mich und lächelte mich an.
„Du siehst wunderschön aus.“
Sie legte mir eine wunderschöne, silberne Kette um, dessen Anhänger ein kleines, silbern funkelndes Herz war, in dessen Mitte ein kleiner Saphir von weiteren, kleineren Strasssteinen umringt war. Der Anhänger lag genau über dem Ausschnitt des Kleides. Ich drehte mich vom Spiegel weg, zu Cathrin, denn ich ertrug meinen Anblick nicht mehr.
Ich hatte kein weißes Kleid verdient.
Und schon gar nicht zu einer Krönungszeremonie.
Außerdem wollte ich Cathrin in ihrem dunkelblauen Kleid betrachten. Sie sah wunderschön aus, das blau stand ihr und passte perfekt zu ihren blauen Augen, die heute noch mehr strahlten als sonst. Sie trug ihre Haare hochgesteckt und mit weißen Perlen verziert, um den Hals eine Kette mit dem Familienwappen. Die Träger ihres Kleides ließen die Schultern frei und es war enger anliegend als meins, doch es passte zu ihr. Sie sah wunderschön und jung aus.
„Du solltest deine Haare wirklich hochstecken.“
„Hochgesteckte Haare passen nicht zu Julia. So offen sehen sie viel schöner aus. Aber wir können ja ein paar Locken reindrehen und zwei Strähnen von links und rechts hinten zusammen flechten.“, schlug Lucy als Kompromiss vor und Cathrin gab nach.
„Einverstanden. Haltet euch bereit, es wird bald losgehen.“
Sie sah Lucy an und musterte sie.
„Du siehst hinreißend aus, Lucy. Ich bin so froh, dass ihr beiden euch bereit erklärt habt, meine Brautjungfern zu sein.“
„Hatten wir denn eine andere Wahl?“, fragte Lucy so leise, dass ich sie hören konnte, aber Cathrin nicht und wir grinsten beide.
„Wir kommen gleich, Mum. Gib uns noch zwei Minuten.“
Cathrin nickte, küsste mich auf die Stirn und ging.
„Bist du bereit?“, fragte mich Lucy leise und ich atmete tief durch.
„Nein.“
Ich drehte mich zu ihr um und lächelte sie an.
„Aber ich habe keine andere Wahl, oder?“
„Ich fürchte nicht.“, meinte Lucy und hakte sich bei mir ein.
„Aber sieh das positive. Du musst nicht ganz alleine da vorne stehen.“
Sie lächelte mich an und ich erwiderte ihr Lächeln.
„Vorrausgesetzt, dass uns die Schuhe nicht umbringen.“
Ich zeigte ihr meine Schuhe, die mindestens zehn Zentimeter hoch und ebenfalls weiß waren.
„Das kannst du aber laut sagen.“
Sie zeigte mir ihre Schuhe, die die selbe Farbe hatten wie ihr Kleid, nämlich weiß.
Da sie und ich beide Brautjungfern waren und ich ein weißes Kleid trug, hatte Lucy auch ein weißes Kleid bekommen, allerdings war ihres nicht so prunkvoll wie meins, sondern eher schlicht, es lag oben eng an und war auch ansonsten glatt, doch es war wunderschön und ich beneidete sie fast um ihre Schlichtheit, denn ihr würde es um einiges leichter fallen, sich zu verstecken, wenn sie es wollte. Ihre Absätze waren um einiges niedriger als meine, sie waren maximal sieben Zentimeter hoch.
„Ich hasse Absätze. Die sind so unpraktisch.“
Ich lachte und wir machten uns auf den Weg zur Kapelle.
„Ich bezweifle, dass Cathrin zugelassen hätte, dass wir in Turnschuhen zu ihrer Hochzeit aufkreuzen.“
„Stimmt.“, gab Lucy zu und wir blieben stehen.
Wir hatten Anweisungen bekommen, vor der Kapelle zu warten, bis Cathrin kam. Wenn Cathrin kommen würde, hätten sich alle schon in der Kapelle versammelt, Mathew würde schon am Altar stehen und auf sie warten, neben sich Ian und Dustin, die seine Trauzeugen waren, Lucy und ich würden vor ihr her zum Altar gehen und uns dann auf die vom Gang aus linke Seite stellen und lächeln. Und warten, bis die Trauung vorbei war. Dann würde der Oberste Priester sie zur Königin krönen und sie würde mich danach zur Prinzessin krönen. Dann waren die Zeremonien vorbei und das festliche Geschehen würde beginnen. Das war mein Moment, zu verschwinden und ich würde ihn nutzen. Das war meine einzige Chance, vor dem großen Ball zu entkommen und nach allem, was die letzten Tage passiert war, war mir überhaupt nicht nach tanzen. Und schon gar nicht in diesen Schuhen.
Lucy und ich sahen Cathrin vom Schloss her auf die Kapelle zu kommen und sahen ihr entgegen.
„Ist es nicht irgendwie merkwürdig, dass sie nicht in einem weißen Kleid heiratet?“, fragte Lucy mich und ich zuckte als Antwort mit den Schultern.
„Sie hat doch schon mal in weiß geheiratet.“
Cathrin war nun in Hörweite und wir verstummten beide.
„Oh Gott, ich bin ja so aufgeregt!“, meinte Cathrin und lächelte Lucy und mich an.
Man sah ihr an, dass sie sich freute und es kaum erwarten konnte, Mathew offiziell zu ihrem Mann zu nehmen. Der Portier öffnete das Tor und die Musik begann zu spielen.
„Sieh überall hin, nur nicht nach rechts. Denk dran. Nicht nach rechts.“, flüsterte mir Lucy zu als wir los liefen und setzte ein strahlendes Lächeln auf.
Ich atmete tief durch und sah stur gerade aus, zu meinem Vater, der beinahe genau so aussah wie an seiner ersten Hochzeit mit meiner Mutter und musste einfach lächeln. Mathew zwinkerte mir zu und richtete sein Augenmerk dann auf Cathrin, die hinter Lucy und mir den Mittelgang entlang schwebte und der es eindeutig zu langsam voran ging. Lucy kicherte, als Dustin ein „Wow“ mit den Lippen formte und strahlte noch mehr.
Ich weigerte mich, die Person zwischen Mathew und Dustin wahrzunehmen, doch ich konnte seinen Blick spüren, als er keine andere Möglichkeit hatte, als mich anzusehen. Und auch noch, als er wieder die Möglichkeit hatte, woanders hin zu schauen. Sein Blick haftete auf mir, doch ich zwang mich, nicht zu ihm zu schauen. Lucy und ich stellten uns links neben den Altar und sahen, wie Cathrin die letzten Schritte zum Altar ging und sich neben Mathew stellte.
Der Priester fing mit seinem Prozedere an und obwohl ich wusste, dass es ein Fehler war, sah ich zu Ian rüber. Er sah mich an und unsere Blicke kreuzten sich. Seine blauen Augen zogen mich in ihren Bann und ich konnte etwas in ihnen er-kennen, das ich nicht benennen konnte. Ob ich wollte oder nicht, ich konnte nicht wegsehen. Ich war nicht stark genug, mich seinem Blick zu widersetzen. Ich wusste nicht, wie lange wir so dastanden und uns ansahen, als plötzlich Jubel ausbrach und mich in die Realität zurück holte. Mathew und Cathrin küssten sich und mir wurde klar, dass ich die Eheschließung verpasst hatte. Mathew stellte sich an den Rand zu Ian und Dustin und Cathrin kniete nieder.
Der Priester sagte irgendetwas, doch ich hörte nicht wirklich zu. Ich sah zu Boden und versuchte, meine Atmung wieder zu beruhigen. Doch ich musste aufpassen, denn ich durfte meinen Einsatz nicht verpassen. Also stand ich da und lauschte auf das, was der Priester sagte. Doch zur rechten Seite traute ich mich nicht mehr zu sehen.
„Schwören Sie, Ihrem Land zu dienen und immer so zu handeln, wie es für Ihr Land am Besten ist? Schwören Sie, das Wohl Ihres Landes als oberste Priorität zu achten?“
„Ich schwöre.“, antwortete Cathrin und ich merkte, wie ich zu zittern begann.
„So ernenne ich Sie, Cathrin Amanda Sophia Michelle Vallesces, zur Königin unseres geliebten Landes.“
Er setzte ihr die Krone auf den Kopf und alle jubelten und standen auf, um zu applaudieren. Cathrin erhob sich und winkte ein wenig, bis sich alle wieder hingesetzt hatten und verstummten. Dann sah sie zu mir und nickte, ich atmete tief durch und trat zu ihr vor.
„Knie nieder, meine Tochter.“
Ich kniete mich vor sie, mit dem Rücken zu den Zuschauern.
„Ich, Cathrin Amanda Sophia Michelle Vallesces, Königin dieses Landes, kröne dich, Julya Elisabetha Emilia Victoria Vallesces, zur Prinzessin.”
Sie setzte mir eine silberne, zierliche Krone auf den Kopf.
„Erhebe dich, Prinzessin.“
Ich tat, was sie sagte und drehte mich zu den Zuschauern um, um mich zusammen mit meiner Mutter bejubeln zu lassen.
Die Krone auf meinem Kopf wog nicht viel, doch ich spürte sie, als wiege sie Tonnen. Meine Mutter streckte ihre Hand nach Mathew aus und er nahm sie, lächelte sie an und führte sie aus der Kapelle hinaus. Ich wartete einen Moment, bis sie einen gewissen Abstand hatten, dann folgte ich ihnen. Draußen wurde es bereits dunkel und überall waren Girlanden aufgehängt worden. Ein riesiger Tisch war im Garten aufgebaut worden und Cathrin und Mathew setzten sich an das Kopfende, ich saß links neben Cathrin. Ich hatte Cathrin dazu überredet, dass Lucy neben mir saß und Dustin neben Lucy, während Ian neben Mathew saß. So würde ich ihn nicht den ganzen Abend lang ansehen müssen oder ihn gar neben mir wissen. Ich konnte mit Lucy und Dustin reden, bis ich mich endlich zurück ziehen konnte.
„Das war eine wunderschöne Zeremonie, Jules. Und dein Kleid sieht unglaublich aus.“ Dustin lächelte mich an. Ich sah ihn an.
„Aber?“
Dustin seufzte.
„Cathrin wird dich umbringen, wenn du verschwinden solltest, ohne zu tanzen.“
Ich sah ihn erschrocken an und er lachte.
„Sie kennt dich zwar nicht so gut, wie es eine Mutter sollte, doch immerhin gut genug, um zu wissen, dass du dich verdrücken willst. Und ich kenne das Hofzeremoniell gut genug, um zu erkennen, wann etwas veranstaltet wird, um der Welt eine heiratsfähige Tochter zu präsentieren.“, fügte er leiser hinzu und sah mich entschuldigend an.
