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Cruel bloody Paradise II



Die Legende geht weiter...



Inhaltsverzeichnis:
Kapitel 2
Was bisher geschah...
1. Akt: Das Geheimnis der Sonnensplitter
2. Akt: Jelena
3. Akt: Das Buch der Splitter
4. Akt: Die Schlüsseljagd
5. Akt: Lola´s Geschichte
6. Akt: Der letzte Schlüssel
7. Akt: Xia
8. Akt: Der Wert der Freundschaft
9. Akt: Die Herrin des Schicksals
10. Akt: Die Zuflucht von Xixon





Was bisher geschah...

Der junge Dieb Rion gelangte bei einem missglückten Coup durch ein magisches Gemälde in die Welt Acris. Durch Zufall erwählte das Schwert "Aura", eine der 3 legendären Waffen, ihn zu seinem Träger. Das Mädchen Maideya sah in ihm einen Helden aus einer uralten Sage der Xixoner. Bei der Flucht aus dem Kerker traf er den hasenfüßigen Wachsoldaten Geroh. Seither reist Rion mit ihnen zusammen quer über den Kontinent, immer auf der Suche nach einem Weg zurück in seine Welt...


Kapitel 2
1. Akt: Das Geheimnis der Sonnensplitter



Als er die Umrisse der Stadt Magoran in der Ferne sah, überkam ihn bereits ein ungutes Gefühl.
„Was wird Maideya wohl dazu sagen, dass ich die letzte Prüfung versaut habe?“, fragte er sich leicht nervös.
Rechts von ihm erstreckte sich bereits der dichte Wald indem die Hütte des Alten lag, auf dem Rion im Moment so gar keine Lust hatte.

Als er gerade die Nähe der Stadt erreicht hatte, rief jemand nach ihm und winkte aufgeregt mit den Armen.
„Nicht so auffällig...“ ,bat er sie in Gedanken und lief zu ihr herüber.
„Rion“, freute sie sich und kam ihm entgegen.
„Im Moment hab ich echt Glück bei den Frauen“, dachte er sich.
„Du hast dir echt Zeit gelassen“, beschwerte sie sich, „ich hab tagelang auf dich gewartet“
„Es war ein weiter Weg“, versuchte er sich aus der Affäre zu ziehen, „Lass uns zu Geroh zurück gehen“
Sie nickte: „Weißt du, Kentry ist momentan nicht da. Er muss noch einige Dinge überprüfen, hat er gesagt“
„Vielleicht fängt ja heute doch noch meine Glückssträhne an...“, grinste Rion.
Maideya stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Rippen: „Sei nicht so gemein!“
Er hob beschwichtigend die Hände.
So machten sie sich auf den Weg und Rion suchte angestrengt nach einer guten Ausrede wegen der letzten Prüfung...
Kaum hatten sie es erreicht, riss Maideya ihn jäh aus seinen Gedanken.
„Rion! Schau mal...“
verwundert trat er an sie heran.
„Die Tür steht offen“, erkannte er, „hattest du sie geschlossen?“
„Ja, natürlich. Geroh ist zwar noch da, aber er wollte doch drinnen ein Nickerchen halten“, überlegte sie.
Rion nickte kurz: „Bleib lieber hinter mir“
So betrat er vorsichtig das Haus und schlich bis in die Stube hinein.
Maideya musste einen Schrei unterdrücken, als sie das verwüstete Zimmer sah. Alle Bücher lagen auf dem Boden. Zerschlagenes Geschirr, Notizzettel, Essensreste, von der Wand gerissene Bilder, umgestoßene Vasen. Alles lag wild durcheinander.
„Ich würde sagen Geroh hat ne Party geschmissen...“, murmelte Rion vor sich hin.
„Glaub ich nicht“, entgegnete Maideya und deutete auf eine Hand, die hinter dem Türrahmen hervor guckte.
Rion machte einen Schritt in die Richtung und zog sein Schwert: „Warte hier, das könnte eklig werden“
„Geroh...“, hauchte sie und faltete verängstig die Hände.
Vorsichtig kam Rion auf die Küche zu und presste sich an die Wand.
„Das kenne ich doch irgendwoher...“, erinnerte er sich, „hoffentlich ist es nicht wieder ne Leiche. Die hätten doch Kentry nehmen sollen...“
Doch die Küche war leer und Geroh noch ganz. Erleichtert hob er den Daumen. Maideya war so erleichtert, dass sie sich erst mal an einem der Stühle abstützen musste. Ihr Herz raste und es wurde ihr schummrig vor Augen.

Rion steckte das Schwert weg und kniete sich zu Geroh herunter. Neben ihm lag eine zerbrochene Holzlatte.
„Das gibt bestimmt einen brummenden Schädel“, fühlte er mit ihm und versuchte ihn wach zu bekommen.
Nachdem er es sanft versucht hatte, versetzte er ihm einen kräftigen Schlag mit der Faust. Geroh knörrte kurz und öffnete langsam die Augen.
„Was war hier los?“, wollte er wissen.
„Rion...“, erkannte Geroh ihn nach einiger Zeit.
„Wen hast du denn erwartet?“, gab er zurück, „hattest du Besuch?“
„Ich weiß nicht“, musste er zugeben, „Plötzlich schlug mir jemand etwas auf den Kopf“
„Vielleicht war es der alte Kauz selbst...“, meinte Rion beiläufig.
Geroh richtete sich schwerfällig auf.
Zusammen gingen sie in die Stube.
„Geroh hat nichts gesehen“, hielt er sie auf dem Laufenden.
Maideya sammelte die Blumen auf und stellte sie in die Vase zurück: „Das ist einfach schrecklich“
„Wenn es Diebe waren, was könnten sie gesucht haben?“, fragte Rion in die Runde.
Alle zuckten mit den Schultern.
„Das wissen wir wohl erst, wenn alles wieder an seinem Platz steht“, gab Maideya zu bedenken.
„Heißt das, wir spielen jetzt hier Putzkollone?“, fragte Rion entrüstet.
Maideya nickte mit Zucker süssem Lächeln.
Rion ließ seinen Rücken ungläubig gegen die Bücherwand sinken.
„Damit kannst du anfangen...“, deutete sie auf die Bücher vor Rions Füßen.
Er sah sie mit bösem Blick an, machte sich dann jedoch murrend an die Arbeit.

Mitten in der Nacht hatten sie ihr Werk vollendet. Alles, was noch heil war, stand wieder an seinem Platz.
„Also mir ist nur aufgefallen, dass das seltsame Buch nicht mehr da ist. Na das, was so´n komischer Dyne ihm geschenkt hat“, gähnte Rion und legte den müden Kopf auf die Tischplatte.
Erschrocken sah sie ihn an: „Was sollten Diebe damit anstellen? Diese Bücher, die mit Kentrys Arbeiten zu tun haben kann doch kaum jemand lesen“.
„Meinst du, es war einer von Kentrys Leuten?“, überlegte Rion und war mit einem Schlag schon wieder bei der Sache.
„Es liegt nahe...“
„Warst du mal in seinem Arbeitszimmer?“, wollte Rion wissen.
Sie verneinte.
Rion stand auf und ging auf die verschlossene Tür zu.
„Es ist noch immer abgeschlossen!“, rief er den Anderen zu.
Maideyas Einwurf das dies bestimmt seine Gründe hat ignorierte Rion gekonnt und zog seinen Dietrich aus dem Bund. Damit knackte er das Schloss. Die Tür ließ sich nur mit Mühe aufschieben. Als Rion sich durch den Türspalt schob und zum Fenster stolperte um das Mondlicht in den Raum leuchten zu lassen, bot sich ihm ein überraschendes Bild. Schnell griff er die Lampe und erleuchtete so den Raum komplett. Er musste zugeben damit nicht gerechnet zu haben. Das Zimmer war eine perfekte Kopie des Zimmers vom Anwesen indem Rion den kopflosen Mann gefunden hatte. Alles stand genau so! Reflexartig guckte er hinter dem Sessel nach, doch hierin gab es keine Leiche. Auch das Gemälde fehlte hier. Es gab keine Bilder an den Wänden. Der Raum wirkte fast tot. Doch auch hier lag alles durcheinander. Alle Bücher lagen auf dem Boden verstreut.

„Da hat jemand aber ganze Arbeit geleistet“, stellte er fest und suchte im Durcheinander nach dem Buch, das Kentry zu verstecken versucht hatte.
„Was tust du da?“, empörte Maideya sich, als sie Rion sah.
„Ich suche das Buch“, verteidigte er sich.
„Das ist kriminell“, erinnerte sie ihn und verschränkte die Arme, „Vielleicht hat er es ja auch mitgenommen“
„Ja“, musste Rion zugeben, „das kann sein...“
„Also komm da bitte raus. Mr Kentry mag das nicht“, bat sie ihn.
Rion sah zu ihr herüber: „Hast du ihn mal gefragt warum?“
„Nein“, schüttelte sie den Kopf, „es geht mich auch nichts an“
„Ja, ja“, nuschelte er, „ich komm gleich“
Maideya verschwand wieder.
Rion verdrehte die Augen und stieß versehentlich einen Bücherstapel neben sich um. Als er die Bücher wieder auftürmte, entdeckte er darunter ein Bild. Neugierig vergewisserte er sich ob niemand ihn beobachtete, dann zog er es heraus. Es hatte ausgerissene, zerfledderte Ränder und rissige Knicke. Darauf sah man eine junge Frau mit perlweißer Haut und goldblondem, langen Haar. Ihre blauen Augen blicken ihn starr und tot an. Sie wirkte in ihrem weißen Kleid wie eine geisterhafte, blasse Gestalt. Rion steckte es ein und ging zu ihnen zurück.

„Hast du was gefunden?“, wollte Geroh wissen.
„Nein“, behauptete Rion und wandte sich an Maideya, „hatte Kentry eine Frau?“
Maideya blickte ihn an, als hätte er in einer fremden Sprache gesprochen: „Nein...ich denke nicht. Wie kommst du darauf?“
„Ach...ist nicht wichtig“, winkte er ab, „ich war nur neugierig“
„Wie war es eigentlich bei dir?“, stellte Geroh die Frage von der Rion hoffte sie hätte noch bis Morgen Zeit gehabt.
„Ach...bei mir“, begann er und fuhr sich durchs Haar.
„Hast du das Monster besiegt?“, war Maideya sofort wieder beim Thema.
„Na danke Geroh“, dachte er sich und musste nun mit der Wahrheit raus, „Nein. Es gab keine Monster in den Höhlen. Nur einen betrügerischen Mörder, der für winzige, wertlose Dinge tötet“
„Was?“, glaubte sie nicht richtig gehört zu haben, „du hast es nicht besiegt?“
Rion sah sie an: „Wenn da nichts zu besiegen ist, kann ich es doch auch nicht, oder?“
„Aber...“, begann sie fassungslos.
„Kein aber“, entgegnete Rion hart, „Was soll ich machen? Eines herzaubern? Wenn ich das könnte, würde ich im Zirkus auftreten. Wenn du meinst, dass du das kannst, dann geh doch selber hin und besieg dein imaginäres Monster. Das wäre doch mal was anderes als immer andere rumzuscheuchen. Ich habe deine Märchen satt Maideya, jetzt ist Schluss mit dem Mist“
Sie sprang wortlos auf und rannte hinaus.
„Das hat gesessen...“, sagte Geroh treffend.
„Aber sie muss doch begreifen, dass ich da draußen mein Leben riskiert habe um bei ihren Spielchen mitzuspielen. Das kann sie doch nicht beliebig oft von mir erwarten“, verteidigte er sich.
„Maideya ist wie ein kleines Mädchen. Sie sucht jemanden, der sie beschützt“, gab Geroh zu bedenken.
„Sie hat doch dich“, gab er zurück.
Geroh lächelte leicht: „Aber sie will dich...“
„Ich lasse mich aber nicht ewig von ihr herumschupsen!“, entgegnete er aufgebracht.
„Vielleicht musst du ihr das sagen...“, schlug er vor.
Rion verzog das Gesicht: „Sie wird das nie verstehen“
„Vielleicht“, musste Geroh zugeben.
Rion sah ihn genervt an: „Du bist auch keine große Hilfe“
„Das ist auch nicht meine Aufgabe“, zuckte er mit den Schultern und stapfte in die Küche.

Rion fasste sich ein Herz und ging hinaus um sie zu suchen. Maideya hockte hinter dem Haus am kleinen Bach und beobachtete den Mondschein, der sich auf dem Wasser spiegelte.
„Maideya“, begann er und wollte nach ihr greifen, doch er zog die Hand zurück.
Sie stand auf und blickte ihn aus traurigen Augen an. Das goldene Haar wehte im seichten Abendwind. Mit ihren Tränenblinden Augen glich sie der Frau auf dem Foto aus Kentrys Arbeitszimmer. So leer und tot blickte sie ihn an.
Er benässte seine Lippen und wusste nicht, was er sagen sollte: „Ich...es tut mir leid...“
„Du brauchst mich nicht zu trösten“, hauchte sie so leise und unsicher, das er sie kaum verstand.
„Doch, ich hab dir weh getan...und das tut mir sehr leid. Ich wollte das wirklich nicht“, versuchte er sich zu entschuldigen.
„Okay...“, behaupte sie, „ist schon gut“
Sie drehte sich von ihm weg und schluchzte.
Rion stand ratlos da: „Also die Sache mit dem Kloster kriege ich schon wieder hin. Ich gehe zurück und stelle mich. Dann sagen wir einfach, du und Geroh haben nicht damit zu tun. Ich weiß, du sagst einfach ihr hättet meinen Ausbruch bemerkt und ihr habt mich verfolgt. Dann habt ihr mich erwischt und zurück gebracht“
„Ach Rion...“, sagte sie traurig.
„Was denn? Nicht gut?“, fragte er und setzte sich zu ihr, „Dann kannst du zurück ins Kloster und machst einfach da weiter, wo du aufgehört hast bevor du mich getroffen hast“
„Das kann ich nicht...“, schüttelte sie das lange Haar.
„Klar“, grinste er, „Geroh hilft dir. Dann wird alles wieder so wie es war. Geroh verdient wieder Geld für seine Mutter und du wirst eine tolle Priesterin. Alles wird gut“
Sie blickte ihn mit bebenden Lippen an und fiel ihm weinend um den Hals. Sie hielt ihre Gefühle nicht länger geheim und schrie ihre Trauer offen heraus.
„Es wird alles gut“, versprach Rion ihr und strich sanft durch ihr dickes Haar.
„Ich will nicht, dass du gehst“, bat sie, „bitte schick mich nicht wieder zurück!“
Mit aller Kraft krallte sie sich an ihm fest und drückte ihren Kopf gegen seine Brust. Sein ruhiger Herzschlag beruhigte sie ein wenig.
„Ich dachte Priesterin zu werden ist dein Traum“, meinte Rion vorsichtig.
„Nein, ich ging nur um die Geheimnisse des Landes zu entschlüsseln. Um die vergessenen Legenden zu erforschen“, erzählte sie um die Worte ringend, „hat Geroh dir wirklich von seiner Mutter erzählt?“
„Ja, das ist schon ein bisschen her...“, erinnert er sich.
Sie lächelte: „Eigentlich redet er kaum von sich. Geroh muss dir sehr vertrauen...“
„Ich weiß, dass ich euch sehr enttäuscht habe. Aber vielleicht verstehst du irgendwann dass man seine Ziele nicht um jeden Preis erreichen darf. Es war einfach wichtiger für mich diesem Menschen zu helfen als ein unschuldiges Wesen zu töten. Ich hoffe ihr werdet mir das irgendwann mal verzeihen“, bat er sie.
Sie sah ihm mit großen Augen an: „Was ist dort wirklich passiert?“
Rion seufzte kurz, ließ sie los und winkelte die Beine an, dann begann er die Geschichte zu erzählen.

Als er fertig war, meinte sie: „Das ist eine wunderschöne Geschichte Rion. Ich hielt dich immer für einen witzigen Kerl, aber jetzt sehe ich, dass du so viel mehr bist. Du bist eine unglaubliche Persönlichkeit Rion“
Er schüttelte ablehnend den Kopf: „Nicht wirklich. All das Unheil entstammt nur diesem verdammten Ding“
Wütend nahm er den Splitter und warf ihn ins Wasser. Doch er schwamm wieder an der Oberfläche. Er reagierte mit dem Mondlicht und lud sich grell auf.
„Verdammtes Ding“, erschrak Rion und sprang ihm nach um ihn in der Handfläche zu verstecken, „das Teil hat den Effekt einer Leuchtrakete...“
„Der Sonnensplitter“, nickte Maideya, „ich wusste nicht, dass er auch mit dem Mondlicht reagiert. Ich dachte nur mit der Sonne“
Rion zuckte mit dem Schultern.
Maideya zögerte kurz, dann beschloss sie jedoch es ihm zu sagen: „Weißt du, was du da gefunden hast?“
„Ich weiß nur sicher, das es nervt“, murmelte er und steckte es schnell weg.
Maideya wischte sich kichernd die Tränen aus dem Gesicht: „Du hast etwas viel wichtigeres gefunden als das, was das Monster bei sich hatte“
„Ach ja...?“, war er überrascht.
Sie nickte eifrig: „Es gibt da eine uralte Legende...

Der Sonnenkristall

Einst gab es eine wunderschöne Göttin, die auf die Erde verbannt wurde. Man sagt sie trug die Sünde in die Welt der Menschen, da sie jene unterdrückte und furchtbar grausam war. Doch alle waren ihrer Schönheit erlegen. So beteten sie die Herrscherin an und erbauten ihr auf der Sonneninsel, einer Sternförmigen Insel mitten im Meer ein Schloss aus Kristall. Darin türmte sie alle Reichtümer des Himmels an. Gold, Silber und Edelsteine. Gestützt wurde ihr Reich durch den größten Kristall unter dem Himmel. Er glänzte in der Sonne in allen Spektralfarben und zeugte von Macht und Reichtum. Sie genoss die Gunst des Gottes Zornem, dem Schöpfer des Himmels und der Erde. Doch lieben wollte sie ihn nicht. Im Gegenteil. Sie verbündete sich mit den Dämonen. Kurz vor ihrer Hochzeit mit einen Prinzen der Hölle, die das Tor zur Hölle für immer öffnen sollte wurde dieser hinterhältig von seinem eigenen Bruder ermordet. Er wollte ihr König werden und erstach seinen Bruder aus Neid. Vor Wut und Trauer zerstörte sie den Sonnenkristall und bannte die Dämonen. Die Bruchstücke wurden von den namenlosen Wesen in der Welt zerstreut und erloschen. Erst wenn alle zwölf Splitter aufgeladen und am legendären Ort vereinigt sind, taucht das Kristallreich aus dem Meer auf und die Königin wählt ihren neuen König. Dieser hat die Macht Himmel oder Hölle für immer zu zerstören und der Welt den ewigen Frieden zu geben...

