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Cruel bloody Paradise
- Das Spiel um eine verdammte Seele -


Was ist ein Engel, der ohne Flügel geboren wurde?
-Nicht mehr als ein gewöhnlicher Mensch –

Was ist ein Vogel mit gebrochenen Flügeln?
-ein bemitleidenswertes Wesen welches sehnsüchtig gen Himmel blickt wenn alle Anderen weiterziehen –

Was unterscheidet uns außer der Hülle?

Inhaltsverzeichnis:


Prolog
Kapitel 1
1. Akt: Lasst das Spiel beginnen
2. Akt: Der Weg in eine andere Welt
3. Akt: Die Flucht
4. Akt: Die Heldenprüfung
5. Akt: Das grüne Auge
6. Akt: Die Ruinenstadt
7. Akt: Kentry´s Geheimnis
8. Akt: Das Zwillingsberg - Dorf
9. Akt: Das Monster in den Höhlen
10. Akt: Die zwei Seiten der Seele




Prolog

Das Geräusch der Stilettoabsätze hallte durch die sterilen, leeren Hallengewölbe. Kein weiterer Laut war zu vernehmen. Die große, hagere Frau schritt auf den Marmorbalkon hinaus und strich gedankenversunken das aschblonde Haar hinter die Ohren. Die Haut ihrer knochigen Finger schimmerte hell. Sie wirkte zart wie Pergament.
„Bitte bedenkt diesen unglücklichem Umstand Herrin“, bat die eindringliche Stimme eines streng nach Vorschrift gekleideten Beamten.
Sie machte eine ausladende Handbewegung.
„Sehr wohl Hoheit“, nickte er und schlug den schwarzen Aktenordner zu.
„Haltet es streng geheim“, hielt sie ihn zur Diskretion an.
Mit einem überdeutlichen nicken entfernte er sich rasch.
„Verfluchte Dämonen...“, zischte sie ungehalten und ballte die Faust ihrer rechten Hand, „Ich werde mich persönlich darum kümmern müssen“

Umgehend machte sie sich auf den Weg.
„Dieser stinkende Planet voll Würmer ist mir so zu wider“, bemerkte sie abfällig und rümpfte die spitze Nase als sie würdevoll über die mit Unkraut bewachsene Erde stöckelte.
Doch ihr Ziel war nicht weit entfernt. Ihr Geheimdienst funktionierte einwandfrei.
„Wohl weil man Dämonen fünfzig Meilen gegen den Wind riecht“, dachte sie sich.