Ich zuckte zusammen und verschüttete beinahe mein Wasser.
„Oh.“
Dustin lächelte mich an.
„Keine Sorge. Ich hab mit Cathrin ausgehandelt, dass du zwei Tänze überstehen musst und dann gehen darfst. Und zu einem dieser zwei Tänze fordere ich dich jetzt auf.“
Er lächelte mich an und reichte mir seine Hand. Ich sah zu Lucy.
„Ist das okay?“
Lucy lächelte mich an.
„Du willst so schnell wie möglich hier weg und das versteh ich. Außerdem kann ich ja noch danach mit meinem Freund tanzen.“
„Ganz genau.“
Dustin zwinkerte ihr zu und führte mich auf die Tanzfläche, auf der schon einige wenige Paare tanzten. Dustin zog mich an sich und begann, uns zu drehen.
„Du weißt, dass Ian sich hier unwohl fühlt, oder?“, fragte er mich und ich seufzte.
„Da ist er nicht der einzige.“
„Was hast du jetzt eigentlich vor? Hier bleiben oder doch wieder zurück gehen?“
„Ich weiß es nicht. Ich bezweifle, dass ich mich hier wirklich wohlfühlen würde, aber... ich kann auch nicht nach Phoenix zurück.“
„Das ist verständlich.“, meinte Dustin und schwieg.
„Du würdest Lucy und mir aber fehlen.“, flüsterte er mir leise ins Ohr und ich musste lachen.
„Was?“, fragte er und sah mich an.
„Nichts. Ich musste nur gerade daran denken, dass du und ich eigentlich heiraten sollten.“
Dustin lachte ebenfalls.
„Ja, schon irgendwie lustig.“
Dann endete die Musik und der Tanz war zu Ende.
„Prinzessin, es war mir eine Ehre, mit Ihnen zu tanzen.“
Er lächelte mich an, küsste meine Hand und ging dann zu Lucy.
„Darf ich um den nächsten Tanz bitten?“, ertönte es hinter mir und ich drehte mich um. „Ben!“
Ben lächelte mich an und verneigte sich leicht. Ich lächelte ihn an und nahm seine Hand. „Gerne doch.“
Er wirbelte mich einmal herum, bevor er mich an sich zog und mit mir tanzte. Eine Weile tanzten wir nur, ohne zu reden, doch irgendwann sah ich ihn an.
„Ben?“
„Prinzessin?“
„Warum tanzt Ihr mit mir?“
Ben lachte und dirigierte uns an den Rand der Tanzfläche.
„Ich weiß, dass Ihr Euch hier nicht wohlfühlt. Und Prinz Dustin hat mir erzählt, dass die Königin verlangt, dass Ihr mindestens zweimal tanzt. Also habe ich meine Verlobte überredet, mich für einen Tanz zu entbehren.“
Er winkte einer jungen Frau zu, die ein paar Tische von uns entfernt saß und uns beobachtete.
„Oh... Jetzt fühle ich mich schlecht. Heute Abend nehmen ich allen vergebenen Frauen hier ihre Männer weg.“
Ich lächelte ihn an und rutschte ein Stück von ihm weg. Hinter ihm bewegte sich etwas und ich sah Ian. Er sah mich an und musterte Ben mit zusammen gekniffenen Augen. „Entschuldigen Sie mich Ben, aber ich muss jetzt gehen.“
Ben drehte sich um und sah Ian.
„Oh... Ist das der Mann, von dem Ihr gesprochen hattet?“
Ich nickte unglücklich und Ben verstand. Er verneigte sich leicht.
„Dann schlaft gut, Prinzessin.“
Ich lächelte und er ging zurück zu seiner Verlobten. Ich drehte mich in die entgegengesetzte Richtung von Ian und lief los. Ich wollte einfach nur noch allein sein und aus diesem Tumult raus. Dieses ganze Fest, all die Grafen und Fürsten und was weiß ich noch alles mit adligen Titeln, diese große Show, die Cathrin veranstaltet hatte, und diese übertriebene Höflichkeit und Heiterkeit, die ich den ganzen Tag spielen musste, forderten ihren Tribut.
Und dass Ian gerade jetzt hier war, bei ihm zu Hause in Phoenix seine neue Freundin auf ihn wartete und er ihr von mir als eine von Lucys Freundinnen erzählt hatte, machte das ganze noch um einiges schlimmer. Hätte er mich nicht einfach gar nicht erwähnen können? Schluchzend rannte ich die Treppe zu einer der erhöhten Terrassen hoch und hatte schon die Hälfte hinter mir, als ich jemanden hinter mir hörte und mich instinktiv umdrehte. Doch das war ein Fehler. Denn am Fuß der Treppe stand Ian und sah mich an, seine Augen weiteten sich ein kleines bisschen, als er meine Tränen sah und der Ausdruck auf seinem Gesicht wurde weicher.
Schnell drehte ich mich wieder um und rannte die Treppe weiter hoch, doch Ian setzte mir nach.
„Julia! Julia, warte! Jules!“
Als er mich bei meinem Spitznamen nannte, blieb ich vor Schreck mit der Schuhspitze an der Treppenstufe hängen und strauchelte. Noch bevor ich es verhindern konnte, knickte ich um und fiel mit einem Schmerzenslaut auf die Stufe.
„Jules!“
Ian eilte die Treppe hoch, doch ich wartete nicht. Ich zog mich am Geländer hoch und versuchte, weiter zu gehen, doch mein Knöchel schmerzte zu sehr.
„Au, verdammt!“, jammerte ich und schaffte es gerade noch, die Tränen zurück zu halten. Ich würde auf gar keinen Fall vor Ian weinen.
Mein Handgelenk, das immer noch einbandagiert war, protestierte, als ich mein Gewicht auf meine Hände verlagern musste, um den Fuß zu entlasten.
„Jules, jetzt warte doch.“
Ians Stimme klang sanft, beinahe versöhnlich, doch das war nur ein Grund mehr, warum ich so schnell wie möglich von ihm weg musste.
„Bitte.“, presste ich zwischen den Zähnen hervor und sah ihn an.
„Geh einfach wieder zurück zu den anderen. Ich... ich bin müde und ich will ins Bett. Lass mich einfach in Ruhe, okay?“, flüsterte ich und drehte mich von ihm weg, doch Ian seufzte und hielt mich am Arm fest.
„Selbst wenn ich wollte, könnte ich jetzt nicht mehr. Du hast dir den Knöchel verknackst und in diesen Schuhen schaffst du es niemals alleine da hoch.“
Er deutete nach oben und ob ich wollte oder nicht, er hatte recht. Beinahe verzweifelt ließ ich mich auf die Treppenstufe sinken und zog den Schuh aus, mit dem ich nicht umgeknickt war. Dann betrachtete ich den anderen.
„Scheiße.“, murmelte ich und sah zu, wie mein Knöchel immer dicker und blauer wurde. „Lass mich dir helfen, Jules.“, bat Ian mich leise und ich sah ihn an.
Ich wog meine Möglichkeiten ab, entweder würde ich ihn wegschicken, was besser wäre, und mich alleine die Treppe hoch quälen, oder ich ließ zu, dass er mir half und riskierte, dass ich ihm sagte, was ich für ihn empfand und mich so noch verletzlicher machte.
Ich sah die Treppe hoch und zählte die Stufen, doch es waren eindeutig noch zu viele. Also gab ich seufzend auf und nickte.
„Okay.“
Ian nickte ebenfalls und legte behutsam seine Hände um mein Schienbein. Als seine Finger meine Haut berührten, spürte ich sofort, wie die Hitze seiner Berührung meinen ganzen Körper durchdrang und mein Herz schneller schlagen ließ. Ich senkte den Blick und weigerte mich, ihn anzusehen, weil ich nicht wollte, dass er sah, wie sehr seine Berührung auf mich wirkte. Ian löste vorsichtig die Riemen des Schuhs und zog ihn mir behutsam vom Fuß, doch durch die Schwellung tat es trotzdem weh und ich zog scharf die Luft ein.
„Entschuldige.“, murmelte er und strich mit seinen Fingern zärtlich über meinen Knöchel. Ich hielt die Luft an und starrte ihn an, doch er sah mich nicht an.
„Komm, ich helf dir auf.“, meinte er stattdessen und reichte mir seine Hand.
Zögernd legte ich meine in seine und er zog mich auf den gesunden Fuß, griff mir unter die Arme und lehnte mich an sich, bevor ich umfiel.
„Okay, dann wollen wir mal.“, meinte er und ich humpelte mit ihm zusammen die Stufen hoch.
Kaum waren wir oben angekommen, befreite ich mich aus seinen Armen, drehte mich von ihm weg und stützte mich am Geländer ab.
„Danke, aber ab hier schaffe ich es alleine.“, meinte ich ohne ihn anzusehen und bedeutete ihm so, dass er gehen sollte, doch er dachte gar nicht daran, sonder blieb, wo er war.
„Jules...“, fing er an, doch ich ließ ihn nicht weiter reden.
„Hör auf, mich so zu nennen, Ian! Bitte! Ich ...“
Ich verstummte und seufzte.
„Hör einfach auf, mich an das zu erinnern, was ich mal hatte, okay? Es ist schon schwer genug, dass ich es aufgeben musste.“
Ich lehnte mich an das Geländer der Terrasse und sah auf den Garten hinunter.
Das Fest war noch in vollem Gange und alle schienen sich zu amüsieren. Ich sah Ben und seine Verlobte, sie lachte und er küsste sie auf die Wange, zog sie enger an sich und flüsterte ihr etwas ins Ohr, was sie erröten ließ, woraufhin er lachte.
Ian trat lautlos neben mich und ich wich automatisch ein Stück zur Seite. Ich hatte ihn heute schon viel zu nah an mich rangelassen.
„Dein Freund scheint sich gut zu amüsieren.“, meinte er kalt und sah dabei Ben an.
Ich seufzte.
„Ja, im Gegensatz zu mir haben alle Spaß.“, meinte ich und lächelte traurig, doch er sah es nicht, denn wir sahen beide runter in den Garten.
Ich sah Mathew und Cathrin, die mit einem schon beinahe dämlichen Lächeln vor Glück über die Tanzfläche wirbelten und nur Augen für einander hatten, doch vielleicht bildete ich mir auch nur ein, dass es ein dämliches Lächeln war. Lucy und Dustin saßen am Tisch und scherzten und waren glücklich.
Ian hatte Annabelle und morgen würde ich ihn wieder zu ihr zurück bringen.
Mir schossen die Tränen in die Augen, doch ich unterdrü-ckte den Schluchzer und biss die Zähne zusammen.
Ich würde nicht vor Ian weinen.