Sie sah ihn an: „Siehst du Rion, du hast den ersten Splitter gefunden. Damit bist du auserwählt es zu vollenden. Zudem heißt es man habe einen Wunsch frei und die Königin wird ihn erfüllen, egal was es ist. Du könntest nach Hause zurück...“
Rion nickte rhythmisch: „Wenn wir alle Splitter bei der Königin haben, kann ich nach Hause zurück...“
Er blickte in den finsteren Himmel hinauf.
„Damit hast du mich auch nicht betrogen sondern gerettet“, freute sie sich.
„Was soll das jetzt wieder heißen?“, wunderte er sich.
„Geroh und ich werden dir helfen“, verkündete sie feierlich.
„Was?!“, Rion war empört und geschockt zugleich.
„Du wirst uns brauchen“, war sie sich ganz sicher.
„Warum willst du dir das antun?“, fragte er fassungslos.
Sie seufzte leicht: „Ach Rion...Stell dir eine endlose Wiese voller Blumen vor. Selbst wenn es eine Wiese voller Rosen wäre, bin ich nur eine unter Millionen. Ich möchte die einzige Rose sein, die inmitten einer tödlichen, lebensfeindlichen Wüste gedeiht, erblüht und ihren herrlichen Duft entfaltet. Auch wenn sie schneller als alle anderen verblüht und stirbt. Ich möchte etwas besonderes sein. Jemand wie du es bist...“
Er legte seinen Zeigefinder auf ihre Lippen und schüttelte leicht den Kopf: „Ich bin doch bloß ein kleiner Dieb aus Likon. Einer Stadt, die in deiner Welt nicht mal existiert“
„Na siehst du“, lächelte sie, „Und hier bist du ein Held“
Er verdrehte die Augen und wandte sich von ihr ab: „Ich mach´s. Aber nur, weil ich versprochen habe dich heil in dein Kloster zurück zu bringen wenn die Sache hier durch ist“
Sie nickte energisch und fiel ihm um den Hals: „Oh Rion! Ich wusste, dass du nicht nein sagen wirst!“
„Aber was ist mit Geroh? Wir haben den armen Kerl da mit rein gezogen. Dabei braucht er das Geld, dass er als Soldat verdient hat um seine Mutter zu unterstützen...“, gab Rion zu bedenken und unterbrach somit ihre Euphorie.
„Macht euch um mich keine Sorgen“, bat eine Stimme aus der Dunkelheit, „Wir haben es zusammen begonnen und wir führen es zusammen zu Ende“
Rion hatte ihn gar nicht kommen hören und entdeckte ihn erst jetzt, wie er an einem Baum gelehnt stand.
„Ich dachte du würdest schon lange friedlich im Bett liegen und schlafen“, musste Rion zugeben.
Geroh lachte auf: „Ja, eigentlich wollte ich das auch...aber ich war zu neugierig“
„Also gut, dann brechen wir am besten gleich auf“, schlug Maideya vor.
Rion bremste sie jedoch: „Und wohin?“
Sie überlegte kurz: „Ich würde ja die Stadt Taron vorschlagen. Taron liegt auf der anderen Seite des Xixon-Sees direkt vor einem Wäldchen. Wir müssen dort eine Frau namens Jelena treffen, hat Mr. Kentry gesagt“
„Was? Woher wollte der das wissen?“, erschrak Rion.
„Weil er befürchtete, du würdest längst vergessene Wesen in den Höhlen wecken. Schlafende Geister...“, antwortete sie geheimnisvoll, „Ich führe euch dort hin, wir sollten uns lieber beeilen...“
„Na wunderbar“, dachte er sich, „aber wenigstens gibt es jetzt Hoffnung noch einen Weg nach Hause zu finden. Ich glaube du weißt gar nicht worauf du dich hier einlässt. Also los Rion, spielen wir wieder den Helden...“

Während Maideya und Geroh ihre Sachen zusammen packten, stand Rion noch immer am ruhigen Bach und starrte auf seine Faust in der er den Splitter hielt.
„Hoffentlich bringst du mir mehr Glück als Rumpold und den anderen Männern...“

Akt 2: Jelena

Unterdessen hatte Arla ihren weg zurück in den Himmel gefunden. Stolz schritt sie die langen Flure und Korridore entlang und versuchte dabei die Erhabenheit Natalyels zu kopieren.
„Wo bleibst du?“, ließ die barsche Stimme der Engelkönigin sie zusammenzucken.
Sofort warf sie sich auf die Knie: „Verzeiht Hoheit“
„Mein Bett wartet darauf gemacht zu werden...“, ihre Stimme war mahnend und zugleich glasklar.
Arla nickte eifrig: „Ja, sofort meine Königin!“
Ihre Augen streiften sie nur oberflächlich, dann wandte sie sich ab und ihre Schritte verhallten.
Arla atmete tief durch und lief zu einer unscheinbaren, weißen Tür herüber.
Sie stand einen breiten Spalt weit geöffnet. Schnell schlüpfte sie hindurch. Inmitten des Raumes war eine junge Frau damit beschäftigt Schränke und Tische mit einem großen Wedel abzustauben.
„Sany“, flüsterte sie zu ihr herüber.
Das dunkelhaarige Mädchen strahlte als sie sie erblickte und kam auf sie zu: „Arla! Ich hab dich schon vermisst“
Sie mahnte sie nicht so laut zu sein.
Verwundert legte Sany die Stirn in Falten: „Ist etwas passiert?“
Sie schüttelte den Kopf und schloss die Tür so leise es in den hohlen Räumen ging.
„Was für ein Glück“, meinte Sany, „Ich dachte schon diese furchtbare Person von Königin hätte dich beim Faulenzen erwischt und zur Strafe in den Kerker geworfen“
„Sprich nicht so von ihrer Hoheit“, bat Arla.
Sany machte sich nebenbei weiter an die Arbeit: „Aber ich habe doch recht damit“
„Kann ich dich um einen Gefallen bitten?“, fragte sie vorsichtig.
Sany lächelte sanft: „Aber natürlich. Wir sind doch Freundinnen“
Arla sah man ihre Erleichterung deutlich an: „Bitte übernimm für ein paar Tage meine Arbeiten mit“
Sany nickte entschlossen: „Gut, mach ich!“
„Ich bin nämlich in einer geheimen Mission unterwegs. Mehr kann ich dazu noch nicht sagen“
„Wow, das hört sich spannend an. Halt mich unbedingt auf dem Laufenden“, bat sie kichernd.
Arla versprach es ihr. Kurz bevor sie den Raum verließ musste sie Sany allerdings um noch etwas bitten.
„Die Königin möchte, dass ich ihr Bett mache aber dafür habe ich momentan keine Zeit...“
„Ich mach das alles“, versicherte sie ihr, „Pass auf dich auf. Du bist meine beste Freundin und ich möchte dich nicht verlieren. Bitte mach keine gefährlichen Sachen“
„Nein, mache ich nicht“, verabschiedete sie sich, „Danke“
„Wofür hat man Freunde?“, lächelte sie und winkte ihr kurz nach.

So schnell Arla konnte schlich sie sich zu Wisdoms Zimmer und öffnete vorsichtig die Tür.
„Was willst du hier?“, empfing er sie wenig herzlich.
Arla war etwas verunsichert: „Ich wollte euch Bericht erstatten. Der Junge hat den ersten Splitter in den Höhlen gefunden und...“
„Das weiß ich doch alles längst!“, unterbrach er sie.
Arla erschrak so sehr, dass sie sich hinunter kniete und die Stirn gegen den kühlen Boden drückte: „Es...es tut mir leid! Natürlich wisst ihr das...“
„Willst du dämliche Kröte mich ruinieren?“, fuhr er sie an.
Arla schüttelte übertrieben energisch mit dem Kopf, dass das lange Haar nur so flog.
„Du zerstörst mit deiner Dummheit alles, was ich mir aufgebaut habe!“, ärgerte Wisdom sich.
„Es tut mir leid“, beteuerte sie unterwürfig.
„Geh mir aus dem Augen. Du bist unfähig“, stellte er fest.
Sie erhob sich leicht und schlich mit gesenktem Kopf zur Tür.
„Geh wieder putzen“, meinte er abfällig, „das ist das Einzige was du kannst“
„Vielleicht interessiert euch, dass er Auras Macht genutzt hat...“, sagte sie im Flüsterton und hoffte doch, dass er es überhört hatte.
„Er nutzt Auras wahre Macht...“, wiederholte er für sich, „das ist in der Tat interessant…“
Arla blickte ihn mit großen Augen an.
„Ich habe ihn unterschätzt. Das darf mir nie wieder passieren...“, überlegte er und wandte sich an Arla, „Dann bist du ja doch nicht völlig unfähig. Trotzdem. Geh jetzt“
Mit gesenktem Kopf verließ sie ihn wieder.
Erst in einem der Korridore blieb sie stehen und blickte durch eines der hohen Fenster hinunter in den Säulenhof.
„Ich werde es dir noch zeigen, Wisdom!“, beschloss sie energisch und ballte die Fäuste so fest sie konnte.

In den frühen Morgenstunden erreichten sie endlich die gewünschte Stadt. Taron entpuppte sich als verschlafenes Fachwerkstädtchen mit riesigem Marktplatz und einem Zierbrunnen aus dunklem Marmor.
„Ich liebe diese Stadt“, schwärmte Maideya, „ich war als kleines Mädchen einmal hier. Auf dem Sommerfest, als wir den Chor stellten. Damals war alles reich geschmückt und es roch herrlich nach Gebäck“
„Schade dass es heute kein Fest gibt“, seufzte Geroh.
„Sei froh, wir können unnötige Aufmerksamkeit nicht gebrauchen“, erinnerte Rion ihn.
„Aber duftendes Gebäck bräuchte mein Magen schon...“, murmelte Geroh.
„Reiß dich zusammen“, bat Rion ihn und folgte Maideya durch die penibel angelegten Seitenstraßen.
Geroh trottete ihnen nach.

Kurz darauf erreichten sie einen flachen Rundbau aus hellem Stein. Die Tür in den schmalen Angeln bestand aus rustikalen Holzplatten. Maideya hämmerte dagegen. Kurz darauf öffnete sich die Tür und eine ebenso rustikale Frau mit zerzausten, rot schimmernden Locken schob den Kopf hinaus. Das Haar flog zuckartig nach vorn über die hohe Stirn. Im linken Ohr hing ein breiter Goldohrring im eingerissenen Ohrloch. Das grüne Gewand fiel über ihr breites, blasses Handgelenk. Sie hatte auffallend helle Haut.
„Sie ist eine waschechte Xixonerin“, flüsterte Maideya Rion zu.
„Was wollt ihr Kinder hier?“, keifte sie die Drei an.
„Aber Jelena, erkennst du mich nicht? Ich bin´s Maideya“, schien sie leicht gekränkt zu sein.
„Maideya...“, überlegte sie und runzelte die Stirn bis sie wie ein altes Waschbrett aussah, „Das Mädchen aus dem Chor?“
Sie nickte eifrig: „Genau! Und das sind Rion und Geroh“
„Und? Was wollt ihr von einer so fiel beschäftigten Frau wie mir?“, fragte sie noch immer nur den Kopf aus dem Türschlitz haltend.
„Egidius Kentry hat uns geschickt. Er meinte Sie könnten uns helfen indem sie einen Blick in die nahe Zukunft werfen“, antwortete sie ihr ruhig.
„So, so... der alte Kentry“, nickte sie, „dann kommt herein“
Sie blickte nervös um sich und schloss dann die Tür hinter ihnen: „Folgt mir!“
Sie führte sie durch eine schäbige Diele mit abgenutzten Holz und bröckelndem Putz an den Wänden zu einen von einer stabilen Eichentür versperrten Raum. Schnell klickte der graue Schlüssel im alten Schloss und die Tür gab einen grellgelben Raum frei. In seiner Mitte stand ein rechteckiger Tisch aus Kirschholz. Darum eine geschlungene Bank über die ein roter Bezug gespannt war.
„Das tut ja in den Augen weh...“, murmelte Geroh.
„Kunstbanause!“, schollt sie ihn und ließ das schwarze Rollo vor dem einzigen Fenster hinunter.
Dann begab sie sich zur Bank herüber und zündete sich eine dicke, braune Zigarre an. Genüsslich stießen die schmalen Lippen den Rauch aus: „Und? In wessen Zukunft soll ich einen Blick wagen?“
„In Rions“, bestimmte Maideya sofort.
„Meinetwegen...“, meinte er.
„Dann komm herüber und setz dich“, bat sie ihn.
Rion setzte sich ihr gegenüber.
Sie nahm noch einen weiteren Zug und legte die Zigarre im schwarzen Aschenbecher ab: „Bist du bereit?“
„Ich denke schon“, entgegnete Rion gelassen.
„Die hat ja gar keine Kristallkugel“, bemerkte Geroh.
„Eine richtige Wahrsagerin braucht all diesen Schnickschnack nicht!“, fuhr sie ihn an, „Ich sehe in die Köpfe der Menschen und erkenne in ihnen ihr Schicksal“
Maideya beschloss weiteren Ärger zu vermeiden und schloss die Tür.
„Dann wollen wir uns das mal ansehen...“, beschloss Jelena und legte ihre kurzen, dicken Finger über Rions Schläfen, „sieh mich an und sprich nur mit den Augen“
Rion versuchte sich zu entspannen und sah in ihre schwarz wirkenden Augen mit den tiefen Tränensäcken.
Kurz darauf überkam ihn ein seltsames Gefühl. Alles um ihn herum verschwamm zu einer dunklen Masse aus der nur ihre Augen funkelten wie schwarze Edelsteine. Er konnte weder einen festen Gedanken fassen, noch blinzeln. Nicht mal bewegen konnte er sich. Plötzlich drang ihre rauchige Stimme beruhigend zu ihm hindurch.
„Ich sehe einen langen Weg vor dir. Ich sehe Wut, Schmerz, Leid und Tränen. Aber ich sehe auch Liebe und Freundschaft. Ich sehe ein...Buch. Ein Buch mit drei Schlössern...und ich sehe...einen See. Ein Boot...Xixon. Und...nein...ich kann es nicht sehen...Arg...nein, verschwindet!“
Schlagartig fand er sich auf der Bank gegenüber der rotlockigen Frau wieder. Sie saß mit geweiteten Augen vor ihm und hielt sich den Kopf mit schmerzendem Gesicht.
„Was ist passiert?“, wunderte er sich, „Was haben sie noch gesehen?“
Sie röchelte leicht. Das Atmen schien ihr schwer zu fallen.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er in Sorge und berührte sie leicht an der Schulter.
Sie zuckte zusammen und sprang auf.
„Ganz ruhig, ich bin´s nur, Rion. Erinnern sie sich?“
Ihre Augen musterten panisch den Raum: „So viel Blut...so viel Leid...und Tod“
„Tod?“, erschrak Rion.
„Ich habe noch nie ein so bizarres Szenario gesehen“, hauchte sie kopfschüttelnd und verließ den Raum. Dabei hätte sie die verduzte Maideya fast über den Haufen gerannt.
Rion runzelte die Stirn und folgte ihr in die Stube. Sie stutzte sich auf die Platte des runden Holztisches und griff nach einer bauchigen Flasche Rum. Mit einem gierigen Schluck leerte sie diese und seufzte auf: „Das sind die Nachteile dieses Jobs...“
„Was denn?“, harkte er erneut nach.
Ihre Fingerkuppen strichen über das Glas der Rumflasche und sie drehte Rion den Rücken zu: „Weißt du Kleiner, es gibt Dinge die selbst ich nicht sehen kann. Aber da war ein Meer aus Blut und unerkennbare, tote Körper. Ich kann nicht sagen wer es war... Alles zerfloss zu einem roten See“
„Unheimlich“, murmelte Maideya und schüttelte sich.
„Na schön... trotzdem Danke, dass sie es versucht haben“, meinte Rion und gab ihr das Geld.
„Noch etwas“, erinnerte sie sich und fuhr schlagartig herum.
Rion musste ihrem empor schnellenden Arm ausweichen, damit sie ihn nicht am Kopf traf.
„Da war ein Buch. Ein dickes Buch mit drei Silberschlüsseln“, fuhr sie unbeirrt fort.
„Das…das Buch der Splitter!“, rief Maideya plötzlich und schob Rion leicht beiseite um zu Jelena durch zu kommen, „Wo lag es?“
„Inmitten eines Sees“, beantwortete sie nach kurzer Zeit des Überlegens.
Maideya verzog enttäuscht das Gesicht: „Na toll...“
„Aber ich habe es schon mal irgendwo gesehen...“, sagte Jelena zögernd und klopfte mit dem Zeigefinger gegen ihr Kinn, „Ich meine es war beim alten Brown...“
„Das ist doch was“, nickte Rion, „Wo finden wir den Kerl?“
„Lester Brown lebt in Nord-Xixon, einem Viertel der Hauptstadt. Dort besitzt er einen kleinen Laden mit Antiquitäten“, berichtete sie den Drein.
„Dann müssen wir da hin“, beschloss Maideya und sah zu Rion herüber.
Er zuckte mit den Schultern: „Sieht wohl so aus...“
„Xixon ist gefährlich“, hielt Jelena sie zurück, „besonders für Grenzgänger wie dich“
„Man kann sich im Leben fast nix aussuchen“, entgegnete Rion lässig.
Jelena nickte wissend: „Durch die Stadttore lassen sie euch nicht hinein. Grad wo ihr gesuchte Verbrecher seid...“
Rion blickte sie überrascht an.
„Deine Augen haben mir viel erzählt Rion...zu viel vielleicht...“, ihre Worte klangen fast beschwörend.
„Wir haben keine Wahl. Ich kann Maideya nicht hängen lassen. Jetzt nicht mehr“, blieb er bei seinem Entschluss.
„Nehmt den Weg über den See“, schlug Jelena ihnen vor, „ich habe ein kleines Boot im Hafen. Ihr könnt es nicht verfehlen, denn es ist schwarz wie die Nacht“
„Danke“, reichte Rion ihr die Hand zum Abschied, doch sie zog ihn mit einem heftigen Ruck zu sich heran. Er spürte ihren Atem an seinem linken Ohr: „Hüte dich, manchmal sind es nicht die Feinde, die einen am erreichen der Ziele hindern. Manchmal sind es jene, die einem am nächsten stehen. Nur wer dein Herz zu berühren vermag, ist auch in der Lage es zu töten“
Dann lockerte sie ihren festen Griff und ging in den seltsamen Raum zurück indem sie in seine Zukunft gesehen hatte. Rion sah ihr überrascht nach, folgte dann jedoch der vorausgeeilten Maideya. Diese hatte unterdessen mit Geroh das Boot entdeckt. So stiegen sie ein und ruderten zur gigantischen Stadt herüber.