Auf einem kahlen Flecken verbrannter Erde stand eine völlig in Schwarz gekleidete Person. Ihr zu Füßen lag der verunstaltete Rest eines Menschen.
„Er musste menschlich sein, so gering wie seine Aura strahlt“, erkannte sie sofort, „Genieß dein Gefühl von Stärke Deelord...“
Erschrocken fuhr er herum: „Du wagst es hier vor mir in Erscheinung zu treten?“
„Spar dir das aufgeblasene Gerede. Dämonen verbreiten bei uns im Himmel schon seit über hundert Jahren keinen Schrecken mehr“, amüsierte sie sich.
„Was willst du hier?“, fragte er barsch.
„Diese Sache hier“, begann sie und trat leicht gegen den leblosen Körper des Menschen, „Ist mein Gebiet“
„Ich habe ihn getötet“, erinnerte er sie.
„Er ist mir völlig egal“, lachte sie, „Ich bin nicht an ihm interessiert. Er war nur ein Spielzeug meiner Macht. Ich habe es auf etwas anderes Abgesehen“
„Der Schlüssel der Tore gehört mir!“, fuhr er sie sofort an.
Sie lächelte kalt: „Den Schlüssel kannst du haben. Für mich ist er wertlos. Was soll ich mit ihrem lächerlichen Schloss? Ich bin eine Königin. Ich habe ein eigenes, gigantisches Reich“
„Wonach suchst du dann?“, wunderte er sich, „Täusch mich nicht!“
„Ich suche nach seinem Kind“, war die überraschende Antwort.
„Seinem Kind?“, wiederholte er ungläubig.
„Es besitzt Ciels Seele“, eröffnete sie ihm.
„Du meinst wohl Kains Seele?“, verbesserte er, „Ciel war ein gefallener Engel... also ein Dämon“
„Wie du meinst“, verdrehte sie die leblosen blassblauen Augen.
„Er ist Schuld am Fall der Dämonen!“, brauste Deelord auf, „Es ist an mir ihn zu töten“
Sie hob eine der schmalen Augenbrauen und begann ihn mit vorsichtigen Schritten zu umkreisen.
„Soll ich dich etwa als eine Art Herausforderung sehen?“, lachte sie laut auf, „Jemandem, der von einem halbstarken Bengel vorgeführt und von einer Frau deplatziert wurde? Ich zittere vor Angst...“
„Hör auf zu spotten!“, fuhr er sie an und die Stimme bebte, als er den Degen unter seinem Mantel fest griff, „Kein Wort der Schande aus dem Mund eines Weibes!“
„Nun...er würde spotten, wenn er noch unter uns wäre...gefiele dir dies besser?“, amüsierte sie sich.
„Ich schlage dich in Stücke, Königin oder nicht“, schnaubte er.
„Oh, das Dämonen immer so jähzornig sind, geschätzter Deelord. Ihr seid ja nicht mal Herr über euer Temperament...“, stichelte sie weiter und begann ihn langsam aber mit sicherem Schritt zu umkreisen.
„Genug jetzt! Wo ist er?“, stieß er seinen Degen in die harte Erde.
Sie zuckte mit den Schultern: „In Zornems Paradies ist meine Macht genauso nichtig, wie die Deine. Welch Verschwendung! Er hätte diese bedeutungslose Welt mir schenken sollen, seiner Königin! Stattdessen schenkt er sie den Menschen. Diese schwächlichen, mickrigen Eintagsfliegen. Sie wissen doch gar nichts damit anzufangen! Jedes Leben hat die Dauer eines Atemzuges...“
„Nun seit ihr es, die sich vergisst“, freute Deelord sich, „Also...“
„Wo er ist weiß ich nicht. Doch ich sandte seine Seele los...sie hat längst schon ihr Ziel erreicht“, lächelte sie.
„Das ist mir bekannt“, erinnerte er, „Wo hält er sich auf?“.
„Ich habe die Verbindung zu ihm verloren und ich weiß sehr wohl, wer dies verschuldete. Jemand versucht ihn zu schützen. Das bedeutet, dass eines meiner Spielzeuge kaputt gegangen ist. Diese feige Dirne hat sich umgebracht. Jammerschade, dass ein Engel so tief sinken kann. Doch das tut jetzt nichts mehr zur Sache. Sie kann in ihren weiteren tausend Leben genug darüber nachdenken Wie auch immer, als Baby ist er so und so nutzlos. Er muss erst seine Stärke entfalten damit wir seine Seele aufspüren können. Er steht schließlich unter ganz besonderem Schutz. Lass ein paar Jahre vergehen...“, schlug sie vor.
„Ich mache keinerlei Geschäfte mit einem Engel“, lehnte er ab und verzog angewidert das Gesicht.
„Gut...schließlich bin ich eine Königin“, entgegnete sie kühl.
„Ich verbünde mich niemals mit einem Engel...auch nicht mit einer Engelkönigin“, schnaubte er.
„So groß ist deine Furcht vor einem himmlischen Wesen?“, amüsierte sie sich, „Ich will mich auch nicht mit dir verbünden“
„Ich fürchte nichts!“, knurrte er erbost und ballte die Faust.
Sie zuckte die Schultern.
„Ich werde ihn schon bekommen“, fuhr er fort.
„Du?“, hohnte sie, „Der Mann, der seine eigene Vergangenheit fürchtet? Nein...ich werde ihn finden. Das gebührt nur jemandem wie mir. Er ist mein!“
„Nun, das werden wir sehen...“, meinte Deelord kurz, „Unser Wettkampf zeigt welche Rasse in der Welt der Menschen die mächtigste ist!“
„Dann lass uns ein Spiel spielen“, schlug sie vor.
„Ein Spiel?“, wunderte er sich, „Warum solltet ihr das tun? Was habt ihr davon?“
„Niemand verrät seine Siegesstrategie“, gab sie zu bedenken, „Grundlos lasse ich mich wohl kaum zu einem Dämonen herab“
„Ihr könnt ihn ohne mich nicht finden...richtig“, meinte er sie zu durchschauen.
„Maßt euch nicht zu viel Macht zu“, bat sie.
„Kein Engel kann sich lange auf der Erde bewegen ohne menschlich zu werden“, erinnerte Deelord sich, „Außerdem ist das auch im Himmel nicht gerade unauffällig, wenn ihr euch hier unten befindet“
„Sie haben es sicherlich schon bemerkt“, musste sie zugeben, „zurück zu meinem Spiel...“
„Erzählt schon...“
Sie nickte kurz: „Ein Spiel um seine Seele...Es wird ein Spiel um Macht sein, um Leben und Tod...um die Herrschaft und als ein Zeichen der Stärke unserer hohen Rasse. Ein Sieg über diese Ameisen, die es zu zerquetschen gilt. Ganz langsam und qualvoll...“
„Ich willige ein“.
So stellte sie die Regel: „Wer ihn zuerst in die Finger bekommt, der wird ihn behalten. Es gibt weiter keine Regel und gekämpft wird mit allen Mitteln um das Ziel zu erreichen...Jede Hilfe, alles ist erlaubt. Es gibt bei dieser Jagd keine Tabus. Auch muss diese verhasste Welt nicht verschont bleiben...“
Deelord willigte ein, verbeugte sich und löste sich in schwarzen Rauch auf.
Kalt lachend blieb sie zurück: „Ein schönes Versteck hast du dir gesucht, mein verfluchter, kleiner Rebell...aber deiner Königin entziehst du dich auch hier nicht. Wachse...wachse Menschenkind und werde ganz schnell groß und stark. Damit ich dich zerschmettern kann. All das hier wird dir nichts nützen. Dein kleines Paradies wird dir wie eine endlose Hölle erscheinen. Diese armselige Welt soll dein Gefängnis sein und dein Sarg. In alle Ewigkeit...“