„Nein, es haben nicht alle Spaß. Du bist nicht die einzige, die sich gerne verdrücken würde.“, flüsterte er so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob ich es hätte hören sollen oder nicht.
„Keine Sorge, ich bin mir sicher, dass Annabelle schon die Sekunden zählt, bis sie dich wieder in die Arme schließen kann.“, meinte ich verbissener, als ich beabsichtig hatte und Ian zuckte kaum merklich zusammen.
„Das mit Annabelle an der Tür... das tut mir leid, Jules. Wirklich.“
Er sah mich an und ich konnte sehen, dass es ihm wirklich leid tat.
„Nenn mich nicht so.“, bat ich ihn erneut und starrte wieder in den Garten.
„Wieso macht es dir eigentlich nichts aus, dass dein Freund da unten mit irgendeinem Mädchen tanzt und sie küsst?“, fragte Ian mich plötzlich, als Ben unten im Garten seine Verlobte lachend an sich zog und sie liebevoll küsste.
„Warum sollte es? Ben und ich sind nur Freunde und sie ist seine Verlobte... Oh.“, meinte ich, als ich verstand, was Ian gedacht hatte.
„Du dachtest, dass...“
„Ich hab überhaupt nichts gedacht.“, fuhr er mich schon beinahe an und ich zuckte zurück. „Ian, du solltest jetzt wirklich gehen.“, flüsterte ich und sah ihn nicht an.
„Nein, Jules, es tut mir...“, fing er an und ich konnte hören, wie schlecht er sich fühlte.
„Es tut mir leid.“
Er drehte sich zu mir, nahm meine Hand und sah mich an.
„Ich weiß, dass das, was ich zu dir gesagt habe, unfair war, und es tut mir leid. Aber du bedeutest mir immer noch etwas und ich... Ich möchte einfach nicht, dass du ganz aus meinem Leben verschwindest. Ich möchte wenigstens noch mit dir befreundet sein. Bitte.“ Er sah mich an und seine Augen flehten mich an. Verzweifelt riss ich meine Hand los. „Nein, Ian! Geh endlich weg! Du sollst mich nicht Jules nennen und du tust es trotzdem die ganze Zeit! Du hast genau gewusst, dass ich euch abholen kommen würde und hast Annabelle die Tür öffnen lasen! Du weißt genau, dass ich dich liebe und musstest mir trotzdem deine neue Freundin vorführen!“
Ich drehte mich von ihm weg und atmete tief aus.
„Ich kann nicht mit dir befreundet sein, Ian. Ich... ich werde dich, Lucy und Dustin morgen früh zurück bringen und dann werde ich wieder hier hin zurück kehren. Ich werde mein Leben hier führen, bei meinen Eltern, und ich werde wohl irgendwann irgendeinen Prinzen heiraten müssen. Aber das ist mir alle Mal lieber, als dir dabei zusehen zu müssen, wie du mit Annabelle glücklich wirst.“
Damit drehte ich mich um und stürmte ins Schloss, ohne auf meinen geschundenen Knöchel Rücksicht zu nehmen. Doch ich musste so schnell wie möglich von Ian weg.
„Jules! Julia!“
Ian rannte mir hinter her, beziehungsweise lief etwas schneller, da ich ja nicht rennen konnte, packte mich am Handgelenk und zog mich zurück. Dann stutzte er.
„Diese Narbe an deiner Schulter... Woher ist die?“
Ich wand mich aus seinem Griff.
„Von einem Angriff.“
„Jules...“
„Hör auf!”, schnitt ich ihm das Wort ab und funkelte ihn an.
Ich ignorierte den Schmerz in seinen Augen und auch die Schuld.
„Ich wurde verletzt, nachdem ich dich zurückgelassen hatte. Es hatte nichts mit dir zu tun, also hör auf, dir zu überlegen, ob es etwas geändert hätte, wenn du mich begleitet hättest. Es hätte nichts geändert.“
Es hätte alles geändert, doch das würde ich ihm gegenüber niemals freiwillig zugeben. Ich atmete tief durch und senkte meine Stimme.
„Geh bitte und sage Ben, dass er sich meinen Knöchel ansehen müsste. Er ist Arzt und wird irgendein Mittel haben, dass die Schmerzen lindert.“, fügte ich hinzu, als sich seine Augen missbilligend verengten.
Dann drehte ich mich um und ging in mein Zimmer.
In meinem Zimmer angekommen, zog ich das Kleid aus und ließ es einfach fallen, bevor ich nur in Unterwäsche zu meinem Schrank ging und mir ein bequemes T-shirt und eine dreiviertellange Jogginghose anzog. Dann setzte ich mich aufs Bett und wartete auf Ben. Ben kam und hatte seine Tasche dabei. Er fragte mich nicht, was passiert war oder warum Ian ihn benachrichtigt hatte und ich war ihm dankbar dafür. Er schmierte mir eine Salbe auf den Knöchel, die kühlte und bandagierte ihn locker ein, ohne ein Wort zu sagen.
„Ich lasse Euch die Salbe da, dann könnt Ihr nach Bedarf noch mehr auftragen.“
Er stand auf und sah mich an.
„Danke, Ben. Und entschuldige, dass ich Ihnen den Abend versaut habe.“
Ich lächelte ihn entschuldigend an und Ben erwiderte mein Lächeln.
„Das habt Ihr nicht. Es ist meine Aufgabe, Euch gesund zu halten und Euch zu helfen, wenn es Euch nicht gut geht. Auch wenn ich Euch wohl nicht von all Euren Leiden heilen kann.“ Sein Lächeln wurde traurig.
„Das kann niemand.“
Ich seufzte und zog die Beine an.
„Danke, Ben. Ich hoffe, Sie haben trotz allem noch einen schönen Abend.“
Er verneigte sich.
„Schlaft gut, Prinzessin.“
Dann ging er und ich legte mich hin. Ich wollte nur noch schlafen und Ian aus meinen Gedanken verbannen.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war mein Knöchel nicht mehr ganz so dick, doch sicherheitshalber schmierte ich mir noch einmal die Salbe drauf und band den Verband wieder drum. Dann stand ich auf und ging zum Frühstück.
„Jules!“
Lucy stürmte auf mich zu und umarmte mich.
„Ian hat gesagt, er wartet draußen. Ist gestern irgendetwas zwischen euch...?“
Sie sah mich fragend an und ich seufzte.
„Er weigert sich, dich auch nur länger als nötig zu sehen.“
„Er hat mir angeboten, dass wir Freunde bleiben und ich habe abgelehnt.“, antwortete ich ihr und nahm mir eine Waffel.
Ich lief weiter, während ich in meine Waffel biss.
„Aber... Warum?“
Ich sah Lucy böse an.
„Glaubst du allen Ernstes, ich will mit Ian befreundet sein?“
Lucy holte Luft, um zu einer Antwort anzusetzen, überlegte es sich dann aber anders. „Nein. Aber... Du kannst doch nicht hier bleiben. Du gehörst hier nicht hin.“
Sie sah mich an.
„Du weißt, dass hier nicht dein Zuhause ist.“
„Lass das bloß nicht Cathrin hören.“, meinte ich und öffnete die Nebentür, die in den Garten führte.
„Und was ist mit deinem Knöchel passiert?“
„Ich bin die Treppe hoch gefallen.“, antwortete ich ihr und lief weiter.
„Einfach so?“
„Nein, ich bin vor Ian geflohen und an einer der Stufen hängen geblieben.“
„Und du willst jetzt...?“
Ich seufzte und drehte mich zu Lucy um.
„Es geht nicht danach, was ich will, Lucy. Das ging es noch nie und das wird es auch nie. Wenn es danach gehen würde, was ich wollte, wäre ich schon lange nicht mehr hier, Ian wäre nicht mit Annabelle zusammen, mein Knöchel wäre nicht so groß wie eine Melone, mein Handgelenk würde nicht weh tun und ich hätte an meiner Schulter keine Wunde. Ich müsste dich und Dustin jetzt nicht zurück bringen und ich müsste kein Leben im goldenen Käfig führen. Wusstest du übrigens, dass es hier zur guten Sitte gehört, dass die Prinzessinnen um ihren 18. Geburtstag rum heiraten? Ich werde in wenigen Monaten 18 und Cathrin hat gestern Abend so ziemlich jeden adligen Junggesellen eingeladen gehabt. Merkst du, worauf ich hinaus will?“
Wir erreichten die kleine Baumgruppe, von der aus ich sie zurück bringen würde und ich setzte mich auf einen der dort vorhandenen Steine.
„Cathrin will dich also verheiraten.“
„Das weiß ich nicht genau, aber der Verdacht liegt nahe.“
„Und wieso bist du so ruhig? Regt dich das nicht wahnsinnig auf?“
Ich seufzte.
„Doch. Aber ich muss mich wohl oder übel damit abfinden. Und ich hoffe einfach, dass ich wenigstens ein Mitspracherecht habe.“
„Das kannst du nicht tun, Jules. Es würde dich umbringen, wenn du dein Leben mit jemandem verbringen musst, den du nicht liebst.“
„Woher willst du wissen, dass ich nicht die Chance habe, mich neu zu verlieben? Vielleicht lerne ich ja jemanden kennen, mit dem ich mich gut verstehe und eines Tages wache ich auf und merke, dass ich ihn liebe?“
Jetzt sah Lucy mich böse an. Wir hörten, wie die Tür geöffnet wurde und sahen auf. Dustin und Ian kamen zu uns rüber und Dustin lächelte mich an.
„Morgen, Jules. Lucy.“
Er zog sie an sich und küsste sie auf die Wange.
„Sollen wir dann?“
Ich nickte und stand auf.
„Klar.“
Ich griff nach Lucy und Dustin stützte mich auf der anderen Seite. Ian sah mich nicht an, nahm aber Lucys andere Hand.

Kaum standen wir wieder im Garten von Lucy und Ian, ließ Ian Lucy und Dustin los, drehte sich um und ging, wenn auch ein wenig taumelnd, ins Haus.
„Wow, er ist wirklich sauer.“, meinte Dustin und sah mich mitleidig an.
Lucy schnaubte.
„Er ist nicht sauer!“
Doch mehr sagte sie nicht dazu.
„Okay, wie dem auch sei. Ich muss los. Und ich will verschwinden, bevor Annabelle mitbekommt, dass Ian wieder zurück ist.“
„Mach’s gut, Jules. Und besuch uns alle paar Wochen mal.“
Dustin umarmte mich und ich lächelte.
„Ich werde es versuchen. Aber du weißt bestimmt besser als ich, wie anstrengend es sein kann, ein Reich zu leiten.“
Ich sah Lucy an.
„Lucy, versprich mir bitte eine Sache.“
Sie sah mich an, ihre Augen vor Misstrauen zu engen Schlitzen verengt.