Akt 3: Bas Buch der Splitter

Unbemerkt von den Soldaten und Stadtwachen legten sie an einem brüchigen Steg an, der von der Frontseite her mit hohen Schilf überwuchert war. So leise sie konnten befestigten sie das schmale Boot in das sie sich zuvor mühevoll hineinquetschen mussten. Sie schlichen vorsichtig über die knarrenden Planken von denen man wegen des Grünzeugs nicht mehr allzu viel sehen konnte. Hinter einem Strauch gingen sie in Deckung und inspizierten die Umgebung.
„Ich seh nichts“, hauchte Maideya ungeduldig.
Rion schob sich leicht vor: „Okay, ich geh mal näher ran. Ihr bleibt in jeden fall hier“
Maideya verzog das Gesicht.
„Ich verlasse mich auf euch“, wandte er sich an Geroh.
„Ey Sir“, versicherte er überrumpelt.
So tastete Rion sich auf allen Vieren wie ein Raubtier an den Hauptpier heran. Doch zu seinem Ärger musste er feststellen, dass es hier von Soldaten nur so wimmelte.
Schnell zog er sich zurück zu den Anderen.
Maideya reagierte entsprechend enttäuscht auf Rions Nachricht.
„Neben dem Werftgebäude hab ich ein Gittertor entdeckt, indem Wasser aus dem See in die stadt geleitet wird. Vielleicht handelt es sich um einen Graben oder den Abwasserkanal. Wir könnten es dadurch versuchen“
„Aber ich kann nicht schwimmen“, erinnerte Geroh ihn.
Rion verdrehte die Augen: „Hast du eine bessere Idee?“
„Nun...ich könnte das Boot bewachen. Damit es niemand klaut“, schlug Geroh ganz selbstlos vor.
„Meinetwegen, komm Maideya“, stimmte er zu und ließ sich sanft und fast geräuschlos ins Wasser gleiten.
„Ist es kalt?“, fragte sie nach und starrte hinein.
„Das hättest du vorher beantragen müssen, komm jetzt“, drängte er ungeduldig.
So folgte sie ihm. Auf ihren Armen breitete sich sofort eine Gänsehaut aus.
Rion wies ihr wortlos den Weg.
Erst unmittelbar vor dem Pier meinte er: „Ab hier wird es gefährlich. Hol ganz tief Luft, wir müssen bis zu diesen Gitter durchtauchen. Erst dahinter darfst du wieder hochkommen“
„Oh mein Gott...das schaffe ich nie“, dachte sie sich und wäre am Liebsten wieder umgedreht.
Plötzlich griff Rion nach ihrer Hand. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen.
„Keine angst, ich lasse dich nicht los. Bist du fertig? Auf drei“
Maideya zählte bis drei und sie tauchten so tief es ging. Mit schnellen Zügen nährten sie sich dem Gitter. Doch so nah es zuvor noch schien, nun entfernte es sich bis ins Unerreichbare. Maideyas Blick verschwamm immer mehr. Die Konturen der Stäbe verdoppelten sich. Sie sah alles mehrfach wie sie sich wanden und bogen. Alles wurde dunkel und schemenhaft. Begann sich zu drehen und verschwand im Pechschwarz. Sie fühlte ihre Arme nicht mehr. Wusste nicht, ob sie sich noch bewegte oder still hielt, während sie in die Tiefe sank. Ihre blassen Lippen öffneten sich leicht, als versuche sie zu sprechen. Doch sie bekam nichts heraus. Der Körper wurde so leicht als könne sie schweben. Sie nahm nur am Rande wahr, wie jemand sie an der Hand in die Höhe riss. Dann war es still…

„Maideya“, drang von weitem eine sanfte Stimme zu ihr durch. So weit entfernt, dass sie aus einer anderen Welt zu kommen schien. Ihre Finger zuckten leicht unter einer kurzen Berührung von warmer Haut.
Als sie die Augen einen Wimpernschlag lang öffnete, blendete das Licht der roten Abendsonne sie und Maideya lächelte.
„Bist du okay?“, fragte Rion vorsichtig.
Maideya blickte in seine Richtung. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr Kopf auf seinem Schoß ruhte und sie nickte ihm zu.
„Ich hab mir echt Sorgen um dich gemacht“, gab er zu.
„Tut mir leid…Rion“, hauchte sie mit flüsternder Stimme und ihre Augen folgten der untergehenden Sonne am fernen Horizont.
„Geht es?“, erkundigte er sich und blickte sie noch immer besorgt an.
Maideya nickte ihm zu.
Rion drückte sie sanft hoch und half ihr beim Aufstehen: „Wir müssen diesen Laden von Lester finden“
So machten sie sich auf dem Weg vom Hafen in die Stadt hinein. Eine breite Einkaufsstraße führte sie durch den Stadtkern hindurch. Sie war so angelegt, wie ein Spinnennetz mit ihren Haupt- und Seitenstraßen. Ihre Kleidung klebte feucht und schwer am Körper. Das klamme Gefühl erzeugte auf ihren Armen eine Gänsehaut. Auch das Haar hing triefend herunter. Endlich erreichten sie einen winzigen Laden an einer Gassenkreuzung mit einem knarrenden Holzschild. Darauf stand in schmierigen Lettern „Lesters Lädchen“.
„Sehr einladend…“, murmelte Maideya und versuchte vergeblich durch das mit Spinnweben verhangene und völlig verdreckte Schaufester zu spähen.
Rion zuckte mit den schultern: „Uns bleiben nicht allzu viele Möglichkeiten…“
„Ich weiß“, stimmte sie zu und so öffnete Rion die schmale Ladentür.
Drinnen standen überall Kartons und Kisten herum. In den Fenstern standen lauter verstaubte Gegenstände herum. Hinter der Theke hing ein dunkler Vorhang.
Neugierig sah Maideya sich um und entstaubte einige der Sachen: „Man, man… hier wurde mit Sicherheit noch nie Staub gewischt“
„Mit Sicherheit meine Dame“, korrigierte ein großer Mann sie, der plötzlich hinter dem Vorhang in den Laden trat.
„Oh, Entschuldigung“, bat sie erschrocken.
Er richtete die braune Weste mit den fernöstlichen Stickereien, die über dem gewölbten Bauch offen abstand.
„Abgefahrene Frisur, Alter“, meinte Rion, als er die einrasierten Blitze in den langen, ergrauten Kotletten sah. Der Rest des Haares war schwarz, grau durchzogen, was ihn deutlich älter erscheinen ließ.
„Ich bin noch jenseits der 60, Bursche“, mahnte er lachend, „Alter macht sexy. Da stehen die jungen Dinger von heute drauf“
Mit einem breiten grinsen deutete er zu Maideya herüber.
„Ja…sicher tun sie das“, verkniff Rion sich das lachen, „Sind sie Lester?“
„In voller Blüte!“, strahlte dieser, „Ich bin der berühmte Lester Brown“
„Aha…“, nickte er zweifelnd.
„Nun frag schon warum ich berühmt und berüchtigt bin“, forderte er Rion auf.
Er verdrehte die Augen: „Berüchtigt auch noch? Na meinet wegen…warum?“
„Ich hab von einem so jungen Kerl wie dir mehr Enthusiasmus erwartet. Aber was soll, ich werds dir verraten. Ich bin so berühmt für meinen Geschäftssinn und so berüchtigt für meine Frauengeschichten!“
„Mein Beileid“, grinste Rion.
Lester sah ihn etwas beleidigt an.
„Nun wenn sie so ein guter Geschäftsmann sind wie sie es sagen, dann lassen sie uns doch einen deal machen…“, schlug Rion ihm vor.
Er musterte ihn misstrauisch: „Worum soll es gehen?“
„Um ein besonderes Buch…“, begann Rion vorsichtig.
„Ich bin doch keine Bücherei“, lachte Brown auf.
„Das Buch der Splitter oder auch der Schlüssel“, fuhr er fort.
Rion konnte genau sehen, wie Lester von der Antwort überrascht wurde und zusammenzuckte. Wild fuhr er sich durchs Haar und behauptete: „Ich kenne so ein Buch nicht“
Rion lächelte leicht: „Das hab ich von Miss Jelena aber anders gehört“
„Was für eine falsche Schlange“, ärgerte er sich und ballte die Faust.
„Frauen machen einem nur Probleme…“, sagte Rion gespielt mitleidig.
„Ich hab es nicht mehr“, musste er zugeben.
„Wer hat es dann?“, wollte Rion wissen.
„Was soll daran der Deal sein?“, stellte Brown die Gegenfrage.
„Ach ja, ich hab ja Deal gesagt“, erinnerte Rion sich und sagte zu sich selbst, „Dass ich deine jämmerliche Visage heil lasse“
„Also…ich höre“, meinte er und verschränkte die haarigen Arme.
Rion verzog das Gesicht und hielt ihm einen Beutel mit Münzen hin.
„Deal ist Deal!“, rief Lester erfreut und seine Augen leuchteten.
„Erst dein Part“, forderte Rion ihn auf.
Lester Brown richtete seine Kleidung und trat erneut hinter den Tresen: „Ich besitze weder das Buch noch 2 der Schlüssel – ABER ich weiß wo sie sind“
„Ich höre“, ahmte Rion ihn nach.
„Nun…einer der Schlüssel befindet sich im Besitz meines Freundes Dexter. Er hat ein Haus im Norden der Stadt. Direkt vor der hässlichen Betonmauer, die die Stadt umgibt. Der andere liegt bei meinem alten Kumpel Grec. Grec haust in den Slums hinter der Kanalisation. Aber das Buch…nun… das hat eine meiner damaligen Freundinnen. Ihr Name was…äh…Lola glaube ich. Zumindest hat man sie im „halben Becher“ meiner Stammkneipe immer so genannt“
„Das ist komplizierter als ich dachte“, seufzte Rion und gab ihm das Geld.
Lester verschwand kurz und kam dann mit einem schwungvoll verzierten Silberschlüssel zurück: „Das ist er. Der Schlüssel, den ich besitze“
Feierlich übergab er ihn Maideya: „Hier mein schönes Fräulein“
„Danke“, lächelte sie gequält und steckte ihn weg.
„Auf Wiedersehen, meine Freunde“, winkte er ihnen nach, als sie den Laden verließen.
„Komischer Kerl…“, meinte Maideya kopfschüttelnd und warf noch einen Blick in das zwielichtige Geschäft, „Ob er lügt?“
Rion zuckte mit den Schultern, als die Ladentür sich hinter ihm schloss: „Keine Ahnung…aber warum sollte er? Finden wir lieber schnell diesen Dexter“
Sie nickte leicht und folgte ihm.

Akt 4: Die Schlüsseljagd

Ihr Weg führte sie geradewegs in die Nordstadt. Das Ambiente änderte sich sichtlich. Dieser Teil der Stadt bestand nicht mehr aus den vornehmen Fachwerkhäuschen, die sich sauber aneinander reihten. Viel mehr bestimmten einfache Holzbauten hier das Bild.
„Und hier soll dieser Dexter wohnen?“, zweifelte Maideya seufzend.
„Du traust Lester Brown wohl wirklich nicht?“, Rions Frage klang eher wie eine Feststellung.
Sie zuckte zögerlich mit den Achseln: „Vielleicht tu ich ihm Unrecht…“
„Aber weiß du, was ich mich frage…“, begann Rion und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Maideya sah zu ihm herüber.
So fuhr er fort: „Warum es immer drei sind“
„Was sind immer drei?“, wunderte sie sich und blieb stehen.
Rion drehte sich zu ihr um: „Es waren schon drei Prüfungen. Warum sind es auch drei Schlüssel, die das verdammte Buch öffnen?“
„Nicht fluchen Rion…“, bat sie mit mahnendem Zeigefinger.
„Okay…aber trotzdem sind es drei“, entgegnete er eindringlich.
„Ich glaube nicht, dass es eine Bedeutung hat“, überlegte sie.
„Doch…“, war er sich sicher, „In der Sache steckt bestimmt System“
Sie lächelte sanft: „Ach Rion…“
„Was denn?“, seine Stimme klang fast empört.
„Wir werden es vielleicht nie erfahren. Aber jetzt ist dieser Dexter wichtig…oder?“, erinnerte sie ihn.
Rion musste ihr zustimmen und sie setzten ihre Suche fort.

Endlich erreichten sie die Mauer von der Brown gesprochen hatte. Sie unterstrich das trostlose Bild des Stadtteils und erzeugte eine Atmosphäre von Kälte und Tristes.
„Die ist wirklich hässlich“, meinte Rion so erfrischend kindlich, dass Maideya schmunzeln musste.
An der besagten Mauer befand sich nur ein Haus. Ein unscheinbares, rustikal gebautes Haus mit zwei Stockwerken.
„Meinst du er wird uns helfen?“, fragte sie ihn.
Doch sie konnte ihre Frage kaum stellen, denn ein plötzliches Geräusch ließ ihren Körper zusammenzucken. Es war ein Klacken, das Geräusch von Metall.
„Soldaten“, hauchte Rion noch bevor Maideya den Gedanken richtig fassen konnte, „Dass ist nicht gut“
Er drängte sie zur Tür und hämmerte kurz dagegen.
„Wer ist da?“, drang es gedämpft von drinnen.
„Pizzaservice“, hätte Rion am liebsten gesagt, doch dafür war jetzt nicht der Zeitpunkt: „Lester Brown schickt uns, bitte machen sie auf“
Kurz darauf wurde die Tür entriegelt. Rions Herz schlug schneller. Er hielt Maideya an die Tür gepresst.
„Wie schnell hat sich die Sache mit dem Kloster wohl schon herumgesprochen?“, fragte er sich ununterbrochen. Die Sekunden, die er brauchte bis Dexter die Tür endlich öffnete zogen sich wie Kaugummi hin. Endlich bewegte sich etwas und Maideya fiel beinahe sprichwörtlich mit der Tür ins Haus.
„Wer seid ihr?“, wunderte ein kleiner, hagerer Mann mit Haarkranz sich.
„Keine Zeit für Erklärungen“, entgegnete Rion hastig und schob sie und sich ins Haus. Schnell griff er die Tür und schloss sie geräuschlos um sie zu verriegeln.
„Ist…ist das ein Überfall?“, quietschte Dexter erschrocken und schlug die Hände vor den Mund.
Rion musste breit grinsen: „Nein. Zumindest noch nicht…“
Dexters tief liegende, grüngraue Augen musterten ihn.
„Ich mag nur keine Soldaten“, deutete Rion nach draußen.
Dexter stieß den Atem aus wie ein Blasebalg und fasste sich an die Stirn um den Schweiß weg zu wischen: „Das ist gut“
„Ich komme gerade von Lester Brown. Wie ich hörte ist er ein alter Freund von ihnen Dexter“, begann Rion und sah ihm in die Augen.
Dexter fistelte herum: „Das ist nicht gut. Also…ich…es kommt darauf an worum es hier geht“
„Um einen kleinen Schlüssel, den er ihnen gab“, antwortete Rion so direkt, dass Dexter davon mehr als überrascht schien.
„Ich versteh nicht…“, wollte er sich herausreden, doch Rion hielt ihm Lesters Schlüssel unter die lange Nase.
„So einen suche ich“, unterstrich er sein Vorhaben, „Lester sagte ich würde ihn hier finden. Wir haben einen Deal der besagt, dass ich alle DREI Schlüssel bekomme – und das Buch“
„Das Buch?“, stotterte er, „Was will ein junger Mann denn mit dem alten Schinken?“.
„Und sie? Was wollen sie damit?“, startete er angriffslustig die Gegenfrage.
Dexter zögerte mit der Antwort und fuhr sich über das eckige Kinn mit dem dunklen Dreitagebart.
„Ich hab nicht ewig Zeit“, drängte Rion, „Was ist jetzt? Ich bin gekommen um mir den Schlüssel zu holen und das werde ich auch. Soll ich mich hier erst umsehen? Das könnte dann aber ungemütlich werden…“
„Ich…äh…Moment bitte der Herr…“, bat Dexter mit einem Anflug von Angst im Blick und stolperte in den nächsten Raum.
„Keine Tricks“, riet Rion ihm.
„Nein! Natürlich nicht. Ich komm gleich zurück!“, entgegnete er hastig.
„Rion…“, empörte Maideya sich und hielt ihn am Arm fest, „Was soll das?“
„Ich hab nicht so viel Kohle, dass ich jede komische Figur hier bestechen könnte. Bin ich Rockefeller oder was?“, rechtfertigte er sich.
„Ist das die feine Art?“, seufzte sie vorwurfsvoll.
„Das war doch noch höflich. Ich hab ihn nicht beleidigt“, bemerkte er.
Sie schüttelte darüber nur den Kopf.
„Willst du hier mit einziehen bis er seinen Arsch von allein bewegt und den blöden Schlüssel rausrückt?“, fuhr er fort.
„Männer!“, ächzte sie.
„Hier!“, kam Dexter keuchend zurück und gab ihn ihm.
„Endlich“, atmete er erleichtert auf, „Danke. Und um dir zu zeigen wie dankbar wir sind, lassen wir hier alles heil. Abgemacht?“
„Äh…abgemacht“, nickte er eifrig.
„Na prima“, freute Rion sich und gab ihm die Hand.
Zögernd schlug Dexter ein.
„Was für ein Idiot“, dachte er sich und meinte: „Es war mir eine Freude mit ihnen Geschäfte zu machen“
„Rion…“, zischte Maideya und buffte ihn leicht in die Seite, „Jetzt ist auch wieder Schluss“
„Okay…“, stimmte er zu, „Wir müssen sowieso weiter. Ihr Kumpel Grec hat auch noch was, dass ich brauche“
„Wenn ihr zu Grec wollte, dann solltet ihr den Weg über das Fenster im zweiten Stock nehmen…wegen der Soldaten. Das ist Grenzland“
„Gut, dann zeig uns den Weg und weg sind wir“, schlug Rion vor.
„Das wäre gut!“, nickte er erleichtert und führte sie hinauf.
Durch ein schmales Fenster im oberen Geschoß gelangten sie über eine Leiter in einen Zwischenraum der zwischen der Hauswand und der Mauer lag.
„Warum gibt es drei Schlüssel?“, erkundigte Rion sich auf dem Weg bei Dexter.
Dieser guckte ziemlich blöd aus der Wäsche: „Na ja… vielleicht weil es auch drei Schlösser hat?“
„Ach…“, machte Rion verächtlich.
„Wir haben ihn vor Jahren hier angelegt“, erklärte Dexter und deutete auf ein Loch vor der Mauer, welches mit einer Bodentür verschlossen war.
„Danke“, verabschiedete Rion sich von ihm und stieg hinab.
„Und Entschuldigung für die Unannehmlichkeiten“, bat Maideya noch bevor sie ihm folgte.
„Was für ein Tag…“, keuchte Dexter verwirrt und ging ins Haus zurück.

„Lester kennt auch nur bekloppte Leute…kein Wunder. Der ist ja selber so…“, grinste Rion breit.
„Du warst gemein!“, warf sie ihm vor.
„Ich weiß“, murmelte Rion, „Aber wir haben nicht ewig Zeit und Geroh wartet auf uns. Manchmal geht es nicht so wie man es gern hätte und die sanfte Tour versteht nicht gleich jeder…“
Sie befanden sich in den Kanälen unterhalb der Stadt. Das war nicht schwer zu erraten angesichts des beißenden Gestankes und der nassen Füße, die sie bereits jetzt hatten.
„Widerlich“, seufzte Maideya und presste den Stoff ihrer Kleidung gegen die Nase.
„Das ist der Duft der weiten Welt“, behauptete Rion.
Da seine Augen im Dunkeln besser waren als ihre, loste er sie durch die engen Gassen. Vom weitem war das Gequieke von Ratten zu hören. Maideya fürchtete sich jedoch nicht vor Nagetieren. Sie kannte sie aus dem Kloster in den sie lebte. Ganz im Gegenteil. Sie fand die Tierchen ganz süß. Ein Loch im Boden führte sie kurz darauf bereits wieder noch oben. Erleichtert schnappte Maideya die frische Luft auf, die gar nicht so frisch war. Wohin sie sah sammelten sich Berge von Müll und sonstigem Abfall.
„Hier sind also die Slums der Stadt“, analysierte Rion nüchtern.
„Die Müllhalde der Stadt trifft es besser“, murrte sie und klopfte ihre Kleidung ab.
„Keine gute Idee“, unterbrach er sie.
Sie sah ihn überrascht an, als er eine Hand voll Staub und Dreck in ihrem Haar und Gesicht verteilte.
„Was soll das?“, empörte sie sich.
„Das hier sind die Slums. Ich sag´s nicht gern, aber hier unten passt man sich besser an…“, erklärte er sich und tat es ihr gleich.
Mit völlig verschmierten Gesichtern setzten sie ihren Weg nun fort. Hier unten gab es keine richtigen Häuser. Nur Verschläge und verdreckte Zelte. Oder nur einfache Planen, die über Holzpfähle gespannt waren.
„Nett hier…“, grinste Rion, „fast wie zu Hause“
„Wovon sprichst du?“ fragte sie verdutzt nach.
„Von Likon“, antwortete er knapp und nahm eine Zigarette zwischen die Lippen.
„Du meinst deine Heimatstadt?“, erinnerte sie sich.
Er nickte: „Da sieht es ganz ähnlich aus“
„Dann kannst du froh sein, dass du jetzt hier bist“, sagte sie lächelnd und ging voraus.
Rion seufzte leicht und blickte sehnsüchtig um sich: „Ja…vielleicht…“