Mein grausames, blutiges Paradies...


Zehn Jahre später...


Kapitel 1
1. Akt: Lasst das Spiel beginnen



„Elaiodora!!!“, hallte es durch die hohen, leeren Räume des finsteren Schlosses. In der Ferne knarrten Türen. Der schwarze Vorhang wehte weit in den Thronsaal hinein.
„Mein Herr...“, begann ein unauffälliger, in schwarz gekleideter Mann mit einem goldenen Tablett in den Händen vorsichtig und betrat den Saal.
Er sah ihn erwartungsvoll an: „Was bringst du mir schönes? Das Blut eines Sklaven? Ein Stück Menschenfleisch? Von einer knackigen Jungfrau vielleicht? Oder etwa...den Kopf eines Engels?“
„Einen...Brief...“, stotterte er und warf sich vor dem Thron auf die Knie.
„Was?!“, empörte er sich und trat ihm das Tablett aus der Hand. Es schleuderte unter lautem Gepolter zu Boden.
„Wachen! Vierteilt diesen Nichtsnutz!“, befahl er und deutete mit dem Zeigefinger auf den erschrockenen Mann.
Sofort erschienen zwei Männer und zerrten ihn unter bittendem Klagen hinaus.
„Was schreist du hier herum?“, beschwerte eine junge Frau sich und kämmte seelenruhig ihr langes, wallendes, rabenschwarzes Haar mit einer goldenen Bürste.
„Wo warst du?“, erkundigte er sich noch immer wütend.
Seufzend hob sie den Brief auf: „Ich habe in eurem Kerker ein wahres Festmahl genossen...“
Zähneknirschend ließ er sich auf den Thron zurück fallen.
Elaiodora warf ihm den Brief in den Schoß und wendete sich wieder ihrem Haar zu.
„So...so...“, murmelte er, nachdem er den Brief gelesen hatte.
Interessiert sah sie ihn an.
„Du rätst nie, von wem der ist...“, wandte er sich an sie, beantwortete es jedoch mit dem nächsten Atemzug, „Von der Engelkönigin persönlich...“.
„Welch eine Ehre“, hohnte sie und lehnte mit den Rücken gegen die Steinwand.
„Und jetzt stell dir vor, was das Vögelchen mir zwitschert“, sein Gesicht formte sich zu einer finsteren Grimasse, „Den Aufentshaltsort von Kains wiedergeborener Seele“
„Und?“, zuckte sie mit den Achseln.
„Frag nicht so dämlich“, zischte er, „Die Engelkönigin scheint ein großes Problem damit zuhaben. Somit ist es auch mein Problem“
Er zerknüllte das Schreiben in der rechten Hand und hielt es in die Flammen, die aus einer hohen Schale neben dem Thron tänzelten: „Wollen wir doch mal sehen, wie unserem süssen, kleinen Dreckspatz das gefällt...Wer hätte gedacht, das ich ihn eröffnen würde? Den ersten Akt unseres Spiels...“