„Was?“, fauchte sie mich an, doch ich nahm es ihr nicht übel.
„Du wirst Ian nichts von dem, was ich dir erzählt habe, sagen. Absolut nichts. Es geht ihn nichts an.“
Sie funkelte mich wütend an, doch ich hielt ihrem Blick stand.
„Na schön.“, murrte sie schließlich und ich umarmte sie.
„Danke. Ich hab dich lieb, Lucy. Und du fehlst mir jetzt schon.“, flüsterte ich und drückte sie fest an mich.
„Dann geh nicht. Bleib hier.“, flüsterte sie und erwiderte den Druck.
Ich lächelte uns löste mich aus ihrer Umarmung.
„Du weißt, dass das nicht geht.“
Sie seufzte.
„Ich glaube, Dustin und ich müssen uns eine eigene Wohnung suchen, damit du uns öfter besuchen kannst, ohne befürchten zu müssen, dass du Ian begegnest.“
Ich lachte, als ich Dustins erschrockene Miene sah.
„Ich hätte da ein leer stehendes Haus, das ich euch zur Verfügung stellen könnte.“
Ich grinste ihn an und er lächelte zurück. Dann seufzte ich und sah zum Gartentor.
„Ich geh jetzt besser. Sonst komm ich doch nicht mehr los.“
Ich umarmte Lucy noch einmal kurz, drückte Dustin und ging los. Ich sollte Maya noch besuchen und ich hatte es auch vor.

24


Ich seufzte, als das Haus meiner Eltern vor mir erschien. Es kam mir viel länger als nur drei Monate vor, dass meine Eltern geheiratet hatten und ich Ian, Lucy und Dustin zurück gebracht hatte. In diesen drei Monaten hatten Dustin und Lucy beschlossen, in das Haus meiner Eltern zu ziehen, um ein wenig Abstand von Ian zu bekommen, meine Tante hatte mir bei meinem Besuch erzählt, dass sie schwanger war, weshalb meine Mutter sie jetzt regelmäßig besuchte, und ich hatte mich damit abgefunden, im Schloss zu leben, auch wenn ich nicht alle Regelungen akzeptierte und mehr als nur stillen Protest leistete. Doch gegen die Heiratsregel konnte ich mich nicht wehren.
Mit einem beklemmenden Gefühl des Selbstverrats und dem Gefühl, auch den letzten Rest meiner hart erkämpften Freiheit bald aufzugeben, ging ich auf das Haus zu und klingelte. Der Umschlag, der in meiner Umhängetasche steckte, fühlte sich viel schwerer an, als er in Wirklichkeit war, aber vielleicht war das zusätzliche Gewicht auch das Wissen, dass es nicht richtig war, was ich zu tun beabsichtigte. Lucy würde mich umbringen. Und doch wusste ich, dass ich es trotz allem tun würde.
Die Tür öffnete sich und Lucy strahlte mich an.
„Jules! Endlich. Wir haben schon gewartet.“
Ich lächelte und trat in die kühle Eingangshalle.
„Entschuldige, aber ich war noch bei Maya.“
Ich umarmte sie und folgte ihr in die Küche.
„Wie geht’s Maya?“, fragte sie und schenkte mir Kaffee in eine Tasse und reichte mir ein Kuchenstück auf einem Teller.
„Gut. Sie ist bloß ein bisschen launisch und meint, das Baby würde ihre Füße größer machen.“
Lucy lachte und ging mir voraus in den Garten. „
Hey, Jules!“, begrüßte mich Dustin lächelnd und stand auf, um mich zu umarmen.
„Hey.“
Wir setzten uns und ich stellte meine Tasche neben meinem Stuhl ab.
„Und, was gibt’s neues am Hofe?“, fragte Dustin und sah mich neugierig an.
„Naja, deine Eltern sind immer noch ziemlich angesäuert, weil du einfach mit Lucy abgehauen bist, aber Cathrin hat ihnen gesagt, dass sie froh sein sollen, dass sie zumindest einen ihrer Söhne nicht verheiraten müssen und dass sie sich lieber freuen sollen, dass du glücklich bist.“
„Das bin ich auf alle Fälle.“, meinte Dustin und nahm Lucys Hand.
Lucy schenkte ihm ein liebevolles Lächeln.
„Und sonst so?“
Ich seufzte und sah Dustin an.
„Ich werde in eineinhalb Monaten 18.“
„Oh...“
Dustin seufzte.
„Cathrin will bei dir keine Ausnahme machen?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Ich hab schon zu viele Ausnahmen bekommen, meinte sie.“
„Um was genau geht es hier gerade?“, fragte Lucy und sah zwischen Dustin und mir hin und her.
Ich bückte mich nach meiner Tasche und fischte den großen, weißen Umschlag heraus. „Darum.“, meinte ich und reichte ihn Lucy.
Lucy öffnete ihn und holte neugierig die Blätter heraus. Dann wurde sie kreideweiß. „Nein. Das kann Cathrin doch nicht allen Ernstes machen!“
„Doch, kann sie.“, meinte ich und legte meine linke Hand auf den Tisch.
Am Ringfinger meiner linken Hand funkelte ein großer, protziger Goldring, in den ein riesiger Rubin eingelassen worden war, der von mehreren kleineren Saphiren umringt war. „Du... Du bist bereits verlobt?!“
Lucy starrte entsetzt den Ring an.
„Ja. Und an meinem 18. Geburtstag werde ich bereits verheiratet sein.“, flüsterte ich traurig und starrte den Ring an.
„Hast du wenigstens entscheiden dürfen, wen du heiratest?“, fragte mich Dustin und ich lachte grimmig.
„Ja, das durfte ich gerade noch so. Cathrin hatte schon überlegt, ob sie mir dieses Recht auch nehmen soll, aber Mathew hat ihr gedroht, er würde mich aus dem Schloss schaffen, falls sie es wagen sollte.“
„Sie wollte dir nicht einmal mehr die Wahl lassen?!“, fragte Lucy mich geschockt und sah mich mit großen ungläubigen Augen an.
„Doch, anfangs schon, doch nachdem ich ihr erzählt hatte, auf wen meine Wahl gefallen war, ist sie beinahe ausgetickt.“
Ich lächelte grimmig bei der Erinnerung.
„Für wen hast du dich entschieden?“, fragte mich Dustin und sah mich erwartungsvoll an. „Graf Alessandro Appinitius.”, antwortete ich und Dustin lachte laut los.
„Kein Wunder, dass Cathrin ausgerastet ist und dir das Recht, zu wählen, nehmen wollte!“, meinte er immer noch lachend und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Ich dachte mir schon fast, dass du das amüsant finden würdest.“, meinte ich und lächelte.
„Okay, warum ist es nicht verwunderlich, dass Cathrin ausgerastet ist?“, fragte Lucy und sah mich irritiert an.
„Sagen wir einfach, Alessandro ist nicht das, was Cathrin sich vorgestellt hatte. Er hat nicht unbedingt den Ruf, den sie sich für ihren Schwiegersohn erhoffen würde. Was, unter uns gesagt, mich dazu veranlasst hat, ihn zu wählen.“
Ich grinste und mir war bewusst, dass es ein beinahe hinterhältiges Grinsen war.
„Was für einen Ruf hat er?“, wollte Lucy wissen und sah Dustin an.
„Nun ja, es steht sicher fest, dass der liebe Alessandro bereits ein Kind hat. Und möglicherweise noch zwei weitere, was jedoch noch nicht sicher ist. Und diese Kinder haben nicht die selbe Mutter. Und er ist mit keiner der beiden verheiratet.“, antwortete Dustin ihr und Lucy klappte der Mund auf.
„Und das bei den strengen Regeln des Hofes.“
Dann sah sie mich an.
„Liebst du ihn?“
Ich seufzte.
„Nein, aber darum ging es mir nicht. Er weiß, dass ich ihn nicht liebe und er weiß auch, dass ich... genauso unrein in diese Ehe starten werde wie er. Ich hab ihn vor zwei Monaten auf einem der tausend Bälle kennen gelernt und wir verstehen uns gut. Wir haben beide dieser Ehe nur zugestimmt, weil wir sonst beide von unseren Eltern verheiratet worden wären und wir dachten uns, dass wir lieber den Rest unseres Lebens mit jemandem verbringen, den wir mögen und mit dem wir auskommen, als mit jemandem, den wir überhaupt nicht ausstehen können. Wir werden die perfekte Scheinehe führen.“
Lucy sah mich unglücklich an.
„Es ist trotzdem falsch.“
Dustin räusperte sich und zog somit die Aufmerksamkeit auf sich.
„Dir ist aber schon bewusst, dass du um die Hochzeitsnacht nicht rum kommen wirst, oder?“ Ich biss mir auf die Lippe und nickte knapp.
„Ich weiß. Aber das erschien mir irgendwie ein im Vergleich kleiner Preis zu der anderen Alternative. Die wäre nämlich, wenn es nach Cathrin gegangen wäre, Prinz Gustave von Prom.“
Dustin zog scharf die Luft ein und selbst Lucy verzog das Gesicht.
„Nach allem, was ich von ihm gehört habe, soll er ein Arschloch sein. Ein riesiges Arschloch.“
„Er ist mehr als nur ein Arschloch. Er behandelt seine Diener schlecht, er behandelt seine Tiere schlecht, er behandelt sein Volk schlecht und Frauen sind für ihn nichts anderes als Zeitvertreib. Würde Jules ihn heiraten, würde er sie vermutlich im Schlafzimmer einsperren und sie nie wieder raus lassen. Aber so weit ich weiß, hat er noch keine Kinder. Bei allem, was seine Eltern in der Erziehung falsch gemacht haben, haben sie auf diese Regel bestanden.“
„Das haben sie nur, um dem Königshof zu gefallen.“, brummte ich und seufzte.
„Wie dem auch sei.“
Ich wandte mich wieder an Lucy.
„Ich weiß, dass Alessandro nicht der richtige ist. Und ich weiß, dass das nicht die optimale Lösung ist. Aber er ist von allen, die ich kennen gelernt habe, der einzige, der mich als Mensch wahrnimmt und nicht nur als Königin in Spe, Frau oder Gebärobjekt. Ich liebe ihn vielleicht nicht und er liebt mich auch nicht, aber wir kommen mit einander aus und wir verstehen uns. Wir respektieren einander und ich bin die einzige, der es egal ist, dass er unrein in diese Ehe startet. Und laut ihm hat er nur zwei Kinder. Das erste war ein Unfall und das zweite hat er mit der Frau, die er liebt. Doch sie können nicht heiraten und ihre Verbindung öffentlich machen, weil sie bloß eine Magd ist.“
Ich verdrehte die Augen.