Akt 5: Lola´s Geschichte

Die Zigarette glomm orangerot auf und Rion wandte den Blick von den Hütten ab um Maideya zu folgen.
„Grec soll hier gleich hinter der Kanalisation wohnen“, erinnerte Maideya sich an Lesters Worte, „Aber wo? Ich dachte nicht, dass es hier so weitläufig ist“
Rion sah sich suchend um.
Maideya rieb sich über die Arme: „Mich fröstelt es. Wie kann man nur freiwillig hier leben?“
„Ich glaub nicht, dass die Leute hier freiwillig sind…“, verbesserte er sie umgehend, „Lass uns den Typen dort fragen“
Rechts von ihnen saß ein bärtiger Mann mit einer halb gefüllten Bierflasche in der Hand und starrte zu Boden.
„Warum nicht, einen Versuch ist es wert“, murmelte Maideya.
Rion ging zu ihm herüber und hockte sich vor ihn: „Entschuldigung?“
Betreten blickte er zu ihm auf.
„Können Sie mir helfen? Ich suche einen Mann namens Grec. Lester hat gesagt ich würde ihn hier finden. Ich weiß nur nicht genau wo er wohnt“
Wortlos deuteten die ungewaschenen Finger des Mannes auf eine rustikal gezimmerte Holzhütte im Süden.
„Danke“, nickte Rion und kam zu Maideya zurück.
Er wies ihr die Richtung. Gemeinsam gingen sie zur Hütte herüber.
„Ob er nett ist?“, überlegte Maideya nachdem Rion geklopft hatte.
Rion grinste leicht: „Du kannst dir nicht vorstellen wie absolut egal mir das ist…“
Maideya verdrehte die Augen.
Endlich tat sich etwas an der Tür. Ein breitschultriger Mann mit tiefen, dunkeln Augenhöhlen und einem stoppligen Bart öffnete sie ruckartig: „Was?“
„Äh... wir kommen von Lester Brown…“, begann Rion, doch er wurde unterbrochen.
„Ich will von dem Lügner nichts wissen! Verschwindet!“
Die Tür knallte so hart in die angeln, dass die Hütte leicht schwankte.
„Na toll“, seufzte Rion, „Dann Plan B“
„Gibt es den?“, fragte Maideya nach.
„Nö…noch nicht“, gab er zu und sie zogen sich auf einen freien Platz vor der Kanalisation zurück auf dem ein einfacher, kleiner, runder Brunnen stand.
„Wir müssen irgendwie an den Kerl ran…“, überlegte Rion laut.
Maideya ließ sich am Brunnen entlang nach unten gleiten und winkelte die Knie an. Langsam richtete sie den Kopf nach oben und schloss die Augen: „Ich hätte nie gedacht, dass es so ein Problem wird das Buch zu bekommen…“
„Ach, das ist noch gar nichts“, meinte Rion, „Es geht noch viel schlimmer“
Sie seufzte und ließ den Kopf auf die Knie sinken: „Warum kann es nicht ganz einfach sein? Warum haben wir es nicht schon?“
„Das wäre doch langweilig“, entgegnete Rion, „Wo bleibt da der Spaß?“
Sie lächelte kurz: „Was für Spaß?“
„Du wolltest die ganz Welt sehen Maideya“, erinnerte er sie und setzte sich zu ihr, „Es gibt nicht nur schöne Orte da draußen. Es gibt auch solche. Das kann sich nicht jeder aussuchen. Worein er geboren wurde oder woher er kommt“
Sie nickte leicht: „Ja, vielleicht“
„Ganz sicher“, er legte seinen Arm tröstend auf ihre Schulter, „Wir haben noch einen langen Weg vor uns. Willst du jetzt schon aufgeben? Nur weil es gerade mal nicht so läuft?“
Sie blickte ihn stumm an und ihre Augen glänzten nass.
„Gib jetzt nicht auf. Ich krieg das hin, versprochen“, bat er sie.
„Okay…“, versprach sie mit leiser Stimme.
Rion lächelte sanft:: „Wo ist die Sonne, wenn dunkle Wolken sie verschleiern?“
Irritiert legte sie die Stirn in Falten: „Was? Hm… dahinter?“
„Siehst du und glaubst du sie hört plötzlich auf zu lachen? Nur weil sich so eine olle Wolke vor sie geschoben hat? Meinst du sie gibt dann auf? Nein, sie lacht trotzdem weiter. Und warum? Weil die blöde Wolke ja nicht ewig vor ihr herum hängen kann“
Maideya musste ob dieser seltsamen Aufmunterung lächeln: „Du hast recht…denke ich“
„Natürlich“, beharrte er und zog sie hoch.
Sie nickte energisch.
„Wir suchen jetzt im „halben Becher“ nach dieser Lola. Was sagst du?“, schlug er vor.
Maideya stimmte zu. So machten sie sich auf den Weg zur Bar in der Westlichsten Ecke des Viertels.

Ruckartig öffnete Rion die schwere Kneipentür. Der Geruch von Tabak und Alkohol schlug ihnen entgegen und biss sich in der Nase fest.
„Puh…“, bemerkte Maideya und wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum.
Der gedrungene Raum war nur spärlich durch Lampen beleuchtet obwohl es draußen noch gar nicht so dunkel war. Doch die milchigen Fenster ließen kaum Licht hineindringen. Rion zählte auf die Schnelle 11 Tische mit je 4 Stühlen. Hinter der Bar stapelten sich die Rumfässer.
„Was kann ich für euch tun?“, knurrte eine raue jedoch weibliche Stimme
Überrascht drehten sie sich zu ihr um. In einer nicht ausgeleuchteten Ecke mit zur Seite gebundenem Vorhang saß eine schwer erkennbare Person. Es sah aus als wäre sie im Dunst ihrer eigenen Zigarre gefangen.
Rion ging ein paar schritte auf sie zu: „Wir suchen nach einem Mädchen mit dem Namen Lola“
„Nach einem Mädchen suchst du“, wiederholte sie und lachte auf, „du hast doch schon eins“
Rion verdrehte die Augen: „Ja, ich weiß. Aber es geht um was anderes…“
„So?“, machte sie geheimnisvoll und erhob sich von ihrem Platz um hinter die Theke zu treten, „Was wollt ihr denn von mir?“
„Sie sind Lola?“, fragte Maideya überrascht und sah sie an.
Unter dem Schein der Lichter leuchtete Lolas Haar rötlich blond. Ihre Wangen waren rougerot und pausbackig. Das Haar fiel ihr Strähnig über die faltige Stirn. Die Augen lagen tief inmitten der dunklen Höhlen.
„So sieht es aus Herzchen“, nickte sie und drückte die Zigarre auf der abgenutzten Theke aus.
„Wir sind wegen Lester Brown hier. Der Name dürfte ihnen doch sicher etwas sagen?“, brachte Rion die Sache auf den Punkt.
„Lester Brown, ja? Ich dachte nicht das ihr etwas mit ihm zu schaffen habt…“, ihre Stimme klang mehr als ablehnend, „Aber seine kleinen Spione waren schon mal hässlicher…“
„Wir sind keine Spione…“, stellte Rion richtig, „Es geht um das Buch und die drei Schlüssel“
„Ach sieh mal einer an. Erst verschenkt er den Krempel und jetzt will er es wieder haben. Meinetwegen. Sein billiger Schund bringt eh nur Ärger ein…“, sie verschluckte sich fast beim lachen und hustete entsetzlich.
„Also können wir es haben?“, freute Rion sich.
Lola schlug den Blick zu Boden und sah dann wieder auf: „Nein“
„Was heißt nein? Warum nicht?“, wollte Rion energisch wissen.
Maideya verzog enttäuscht das Gesicht.
„Weil ich es nicht mehr habe“, gab sie zu.
„Verdammt!“, ärgerte Rion sich, „Wer hat es dann?“
„Ein ehemaliger Geliebter von mir. Alistair von Titon. Ein Adliger aus dem Villenviertel der Stadt. Wie könnte ich ihn vergessen? Damals…als ich noch jung und knackig war…“, begann sie schmunzelnd, stoppte jedoch und schüttelte den Kopf, „Ach euch Kinder interessiert das sowieso nicht“
„Stimmt“, dachte Rion, sagte aber nichts.
Sie fuhr fort: „Es gab eine Zeit… ungefähr vor 30 Jahren, da waren Lester Brown, Dexter, Grec und ich die besten Freunde. Wir sind zusammen aufgewachsen. Waren gute Freunde und teilten alles untereinander. Eines Tages fanden Lester und Grec dann in einer verstaubten Kiste eines Verstorbenen dieses seltsame Buch. Keiner von uns konnte es lesen, so bewarten wir es wie einen Schatz. Jeder bekam einen Teil. Es sollte uns immer aneinander erinnern. Da ich damals Lesters Freundin war, durfte ich das Buch haben. Irgendwann wollten wir es zusammen entschlüsseln und auf Abenteuersuche gehen. Doch dann wurden wir älter und es brach auseinander. Lester wurde so anders, so falsch. Er begann die Leute zu betrügen und über den Tisch zu ziehen. Er hat sich am Leid der Anderen bereichert und zog in die Stadt. Weg aus den Slums. Er hat unsere Freundschaft vergessen. Er hat sie verraten und darum haben diese Dinge keinen Wert mehr für mich…“
„Das tut mir leid“, meinte Maideya mit leiser Stimme.
Lola strich über Maideyas Hand, die auf der Theke ruhte: „Ach Kind, ich wünschte ich wäre noch mal so jung wie du“
Maideya lächelte sanft zu ihr herüber.
Rion seufzte leicht: „Tja…also wenn sie wissen wo das Buch ist, geh ich`s mal holen“
Lola lachte auf: „Das Feuer der Jugend, hm? Es gab da einen Geheimgang, den Alistair und ich nutzten als wir verliebt waren. Ich lernte ihn hier kennen. Er spielte früher oft Karten…heimlich natürlich. Seine Verlobte durfte es nicht wissen. Ich war damals gerade 20 Jahre alt uns sehr verliebt. Jedenfalls gibt es neben dem Brunnen einen geheimen Tunnelgang durch einen flachen Schuppen. Er führt zum Prunkbrunnen des Villenviertels. Gegenüber dieses Brunnens gibt es ein großes, beiges Haus mit Säulen und hohen Stufen. Das ist es. Das Buch liegt in einem Turm, der keine Fenster hat…“.
„Moment…keine Fenster? Aber eine Tür oder?“, wunderte Rion sich.
Sie zuckte mit den Schultern: „Ich weiß es nicht. Alistair sagte er habe den Turm zumauern lassen um unsere Erinnerungen aufzubewahren“
„Super Idee“, murmelte Rion und stützte das Kinn auf die Handfläche.
„Das hört sich kompliziert an“, stimmte Maideya ihm zu.
Rion sprang plötzlich auf: „Aber was soll `s? Ich hab dir das Buch versprochen und ich bring dir das Buch. Ein Rion, ein Wort…“
„Danke“, freute sie sich, „Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann!“
„Ist doch klar“, grinste er und wuschelte ihr durchs Haar, „Passen sie bitte auf Maideya auf“
Lola stimmte zu und Rion ging zurück zum Brunnen. Er vergewisserte sich, dass ihm niemand folgte und er unbeobachtet war. Schnell verschwand er im Schuppen, suchte nach der Bodentür und verschwand in Lolas geheimen Gang. Dank seiner guten Augen fand er den Weg ohne Probleme. Ein plötzlicher Schmerz im Knie machte ihm deutlich, das der Gang abrupt endete.
„Mist!“, fluchte er und rieb sich die schmerzende Stelle. Vor ihm führten hohe Stufen hinauf zu einer weiteren Bodentür. Rion schob sie auf und musste sich durch einen weiteren Gang zwängen. Er schob einen paar Holzlatten beiseite und erreichte den Platz hinter dem beschriebenen Brunnen. Der dunkel durchzogene Marmorbrunnen stand auf einem sorgfältig gepflasterten, quadratischen Platz inmitten einer Allee aus Bäumen. Sanft fiel die orangerote Abendsonne darauf. In der Mitte des Brunnens standen drei helle Engelstatuen Rücken an Rücken in einem Dreieck.
„Schon wieder drei…“, bemerkte Rion verwundert und blickte um sich.
Da es bereits Abend war, waren die Straßen menschenleer. Aufatmend lief er herüber zur Villa. Eine der majestätischen, dicken Eichen der Allee stand direkt neben dem Gebäude. Rion sah daran empor. Einer der Äste reichte fast bis zu einem schmalen Balkon in dritten Stock. Rion nickte erleichtert über die voraussichtliche Einfachheit der Sache. Über den knochigen Baum mit seien unzähligen Astgablungen und den stabilen Zweigen war es für ihm nicht schwer darauf zu klettern. Geschickt schwang er sich immer höher hinauf. Vorsichtig balancierte er den Ast entlang, der zum Balkon führte. Mit sicheren Schritten und kaum hörbar sprang er auf den weißen Balkon herüber. Rion blickte fast atemlos um sich. Doch nichts tat sich. Er wartete einige Sekunden, dann stand er aus der Hocke auf und schlich zur Balkontür herüber. Der Turm befand sich in der östlichsten Ecke des Anwesens. Rion sah sich das Schloss der Tür an, entschloss sich jedoch für das Fenster daneben. Das Haus lag im Dunkeln. Nirgendwo brannte ein Lichtschein. Es überraschte ihn zwar, er machte sich darüber jedoch keine Gedanken. So öffnete er das Fenster geräuschlos mit dem Kukri und stieg hindurch. Er schloss es wieder hinter sich. Ein langer Korridor führte zu einem Treppenhaus mit weitläufigen Gängen. Eine Treppe führte hinauf, eine hinunter. So stieg Rion hinauf und schlich immer in Richtung Osten. Nach einer weiteren Treppe, einem Gang und etwa fünf Stufen stand er endlich vor dem Turm. Doch wie er schon befürchtete gab es keine Tür.
„Das kann nicht sein. Wie kommt der Kerl hier rein? Er hat die Tür doch wohl nicht wirklich zugemauert?“
Rion tastete die Wände ab. Den Boden. Nichts.
„Es ist gefährlich sich hier zu lange aufzuhalten…“, sagte er sich selbst und beobachtete die Umgebung erneut.
Er spielte mit dem Gedanken sich gegen die Wand zu werfen, verwarf ihn jedoch sofort wieder: „Nur keine unnötige Aufmerksamkeit erwecken…“
Es wollte ihm einfach kein guter Gedanke kommen. Da bemerkte er einen blau violetten Schimmer an der Wand. Rion musste zweimal hinsehen um ihn richtig wahr zu nehmen, so schwach war das Licht. Er legte verdutzte seine Hand darüber. Das Licht wurde an der Stelle davon überdeckt.
„Auras Macht ist nicht immer begreiflich aber allgegenwärtig“, sprach eine irgendwie vertraute Stimme zu ihm.
Rion fuhr erschrocken herum. Doch der Gang war leer. Da war niemand. Dann blickte er auf seine Klinge. Sie blinkte schwach auf. Rion zog sein Schwert heraus.
„Du musst lernen Aura einzusetzen. Es ist mehr als eine Waffe. Sie ist der Weg zum Sieg, Rion“, fuhr die Stimme fort.
„Ich kenne dich von irgendwo her…“, überlegte Rion immer noch auf Aura schauend.
„Ich bin die Weisheit. Doch du kennst mich nicht. Du kannst mich nicht kennen. Doch wir sind uns einst begegnet“, erinnerte er ihn.
„Ja“, nickte Rion, „Du warst der komische Typ, der mich in dieser Einöde verrecken lassen wollte und dann hast du mich hier her gebracht. Ich muss dich nicht unbedingt näher kennen lernen…“
„Es ist deine Geschichte“, entgegnete Wisdom ruhig, „Du kannst es sehen wie du willst“
„Oh, danke“, meinte Rion verächtlich, „Was hast du komischer Vogel denn gedacht? Das ich vor Freude hier in dieser blöden Welt abzuhängen und Held spielen zu müssen eine Party schmeiße?“
„Es nennt sich Schicksal…“, war alles was Wisdom dazu sagte.
„Toll. Ich nenn das Beschiss“, ärgerte er sich.
„Aura…“, begann Wisdom wieder und erschien ihn als blasses Bild an der Turmwand, „Kennt den Weg. Sie ist der Weg des Herzens. Wähle mit Bedacht. Wenn du Aura nutzt, spielst du mit einer unglaublichen Kraft. Sie ist mächtig. Mächtiger vielleicht als alles was je geschmiedet wurde. Außer einer Waffe…Komet. Eine Klinge in Nachtschwarz und blutrot. Sie übersteigt die Macht von Aura bei weitem. Sie ist die gefährlichste aller Waffen“
„Was soll daran so mächtig sein?“, zweifelte Rion.
Wisdom fuhr fort ohne auf ihn zu reagieren: „Auras Macht zu nutzen ist gefährlich. Aber sie bringt dich dem Himmel näher. Aber die brutale Macht von Komet zu nutzen ist Wahnsinn. Sie bring dich direkt in die Hölle“
„Warum erzählst du mir das? Ich will das Ding doch gar nicht“, fiel Rion ihm ins Wort.
„Weil es nach dir sucht, weil es dich zu sich ruft. Und weil Komet immer das bekommt was sie will. Eine neue Seele. Komet frisst ihren Träger Stück für Stück auf. Sie verschlingt die Menschen. Wenn du nach den Splittern suchst, stolperst du blind in Komets Falle“
„Was weißt du über die Splitter?“, Rion bemerkte dass es riskant war so laut zu reden und wechselte in den Flüsterton über.
„Du brauchst deine Stimme nicht zu senken“, beruhigte Wisdom ihn, „Wir befinden uns in einer unwirklichen Zeit. Ich habe die Barriere der Zeit um uns errichtet. Niemand wir uns stören“
Rion sah ihn ungläubig an.
„Ich weiß alles über die Splitter. Doch jedes ding zu seiner Zeit. Und die Zeit der Wahrheit ist noch fern“, antwortete er auf Rions zuvor gestellte Frage.
„Du bist eine große Hilfe“, seufzte Rion genervt.
„Ich bin nicht da um zu helfen“, korrigierte Wisdom, „Ich lasse dich das wissen was ich für richtig halte und nur dann, wenn ich meine es sei an der Zeit“
„Glückwunsch“, meinte Rion trotzig und wandte sich von ihm ab, „Solche Typen gibt es in dieser nervigen Welt genug. Was ich wirklich brauchen kann ist ein Tipp“
„Nicht jede Tür ist immer gleich sichtbar. Nicht jede Tür hat ein Schloss oder eine Klinke“, Wisdoms Stimme war klar und melodisch wie immer und doch schien etwas merkwürdiges darin zu liegen.
„Also Schlösser hatten wir dann auch genug. Ich hab nicht mal so viel Schlüssel wie ich Schlösser hab…“, dachte er sich.
„Weißt du, warum Komet ausgerechnet nach dir ruft?“, frage er Rion plötzlich und Rion wurde aus den Gedanken gerissen.
Er grinste ihn an: „Neidisch, was? Nimm du dir doch das Ding. Du weißt ja eh alles darüber“
Wisdom schüttelte den Kopf: „Nein. Das könnte ich nicht. Komet ist nicht für meine Hände bestimmt“
„Aber für meine?“, es war eher eine zweifelnde Aussage als eine Frage.
Er nickte ihm zu: „Ja. Weil du das Regena-Gen in dir trägst. Es hebt als einziges auf der Welt die zerstörerische Macht von Komet auf, da es sich neutralisiert. Daher das rege Interesse dieser Welt an dir, Rion“
Rion lehnte sofort ab: „Das könnt ihr knicken, kapiert? Nicht mit mir“
„Es ist deine Geschichte…“, hauchte Wisdom mystisch, „Aber alles zu seiner Zeit“
„Ich hab nein gesagt“, erinnerte Rion ihn energisch.
Wisdom schmunzelte kaum sichtbar: „Du wolltest Aura auch nicht…oder den Splitter. Und nun stehst du hier. Hab ich nicht recht?“
„Ich hatte keine Wahl“, rechtfertigte er sich.
„Siehst du“, erläutete Wisdom ihm, „So oder so. Du und diese Welt, ihr spielt beide eure Rolle“
„Ich bin mehr als eine eurer kleinen Schachfiguren!“, fuhr Rion ihn an.
Wisdom hob eine Augenbraue: „Dann beweis es Rion…“
Der lange, blasse Finger Wisdoms deutete auf die Wand. Noch immer leuchtete Aura sanft auf. Rion sah die Klinge an, dann die Wand und wieder die Klinge. Auf einmal huschte ein Lächeln über seine Lippen.
„Nicht jede Tür hat eine Klinke oder ein Schloss“, wiederholte er Wisdoms Worte, „Natürlich!“
Mit der Klinge fuhr er leicht über die Wand. So zeichnete er sich eine eigene Tür. Die Linie, die Aura zeichnete, leuchtete im selben blau violett. Hoffnungsvoll berührte er die gekennzeichnete Fläche. Kurz darauf öffnete sich die imaginäre Tür vor ihm und führte ihn in den genannten Raum. Inmitten des runden Raumes stand ein Ebenholztisch. Darauf ein blaues Samtkissen auf welchem das Buch ruhte. Rion trat näher heran. Es lag zugeschlagen dort. Verschlossen mit drei Silbernen Schlössern.
„Das ist es“, war er erleichtert und streckte die Hand danach aus.
„Rion…“, erklang eine verführerische, weibliche Stimme, „Komm zu mir…“
„Wer ist das?“, wunderte er sich und zögerte.
„Fass es nicht an!“, riet Wisdom ihm scharf.
Rion zuckte zusammen: „Schrei nicht so, ich bin nicht taub“
„Du darfst es nicht berühren“, warnte er.
„Haha…“, machte er, „Du bist ein Scherzkeks. Hast du schon mal ein Buch mitgenommen ohne es zu berühren?“
„Du darfst es auch nicht selbst öffnen“, fuhr er fort.
Rion sah zu ihm herüber und hob die Augenbrauen: „Warum nicht? Willst du das tun?“
„Nein“, lehnte er ab und blickte Rion mit so klaren Augen an als wäre dieser durchsichtig, „Lass es jemand anderes aufschließen. Das Schicksal ist eng mit diesem Buch verbunden. Es reagiert empfindlich auf Berührungen. Wer es aufschließt, der erweckt es. Das kann furchtbar enden…“
„Ich hab keine angst vor Büchern“, meinte Rion kurz.
„Menschen sind dumm“, stellte er trocken fest.
„Ja, du musst dich ja nicht mit mir abgeben“, entgegnete Rion Schulter zuckend und riss einen großen Fetzen von den grünen Vorhängen, die er über das Buch warf.
„Aber wenigstens nutzt du deinen Kopf“, war Wisdom zufrieden, „Aber hüte dich vor Natalyel…“
Damit verblasste er wieder.
„Wem?“, fragte Rion verwundert als er das Buch einpackte und sah sich zu ihm um.
Doch Wisdom war weg.
„Was für ein Freak…“, seufzte Rion, „Ich hoffe der hat seinen Zeit Hokuspokus noch auf aktiv stehen. Sonst laufe ich Gefahr hier aufzufliegen“
Schnell machte er sich auf den Weg zurück. Das Buch im Vorhang immer dicht an den Körper gedrückt.
„Man was für eine Labertasche… ich hab keinen Plan was der mir da klarmachen wollte“, ging es ihm durch den Kopf als er durch das Fenster in die Nacht verschwand und über den Balkon und den Baum nach unter kletterte. Immer das Buch im Gepäck.
„Das erinnert mich an das Buch, dass ich mit Geroh geklaut hab. Was für ein Deja vu“, grinste er und nahm den Weg zurück zu Maideya und Lola.