„Das ist ja traurig!“, meinte Lucy.
„Und was will Jules dagegen unternehmen?“, fragte Dustin und sah mich an.
Ich grinste.
„Jules hat sich überlegt, dass sie ihre Mutter, mit der sie sich zur Zeit sowieso wegen jeder Kleinigkeit anlegt, noch ein bisschen mehr auf die Palme bringt, indem sie diese Magd ins Schloss holt, natürlich mit Kind, und sie zu ihrer Kammerzofe macht, wodurch sie Zugang zu den privaten Schlafräumen des baldigen königlichen Paares hätte und Jules dann einfach immer im Arbeitszimmer über irgendwelchem Papierkram einschläft. Und es ist dem Prinzen natürlich nicht zuzumuten, alleine zu schlafen, wenn er weibliche Gesellschaft wünscht.“
„Das wird niemals gut gehen.“, meinte Dustin zweifelnd und schüttelte den Kopf.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Cathrin weiß nicht, dass das die Frau ist, die Alessandro wirklich liebt. Und ich werde darauf bestehen, sie zu bekommen und wenn ich auf etwas bestehe, bekomme ich es als Thronerbin auch, ganz einfach. Mit oder ohne Cathrins Wissen. Und solange sie sich nicht erwischen lassen, habe ich nicht vor, Cathrin etwas von meinen Plänen zu erzählen.“
Lucy schüttelte ungläubig den Kopf.
„Es ist trotzdem nicht richtig. Versteh mich nicht falsch, Jules, ich find’s großartig, dass du dich gut mit ihm verstehst und dass du es ihm ermöglichen möchtest, trotz Ehe glücklich zu werden, aber... Es ist trotzdem falsch. Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Wo bleibt dein Glück?“
„Mein Glück wird darin bestehen, dass ich einen Freund glücklich gemacht habe. Dass ich jeden Tag sehen werde, wie ein glückliches Leben aussehen wird. Und wenn die beiden noch ein Kind bekommen sollten, werden wir offiziell verkünden, dass es unseres wäre, das heißt, ich würde ein Kind bekommen, ohne vorher fett und launisch zu werden.“
Ich lächelte, doch Lucy sah mich noch immer traurig an.
„Das ist nicht fair dir gegenüber.“
Seufzend stand ich auf.
„Mag sein. Aber ich kann es nicht ändern, also mach ich das Beste draus.“
Ich hob meine Tasche auf und hängte sie mir um.
„Lucy...“, meinte ich und sah sie an.
„Soll ich Ian davon auch nichts sagen?“, fragte sie mich und klang sauer.
„Bitte. Es geht ihn nichts an und ich bezweifle, dass es ihn überhaupt interessiert. Aber ich habe Cathrin erzählt, dass er weggezogen ist und ich nicht weiß, wohin, sonst hätte sie verlangt, dass ich ihn auch einlade und das ist nun wirklich das letzte, was ich gebrauchen kann.“
Lucy murrte. Ich sah sie an und sah ihr genau in die Augen.
„Lucy, schwör mir, dass du ihm nichts sagen wirst.“
„Einverstanden.“, meinte sie widerwillig.
„Über meine Lippen kommt kein Wort.“
Ich seufzte erleichtert auf.
„Danke, Lucy.“
Ich umarmte sie und verabschiedete mich von Dustin, dann kehrte ich in die andere Welt zurück. Und obwohl ich dort mein Leben verbringen würde, fühlte es sich nicht nach Heimat an.

Kaum war ich angekommen und in meinem Zimmer, klopfte es an der Tür und Cathrin kam herein.
„Du bist wieder da, das ist gut. Wir haben noch einiges zu erledigen, bevor du in fünf Wochen heiratest.“
Sie lächelte mich an, doch es war ein gezwungenes Lächeln. Sie war nach wie vor sauer auf mich, weil ich Alessandro heiraten würde und nicht einen der anderen, ihrer Meinung nach besseren, Freier. Ich nickte knapp und schmiss die Tasche aufs Bett.
„Was haben die beiden gesagt?“, fragte sie mich und obwohl es so klang, als ob sie wissen wollte, ob die beiden kommen, wollte sie eigentlich wissen, wie sie- und vor allem Dustin- reagiert hatten. Sie hatte sich erhofft, dass die Reaktion von Dustin und Lucy mich an meiner Entscheidung zweifeln ließ und ich mich doch noch für einen ihrer Favoriten entscheiden würde.
„Dustin hat sich gefreut.“, antwortete ich deshalb, auch wenn er mehr gelacht hatte, doch das musste sie ja nicht wissen.
„Ah.“, meinte sie nur und atmete tief durch.
„Nun gut. Diese ... Magd, die du wolltest, ist eingetroffen. Graf Alessandro spricht gerade mit ihr.“
Sie klang missbilligend, auch wenn es dafür keinen Grund gab- jedenfalls keinen, den sie wissen konnte.
„Gut. Wo sind sie gerade?“, fragte ich und betrachtete mich kurz im Spiegel, um zu kontrollieren, dass ich halbwegs annehmbar aussah.
„Im Garten.“, antwortete sie und ich nickte.
„In einer Stunde kommt die Schneiderin, um dein Kleid abzumessen.“, erinnerte sie mich, als ich den Raum verließ und ich winkte ab.
„Du liebst es doch, jemanden nach mir zu schicken. Tu dir keinen Zwang an.“
Damit zog ich die Tür hinter mir zu und eilte in den Garten.
„Prinzessin Julya!“ Alessandro kam freudestrahlend auf mich zu, küsste mir die Hand und zog mich an sich, als er sich sicher war, dass keiner in der Nähe war.
„Danke. Danke, danke, danke.“, flüsterte er mir ins Ohr und zerdrückte mich fast.
„Au, Alessandro, bitte. Wenn du mich nicht loslässt, werde ich dich nicht mehr heiraten können.“, flüsterte ich und er ließ mich los.
„Entschuldige.“
Er lächelte mich noch immer überglücklich an.
„Aber ich kann einfach nicht glauben, dass du das gemacht hast. Du hast Violet und meine kleine Charlotte hergeholt, obwohl du dich gerade so mit deiner Muter streitest.“
Ich lächelte.
„Ich habe sie herholen lassen, weil ich mich mit meiner Mutter streite.“
Ich boxte ihn freundschaftlich auf den Arm.
„Außerdem weiß ich, wie viel sie dir bedeuten. Wie sehr du sie liebst.“
Er lächelte, griff meine Hand und zog mich zu Violet und dem kleinen Mädchen, das über das Gras krabbelte und versuchte, einen Schmetterling zu fangen.
„Prinzessin.“
Violet senkte den Kopf und machte einen Knicks.
„Ich danke Euch, dass Ihr mich habt rufen lassen. Es ist mir eine große Ehre, für Euch arbeiten zu dürfen.“
Ich lächelte und setzte mich neben Charlotte. Mit einem Blick auf den Rundgang meinte ich:
„Graf Alessandro, ich bin von meiner Reise doch ein wenig außer Puste. Wärt Ihr bitte so freundlich und geleitet meine Zofe zu meinem Zimmer und dann zu dem baldigen Schlafgemach? Jemand muss ihr den Weg zeigen und ich bin nicht in der Verfassung dafür. Ich werde indes hier bleiben und mich ausruhen.“
Alessandro hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen, doch er schaffte es und verbeugte sich.
„Natürlich, Prinzessin.“
Er sah Violet an.
„Wenn ich Sie bitten dürfte, mir zu folgen, gnädiges Fräulein.“
Violet sah irritiert von ihm zu mir.
„Oh, und Sie müssten ihr noch das eine oder andere erklären, Graf Alessandro. Ich habe das Gefühl, sie ist mit dem Hofprozedere noch nicht ganz vertraut. Jedenfalls nicht mit unserem.“, fügte ich grinsend hinzu und Alessandro lächelte.
„Natürlich, Euer Hoheit.“
Er deutete Violet, ihm zu folgen und die beiden verließen den Garten. Ich konnte Cathrins wachsamen Blick auf mir spüren, doch es war mir egal, ich legte mich ins Gras und sah zu Charlotte.
„Na, du Süße? Deine Mummy und dein Daddy sind gerade reden gegangen. Und weißt du was? Meine Mummy weiß davon nichts.“
Ich lachte kurz auf.
„Rein gar nichts.“
Charlotte kam auf mich zu gekrabbelt und ich setzte sie mir auf den Bauch.
„Du bist ja schon unglaublich süß, weißt du das?“
Ich kitzelte sie am Bauch und sie unterbrach ihr Geblubber, um zu lachen. Ich lächelte sie an.
„Ich hab das Gefühl, wir beide werden sehr viel Zeit miteinander verbringen.“
Charlotte sah mich an, als wolle sie sagen: Na und? und zupfte an meinen Haaren. Ich setzte mich auf und nahm sie auf den Arm.
„Na komm, kleine. Gehen wir mal schauen, ob wir was zu trinken bekommen. Ich hab nämlich Durst.“
„Okay, was um alles in der Welt hast du vor?“
Cathrin baute sich wütend vor mir auf und funkelte mich wütend an.
„Warum hast du dieses Kind auf dem Arm?“
Ich wischte Charlotte ein wenig Sabber vom Mund und setzte sie mir auf die Hüfte, bevor ich Cathrin ansah.
„Ich habe nichts vor, Mutter. Ich habe mir lediglich eine neue Zofe geholt. Und vielleicht habe ich ja dieses Kind auf dem Arm, weil ich mir überlege, ob ich auch schon eines möchte.“
Cathrin klappte der Mund auf und sie sah mich ungläubig an.
„Oh... Das... Also das ist... überraschend.“
Sie drehte sich um und ging, drehte sich dann aber noch mal zu mir um und sah mich an. „Du kannst gut mit kleinen Kindern.“
Ich lächelte und sah Charlotte an.
„Ja, finde ich auch.“
Dann ging Cathrin und ich ging grinsend in mein Zimmer. Charlotte wurde quengelig und ich wollte endlich ein wenig Ruhe. Also legte ich sie in mein Bett und setzte mich neben sie, sang ihr ein paar Schlaflieder vor und wartete, bis sie eingeschlafen war. Dann betrachtete ich sie und stellte fest, dass ich ernsthaft darüber nachdachte, wie es wohl wäre, wenn ich eines Tages auch so einen kleinen süßen Fratz hätte.
Mein Lächeln schwand, als mir klar wurde, dass ich nie ein Kind haben würde. Ich könnte natürlich Alessandro fragen, aber es wäre nicht das selbe. Wenn, dann wollte ich ein Kind mit dem Mann, den ich liebte. Doch das würde wohl nichts werden, denn ich hatte mich bereit erklärt, Alessandro in fünf Wochen zu heiraten.
Doch im Gegensatz zu mir würde Alessandro trotzdem glücklich werden, denn er hatte eine wundervolle Tochter und die Frau, die er liebte, an seiner Seite. Ich zuckte leicht zusammen und wischte mir hektisch die Träne von der Wange, als die Tür leise geöffnet wurde.
„Hey.“, flüsterte er und kam zu mir ans Bett.
„Du hast es geschafft, dass sie einschläft?“
Ich nickte und lächelte.
„War gar nicht so schwierig, nachdem wir Schmetterlinge gejagt und in der Küche die Köche geärgert hatten.“
Er lächelte.
„Oh, allerdings könnte Cathrin jetzt glauben, dass wir schon ein Kind planen. Nur als Vorwarnung, falls sie dich mal drauf ansprechen sollte.“, meinte ich und er sah mich überrascht an.
„Geht sie davon aus, weil du mit Charlotte auf dem Arm durchs Schloss gelaufen bist?“ „Könnte man so sagen.“, meinte ich und verschränkte die Arme.
„Ah.“
Dann schwiegen wir beide.
„Jules... Ist das auch wirklich okay für dich?“, fragte er mich plötzlich und sah mich von der Seite her an.
„Alessandro, das hatten wir doch schon.“, meinte ich und wandte mich vom Bett ab.
„Ja, schon, aber... Du scheinst heute irgendwie unglücklicher als sonst.“
Er sah mich an und ich zuckte mit den Schultern.
„Ich habe schon als kleines Kind davon ge-träumt, wie mein Leben mit dem Mann, den ich liebe, wohl aussehen würde. Jetzt muss ich einsehen, dass es wohl immer Träume bleiben werden.“
Ich lächelte traurig und Alessandro zog mich in seine Arme.
„Tut mir leid.“, flüsterte er und streichelte mir den Rücken.
„Schon okay. Was hat Violet eigentlich zu unserem Versteckspiel gesagt?“, fragte ich ihn und sah ihn an.
Er schnitt eine Grimasse.
„Es wäre ihr ganz lieb, wenn wir uns irgendwie um die Hochzeitsnacht drücken könnten, aber ihr ist klar, dass das wohl nicht gehen wird.“
„Ich würde es auch vorziehen.“, murmelte ich an seiner Brust und er lachte.
„Ich auch. Auch wenn ich nichts dagegen habe, meine Frau mal nackt zu sehen.“
Ich schlug ihn gegen die Brust und er lachte.
„Nein, ernsthaft. Vielleicht finden wir ja doch noch einen Weg, uns davor zu drücken.“ „Hm- mh.“, brummte ich und löste mich seufzend aus seiner Umarmung.
„Und bis dahin lasse ich mir mal ein paar Nadeln in die Haut stechen, wenn sie versuchen, mein Hochzeitskleid noch enger zu machen. Dabei ist es jetzt schon so eng, dass ich keine Luft mehr bekomme.“
Alessandro lachte und küsste mich auf die Stirn.
„Danke. Für alles.“

Es war schon kurz nach Mitternacht und ich lag noch immer wach in meinem Bett. Die letzten zwei Stunden hatte ich damit verbracht, angestrengt zu versuchen, einzuschlafen, doch es ging nicht.
Zu viele Gedanken gingen mir durch den Kopf, als dass ich mich hätte so weit entspannen können, dass ich einschlafen konnte.
Ich würde Morgen Alessandro heiraten und ich hatte noch immer keine Idee, wie wir uns um die Hochzeitsnacht schummeln sollten.
Nachdem Cathrin mir schon vor Monaten, noch bevor ich mit Alessandro verlobt gewesen war, erzählt hatte, dass sie mindestens ein Diener und/ oder eine Zofe im Vorzimmer postieren würde, um darauf zu achten, dass die Ehe wirklich vollzogen wurde, und ich mich nicht darum drücken konnte, war ich ausgerastet, doch ganz egal, wie sehr ich mich dagegen sträubte, Cathrin bestand darauf. Ich hatte nur mit dem Protest aufgehört, weil sie mir gedroht hatte, sich sonst selbst dort hin zu stellen.
Aber seit diesem Tag fand ich es im Schloss noch schlimmer als vorher schon.
Stöhnend warf ich mich auf die andere Seite und sah aus dem Fenster. Der Mond schien hell und alles war ruhig. Normalerweise erfreute mich so ein Anblick, so ein Moment der Ruhe, doch jetzt gerade beunruhigte er mich irgendwie.
Plötzlich hörte ich Schritte auf dem Gang, viele Schritte, von mindestens vier verschiedenen Personen, wovon drei Wachen waren.
Überrascht setzte ich mich auf und lauschte. Die Schritte kamen schnell näher, als würde jemand rennen und die Wachen würden versuchen, ihn einzuholen.
„Hey!“, hörte ich einen der Wachmänner rufen, doch was er noch sagte, wurde von der Tür verschluckt. Eine andere Stimme erwiderte etwas, doch auch da verstand ich nicht, was sie sagte. Ich konnte erkennen, dass sie vor meiner Tür standen und der Besucher oder Eindringling zu mir wollte und die Wachen ihn davon abhalten wollten. Leise stand ich auf und schlich zur Tür. Ich konnte eh nicht schlafen, da konnte ich auch genau so gut nachsehen, was den Tumult vor meiner Tür auslöste. Ich hörte, wie die Wachen diskutierten, doch der nächtliche Besucher ließ sich nicht abwimmeln. Er war eindeutig erhitzt, wenn nicht sogar wütend, und stellte klar, dass er erst gehen würde, wenn er mit mir gesprochen hatte. Ich griff nach der Türklinke und öffnete die Tür. Augenblicklich verstummte der Tumult.
„Was um alles in der Welt...?“
Ich schnappte nach Luft, als ich Ian vor mir stehen sah.
„Ian?“
„Wir müssen reden. Jetzt sofort.”, knurrte er und sah mich an.
Die Wachen versperrten ihm den Weg. Ich sah ihn an, sah seine Wut über irgendetwas, sah seine Entschlossenheit, erst zu gehen, wenn er mit mir geredet hatte, und seufzte.
„Na schön. Lasst ihn durch.“, wies ich die Wachen an und sie machten ihm Platz, wenn auch widerwillig.
„Und geht zurück auf eure Positionen. So weit ich weiß, sind die nicht vor meinem Zimmer.“
Die Wachen verbeugten sich und gingen, aber nicht, ohne Ian noch einen drohenden Blick zu zuwerfen. Kaum waren sie weg, stürmte Ian an mir vorbei in mein Zimmer und ich schloss die Tür.
„Es muss Spaß machen, einem ganzen Haufen großer Kerle Befehle erteilen zu können.“, meinte er und ich konnte die Verachtung in seiner Stimme hören.
Ich seufzte und trat an mein Bett.
„Du bist bestimmt nicht hier, um deshalb auf mir rum zu hacken.“
Ich sah ihn an, doch er sagte nichts, seine Augen funkelten noch immer vor Wut.
„Also. Warum bist du gekommen? Warum bist du hier?“
„Deshalb.“, knurrte er, griff in seine Hosentasche, zog etwas heraus und warf es mir vor die Füße.
Seufzend bückte ich mich danach und drehte es eine Weile in der Hand, ohne etwas zu sagen.
„Lucy hat dir also die Einladung gezeigt.“
Mir fiel ein, wie sie mir geschworen hatte, dass über ihre Lippen kein Wort kommen würde. Warum sollte auch, wenn sie ihm einfach die Einladung geben konnte?
„Hattest du vor, es mir irgendwann zu sagen?“, fragte er mich und bemühte sich, seine Stimme möglichst leise zu halten.
Ich zögerte und sah auf den Boden, als ich den Kopf schüttelte.
„Nein.“
Ian schnaubte.
„Wow.“
Er drehte sich von mir weg.
„Warum nicht?“
Ich lehnte mich ans Fenstersims und verschränkte die Arme.
„Warum hätte ich sollen? Der Hochzeitstag wird normalerweise der schönste Tag im Leben einer Frau. Bei mir wird es der schlimmste. Und er wird schon schlimm genug, auch ohne dass du dabei bist. Und mein Leben wird kompliziert genug, da muss ich dich nicht auch noch auf meiner Hochzeit haben.“
Ian sah mich an.
„Wie lange kennst du ihn schon?“
Ich sah aus dem Fenster.
„Länger, als ich dich gekannt habe, als ich mit dir geschlafen habe.“
„Liebst du ihn?“
„Ich empfinde genug für ihn, um mein Leben mit ihm zu verbringen.“
„Das beantwortet nicht meine Frage.“
„Ich muss dir keine Frage beantworten, und schon gar nicht diese.“
„Du weichst mir schon wieder aus.“
„Und ich werde dir auch weiter hin ausweichen.“
„Warum kannst du mir nicht diese einfache Frage beantworten?“
„Warum tauchst du mitten in der Nacht im Schloss auf und willst mich unbedingt sprechen?“
„Ich habe zuerst gefragt.“
„Na und? Warum bist du nicht bei Annabelle geblieben? Und wie bist du hier her gekommen? Du bist bei mir aufgetaucht, nicht ich bei dir. Also musst du auch zuerst antworten.“
Ian sah mich mit vor Wut funkelnden Augen an, seufzte aber schließlich und antwortete. „Cathrin hat... mich mitgenommen. Sie war bei Maya und ich wusste es, weil ich mit dir reden musste und nicht wusste, wie. Da hab ich sie gebeten, mir Bescheid zu sagen, wenn Cathrin das nächste Mal zu ihr kommen würde. Und das hat sie.“
Er drehte sich weg, seufzte und fuhr sich mit dem Daumen und dem Zeigefinger über die Nasenwurzel. Sofort zuckte ich zusammen, denn ich kannte diese Bewegung.
„Also. Jetzt du. Liebst du ihn?“
Ian drehte sich wieder zu mir um und sah mich an.
Ich wich seinem Blick aus.
„Nein.“, flüsterte ich leise und schüttelte den Kopf.
Ian stieß ein Geräusch aus, dass wie eine Mischung aus einem erleichterten Seufzen und einem glücklichen Lachen klang und drehte sich zu mir um.
„Warum tust du das dann?“
„Das geht dich nichts an.“, flüsterte ich, doch Ian schüttelte den Kopf.
„Das geht es sehr wohl. Verdammt, Jules! Kapierst du nicht, dass du damit nicht nur dein Leben zerstörst?! Du nimmst mir auch jede Chance!“
Ich sah ihn mit großen Augen an, doch er drehte sich weg, atmete tief durch und sah mich wieder an.
„Sag’s mir bitte. Ich möchte es wenigstens verstehen. Wenn du ihn nicht liebst, warum willst du ihn dann heiraten?“, fragte er sanft und kam näher.