Akt 6: Der letzte Schlüssel

Endlich erreichte er die Bar von Lola. Maideya wartete bereits auf ihn. Sie saß auf den Holzstufen der Treppe die zu den Gästezimmern hinauf führte. Im Gegensatz zum Nachmittag war die Bar nun gut gefüllt. Alle Stühle waren besetzt. Überwiegend von bärtigen Männern. Lola hatte alle Hände voll zu tun. Sie blickte nur kurz zu ihm herüber.
„Hey Maideya“, begrüßte er sie und zeigte das Buch unter dem Vorhang.
Ihre Augen weiteten sich vor Freunde: „Du hast es geschafft!“
Er hielt sich den Zeigefinger vor die Lippen: „Nicht so laut. Lass uns hoch gehen“
Sie nickte und sah sich prüfend um. Dann führte sie Rion zum gemieteten Zimmer hinauf und schloss die Tür.
„Wir verstecken das Ding hier“, schlug er vor, „Ich gehe los und hole Geroh. Es muss noch einen anderen Weg durch die Kanalisation geben. Als ich mit dir durch das Gittertor getaucht bin, war da ein Gullideckel. Der muss uns dorthin führen“
„Gut, ich bleibe hier und warte auf euch“, stimmte sie zu.
Rion verschnürte das Buch sorgfältig und klemmte es unter den Lattenrost des Bettes. Vorsorglich setzte Maideya sich darauf.
„Bitte fass das Teil nicht an“, bat Rion und faltete unterstreichend dazu die Hände, „Ich weiß nicht ob es gefährlich ist oder nicht. Warum sollte man es sonst mit drei Schlössern sichern“
Sie blickte sich um und schluckte hart: „Beeil dich, ja?“
Er nickte: „Ich bin gleich zurück“
Als er die Bar wieder verließ, dachte er sich: „Das mit der drei muss ich Wisdom bei nächster Gelegenheit mal fragen“
Er verschwand im Abwasserkanal und suchte sich einen Weg, der nach oben führte. Die Leiter zu Dexters Haus ignorierte er gekonnt. Er sollte lieber nicht nachts durch Häuser schleichen. Jedenfalls nicht im Moment. Dafür hatte er später noch Zeit, wenn er einen Weg nach Hause gefunden hatte. Nach unzähligen Gängen, Kreuzungen und Gabelungen war er zwar bis zu den Knien nass, hatte aber eine weitere Leiter gefunden. Sie führte ihn zu dem Ort, an dem er mit Maideya war. So quetschte er sich vorbei an den Gittern um auf die Hafenstraße zu gelangen.
„Total einfach“, freute er sich und lief zum versteckten Pier hinunter, „So einfach hatte ich es mir nicht vorgestellt“
Er drückte sich an den Wachen vorbei und kroch durch das Grünzeug zu Geroh zurück. Als er angekommen war, war weder das boot noch Geroh zu sehen.
„Das kann nicht wahr sein“, erschrak er, „Wo steckt der Vogel?“
Er ließ sich ins Wasser gleiten und sah sich von dort um. Da sah er etwas, dass sich leicht auf und ab bewegte. Als er näher kam, entdeckte er das Boot. Erleichtert schwamm er dorthin und zog sich hoch. Geroh lag zusammengerollt auf dem Boden und schnarchte leise.
„Drecksack“, murmelte Rion und spritzte ihn nass.
Fluchend schreckte Geroh auf und blickte um sich. Rion musste lachen und kletterte zu ihm.
„Ach du Rion“, atmete er auf und setzte sich wieder.
„Ich dachte schon du wärst abgehauen“, meinte Rion.
Geroh verneinte: „Ich musste in Deckung gehen. Wegen den Soldaten“
„Gefährliches Pflaster hier“, stimmte Rion ihm zu, „Komm, Maideya wartet schon. Wir haben das Buch und zwei Schlüssel“
„Fehlt da nicht noch einer?“, fragte Geroh nach und zählte es an den Fingern ab.
„Ach wirklich?“, meinte Rion und verdrehte die Augen, „Den holen wir morgen. Beweg deinen Hinter, sonst kann ich heute Nacht gar nicht mehr pennen. Seit ich euch Figuren kenne ist Schlaf ja sowieso Mangelwahre…“
Müde und schwerfällig folgte Geroh ihm am Ufer entlang, wo das Wasser seicht war. Geroh folgte nur zögerlich. Sie nahmen den Weg zurück durch die Kanalisation zur Bar.

„Ich bin völlig durchgeweicht“, nörgelte Geroh als sie ihr Ziel fast erreicht hatten, „Hättest du mich nicht im Boot lassen können?“
„Wenn du noch einmal meckerst, schläfst du heute Nacht draußen“, mahnte Rion ihn und führte ihm zu Maideya. Da sie abgeschlossen hatte, klopfte er an.
„Ja?“, klang ihre zögerliche Stimme zu ihm, „Wer ist da?“
„Rion!“, rief er, „Ich hab Geroh mitgebracht“
„Wirklich?“, freute sie sich und sprang vom Bett auf.
„Mach doch einfach auf“, bat er seufzend.
Schnell öffnete sie die Tür.
„Alles klar bei dir?“, erkundigte Rion sich nachdem sie den Raum betreten hatten.
Sie nickte und ließ sich erleichtert aufs Bett sinken: „Da ihr jetzt da seid Jungs geht’s mir besser“
Rion kramte das Buch hervor und wandte sich zum Gehen: „Ich nehme es mit in unser Zimmer. Dann kannst du ruhig schlafen“
„Gut…“, stimmte sie gähnend zu und übergab Rion den Schlüssel.
„Wir gehen jetzt auch schlafen“, entschied Geroh für sich und stapfte voraus.
„Nacht Jungs!“, rief sie ihnen nach.
Sie erwiderten müde und schleppten sich zum Ende des Ganges. Rion schloss die schäbige Zimmertür auf und Geroh drängte sich sofort in den viereckigen Raum hinein. Rion musste leicht grinsen als Geroh sich auf das knarrende Bett fallen ließ und die Schuhe abstreifte. Er ging zum Bett in der linken Zimmerecke herüber und versteckte vorsorglich das Buch. Dann ging er in das winzige Bad hinüber.
„Ich geh dann mal duschen!“, rief er Geroh zu.
Dieser nickte nur kurz und zog sich die Decke bis zur Nasenspitze.
Nachdem er geduschte hatte und seine Sachen im Waschbecken säuberte dachte er ständig an das seltsame Treffen mit Wisdom. Gedanken versunken blickte er in den leicht beschlagenen Spiegel über der Spüle, der einen Sprung in der oberen Ecke hatte. Er sah sein Spiegelbild nur verschwommen und wischte mit der rechten Hand den feinen Nebel weg.
„Wo bist du hier nur gelandet…und viel wichtiger, wie kommst du hier wieder raus“, fragte er sich selbst und seufzte leise als er seine Sachen nahm um sie im Zimmer über den einzigen Stuhl, der in einer der Raumecken stand zu legen.
„Du Rion…“, begann Geroh plötzlich und sah ihn an.
Nur die Augen lugten noch über der hellen Bettdecke hervor.
Rion sah ihn erwartungsvoll an: „Was denn?“
Geroh zögerte: „Hast du eigentlich eine Freundin? Wir kennen uns jetzt schon eine Weile. Aber das hab ich dich noch gar nicht gefragt“
„Wieso?“, grinste er zu ihm herüber, „Interesse?“
Gerohs Augen weiteten sich vor Überraschung er wusste so schnell nicht was er sagen sollte: „Was? Ich? Äh…nein. Das meinte ich nicht!“
Rion lachte: „Schon gut, war nur ein Scherz. Nein, ich hab keine Freundin. Viel zu viel Stress. Ich hab weder Zeit noch Geld für eine Freundin“
Geroh nickte vor sich hin.
„Warum?“, wunderte er sich.
Geroh zuckte mit den Schultern: „Ich dachte jemand wie du hätte eine Freundin. Die Mädels finden dich doch toll“
„Ich weiß nicht…“, zweifelte er, „Das heißt ja nichts. Ich hab eben die Richtige noch nicht gefunden. Obwohl ich auch nicht so richtig glaube, dass es auf der Welt immer zwei Menschen gibt die perfekt zusammen passen…“
Geroh stimmte ihm zu und schloss die Augen.
„Liebe ist doch ein komisches Gefühl. Man kann sich Liebe auch einbilden. Wer weiß schon immer so genau ob es Liebe ist oder nur Interesse oder was auch immer. Zum Beispiel kann man sich auch einfach nur sexy finden“, überlegte Rion weiter und schlug sein Deckbett zurück, „Was denkst du?“
Als er sich zu Geroh drehte, gab dieser nur noch ein leichtes, rhythmisches Schnarchen von sich. Der Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig.
Rion schüttelte den Kopf und legte sich ebenfalls hin. Nur ruhig schlafen konnte er nicht. Wisdoms Worte über das Schicksal und die Waffe „Komet“ spukten ihm im Kopf herum. Er warf sich ständig von einer Seite zur Anderen.

Am Morgen trafen sie sich unten in der Bar zum Frühstücken. Es gab frische, noch warme Brötchen, die herrlich dufteten. Außer ihnen und Lola schien noch niemand wach zu sein. Zumindest sah man niemanden. Nach dem Essen entschuldigte Rion sich und wollte zum Rauchen nach draußen gehen. Er fasste gerade seine letzte Zigarette, da entdeckte er einen Mann in dunklem Mantel, der sich verdächtig benahm. Rion hob eine Augenbraue und beobachtete ihn eine Weile. Er traf sich hinter der Bar mit einem anderen Mann, der einen großen Schlapphut trug. Rion drückte sich dicht an die Wand. Alles was er aufschnappen konnte waren zwei Worte „altes Buch“.
Und das genügte ihm bereits: „Das hört sich nicht gut an…“
Er ging schnell zurück zu Maideya und Geroh und beugte sich über die Tischplatte, die Hände darauf gestützt: „Es gibt Ärger. Bring Maideya zum Kanalgang und wartet da auf mich“
Verwundert blickten sie ihn an. Geroh hielt sein Brötchen mit beiden Händen demonstrativ fest.
Rion verdrehte die Augen: „Jetzt Geroh, nicht nächstes Jahr“
Er stopfte es in den Mund und stand zögernd auf, griff sich noch ein weiteres und verließ mit Maideya den Raum.
Rion wartete hinter der Treppe bis der Mann oben war. Wie er schon vermutet hatte, betrat dieser Maideyas Zimmer. Schnell schlich Rion sich an der Tür vorbei in ihres. Dort griff er das Buch und seine Sachen und schlich wieder zurück und die Treppe hinunter. Kurz darauf erreichte er Maideya und Geroh, die versteckt auf ihn warteten.
„Hier“, drückte er Maideya das Buch in die Hände, „Wir haben ein Problem. Jemand ist hinter dem Ding her. Aber ich weiß nicht wieso“
„Was?“, fragte sie mit vor Schreck geweiteten Augen, „Woher wussten sie, dass wir es haben?“
„Sie haben in deinem Zimmer gesucht“, berichtete Rion knapp, „Also gehe ich mal stark davon aus, dass sie einen Tipp bekommen haben. Warum haben sie sonst so zielstrebig und genau dort gesucht? Jemand musste gesehen haben, dass du es hast“
Maideya schluckte und wurde blass um die Nase: „Zum Glück hattet ihr es in eurem Zimmer“
Rion nickte kurz: „Ich hatte schon so ein komisches Gefühl bei der Sache“
„Meinst du es hatte mit Lola zu tun?“, frage sie vorsichtig nach einiger Zeit.
Rion zuckte mit den Schultern: „Ich will niemanden zu unrecht verdächtigen, doch es liegt auf der Hand“
„Sie wirkte immer so nett…“, meinte Maideya etwas enttäuscht.
„Hier haben manche Menschen oft keine Wahl bei den Dingen, die sie tun. Du kannst sie nicht dafür verurteilen. Vielleicht hätten wir es auch so gemacht, wenn wir in ihrer Situation wären. Das Geld ist knapp und für gute Informationen zahlen einige Leute eine stolze Summe…“, gab Rion zu bedenken.
Sie seufzte leise und hielt das Buch, das noch immer mit dem Stück Stoff vom Vorhang verdeckt wurde fester im Arm.
„Müssen wir noch mal zurück oder hast du deine Sachen alle zusammen?“, erkundigte Rion sich bei ihr.
Sie überlegte kurz: „Nein, ich hab alles bei mir“
„Dann gehen wir schnell zu Grec und zeigen ihm das Buch“, schlug Rion ihnen vor.
Geroh verdrehte die Augen und folgte ihnen zu seinem Haus. Sie gingen so dicht nebeneinander, dass niemand das Buch in ihren Händen sehen konnte. Mit eiligem Schritt erreichten sie es. Rion klopfte hart an die Tür. Es dauerte eine halbe Ewigkeit bis Grec endlich den Kopf aus der Tür steckte: „Was wollt ihr denn schon wieder?“
„Dafür haben wir keine Zeit“, entgegnete Rion genervt und riss ihm die Tür aus den Händen.
Grec war so überrascht, dass er nicht so schnell reagieren konnte, wie Rion seine Hütte betreten hatte.
„Moment mal, was wollt ihr denn?“, empörte er sich und schnaubte wütend.
Rion drückte ihm das verhüllte Buch fast auf die Nase: „Den letzten Schlüssel hierfür“
Überrascht blickte er ihn an: „Was? Wofür? Was für ein Schlüssel?“
Rion hob eine Augenbraue und sah die Anderen kurz nach der Reihe an: „Für das Buch“
„Was für ein Buch? Wollt ihr Gören mich verarschen? Ich zieh euch gleich die Ohren lang!“, ärgerte er sich und verschränkte die haarigen Arme.
Rion deckte die Frontseite des Buchs ab: „Den Schlüssel für dieses Schloss“
„Woher habt ihr kleinen Diebe es!?“, fuhr er Rion an und entriss es ihm.
„Von Lola“, antwortete Rion und versuchte es zurück zu bekommen, doch er gab es nicht her sondern begutachtete es lange.
„Ach das alte Ding… ich gab es Kyl“, erinnerte er sich.
Rion nahm das buch wieder an sich und verhüllte es vorsichtig: „Wer ist das nun wieder?“
„Ein Junge aus den Slums. Er wohnt hier gleich nebenan. Er war immer so traurig, da hab ich ihm das Ding geschenkt. Hier unten bekommen Kinder keine Geschenke… es war zu seinem zehnten Geburtstag und jetzt verschwindet von hier! Ich will nichts mehr von dem Buch oder von Brown oder Lola wissen!“, mit diesen Worten warf er sie unsanft hinaus.
Rion zeigte ihm den Mittelfinger, als Grec die Tür zuschlug.
So gingen sie sich nach einem Jungen umsehen. Doch dieses Mal schienen sie Glück zu haben. Direkt neben der Hütte saß tatsächlich ein dunkelhaariger Junge auf einem verbeulten, leeren Ölfass.
„ Bist du vielleicht Kyl?“, fragte Maideya ihn freundlich.
„Vielleicht“, grinste er keck.
Sie sah ihn überrascht an.
„Wir haben keine Zeit für Spielchen…“, mischte Rion sich ein.
„Was ist wenn ich es bin?“, wollte er Kleine wissen.
„Dann hab ich eine wichtige Frage an dich“, entgegnete Rion, „Aber wenn dus nicht bist, darf ich dich nicht fragen. Das ist geheim…“
„Ich bin aber Kyl!“, rief er plötzlich und sprang herunter.
„Wir drei spielen ein lustiges Spiel. Es nennt sich Schnitzeljagd. Wir müssen verschiedene Dinge finden um zu gewinnen. Du spielst doch auch gern, oder? Hilfst du uns zu gewinnen? Ich suche nach einem Schlüssel. Du hast ihn von Grec bekommen, richtig?“, begann Rion.
Kyl nickte: „Aber ich hab ihn nicht mehr“
„Was?“, Rion ließ die schultern sinken und lehnte sich gegen die Wand, „Na schön, wo ist er jetzt?“
Er zuckte mit den Schultern: „Ich brauchte Geld für Mama. Sie wurde krank. Da hab ich das glänzende Ding zum Pfandleiher gebracht. Er gab mir ein paar Münzen und einen alten Schein…“
„Wer ist der Typ und wo ist der Schein?“, fragte Rion ihn aus.
Kyl versuchte sich anzustrengen: „Also… der alte Schein liegt in einem Karton in der Scheune. Ich hab ihn gut versteckt“
„Perfekt!“, freute Rion sich, „Wo ist sie?“
„Da hinten“, deutete seine kleine Hand den Weg.
Rion nickte: „Danke, du hast uns sehr geholfen. Wir machen einen Tausch. Ich gebe dir noch ein paar Münzen für deine Mama und dafür nehme ich den Schein. Gut?“
Kyle legte die Stirn in Falten: „Gut… ich denke das kann ich machen“
Rion gab ihm das Geld: „Wo ist der Pfandleiher?“
„Der Mann heißt Brown glaube ich“, meinte der Kleine zögerlich.
„Lester Brown?“, der Name blieb Rion vor Verwunderung fast im Hals stecken.
Er nickte heftig: „Ja, so hieß er!“
„Danke, Großer“, grinste Rion und tätschelte seinen Kopf, „Du warst eine große Hilfe“
„Gewinnst du jetzt?“, fragte er mit leuchtenden Augen.
„Na klar!“, versicherte Rion mit breitem Grinsen, „Pas gut auf deine Mutter auf…“
Kyl versprach es ihm und so gingen sie in die Richtung, die der Junge ihnen gezeigt hatte.
„Brown diese verlogene Schlange…“, ärgerte Rion sich und ballte eine Faust.
„Das ist richtig kompliziert“, beschwerte Maideya sich, „Ich habe ihm gleich nicht getraut…“
„Frauen“, murmelte Rion und betrat die halb eingestürzte Scheune, „Natürlich wissen die alles immer schon lange vorher“
„Hast du was gesagt?“, hackte sie nach.
„Nö…“, behauptete er und sah sich um.
Überall standen Kartons und Schachteln herum. Alle waren leer. So wühlten sie sich mühsam durch die Scheune. Endlich fand Maideya in einem der Kartons eine kleine, quadratische Kiste. Neugierig öffnete sie ihm und was ihr da entgegen lachte war tatsächlich ein zerknitterter Pfandschein.
„Ich hab ihn!“, rief sie erleichtert und sprang auf.
„Pssst!“, bat Rion sie sofort.
Sie presste die Lippen aufeinander und blickte um sich. Doch es war niemand zu hören. Die Scheune lag zu weit abseits der Häuser und keine Menschenseele war zu sehen.
Rion nahm ihn an sich und verstaute ihn in seiner Tasche. Das Buch presste er Geroh in die Hände, der nur betreten neben ihnen stand.
„Was soll ich damit?“, wollte er es zurückgeben.
„Du übernimmst jetzt eine tragende Rolle“, entgegnete Rion trocken, „Außerdem kannst du ruhig auch mal was machen. Wozu bist du sonst mitgekommen?“
Geroh verzog das Gesicht.
„Du bringst das Ding und Maideya zum Boot und wartest dort auf mich. Lass es aber im Versteck. Jetzt zum Nachmittag sind die Soldaten nicht mehr so wachsam. Nimm den Weg, den ich dir gezeigt habe. Ich kümmere mich um Brown…“, bestimmte Rion und war auch schon fast weg.
„Mach keinen Mist, Rion“, rief Geroh ihm nach.
Rion blickte zurück und hob den Daumen, dann rannte er los.
„Er ist immer so heißblütig…“, sagte sie in einem fast besorgten Tonfall.
„Er macht das schon“, versicherte Geroh, „Und wir müssen das Buch in Sicherheit bringen, sonst nimmt er mich nachher auseinander…“
So stimmte sie zu und schlichen vorsichtig zum Boot herüber.