„Nein, Ian, bitte. Lass es. Hör auf.“, flehte ich ihn an und drückte mit meinen Händen gegen seinen Bauch, um ihn auf Abstand zu halten.
„Das kann ich nicht, Jules. Das will ich auch nicht.“, flüsterte er und hob mein Kinn an. Er zwang mich, ihn anzusehen, bevor er weiter sprach.
„Ich habe die letzten drei Monate versucht, dich zu vergessen, Jules. Ich habe es wirklich mit allen Mitteln versucht. Nein, Jules, hör mir zu, bitte.“, meinte er sanft, als ich mich aus seinem Griff befreien wollte und zur Seite sah.
„Jules, sieh mich an. Bitte.“
Er wartete, bis ich ihn wieder ansah und wischte mir sanft die Tränen von der Wange.
„Ich sagte, ich habe es versucht, doch es hat nicht funktioniert. Ich konnte dich einfach nicht aus meinem Kopf bekommen. Und als Lucy mir vor vier Wochen diese Einladung gegeben hat, ist mir endlich klar geworden, warum ich dich nicht aus meinem Kopf bekomme. Und warum ich so ausgerastet bin bei der Vorstellung, dass dich ein anderer bekommen sollte.“ Er sah mir in die Augen und ich hielt überrascht die Luft an, als er seine Hand an mein Gesicht legte und zärtlich mit dem Daumen meine Wange streichelte.
„Ich liebe dich, Jules. Ich habe dich jede Sekunde lang geliebt und ich habe mich jede Sekunde lang, die du nicht bei mir warst, nach dir gesehnt, auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte. Und es war mein größter Fehler, dich gehen zu lassen. Und jeden Morgen, wenn ich aufwachte und nicht dich neben mir liegen sah, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass ich nie wieder ohne dich aufwachen werde.“
Er nahm meine zitternden Arme von seinem Bauch und legte sie um seinen Hals, bevor er mich sanft gegen die Wand drückte.
„Ich liebe dich, Jules.“, flüsterte er und wollte mich küssen, doch ich drehte den Kopf weg.
„Nein, Ian. Hör auf.“, wisperte ich und presste mich gegen die Wand, um mehr Abstand zwischen ihn und mich zu bringen.
„Warum?“, flüsterte er und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht.
„Nenn mir einen guten Grund, warum ich dich jetzt nicht küssen sollte.“
„Ian, ich werde morgen heiraten.“, flüsterte ich und zeigte ihm den Ring an meinem Finger.
„Einen Typen, den du nicht liebst.“, erwiderte er und gab nicht auf.
„Bei königlichen Hochzeiten geht es nicht immer um Gefühle.“, flüsterte ich und sah ihn an.
„Ich werde dich ihn nicht heiraten lassen.“, flüsterte Ian und stützte seine Hände rechts und links von mir gegen die Wand.
„Das musst du aber.“, flüsterte ich und spürte schon wieder die Tränen in meinen Augen. „Das kann ich nicht, Jules. Ich liebe dich und ich kann nicht zulassen, dass du einen Typen heiratest, den du nicht liebst.“
Er sah mich an und schwieg einen Moment.
„Komm mit mir zurück nach Phoenix.“, flüsterte er und mir klappte der Mund auf.
„Komm mit mir wieder nach Hause.“, flüsterte er und seine Lippen strichen sanft über meine.
Ich spürte, wie mein Puls schneller schlug und mein Atem schneller ging und Ian grinste, als er seine Lippen sanft auf meine drückte.
„Komm mit mir zurück.“, flüsterte er an meinen Lippen und zog sich wieder zurück, um mir ein wenig Platz zu lassen.
„Ich... ich kann nicht, Ian. Ich werde morgen heiraten. Ich ... kann nicht einfach abhauen.“
Ian seufzte.
„Du hast gesagt, du liebst ihn nicht. Warum liebst du ihn nicht?“
Er sah mich an und ich konnte nicht anders, als mit meinen Fingern seine Lippen nach zu fahren.
„Das weißt du genau.“, flüsterte ich und er lächelte.
„Ja. Deshalb bin ich hier.“
Er zog mich an sich und ich konnte seine Wärme überall spüren.
„Du gehörst hier nicht hin, Jules. Und du gehörst auch nicht zu diesem Grafen. Deshalb musst du mit mir zurück kommen. Du gehörst zu mir.“
Er sah mich an und die Wärme und die Liebe in seinem Blick raubten mir für einen Moment den Atem, dann fuhr ich mit meinen Fingern über seine Brust.
„Aber wenn du und ich jetzt plötzlich bei euch auftauchen sollten... Was würde Annabelle sagen? Und noch viel wichtiger: Was würdest du ihr sagen?“
Ich sah ihn an und er wusste, dass ich darauf anspielte, was er Annabelle über mich erzählt hatte.
„Wenn wir sie irgendwann mal treffen sollten, werde ich ihr die Wahrheit sagen. Sie und ich haben uns getrennt, als mir klar wurde, dass sie nicht die richtige für mich war.“
Er lächelte mich an und küsste mich auf die Stirn.
„Bitte komm mit mir zurück.“
„Ian...“, fing ich an, doch Ian unterbrach mich, indem er seine Lippen auf meine presste. „Bitte. Und ich lasse ein Nein nicht gelten.“, hauchte er und zog sanft an meiner Unterlippe.
„Ian, ich kann nicht einfach verschwinden.“, seufzte ich und schob ihn minimal von mir weg.
„Auch wenn ich Alessandro nicht liebe, ist er mein Freund. Und wenn ich gehe, werden seine Eltern ihn zwingen, irgendeine andere zu heiraten.“
„Und das ist schlimmer, als wenn du ihn heiraten würdest?“, fragte er mich und zog eine Augenbraue hoch.
„Ja, weil er und ich eine Scheinehe geführt hätten. Das war alles schon lange abgesprochen. Ich habe sogar die Frau, die er liebt, an den Hof holen lassen, und seine Tochter. Wenn ich ihn heirate, können sie zusammen sein, wenn ich aber gehe, werden sie nie zusammen sein.“
Ian sah mich an und seufzte.
„Du bist ein herzensguter Mensch, weißt du das?“
Er küsste mich und ich ließ es zu, hatte ich dieses Gefühl doch viel zu lange vermisst. „Aber manchmal bist du einfach zu gut.“
Er seufzte und ich lächelte.
„Aber du kannst nicht hier bleiben. Das kannst du uns beiden nicht antun.“, meinte er und ich wusste, dass er Recht hatte.
„Ich will auch mit dir zurück nach Phoenix, Ian, wirklich. Nur muss ich mir vorher überlegen, wie ich dafür sorgen kann, dass Alessandro und Violet trotzdem zusammen sein können.“
Ian lächelte mich an und in seinen Augen konnte sein ganzes Vertrauen mir gegenüber sehen.
„Dir als Thronerbin wird ja wohl etwas einfallen.“
Ich lächelte.
„Das stimmt wohl.“
Dann zog ich ihn an mich und küsste ihn liebevoll.
„Du gehst also mit mir zurück?“, fragte er und sah mich glücklich an.
„Ja, sobald ich eine Kleinigkeit erledigt habe.“, flüsterte ich, doch bevor ich etwas tun konnte, zog er mich an sich, küsste mich und presste mich gegen die Wand.
„Das kann noch einen Moment warten.“
Und dann küsste er mich und alles andere verlor an Bedeutung.


Ich lächelte, als mein Bewusstsein wach wurde. Ich spürte die Matratze unter mir und Ian hinter mir. Ich spürte das Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel und mich blendete und ich spürte die innere Ruhe und den Frieden, der mich ausfüllte. Leise, um Ian nicht zu wecken, stand ich auf und ging leise nach unten. Die Sonne schien durch jedes Fenster und die Vögel zwitscherten. Es war noch früh, doch ich konnte nicht länger im Bett liegen. Das Glücksgefühl war einfach zu überwältigend. Ich war endlich wieder frei. Ich setzte mich auf die Terrasse ins Sonnenlicht und schloss die Augen. Ich hatte meine Panty und ein einfaches Top an und seufzte glücklich. Nach knapp vier Monaten in der anderen Welt und zusammen mit Cathrin im Schloss, war ich nun endlich wieder dort, wo ich mich wohl fühlte. Ich war wieder zu Hause.
Cathrin würde vermutlich gerade den Brief finden, den ich ihr hinterlassen hatte und einen Tobsuchtsanfall bekommen, doch das störte mich nicht. Ich machte mir lediglich Sorgen um Alessandro. Wenn alles gut ging, würde Cathrin trotz ihrer Wut auf mich zulassen, dass an meiner Stelle Violet zum Altar geführt werden würde und Alessandro würde endlich seine Familie bekommen. Und wenn nicht, würde er hoffentlich wenigstens den Brief bekommen, in dem ich Anweisungen gegeben hatte, ihn und Violet zu vermählen, und zwar mit der gesamten Autorität, die ich besaß. Dann konnte Cathrin nichts mehr dagegen tun. Ich hoffte nur, dass Mathew seinen Brief lesen würde und wenigstens er mich verstehen würde. Irgendwie fühlte ich mich Mathew näher als meiner Mutter, und es machte mir wesentlich mehr aus, was er von mir dachte, als es bei meiner Mutter der Fall war. Ich genoss noch einen Moment lang die Sonne, dann stand ich wieder auf und ging wieder die Treppe hoch. Leise schlüpfte ich durch die Tür und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Ian schlief noch und ich betrachtete ihn einfach eine Weile. Wenn ich ihn ansah, wusste ich, dass es richtig gewesen war, mit ihm durchzubrennen, auch wenn Cathrin alles daran setzten sollte, Alessandros und Violets Ehe zu verbieten. Ich hatte ihnen die Erlaubnis erteilt, trotz der unterschiedlichen Herkünfte zu heiraten, und das konnte Cathrin nicht einfach rückgängig machen. Und es war nicht fair, dass ich mein Glück auf-geben wollte, nur um Cathrin zu gefallen. Und es war auch alles andere als fair gewesen, dass Cathrin von mir verlangt hatte, zu heiraten. Doch Ians Anblick ließ mich all den Schmerz der letzten Monate vergessen.
Ian drehte sich um und würde bald aufwachen. Leise schlich ich zum Bett und setzte mich auf die Bettkante neben ihn.
Liebevoll strich ich ihm seine Haare aus der Stirn. Er blinzelte und öffnete die Augen. „Guten Morgen.“, flüsterte ich lächelnd und küsste ihn zärtlich auf die Lippen.
„Guten Morgen.“, flüsterte er zurück und strich mir die Haare zurück.
„Das ist ein Morgen nach meinem Geschmack. Ich wache auf und das Mädchen, das ich liebe, liegt neben mir und küsst mich.“
Er lächelte und ich grinste.
„Ich wette, ich kann dir den Morgen noch mehr verschönern.“, flüsterte ich und setzte mich auf seinen Bauch.
„Da bin ich mir sicher...“, flüsterte er grinsend und zog mein Gesicht zu sich runter, um mich zu küssen.
„Ja, das war klar.“, meinte ich grinsend und ließ meine Haare zur Seite fallen, um das Sonnenlicht abzuschirmen. Dann legte ich meine Lippen sanft auf seine und verbot ihm jeden weiteren Kommentar. Ian legte seine Hand auf meinen Rücken und ich konnte die Hitze, die seine Hand verströmte, durch meinen Körper fließen spüren. Unsere Lippen hatten ihren Rhythmus gefunden und harmonierten perfekt miteinander.
„Ich liebe dich.“, flüsterte ich, ohne meine Lippen von Ians zu lösen und Ian antwortete, indem er den Kuss noch intensivierte.
Langsam setzte er sich auf und ich schlang meine Beine um seine Hüften. Doch bevor wir weiter machen konnten, klingelte es an der Tür Sturm.
„Nein, bleib hier. Wenn wir nicht aufmachen, wird der jenige schon wieder gehen.“, flüsterte Ian an meinen Lippen und zog mich wieder an sich, als ich aufstehen wollte. „Ian, du weißt ganz genau, dass Lucy nicht einfach verschwinden wird.“, erwiderte ich lächelnd, umfasste liebevoll sein Gesicht, küsste ihn und stand auf.
„Jules.“, jammerte Ian und hielt meine Hand fest.
Die Decke rutschte weiter nach unten und ich konnte nicht anders, als seinen Bauch anzustarren. Dann schüttelte ich den Kopf, um wieder klar denken zu können.
„Du kannst Lucy auch noch knapp 30 Minuten ignorieren und wieder zu mir ins Bett kommen.“, bot Ian grinsend an und ich warf ihm lächelnd ein Kissen ins Gesicht.
„Komm schon.“, meinte ich und tänzelte mich drehend aus dem Zimmer.
„Okay, ich komm ja. Aber warte wenigstens auf mich.“, rief er mir nach und ich lehnte mich lächelnd an das Treppengeländer.
Nach ungefähr 60 Sekunden kam er mit einer Shorts und einem weißen, engen T-shirt aus dem Schlafzimmer und lächelte, als er mich am Geländer stehen sah. Er zog mich an sich und küsste mich.
„Ich liebe deinen Körper.“
Er fuhr mit seiner Hand über meine Hüfte und ich musste lachen.
„Komm schon, bevor Lucy noch die Klingel schrottet.“
Ich verschränkte meine Finger mit seinen und zog ihn die Treppe runter.
„Was für eine verlockende Idee.“, murmelte Ian und ich lächelte.
„Vergiss es. Du musst Lucy jetzt erzählen, was passiert ist.“
Ich grinste ihn an und küsste ihn.
„Was du angestellt hast.“
Ich küsste ihn noch mal.
„Und jetzt geh und mach die Tür auf.“
Ian seufzte, gehorchte aber.
„Hey Luc. Was gibt’s?“
Ian lehnte sich entspannt gegen den Türrahmen und grinste sie an.
„Wo. Ist. Sie?“
Ians Grinsen wurde breiter.
„Wer?“
Lucy stieß ihn ungeduldig zur Seite, stürmte an ihm vorbei ins Haus und quietschte begeistert, als sie mich sah.
„Ich wusste, dass du nicht dort bleiben würdest!“
Damit stürmte sie auf mich zu und warf mich fast um. Nachdem sie mich fast zerdrückt hatte, ließ sie mich endlich los und strahlte mich an.
„Du hast dich um den Schwur drum rum gemogelt.“, warf ich ihr vor, doch sie lachte nur. „Sei froh, dass ich es getan habe, sonst würdest du jetzt gerade in der Kirche stehen und Alessandro heiraten.“
„Gott bewahre!“, meinte Ian, tat entrüstet und legte seinen Arm um meine Schultern.
Ich lächelte, verdrehte die Augen und verschränkte meine Finger mit seinen, die über meiner Schulter lagen.
„Wo hast du eigentlich Dustin gelassen?“, fragte ich und legte meine Arme um Ians Bauch. „Er bringt Frühstück mit.“, meinte Lucy mit einer abweisenden Handbewegung und zerrte mich zum Sofa, ich Ian hinter mir her.
„Okay, erzähl, wie bist du da weg gekommen?“
Ich grinste Ian an.
„Das war ganz allein Ians Schuld.“

„Uff.“, seufzte ich und schloss die Haustür, in dem ich mich dagegen lehnte.
„Sie sind endlich wieder weg.“
Ian sah mich an und fesselte meinen Blick mit seinem.
„Wenn... wir endlich wieder alleine sind, können wir ja da weiter machen, wo wir heute morgen aufgehört haben.“
Er küsste mich und drückte mich gegen die Tür.
„Oder?“
Er küsste mich sanfter und lächelte mich an, seine Finger fuhren über meinen Bauch nach oben und ich sah ihn mit funkelnden Augen an.
„Ich hatte schon befürchtet, du würdest nie fragen.“, flüsterte ich und schlang meine Arme um seinen Hals.
Er fasste mich am Oberschenkel und hob mich ein Stück hoch, ich schlang meine Beine um seine Hüften und Ian schaffte es irgendwie, die Treppe zu erklimmen. Im Schlafzimmer legte er mich aufs Bett und legte sich auf mich, stützte sich jedoch auf seinen linken Ellenbogen und sah mich an.
„Was?“, fragte ich ihn und fuhr mit meinen Fingerspitzen die Konturen seines Gesichtes nach.
„Ich liebe dich.“, antwortete er und lächelte.
„Und deshalb hörst du auf, mich zu küssen?“, fragte ich ihn beinahe empört und er lachte. „Das wird nie wieder vor kommen, versprochen.“, flüsterte er und küsste mich wieder. „Aber nur zur Info: Ich liebe dich auch.“, flüsterte ich leise und er drückte seine Lippen auf meine, um mich zum Schweigen zu bringen.
„Viel zu viel Gerede.“, flüsterte er und ich spürte sein Gewicht auf mir, als er den Ellenbogen weg nahm.
„Dann sei still.“, murmelte ich grinsend und drückte ihm meine Hüften entgegen.
Dieser Einladung konnte er einfach nicht widerstehen und er zog mir das Top über den Kopf.
„Warte!“, rief ich plötzlich und Ian sah mich an.
„Was?“, knurrte er und küsste meine Schulter.
„Du weißt, dass Cathrin um Mitternacht auftauchen wird und die Tür eintreten oder das ganze Haus auseinander nehmen wird?“
„Ja, aber bis Mitternacht sind es noch einige Stunden und ich habe vor, diese auch zu nutzen.“, flüsterte er mir leise ins Ohr und küsste meinen Hals abwärts.
„Ich wollte nur sicher gehen.“, flüsterte ich und schloss genießerisch die Augen.
Dann wanderten seine Lippen immer weiter nach unten, über mein Dekolltée und den Bauch bis zu meiner Panty. Dann überlegte er es sich anders, zog mich nicht aus und küsste wieder meinen Bauch, mein Dekolltée, bis er wieder bei meinen Lippen angekommen war. Er legte sich wieder auf mich, drehte uns aber um, sodass ich auf ihm lag. Ich setzte mich auf und grinste ihn an, während ich meine Finger über seine Brust zog. Sie war glatt und muskulös und ich liebte es, meine Finger darüber streichen zu lassen.
Ian seufzte ungeduldig und ich grinste ihn an, bevor ich mich vor beugte und ihn küsste. Keine fünf Minuten später lagen mein BH und meine Panty auf dem Boden neben Ians Short und mein Atme ging so keuchend, dass ich das Gefühl hatte, bald in Ohnmacht zu fallen oder wenigstens zu hyperventilieren. Ian lag seitlich neben mir und überall, wo mich seine Hände berührten, hinterließen sie ein aufregendes Prickeln. Ich drehte mich zu Ian und schob mein Bein über seine Hüfte, drehte mich noch weiter, bis ich auf ihm lag und genoss es, als er mir nach viel zu langer Zeit wieder so nah kam, wie es nur möglich war. In diesem Moment voller Leidenschaft und Liebe und Lust wusste ich einfach, dass Ian und mich nie wieder etwas trennen würde. Ian stöhnte lustvoll und ich spürte, wie es ihn nach noch mehr verlangte. Ich presste mein Becken enger an ihn und gab ihm, was er wollte. Nichts würde uns je wieder trennen. Nicht einmal meine Mutter. Auch wenn sie noch so wütend sein würde.
Ian versank ganz in mir und ich stöhnte leise vor Genuss.
„Ich liebe dich, Jules.“, flüsterte er und begann, seine Hüften in einem unglaublichen Rhythmus zu bewegen, der mir die Sinne raubte.

Kurz vor Mitternacht stand ich am Fenster im Schlafzimmer und sah in den Garten hinunter. Ian legte von hinten seine Arme um mich und faltete sie auf meinem Bauch übereinander. Behutsam legte er sein Kinn auf meine Schulter.
„An was denkst du gerade?“, flüsterte er und küsste mich sanft auf den Hals.
Ich lächelte und lehnte mich an ihn.
„Ich überlege, was Cathrin mir wohl alles schlimmes antun könnte.“
„Und, was kann sie dir antun?“, fragte er und liebkoste meine Schulter.
Ich dachte einen Moment nach und drehte mich dann zu ihm um. Ich schenkte ihm ein warmes, liebevolles Lächeln und streckte mich, um ihn zu küssen.
„Nichts, solange du an meiner Seite bist.“
Ian lächelte mich an und durchkämmte mit seinen Fingern meine Haare.
„Keine Sorge, was das angeht. Ich werde nie wieder wo anders sein.“, antwortete er und küsste mich liebevoll.
So standen wir vor dem Fenster, uns küssend und glücklich, bis ein kleiner Lichtblitz um Mitternacht Cathrins Ankunft ankündigte.
„Oh nein.“, flüsterte ich leise und krallte mich an Ian fest.
„Keine Sorge, ich bin bei dir.“, flüsterte er mir lächelnd ins Ohr und legte mir eine Hand auf den Rücken.
Ich nickte und lächelte.
„Uns kann nichts mehr trennen.“, versprach er, als wir vor der Tür standen und Cathrin auf uns zu gestürmt kam.
Ich sah ihm in die Augen und wusste, dass er Recht hatte.
Wir würden alles zusammen schaffen.
Auch Cathrin.

Impressum

Texte: jenny2994
Tag der Veröffentlichung: 18.12.2012

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