Akt 7: Xia

Rion stapfte leicht gereizt durch die Straßen hinauf zu Lesters kleinem Laden.
„Wie konnte ich mich von dieser verlogenen Made nur so verarschen lassen? Na warte Lester, ich werd dir gehörig in den Hintern treten…“, dachte er sich als er sein Ziel erreichte.
Gerade schob Brown den Ladenschlüssel ins Schloss.
Rion grinste breit und trat an ihn heran. Langsam tippte er ihm auf die Schulter. Lester versteifte den Körper sichtlich und fuhr ganz langsam herum.
Als er Rion erblickte, atmete er erleichtert auf: „Ach du bist es Junge… wo hast du denn deine Freundin gelassen? Habt ihr gefunden wonach ihr sucht?“
Rion sah ihn wütend an: „Du hast dich nicht an die Abmachung gehalten. Wo ist der letzte Schlüssel?“
„Aber, aber. Was soll denn der harte Ton? Warum diese Vorwürfe? Ich bin mir keiner Schuld bewusst. Meinen Schlüssel hast du doch bereits. Du musst dich mit den Anderen an Dexter und Grec wenden…“
„Da war ich schon. Und Grec schickte mich zu dir. Was sagst du jetzt?“, Rion hielt ihm den Pfandschein unter die Nase.
„Oh…was für ein dummes Missgeschick. Ich bin unter Druck so vergesslich…“, stammelte er und blickte um sich.
Rion packte ihn am Kragen der Weste und drückte ihn unsanft gegen die Tür: „Ich hab keine Zeit für deinen Mist! Wo ist der verdammte Schlüssel?“
Brown wedelte mit den Armen: „Okay, gut warte…“
Rion zog seinen Kukri um seine Absichten zu unterstreichen.
„Warte!“, bat Lester und legte die Handflächen beschwichtigend aufeinander, „Ich weiß, es ist mir wieder eingefallen“
„Heut ist dein Glückstag“, flüsterte Rion.
Brown nickte energisch und öffnete die Tür. Schnell stieß Rion ihn hinein und schloss sie wieder.
„Er ist hier…“, meinte Lester mit nervöser Stimme und durchsuchte eines der untersten Regale.
„Beeil dich!“, drängte Rion ihn.
„Ja doch…“, nickte er und seine Finger flogen nur so über die Kästchen und Kisten.
Endlich hielt er inne und gab ihm eine graue Schachtel.
Rion behielte ihn im Auge, als er die Schachtel öffnete. Darin lag tatsächlich der Schlüssel. Erleichtert wandte er sich von ihm ab und steckte ihn ein.
Brown setzte sich auf den Boden und tupfte seine Stirn ab, während Rion zur Kasse herüber ging und sie öffnete.
„Was machst du da?“, so schnell wie er plötzlich aufsprang blieb er jedoch auch schon wieder stehen.
„Du hast die Abmachung gebrochen. Dann halte ich meine auch nicht“, erklärte Rion und nahm sich das Geld, das er zuvor Lester gegeben hatte.
Dieser öffnete und schloss den Mund vor Empörung. Ihm fiel jedoch nichts ein, was er hätte sagen können.
„Merk dir das, mich verarscht man nicht“, grinste Rion zum Abschied triumphierend und verließ das Geschäft wie er es betreten hatte.
„Diebe!!!“, kreischte Brown hinter ihm plötzlich durch die ruhigen Straßen, „Hilfe! Ich wurde bestohlen!“
„Mistkerl!“, schoss es ihm durch den Kopf, „Lester du elender Mistkerl!“
So schnell er konnte rannte Rion los und hängte die auftauchenden Verfolger von der Nachtwache in den verwinkelten Gassen ab. Erst eine gute Stunde später konnte er sich zurück zum Boot neben dem Hafen wagen.
„Ich bins nur…“, beruhte er Maideya, die bereits aufgesprungen war und stieß das Boot vom Ufer ab.
„Endlich. Wir haben uns schon Sorgen gemacht“, meinte Geroh vorwurfsvoll.
„Ich komme aus Likon, ich komm überall durch. Das weißt du doch“, entgegnete er ihm.
Den Rest des Weges, den sie auf dem Wasser zurück legten sprach niemand ein Wort. Sie wollten so unauffällig wie möglich weg und das ruhige Wasser hallte verräterisch.

Sie legten in der Nähe einer Hütte an. Der Hütte, in die sie bereits nach der Flucht aus dem Kloster Zuflucht fanden. Sie versteckten das Boot unter dem üppigen Schilf und schleppten ihre müden Körper hinein.
Geroh legte das Buch auf dem Boden ab. Rion packte die drei Schlüssel aus.
„So viel Theater um drei so kleine Dinge…“, seufzte Maideya und setzte sich zu Geroh auf den Boden.
Rion lächelte kurz zu ihr herüber.
„Aber ich bin froh, dass ich aus den Slums raus bin…“, fuhr sie fort, „Die Menschen dort waren so komisch“
„Die Menschen sind überall komisch. Mir waren diese aber viel lieber als der Adel. Das ist tausendmal schlimmer“, entgegnete Rion und blickte aus dem Fenster aufs Wasser hinaus über das sie zuvor gerudert waren.
Sie zuckte mit den Schultern: „Ich weiß nicht… alle wirkten so verlogen“
„So ist es doch überall“, Rion musste lachen, „Ach Maideya… sie machen es nur auffälliger und offener. Andere verstecken es hinter zu viel Geld“
Sie hob die Augenbrauen: „Du fandest es doch wohl nicht schön dort?“
„Es hatte eine raue Schönheit. Ich hab die Leute irgendwie auch verstanden“, versuchte er zu erklären, „Ich vermisse Likon…“
„Wie kannst du einen solchen Ort vermissen?“, Maideya bezweifelte es doch sehr stark.
„Likon ist meine Heimat. Ich liebe Likon. Mit all seinen Bekloppten, mit all den Macken und der täglichen Hektik in den engen Gassen“, erinnerte er sich zurück und wirkte auf einmal so verletzlich.
Maideya sah ihn lange still an, dann presste sie die Lippen aufeinander bevor sie vorsichtig begann: „Du findest sicher bald zurück nach Hause, Rion. Wo auch immer das sein mag“
Er fuhr zu ihr herum und blickte in ihre besorgten Augen. Ein sanftes Lächeln lag auf seinen Lippen: „Du hast recht. Jetzt werfen wir erst mal einen Blick in das Buch“
Die Schlüssel in seinen Händen waren schon ganz warm.
„Was hast du eigentlich mit Lester gemacht?“, traute sie sich erst jetzt zu fragen.
Rion legte die Schlüssel auf dem Buch ab und beugte sich zu ihr. Neugierig blinzelte sie.
Rion flüsterte zu ihr herüber: „Ich hab ihn erschlagen und in einem Parkstück verscharrt“
Ihre Augen weiteten sich vor Schreck und Rions Grinsen wurde immer breiter, als er meinte: „Quatsch, natürlich nicht. Ich hab ihm nur klar gemacht, dass man mich nicht so leicht verarscht…“
Sie blickte skeptisch, sagte aber nichts.
„Und dann hab ich ihn da getroffen, wo es ihm am Meisten weh tut“, führte er den Satz zu Ende und zeigte ihr den Geldbeutel.
Maideya schüttelte anerkennend den Kopf: „Du bist ganz schön clever Rion“
Während er das Geld wieder sicher verstaute, beugte Maideya sich über das Buch und lugte unter den Vorhang.
„Nicht anfassen“, bat Rion sie.
Erschrocken zuckte sie zusammen und ließ den Stoff des Vorhangs los.
„Was hast du denn plötzlich?“, wunderte Geroh sich, „Das Ding können wir doch eh nicht lesen…“
Rion hatte im Hinterkopf die ganze Zeit über Wisdoms warnende Worte. Ob es ihm gefiel oder nicht, an der Sache konnte etwas dran sein: „Er sagte Das Schicksal sei eng mit diesem Buch verbunden. Es reagiere empfindlich auf Berührungen. Wer es aufschließe, der erwecke es und das es furchtbar enden könne…“
„Wovon sprichst du?“, fragte Maideya nach.
Rion zuckte mit den Schultern: „Jemand hat mich vor dem Buch gewarnt. Das waren seine Worte. Darum darfst du es nicht öffnen“
„Und was machen wir dann?“, wollte sie wissen und starrte auf das Buch hinunter, „Es sieht harmlos aus“
„Du gehst aber kein Risiko ein“, bat er bestimmend.
Maideya nickte. Geroh wich weiter von ihnen weg und meinte sofort: „Also ich mache es auch nicht!“
„Nein“, nickte Rion und setzte sich zu ihnen hinunter, „Ich mache es“
Überrascht sahen Maideya und Geroh ihn an.
„Bist du wahnsinnig?“, zweifelte Geroh an seinem Verstand, „Das kannst du doch nicht freiwillig machen“
„Wer denn sonst?“, grinste er und hob die Augenbrauen.
Maideya nahm die Schlüssel und schüttelte den Kopf: „Nein, bitte nicht Rion. Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert. Es war meine Idee. Ich mache es“
„Das ist lieb von dir, aber dann wäre ich ja meinen Job los. Ich bin doch ein Held“, zwinkerte er ihr lächelnd zu und nahm ihr die Schlüssel ab.
Sie wollte widersprechen, wusste jedoch nicht was sie sagen sollte.
Rion atmete tief durch, dann deckte er das Buch ab. An den Schlössern, die wie blühende Rosen aussahen standen Einkerbungen römischer Zahlen. Rion entdeckte Selbige auf den filigranen Schlüsseln. Entschlossen steckte er sie der Reihe nach in die Schlösser. Erst dann griff er den ersten Schlüssel und drehte ihn im Urzeigersinn. Es klackte so laut, dass sie zusammenzuckten.
„Unheimlich“, bemerkte Maideya und nahm ein bisschen weiter Abstand.
Als er den letzten Schlüssel berührte, spürte er eine unbeschreibliche Energie. Sie glich einer schwachen Schockwelle und fuhr quer durch das Buch. Es ließ sich sehr schwer drehen und im Vergleich zu den beiden ersten war das Geräusch, das es machte kaum hörbar. Er hatte den Schlüssel kaum herausgezogen, da schlug der Deckel sich auf und es begann rötlich zu leuchten. Blass und seicht, aber sichtbar. Rion war zu überrascht um zu reagieren, als es selbstständig zum Anfang zurück blätterte. Auf der leeren Seite war nur ein winziger, schwarzer Punkt. Innerhalb eines Augenaufschlags weitete er sich über das ganze Blatt aus und färbte es pechschwarz.
„Was ist das denn?“, dachte er sich und versuchte es mit dem Vorhang von der Seite zu wischen. Doch nichts tat sich.
„Hallo Rion“, begrüßte eine weibliche Stimme ihn, die direkt aus dem Buch zu kommen schien, „Ich bin Xia. Das vergessene Buch der Xixoner. Es war ein weiter Weg, nicht wahr Rion?“
Seine Augen weiteten sich: „Äh… wieso kannst du sprechen? Und warum kennst du meinen Namen?“
„Weil ich ein legendäres Buch bin. Man nennt mich auch das Buch der Bücher. Ich bin das Geheimnis von Acris und die Lösung“, antwortete sie ihm.
„Die Lösung zu was?“, wunderte er sich.
„Zu allem und doch zu nichts. Ich kann alles sein Rion. Alles oder gar nichts. Das kommt auf dich an“
„Ich versteh nicht…“, Rion war völlig verwirrt.
Sie beantwortete alles mit ruhiger Stimme: „Ich kenne dich durch Wisdom. Da er sich mit dir befasst, hat auch der Himmel ein reges Interesse an dir. Somit bist du auch für mich sehr interessant, Rion. Wisdom und ich sind Freunde durch die Ewigkeit. Mein Gefängnis inmitten der Unwissenden war kalt und leer. Ich musste lange warten. Doch nun wirst du mich schreiben. Du wirst das schreiben, was längst vergessen wurde. Und ich werde dir dabei helfen“
„Ich soll dich schreiben?“, fragte er nach.
„Das ist richtig. Du schreibst mich indem du die Splitter findest und im Kristallreich vereinst. So schreibst du mich Stück für Stück“, erklärte sie, „Ich beweise es…“
Kurz darauf erschienen auf der schwarzen Seite weiße Schriftzeichen. Maideya kam eilig hinzu und begann es zu lesen: „Hier steht… Die Suche nach den 12 Splittern ist der Schlüssel zum Reich aus Kristall auf einer Insel, die fern aller Blicke liegt. Der Splitter, der dir am nächsten ist, ruhe auf einer Insel unweit des Festlandes und jenseits der großen Berge, die den See stützen. Er wartet unter kalten Stein das die Jahrhunderte zählt vom Anbeginn der Zeitrechnung bis zum heutigen Tag“
„Ist das alles?“, hakte Rion nach und versuchte sich das Wichtigste zu merken.
„Mehr steht hier nicht“, entgegnete sie.
Rion warf einen Blick hinein und blätterte ein paar Seiten weiter. Kaum hatte er die Seite losgelassen, da blätterte es eigenmächtig zurück.
„Hey!“, empörte Rion sich.
„Ich sagte doch, du schreibst mich. Ohne dich bleiben die Seiten leer… vielleicht für immer. Wer weiß schon, was alles auf mir geschrieben steht, wenn deine Geschichte zu ende ist“
„Meine Geschichte“, wiederholte er, „Nicht schon wieder… bist du diejenige, die meine Geschichte festhält?“
„Nicht mehr und nicht weniger“, fügte Xia hinzu, „Ich werde nur Wahres schreiben. Nur Geschehenes. Nur Tatsachen. Alles was du tun oder sagen wirst wird in mir gesammelt“
„Du überwachst mich“, stellte Rion nüchtern fest und wandte sich von ihr ab, „Für wen? Wisdom? Oder diese Natalyel?“
„Nein. Ich vermerke nur. Ich bin wie ein Erzähler. Du bist der Akteur, Rion. Vergiss das nicht“, verbesserte sie ihn, Er blickte zu ihr zurück: „Ich hasse es von Anderen so benutzt zu werden…“
„Dann lass dich nicht benutzen“, riet sie trocken.
„Du stellst dir das alles so einfach vor“, ärgerte Rion sich, doch sie unterbrach ihn: „Nein. Du machst es dir nur unnötig schwer. Ich stelle mir gar nichts vor. Ich sehe was du tust, das reicht mir aus“
Er pustete gegen eine Haarsträhne vor seinen Augen und lehnte sich gegen die Wand: „Es nützt nichts mit dir zu diskutieren. Lasst uns schlafen gehen“
Die Anderen stimmten zu und machten es sich auf dem Boden bequem.
„Und du lässt nächstes mal diesen Leuchtkäfer Effekt, ja? Ich hab so schon genug Probleme am Hacken“, bat er Xia.
Diese erlosch wortlos und verschloss sich wieder.
„Dann fahren wir morgen zur Insel herüber“, schlussfolgerte Maideya mit leiser Stimme.
Geroh schnarchte im Hintergrund.
„Weißt du welchen Ort sie meinte?“, fragte Rion nach.
„Ich denke sie sprach von der Insel im Nordwesten. Sie diente in der grauen Vorzeit als Heiligenstädte. Darum wird sie bis heute nur die heilige Zuflucht von Xixon genannt. Es war ein Ort der Druiden und Priester. Ich selbst war noch nie dort. Aber ich weiß von Mr. Kentry, dass Schiffe vom neuen Hafen dorthin übersetzen“
„Dann ist das unser nächstes Ziel“, beschloss Rion müde.
Sie wünschten sich eine gute Nacht und rollten sich auf dem Boden ein.

Akt 8: Der Wert von Freundschaft

Maideya hatte den Vorhang über sich geworfen und atmete ruhig, Rion konnte nicht schlafen. Er blickte still an die Decke und konnte keinen festen Gedanken fassen. Müde warf er sich von einer Seite zur anderen und zog die Beine näher an den Körper.
„Rion…“, drang eine fremde Stimme zu ihm hindurch.
Er öffnete die gerade geschlossenen Augen und richtete sich auf. In der Hütte war alles still. Auch Xia schien zu schlafen. Verwundert stand er auf und schlich auf Zehenspitzen nach draußen. Doch in der Finsternis der Nacht war trotz seiner guten Augen wenig zu sehen. Er schüttelte den Gedanken ab und griff nach der Tür zur Hütte. Da sah er, dass Aura einen sanften, violetten Schein trug.
„Oh Rion… du bist auf dem Weg zu mir. Ich kann es spüren…“, fuhr die weibliche Stimme fort.
Rion erinnerte sich sie in der Villa gehört zu haben, als er das Buch fand: „Ich kenne deine Stimme. Wer bist du?“
„Die Menschen nennen mich…Komet“, hallte es in seinem Kopf.
Erschrocken blickte Rion um sich, doch niemand war zu sehen.
„Ich bin gierig auf deine Seele. Jetzt bist du mir näher als je zuvor. Zum Greifen nah… ich habe Geduld. Sehr viel Geduld…“
Es wurde ruhig und blieb auch so. Rion stand Minutenlang still da und starrte in die Leere. Auras Licht war erloschen. Rion seufzte und ging zum See hinunter. Er beugte sich über die Wasseroberfläche und tauchte den Kopf in das kühle Nass. Während das Wasser an seinem Ohr rauschte, blickten ihn aus dem Dunkel plötzlich zwei wässrig blaue Augen an. Überrascht hob er den Kopf aus dem Wasser und wich zurück. Vor ihm entstieg eine wunderschöne, goldblonde Frau. Rion hob eine Augenbraue und war noch viel Verwirrter als zuvor. Ihre Silhouette war blass und durchscheinend. Die Umrisse verschwammen mit der Umgebung. Rion war sich nicht sicher ob es Einbildung oder Realität war. Darüber war er sich schon lange nicht mehr sicher.
„Du bist wirklich groß geworden“, begrüßte sie ihn. Ihre Stimme war so leise, dass er sie fast nicht verstehen konnte.
„Wer bist du?“, fragte er vorsichtig und stand auf.
Ihr kleid wehte trotz des aufkommenden Windes nicht. Auch ihr Haar hing glatt herunter: „Aber du bist noch immer so unhöflich wie eh und je“
„Ich kenne dich nicht“, verteidigte er sich und hoffte innerlich nicht mit der Luft zu reden.
„Aber ich kenne dich. Das soll uns vorerst reichen. Ich wollte dich mit eigenen Augen sehen“, sie ging auf ihn zu und wollte ihn berühren, doch sie griff durch ihn hindurch, „Ich sehe schon. Du hast da einen mächtigen Gönner. Dann soll es so sein. Ich verlasse dich vorerst. Aber wenn wir uns wieder begegnen, wird es das letzte Mal sein. Mein kleiner Rion“
Er legte die Stirn in Falten und sah sie fragend an: „Ich weiß nicht wovon zum Teufel du sprichst“
„Teufel? Nun ganz knapp vorbei…“, ein finsteres Lächeln umspielte die Lippen, „Natürlich kannst du das nicht verstehen. Aber du bist sehr hübsch geworden. Die Gerüchte sind wahr. Dann wird es mir noch mehr Spaß machen dich komplett zu zerstören“
„Wieso das denn? Was hab ich dir denn getan? Für was solltest du mich hassen?“, wunderte er sich über die plötzliche Wandlung.
Ihr schönes Gesicht wurde zu einer Maske aus Hass während sie verblasste: „Du existierst!“
Rion zuckte leicht zusammen und dachte sich beiläufig: „Ob sie vielleicht mit diesem Wendigo verwandt ist?“
Völlig verunsichert kehrte er in die Hütte zurück und legte sich hin. Endlich nahm auch der Schlaf Besitz von seinem erschöpften Körper und verscheuchte die wirren Gedanken.

„Er ist noch viel zu schwach“, vernahm man Natalyels Stimme, die durch die hohen Korridore hallte, „Wir müssen Geduld haben…“
Neugierig hielt Sany inne und drückte das Kopfkissen, welches sie gerade aufschütteln wollte an sich: „Sie redet bestimmt von diesem Jungen…“
„Aber dieser verdammte Wisdom… er entwickelt sich mehr und mehr zu einem echten Problem“, fuhr Natalyel fort und man vernahm ihre Absätze auf dem weitläufigen Gang, „Ich verstehe nicht woher er die Macht bezieht mich in der menschlichen Welt so zu schwächen. Was ist sein Geheimnis? Wenn ich es wüsste, würde ich mich seiner entledigen“
„Bitte bedenkt eurer beider Positionen“, säuselte eine beschwichtigende Männerstimme.
Sany legte das Kissen an seinen Platz zurück und schlich zum Türrahmen: „Lord Wisdom?“
„Ich weiß Kantael“, seufzte die Engelkönigin zustimmend und legte die Hand gegen die halb geöffnete Tür um sie sanft aufzuschieben.
Sany gefror das Blut in den Adern und sie verbeugte sich tief vor ihrer Herrin.
„Geh!“, forderte sie sie barsch auf.
Sany nickte und entfernte sich mit schnellem Schritt von ihren Gemächern.

Eilig suchte sie Arla auf, die im Dienstbotentrakt des Himmelspalastes ein gemeinsames Zimmer mit ihr hatte.
„Arla!“, platzte Sany keuchend herein und stolperte fast, als sie die Tür hinter sich schloss.
Diese lag still auf ihrer Pritsche, die an eine Gefängniszelle erinnerte und starrte in die Leere. Erst ganz gemächlich blickte sie zu Sany herüber. Sie lächelte ihre Freundin sanft an und setzte sich zu ihr. Tröstend strich Sany ihr über den Rücken und beruhigte sich dabei selbst innerlich während sie ihr von Natalyel berichtete.
„Ich hab gerade zufällig etwas mitbekommen“
„Zufällig?“, zweifelte Arla und ihr trauriges Gesicht wurde zu einem minimalen Lächeln, „Irgendwann bekommst du richtig Ärger“
„Aber es war wichtig dass ich es getan habe“, verteidigte Sany sich ruhig, „Es geht um Wisdom“
„Wisdom?“, schlagartig richtete sie sich auf, „Ist etwas passiert?“
„Noch nicht“, konnte sie sie beruhigen, „Aber die Herrin ist sehr wütend. Sie sagte etwas davon ihn loswerden zu wollen. Ich hörte sie und Kantael davon reden…“
„Ich muss ihn warnen“, beschloss sie mutig und sprang auf.
„Mach nichts dummes“, hielt Sany sie am Arm zurück.
Arla löste ihren Griff zärtlich und sah sie an: „Aber ich muss etwas tun. Ich liebe ihn Sany“
„Du bist ein Dummkopf“, hauchte sie und umarmte Arla einen Moment.
Sie drückten sich fest aneinander. Als sie sich lösten, meinte Sany bedrückt: „Wenn du meine Hilfe brauchst, dann bin ich für dich da. Ich werde immer da sein. Du bist meine beste Freundin“
„Ich weiß“, nickte sie stolz und verließ den Raum in Richtung Wisdom.
Sany blieb regungslos im Zimmer stehen und sah ihr lange nach.

Nach für sie endlosen Minuten hatte Arla Wisdoms Kammer endlich erreicht. Sie atmete tief durch und klopfte dann an die Tür. Nachdem er sie hinein bat, verbeugte sie sich tief: „Mein Herr…“
Doch er fiel ihr ins Wort: „Wo warst du? Fürs Faulenzen wirst du nicht bezahlt, du dummes Ding! Sieh dir das an. Alles staubig und verdreckt“
„Es tut mir leid“, entgegnete sie kleinlaut und warf sich zu Boden, „vergebt mir Herr“
„Immer das Selbe mit euch Nervensägen“, ärgerte er sich in seinem typischen, gefühllosen Tonfall.
„Aber ich wollte euch warnen“, platzte es aus ihr heraus, „Natalyel ist sehr verärgert über euch und will euch loswerden“
„Woher sollte so eine belanglose Kreatur wie du das wissen?“, amüsierte er sich.
„Sany hat es gehört“, fuhr sie fort.
Wisdom blickte sie unbeeindruckt an: „Ich soll etwas auf das Getratsche von lächerlichen Zoffen geben? Geh mir aus den Augen“
„Ich will euch doch nur helfen“, versuchte sie sich zu erklären.
„Verschwinde!“, forderte er sie auf, „Ich kann dich nicht mehr sehen“
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie zu ihm herübersah.
„Sieh dich an, so schwach“, bemerkte er kalt, „Viel Schwächer als die Menschen es sein könnten…“
Tief getroffen rannte Arla aus dem Raum, die Korridore entlang in ihre Kammer zurück und fiel Sany, die noch immer dort stand, um den Hals.
Liebevoll strich sie ihr durchs Haar und lauschte ihre Geschichte.
„Du solltest ihn vergessen“, bat Sany mit sanfter Stimme.
„Das könnte ich nie. Ich liebe ihn doch“, lehnte sie stur ab und ließ sich auf die Pritsche sinken.
„Aber diese Liebe tut dir nur weh“, meinte Sany und legte die Arme um sie.
Sie nickte: „Du warst ja noch nie verliebt. Liebe bedeut zu Leiden, hat unsere Herrin mal gesagt“
„Dann will ich niemals lieben“, beschloss sie für sich.
Arla blickte sie von der Seite an und wischte ihre Tränen weg. Ihr Körper beruhigte sich langsam.
„Aber ich werde dir helfen“, versprach Sany ihr.
„Wie?“, wunderte sie sich.
„Gibst du schon auf? Es ist okay, wenn du jetzt nicht weiter weißt. Aber gib nicht auf! Ich bin da um dir zu helfen. Dafür bin ich deine Freundin. Was wäre eine Freundschaft wert, wenn ich dich jetzt allein lassen würde?“
Arla traute ihren Ohren nicht aber sie wusste, dass Sany Recht hatte: „Ich gebe nicht auf! Was hast du vor?“
„Es dreht sich doch alles um den Jungen von Acris. Natalyel fürchtet ihn, hat Wisdom mal gesagt. Du weißt doch, dass alle auf ihn hoffen. Besonders der Engel der Weisheit selbst. Dann muss er doch mächtig sein. Jeder hier wartet auf sein Erwachen“, erinnerte Sany sie.
Arlas Augen wurden größer: „Ja! Du hast Recht. Ich habe ihn kämpfen sehen. Er war unglaublich stark für einen Menschen und er nutzt die Himmelwaffe Aura“
Sany nickte: „Die Einzige, die jetzt noch helfen kann ist Destinya“
„Was? Die Herrin des Schicksals?“, Arla war geschockt von ihrem Vorschlag.
„Sie ist die Einzige, die den Lauf der Welt ändern kann. Sie hat mehr Macht über das Schicksal als Natalyel selbst“, gab sie zu bedenken.
„Gut“, beschloss Arla, „Ich werde es tun. Für Wisdom…“
„Ich weiß, wie wir in den Turm kommen“, überraschte Sany ihre Freundin, „Natalyel hat einen Schlüssel, der in ihrem Gemach in einer Spieluhr liegt. Ich hole ihn dir“
„Und was ist mit den Wachen?“, wollte sie wissen.
Doch auch darauf hatte Sany eine Antwort: „In der Küche befinden sich einschläfernde Kräuter. Ich werde sie heimlich ins Essen mischen. Keine Ausreden, Arla“
Sie willigte ein: „Ich lenke Natalyel ab und du suchst nach dem Turmschlüssel“
Sany stimmte zu.

„Herrin, Herrin schnell! Es brennt!“, kreischte Arla aufgeregt und rannte über die langen Flure.
„Was soll das Geschrei?“, empörte die Engelkönigin sich ungeholten und stapfte verschlafen aus ihrem Gemach.
„Feuer!“, schrie Arla panisch.
Aus einem der Räume entstieg dunkler Qualm.
„Was für ein Durcheinander“, ärgerte sie sich und ging auf den Raum zu.
Die Gänge waren voll gestopft mit Dienerschaft die ängstlich umherliefen und Solchen, die versuchten mit Löscheimern zur Brandstelle zu gelangen.
Das Gewusel nutzte Sany um in Natalyels Gemach zu schleichen. Sie schloss die Tür und lief zum Bett. Dort griff sie nach der Spieluhr aus bläulichem Kristall, der der Klinge von Aura glich und öffnete sie geschickt. Vorsichtig löste sie den Schlüssel heraus und steckte an seiner Stelle einen Zahnstocher dazwischen, damit die Melodie nicht zu spielen begann. Erleichtert ließ sie ihn in die Tasche der Schürze verschwinden und ging zu Arla zurück. Da der Palast mitsamt seiner Königin beschäftigt war, konnten sie ihn unbemerkt verlassen. Im Hof, der zum Turm führte schlummerten unterdessen die Wachen selig ein. So gab es niemanden mehr, der ihnen im Weg stand. Ein Blick zum Palast zeigte, dass der Brand gelöscht war. So stiegen sie die Stufen hinauf und öffneten die Tür zu Destinya.

Akt 9: Die Herrin des Schicksals

Doch kaum hatte Sany nach dem Türknauf gegriffen, da wurde er ihr sanft von einer fremden Macht aus der Hand gelockert und die Tür schob sich so weit die Angeln es zuließen auf. Ein Augenpaar funkelte sie aus der Finsternis an.
„Ich habe euch erwartet“, empfing Destinya sie.
„Hallo…Herrin des Schicksals“, begann Sany ungelenk und stolperte ins Dunkel.
Die Tür schlug hinter ihnen zu und verriegelte sich selbst. Erschrocken fuhren sie herum. Erst jetzt durchfloss ein grelles Licht den Raum. Reflexartig schützten Arla und Sany ihre empfindlichen Augen mit den Armen.
„Nennt mich Destinya“, bat die zerbrechliche Gestalt und blickte erst jetzt vom Spinnrad auf.
Die Mädchen waren von ihrem Anblick erstaunt und ihr Blick konnte es nicht verbergen.
Destinya lächelte scheu: „Ich habe nicht oft Besuch. Ihr müsst einen triftigen Grund haben…für eurer Erscheinen“
„Ja, den haben wir“, nickte Arla unsicher und hielt einen respektvollen Abstand zwischen sich und Destinya ein.
Ihre roten Augen trafen Arlas und sie fühlte sich plötzlich kraftlos und leer: „Wegen Wisdom“
Sie wusste nicht ob es eine Frage oder eine Antwort war: „Nun, es hat mit ihm zu tun…“
Doch Destinya unterbrach sie sogleich, schien sie die Antwort ohnehin zu kennen: „Und es hat mit diesem Menschen zu tun, mit Rion“
„Ja, das ist richtig“, gab Arla zögernd zu, „Alles dreht sich doch um ihn. Natalyel will Wisdom schaden. Das darf sie nicht! Ich werde ihm helfen. Aber dafür brauche ich den Jungen von Acris. Dafür brauche ich Rion. Nichts fürchtet Natalyel mehr als ihn“
„Dein Einsatz ehrt dich“, meinte Destinya beiläufig und ließ das Garn durch ihre Finger gleiten, „Doch so ist es völlig umsonst“
„Nein! Wie kannst du das sagen? Ich muss ihm helfen!“, empörte sie sich.
„Nicht Arla…“, bat Sany sie und fasste ihr beschwichtigend auf die rechte Schulter.
Arla sah sie flehend an: „Aber sie muss uns doch helfen können?“
„Ich habe nicht gesagt, dass ich es nicht tun werde. Ich sagte nur, dass es so nicht geht“, verbesserte Destinya sie, „Du musst erst lernen richtig zuzuhören…“
Arla atmete tief durch: „Verzeih Destinya“
„Doch meine Hilfe gilt nur bis zu einem gewissen Grad. Und sie ist nicht umsonst“, warnte sie.
Arla nickte heftig: „Ja! Ich bin bereit jeden Preis zu zahlen“
„Gut, denn das wirst du auch“, entgegnete sie trocken, „Du kannst es tatsächlich mit Rion schaffen. Aber nie über ihn. Merk dir das, denn die Bedeutung dieser Worte ist nicht greifbar“
Arla lauschte ihr so gebannt, dass sie beinahe zu atmen vergaß.
So fuhr Destinya fort: „Dieser einfache, weiße Bindfaden hier ist Rion. Dieser goldene hier ist das Schicksal. Solange ich beide zusammen verspinne, ist sein Leben vom Schicksal bestimmt. Er ist nicht zu trennen. Nur dieser weiße hier. Ich könnte dir lediglich anbieten dich mit ihm verspinnen zu lassen. Dann sind eure Wege und Ziele dieselben. Aber sie sind untrennbar – für immer. Du wirst solange er lebt auf der Erde leben und zu den Menschen zählen“
Arla schluckte hart und blickte zu Sany herüber: „Solange er lebt…“
„Bitte nicht“, bat Sany händeringend.
„Was, wenn er sterben sollte?“, wollte sie wissen.
„Dann stirbt mit ihm all deine Hoffnung“, antwortete Destinya kalt.
Ihre Augen weiteten sich: „Also hängt mein Leben mit seinem zusammen und Wisdoms auch“
„Unser aller Leben“, verbesserte Destinya, „Wir mussten zu lange auf ihn warten“
„Wie ist es als Mensch zu leben?“, erkundigte sie sich vorsichtig.
Destinya zuckte mit den winzigen Schultern: „Ich habe nie einen Menschen gesehen. Ich sehe nicht die Person, nur den blassen, einfachen Faden“
„Ich habe keine Wahl“, seufzte Arla und ihre Stimme zitterte.
„Du könntest ihn vergessen“, bemerkte Sany, „Vergiss Wisdom“
Sie schenkte ihr nur einen alles sagenden Blick und Sany ließ den Kopf sinken: „Ich weiß…“
„Wie entscheidest du dich?“, wollte Destinya wissen.
„Ein Leben als Mensch ist als wärst du eine Blume unter Millionen auf einer Wiese“, gab Sany zu bedenken und es klang schon fast vorwurfsvoll.
„Es tut mir leid Sany“, Arla strich ihr sanft über den Kopf, „Aber ich habe mich entschieden“
„Nein, dass tut es nicht…“, schluchzte Sany.
„Sei nicht böse“, bat Arla sie.
„Wie könnte ich das nicht? Ich verliere meine beste Freundin! Nur wegen diesem elenden Tyrannen von dem du glaubst, dass du ihn liebst“, ärgerte sie sich und ballte die Fäuste.
„Sei bitte nicht ungerecht. Wenn die Liebe dir begegnet wirst du mich verstehen“, entgegnete Arla ihr ruhig und ihre Stimme klang sicherer als sie es in Wahrheit war.
„Du bist egoistisch!“, fuhr Sany sie an, „Liebe ist ein verlogenes Gefühl!“
Mit diesen Worten rannte sie aus der sich von selbst entriegelnden Tür den Turm hinunter und verschwand.
„Verzeih mir…“, hauchte Arla traurig, „Ich bin dir für all deine Herzlichkeit und Freundschaft dankbar“
„Du hast ihn doch schon gesehen“, unterbrach Destinya ihre Gedanken, „Wie sieht er aus, der Junge von Acris?“
Arla wandte sich zu ihr: „Wie Menschen halt aussehen. Einer wie der Andere“
„Schade, dass du das so siehst…“, meinte Destinya kurz.
„Also schick mich nach Acris“, drängte sie.
„Aber ohne Rückkehr“, fügte Destinya hinzu.
Arla nickte entschlossen: „Dann soll es so sein“
„Lass mich dir eines mit auf den Weg geben“, bremste Destinya sie, „Einige haben Macht, doch viele bilden sie sich ein“
Arla war zu nervös um ihrem Worten zu folgen. Sie dachte nur an einen – Wisdom.
„Wenn ich dieses Garn einspanne, dann wirst du dich auflösen und erst einige Zeit später in menschlicher Gestalt Acris erreichen. Du musst Rion ausfindig machen und ihn begleiten. Du musst dein Leben einsetzen und alles für seine Ziele geben. Nur so fällt am Ende etwas für dich ab. Nur so wird er stärker. Stark genug um Wisdom zu helfen und Natalyel die Stirn zu bieten. Wenn du versagst oder Rion stirb ist alles verloren. Alles. Du wirst dann nie wieder zurückkehren. Nur mit Rion hast du eine Chance. Allein gehst du unter in dieser fremden Welt. Merk dir das. Ist es wirklich das, was du willst? Hast du dir so dein Leben vorgestellt?“
„Ich habe es mir nie vorgestellt. Es passiert was passieren soll“, wertete sie es ungeduldig ab.
„Andere wünschten sich diese Dinge entscheiden zu können.Du wirst sehen, Menschen werden vom Schicksal nicht gefragt. Im Gegenteil…“
„Ich will einfach nur Wisdom helfen“, wiederholte sie energisch.
„So sei es denn“, zuckte sie mit den Schultern, „Mir ist es gleich. Ein Faden mehr oder weniger. Was macht dies für mich schon für einen Unterschied“
Und ihre Worte wurden zum rhythmischen Surren des Spinnrads. Arlas Körper fühlte sich schwer an. Ihr war als verliere sie den Halt. Der Gedanke an Wisdom, ihr einziger Gedanke verschwamm in ihrem Kopf. Er wurde zum eintönigen Schwarz vor ihren schweren, müden Augen. Arla wehrte sich nicht dagegen. Sie ließ sich fallen. Und legte ihre Hoffnung in Destinyas Hände. In die kalten Hände des Schicksals…

Akt 10: Die Zuflucht von Xixon

Am Morgen setzten sie ihre Reise bereits wieder fort. Verschlafen führte Maideya sie nach Nordwesten zum neuen Hafen von Xixon. Vorbei an der Stadt Savez, über den seichten Fluss. Sie folgten ihr die endlosen Feldwege und Trampelpfade entlang und nahmen einen Umweg in Kauf um nicht durch den dunklen Wald zu müssen. So erreichten sie am Nachmittag ihr Ziel, den neuen Hafen.

„Geschafft“, schnaubte Geroh erleichtert, als sie den Torbogen passierten und lehnte müde gegen einen Pfeiler aus unbehandeltem Holz.
Maideya ließ den Blick zum Pier hinunter schweifen: „Stell dich doch nicht immer so an…“
„Ich sehe mich am Dock nach dem Schiff um“, ging Rion voraus.
Am Aushang ließ er den Zeigefinger suchend über die Tafel fliegen.
„Zur Zuflucht von Xixon“ fiel ihm sofort ins Auge, jedoch auch die 100 Giom pro Kopf.
„Na super…“, seufzte er und kehrte zurück zu den Anderen.
Geroh saß unter einem der vereinzelten Bäume im Schatten. Maideya sah ihn erwartungsfroh an.
„Hast du 300 Giom?“, fragte er sie.
Zu seiner Überraschung nickte sie ihm zu: „Ja, die müsste ich noch zusammen bekommen“
„Wow. Ich hab jetzt damit gerechnet, dass wir erst Plan B auspacken müssen“, gab er zu.
„Plan B?“, Geroh legte die Stirn in Falten, „Gibt es den denn?“
„Nö“, gab er knapp zurück, „So was kommt immer spontan“
Gerohs Blick strahlte mehr als Zweifel daran aus und sie begaben sich zusammen zum Hafen indem sich nur drei schmale Schniggen befanden. Gewöhnliche Einmaster mit weißem Segel.
„Das dort ist unseres“, erkannte Maideya folgerichtig an dem schwarzweißen Schild mit der Aufschrift: „Zuflucht von Xixon“
„Was für eine Leuchte“, grinste Rion herausfordernd.
Maideya ignorierte ihn gekonnt und lief zum Schiff herüber. Laut dem Kapitän legte es in einer Viertel Stunde ab. Sie lösten ihre Tickets und gingen an Deck. Kurz darauf stachen sie bereits in See. Maideya ordnete ihr wehendes Haar. Das Segel spannte sich bereits, so steif bließ der Wind sie hinaus auf den Ozean. Sie sah träumerisch zurück, wie die Hafengebäude immer kleiner wurden und ihre Silhouetten sichtbar verblassten.
„Leider ist die Fahrt nicht lang“, wandte sie sich an Rion, „dabei liebe ich das Meer. Ich fahre gern mit dem Schiff. Als ganz kleines Mädchen hab ich es das letzte Mal gemacht“
Rion lächelte zu ihr herüber und stützte sich mit den Armen auf der Reling ab.
„Schade das Geroh sich nach drinnen verkrümelt hat. Er verpasst eine wunderschöne Aussicht“, fuhr sie fort.
„Ja, das stimmt. Aber dieser Hasenfuss hat Angst vor Wasser“, musste er schmunzeln.
Sie nickte und ihre Augen musterten die Wellen, die sich am Schiff brachen: „Bist du als Kind auch mit dem Schiff gereist? Habt ihr überhaupt einen Ozean in Likon?“
„In der Nähe nicht, nein“, antwortete er nach kurzem Zögern, „aber ob ich als Kind mal auf einem Schiff war? Ich weiß es nicht. Ich weiß ehrlich gesagt gar nichts über meine frühe Kindheit. Ich erinnere mich nur an ein Dorf im Wald und an meine Familie. Sonst ist da nicht viel…“
„Das ist schade“, meinte sie mit gesenkter Stimme.
Eine Weile standen sie stumm nebeneinander.
„Weißt du warum ich das Meer so liebe?“, fragte sie nach einiger Zeit und sah kurz zu Rion herüber.
„Nein…“, entgegnete er verwundert.
Sie seufzte und legte das Kinn auf ihre verschränkten Arme: „Weil es so wild und unzähmbar ist. So sanft und doch gefährlich. Für mich ist es Freiheit. Ich fühle mich so befreit mit dem kühlen Wind im Haar und dem salzigen Geschmack auf den Lippen“
Rion konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
„Was?“, wunderte sie sich, „was ist so komisch?“
„Es ist eher schön“, meinte er knapp und ging hinunter zum Buck.
Verdutzt folgte sie ihm.
„Ich mag deine fröhliche Art“, fügte er hinzu als sie angekommen waren und deutete gen Norden.
Maideya kniff die Augen angestrengt zusammen. Doch sie sah nichts als den Ozean, der in das Blau des Himmels überging: „Was soll da sein?“
„Die Insel von der Xia sprach“, grinste er.
Minutenlang starrte sie in die Ferne. Da erhob sich aus dem ewigen Blau ganz allmählich ein verschwommener Umriss: „Ja, du hast Recht“
Sie warteten noch eine Weile, dann holten sie Geroh zu sich. Das Schiff dockte an und sie erreichten die heilige Insel auf der sich der Splitter befinden sollte. Schnell ließen sie die Hafenstadt hinter sich und durchquerten eine Siedlung voller Gasthäuser und Kneipen, die sich „Abenteurersiedlung“ nannte.
An allen Ecken standen Händler und priesen ihre Waren an. Es gab eine breite Straße vollgestopft mit Läden für Geschenke und Souvenirs. Sogar hölzerne Nachbildungen von Waffen konnte man dort kaufen. Kaum hatten sie die Einkaufsstraße mit ihren geschäftstüchtigen Verkäufern hinter sich, da empfing ein kleiner, dicker Mann die angereiste Gruppe.
„Herzlich Willkommen, Freunde der Abenteuerlust!“, griente er in die Runde und zog einen zerfledderten Notizzettel aus der Hosentasche, „Lasst mich euch begrüßen mit einer kleinen Rede…“
„Au backe, nichts wie weg hier“, beschloss Rion und sie schlichen sich im Rücken der Anderen Reisenden davon.
Es war bereits Abend, so stärkten sie sich erst einmal in einem der zahlreich vertretenen Gasthäuser.
Satt und zufrieden lehnten sie in ihren Stühlen.
„War das gut“, freute Geroh sich und spülte den letzten bissen mit einem Glas Wasser herunter.
„Wann suchen wir nach dem Splitter? Es wird schon bald dunkel“, drängte Maideya und rutschte auf ihrem Platz hin und her.
„Das wird auch Zeit, dass es dunkel wird“, murmelte Rion, „Sonst können wir die Suche vergessen“
„Wieso?“, wollte Geroh wissen.
Rion verdrehte die Augen: „Willst du so ein rätselhaftes Ding suchen wenn dir ne ganze Bande möchtegern Columbus´s auf die Finger starrt?“
„Ne“, entschied er.
„Siehst du. Also lasst uns langsam losgehen“, schlug er vor.
Sie zahlten und schlichen sich aus der Siedlung was sich als einfacher als gedacht herausstellte. Die Ruinen waren am Horizont schon gut zu erkennen. So pilgerten sie dorthin. Bald ragten vor ihnen drei versetzte, kreisrunde Bruchstücke aus Stein in die Höhe.
„Wie sollen wir hier so einen winzigen Splitter finden?“, warf Maideya ihre Frage in den Raum.
Ein frischer Wind wehte vom Meer herüber und säuselte in den Ästen der uralten Bäume. Das Mondlicht fiel auf sie herab.
Rion zuckte mit den Schultern, so suchten sie auf Knien die Ruinenmauern ab. Doch es fand sich nichts, das an einen Splitter erinnerte.
„Wir können hier jahrelang suchen“, jammerte Geroh und setzte sich aus Protest auf den kalten Boden.
„Ich glaub auch nicht, das es viel Sinn hat“, musste Rion ihm zustimmen, „Wenn es einen gäbe, hätte ihn doch schon längst jemand gefunden…“
„Das fängt ja gut an“, meckerte Maideya und suchte allein weiter.
Rion atmete schwer und ließ den Blick schweifen. Das Mondlicht strich über die drei Ruinenstücke. Wie in Trance starrte er darauf und folgte dem sich langsam bewegenden Schein. Nach einiger Zeit durchbrach ein dunkler Schatten das Licht. Rion blinzelte kurz um sicher zu gehen, das er sich nicht täuschte.
„Maideya, Geroh“, winkte er sie herbei.
Verwundert kamen sie zu ihm herüber. Rion ging auf den Schatten zu, den es gar nicht geben dürfte, weil nichts in der Nähe einen solchen Schatten hätte werfen können. Am Fuße der Ruinen stand eine große Holztruhe.
„Die stand eben noch nicht da“, war Maideya sich sicher.
Vorsichtig öffnete Rion sie und blickte etwas enttäuscht. In ihr befanden sich Stufen, die ins Dunkel hinab führten.
„Heute haben wir mehr Glück als Verstand…“, freute Maideya sich und schob sich an Rion vorbei um hinunter zu steigen. Die Jungs folgten ihr. Unten versperrte eine Flügeltür den Weg. Sie schoben sie auf und ein greller Lichtschein flutete ihnen entgegen. Langsam gewöhnten ihre Augen sich daran und gaben die Sicht frei. Sie standen auf einem meterhohen, mittelalterlichen Turm. Vor ihnen ragten noch drei weitere empor. Ein Blick hinunter zeigte ihnen, dass die Türme jeweils mit Holzbrücken verbunden waren.
„Meine Fresse… hier nach einem winzigen Kristallteil zu suchen ist auch nicht leichter als da draußen“, erkannte Rion genervt und nahm die Steintreppe, die sich den Turm hinunterschlang in Augenschein.
„Ein bisschen Sport schadet nie“, entgegnete Maideya zuversichtlich.
„Dabei bin ich Raucher“, murrte Rion und ging voraus. Jammernd folgte Geroh ihnen. Nach geschätzten fünfhundert Stufen erreichten sie endlich die erste Brücke. Sie war sehr schmal und sah alles andere als stabil aus.
„Ob die uns aushält?“, zweifelte Geroh.
„Probier´s aus“, forderte Rion ihn auf.
„Spinnst du?“, gab er zurück.
Rion verzog das Gesicht und setzte vorsichtig einen Schritt auf die wacklige Brücke.
„Und? Hält sie?“, erkundigte Geroh sich aus sicherer Entfernung.
„Ne, sie ist zusammengestürzt. Siehst du mich nicht fliegen?“, entgegnete Rion ihm angenervt und wagte sich weiter voraus. Die Brücke schwankte leicht, hielt jedoch stand. So erreichte er das andere Ende.
„Okay, sie hält!“, rief er den Anderen zu.
„Jetzt du Geroh“, forderte sie ihn auf.
Er sah sie zögerlich an und stand mit ängstlichem Gesicht vor der noch immer schwankenden Brücke.
„Ich kann nicht. Ich hab Höhenangst“, murmelte er und klammerte sich an das Seil, das die Brücke flankierte.
„Bitte Geroh“, bat sie ihn, „Guck einfach nicht runter“
Doch kaum hatte sie das gesagt, wanderten seine Augen bereits hinab. Geroh schluckte hart und sein Herz hämmerte immer schneller gegen die Brust. Mit Schweißtropfen auf der Stirn machte er den ersten Schritt. Als er die Hälfte des Wegs hinter sich gelassen hatte, zitterten seine Knie noch mehr als zuvor. Sie wurden butterweich und drohten einzuknicken. Mit geweiteten Augen krallte er sich in dem breiten Seil fest und kniff die Augen zusammen.
„Geroh!“, vernahm er Rions Stimme, „Geroh beweg deinen Arsch hier rüber!“
Er öffnete die Augen einen Schlitz weit. Rion stand am anderen Ende und kam ihm einen Schritt entgegen.
„Komm her“, bat er ihn, „Vergiss die Höhe und beweg dich“
Geroh schüttelte den Kopf und ging leicht in die Hocke: „Ich kann nicht“
„Doch du kannst!“, rief Rion ihm zu.
„Ich hab eine Scheiß Angst! Ich kann das nicht!“, brüllte er verzweifelt.
„Okay, bleib da“, entgegnete Rion ihn, „ich komm zu dir“
Rion ging langsam und bedacht zu ihm herüber und zog Geroh hoch. Ängstlich griff er nach Rions Shirt und hielt sich an ihm fest.
„Gut so, ganz ruhig atmen und einen Schritt nach dem Anderen“, versuchte er ihn zu beruhigen, „Wenn du mir hier kollabierst, dann lernen wir beide fliegen“
„Oh Gott…“, hauchte Geroh und kniff die Augen noch fester zusammen. Vorsichtig führte Rion ihn über die immer wackliger werdende Brücke.
„Geschafft“, keuchte Rion erleichtert. Geroh ließ ihn langsam los und sank völlig durchgeschwitzt zu Boden.
„Aufregend mit uns zu Reisen was“, grinste Rion zu ihm herüber.
Derweil machte Maideya sich mit kleinen Schritten auf den Weg.
„Du hältst mich sicher für einen totalen Looser“, begann Geroh plötzlich mit einer Ernsthaftigkeit, die Rion von ihm so nicht kannte.
Er kniete sich zu ihm herunter: „Nein. Und selbst wenn, sollte es dir egal sein. Was würde es nützen wenn du in so einer Situation einen auf cool machen willst und dabei drauf gehst? Scheiß doch einfach drauf, was die Anderen sagen oder denken. Du hattest Angst und das ist völlig okay“
„Wirklich?“, zweifelte er und sein Atem wurde wieder ruhiger.
Rion grinste breit: „Klar. Ich glaube die, die behaupten sie hätten nie Angst, die lügen. Oder sie haben nichts mehr zu verlieren“
Geroh nickte.
„Und dann können sie einem doch leid tun“, fügte Rion zwinkernd hinzu und stand auf um Maideya die Hand zu reichen und sie herüberzuführen.
Auch Geroh stand auf und so stiegen sie erneut die Stufen hinauf um zum dritten Turm zu gelangen.
Wieder trennte sie nur eine schmale Holzbrücke vom anderen Turm.
„Na Geroh, wie sieht´s aus?“, wandte Rion sich an ihn.
Geroh blickte auf die ungleichmäßigen Bretter und schüttelte angestrengt den Kopf: „Vergiss es!“
„Geh du vor Maideya, wir kommen nach“, bat Rion sie.
Sie nickte zögerlich und setzte den ersten Fuß auf die Bretter. Sie schwankte leicht hin und her. Fest griff sie das raue Seil und nährte sich ihrem Ziel Schritt für Schritt. Erleichtert machte sie nun den letzten Satz zum dritten Turm herüber und drehte sich zu den Jungs. Lächelnd hob sie den Daumen und strich sich eine Haarsträhne hinter die Ohren. Sie hatte es geschafft.
„Jetzt wir“, forderte Rion ihn auf und schob Geroh sanft nach vorn.
Zittrig faste Geroh das Seil und wagte sich langsam voran.
„Gut so“, ermunterte Rion ihn, „Immer einen Fuß vor den Anderen. Nicht denken Geroh“
So führte er Geroh sicher über die Brücke. Beide waren mehr als erleichtert dieses Ding endlich hinter sich gelassen zu haben.
Aufatmend verließ Geroh die schwankende Brücke und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Alles okay?“, erkundigte Rion sich.
Geroh nickte, sein Gesicht war bleich doch er war in Ordnung.
So stapften sie erneut alle Stufen hinauf auf den letzten Turm. Die Beine wurden mit jedem Schritt schwerer und ihre Körper fühlten sich müde an. Endlich erreichten sie die oberste Kuppel des dritten Turms. Kaum standen sie dort, da begann sie sich aufzulösen. Erschrocken starrten sie hinauf. Doch statt nach innen zu verfallen, verschwanden sie einfach.
„Was ist hier los?“, fragte Maideya sich laut, „Wo sind wir hier?“
Rion zuckte mit den Schultern.
„In einer Antiwelt“, antwortete ihr eine verzehrte Stimme.
Erschrocken fuhren sie herum. Da trat aus dem Nichts eine unwirkliche Gestalt heraus. Sie sah aus wie ein Mädchen. Doch ihre Ohren waren fremdartig. Sie erinnerten an die Flughäute einer Fledermaus.
„Eine Antiwelt?“, wiederholte Maideya nachdenklich.
„Eine Scheibenwelt, die versteckt zwischen den Welten liegt. Kaum mehr als eine verklärte Sphäre“, erklärte sie. „Und wer bist du?“, wollte Rion wissen und stellte sich schützend vor Maideya.
Sie lächelte: „Namen sind hier unnötig. Es verirrt sich selten jemand in diese Sphäre der einen Namen trägt. Der letzte erschien mir vor mehr als tausend Jahren“
„Er erschien dir?“, zweifelte Rion und hob eine Augenbraue.
„Ich weiß nicht wie ihr herkamt. Aber ich weiß was ihr hier sucht“, entgegnete sie und streckte ihre vier Arme nach ihm aus. Darin hielt sie den Splitter. Überrascht nahm er ihn entgegen und sah ihn sich an. Rion hielte sie aneinander. Er sah genau aus wie der Andere, den er bereits hatte. Als Rion davon aufsah und sich bedanken wollte, war sie weg. Nicht nur das, auch die Türme verblassten. Sie hielten den Atem an, als alles um sie herum surreal verschmolz und die Landschaft sich wandelte. Zurück blieben die Ruinen in der vom Mond erhellten Nacht ohne Sterne. Die keinem gewöhnlichen Zyklus zu unterliegen schienen. Hier nahm der Mond nicht gleichmäßig zu oder ab.
„Er scheint tun und lassen zu können was er will“, fiel Rion mal wieder auf.
„Was war das?“, hauchte Maideya verwirrt.
„Ich denke es gehört zu den Dingen, die man nicht erklären kann. Sie geschehen einfach und man nimmt sie so hin ohne zu wissen warum“, entgegnete Rion ihr noch immer zum Mond blickend, „Genau wie der Mond“
Maideya blickte seufzend hinauf: „Meinst du irgendwann werden wir all dies verstehen?“
„Keine Ahnung“, gab Rion zögernd zu, „Aber vielleicht möchte ich es gar nicht alles wissen. Wäre doch langweilig…“
Maideya nickte nachdenklich. Dann schwiegen alle. Sie versuchten für sich alle Dinge zu verarbeiten.
„Lasst uns schlafen gehen“, gähnte Maideya nach einer Weile und beschloss es dabei zu belassen.
„Ja, schlafen ist gut. Ich bin hundemüde“, nickte Geroh und ließ sich von ihr anstecken.
Auch Rion stimmte zu, so gingen sie zurück zur Siedlung. Maideya sah noch einmal zu den Ruinen herüber, von denen sie sich immer weiter entfernten.
„Was für eine seltsame Welt…“, dachte sie sich dabei, bevor sie den Jungs weiter folgte.
Schon erreichten sie die „Abenteurersiedlung“ und nahmen sich zwei Zimmer in einem der unzähligen, einfachen aber zum Glück billigen Gasthöfe und ruhten ihre müden, schweren Knochen aus.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.05.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle die, die immer an mich glauben, die mich unterstützen und denen es Freude bereitet Rions Abenteuer zu verfolgen...

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