Der böse Waldschrad kommt bei Nacht!
Was hast du in der Nacht gemacht?
-Ich sucht die kleinen Kinderlein und bringt sie um im Mondenschein.
Was treibst du in der Nacht allein?
-Ich fange mir ein Mädelein!
Und was hast du damit gemacht?
-Beim Mondenschein hab ich´s zerhackt!
Was jagst du noch in tiefster Nacht?
-Die Knaben fein, drum gebt schön acht!
Was stells du an, wenn du´s erwischt?
-Gebraten kommt es auf den Tisch!
Suchst du sie auch auf Wies und Feld?
-Dort töt ich sie, wie´s mir gefällt!
Willst du an ihrem Blut dich laben?
-Ich fresse sie mit Haut und Haaren!
Unartige Kinderlein lad ich gerne ein.
Dort trenn ich mit einem Beil die Arme, Beine eins und zwei.
Und da sie mir gar so gut munden dreh ich weiter meine Runden...

„Rion?“, flüsterte eine zierliche Mädchenstimme. Zaghaft trippelte ein kleines, schwarzlockiges Mädchen mit großen, grünen, Kulleraugen durch das vertrocknete Gras. Die kleinen, kurzen Fingerchen zitterten und griffen den dünnen Stoff des weißes, bis über die Knie reichenden Nachthemds.
„Rion?“, wiederholte sie immer wieder. Es war kühl und der Vollmond hauchte alles in ein unheimliches Licht. Hinter sich sah sie die fernen Lichter ihres Heimatdorfs. Immer zögerlicher setzte sie die nackten Füßchen voreinander.
„Rion...warum antwortest du nicht?“, schluchzte sie und rieb sich die Augen, „Bitte...ich möchte nicht mehr spielen“
Doch es blieb still. Der Ruf eines Uhus in einem der drei uralten gespenstisch aussehenden Bäume mit den vielen, knochigen Ästen ließ sie zusammen zucken.
Weinend blieb sie stehen: „Rion? Noelle? Curtis? Thobe? Wo seit ihr denn? Ich will nach Hause. Das ist ein ganz blödes Spiel!“

„Ich glaube sie heult“, kicherte ein kleiner Junge, mit roten Haaren.
„Das ist gemein von euch, Curtis“, empörte ein strohblondes Mädchen mit geflochtenen Zöpfen sich.
„Nur noch ein bisschen Noelle“, bat er sie, „Sie ist der Waldschrad. Der Waldschrad muss erst alle Kinder finden und töten. Erst dann ist das Spiel zu Ende“
Sie stimmte zögernd zu.
„Ich lasse mich finden“, beschloss ein zierlicher, kleiner Junge mit hellen, goldblonden Haaren.
„Sei kein Spielverderber“, ärgerte Curtis sich.
„Es ist meine Schwester“, erinnerte er ihn, „Wenn sie das zu Hause erzählt, bringt Onkel Cyrus mich um“
„Halbschwester“, verbesserte Curtis ihn.
„Tot ist tot oder?“, entgegnete er trotzig und verschwand aus dem dichten Busch.
„Ich wusste, dass Rion vernünftiger ist als du Curtis“, freute Noelle sich, „Darum spielen Maddy und ich auch viel lieber mit Rion als mit dir“
Wütend sah er sie an: „Du lügst! Maddy spielt am Liebsten mit mir!“
Sie schüttelte energisch den Kopf: „Außerdem will Maddy mal mit ihm heiraten“
„Du doofe Ziege“, keifte er und sprang auf, „Mit dir will ich nie wieder spielen!“
„Curtis...“, rief sie ihm nach, doch er rannte einfach davon, „Jungs sind doch blöde...“
Plötzlich zerriß ein Schrei die Stille und die Kinder vor Schreck erstarren.
„Das war der Waldschrad“, stammelte Thobe.
„Es hörte sich aber an wie Maddy“, erkannte Noelle und nahm ihren Bruder an die Hand.
Zusammen eilten sie zu ihr.
Als sie sie erreicht hatten, fanden sie das Mädchen auf dem Rücken liegend im strohigen Gras. Ihr gesamter Körper war voller Blut.
Vor ihr stand Rion. In der Hand hielt er ein langes, blutiges Messer.
Erschrocken starrten sie das Mädchen an.
„Maddy...“, murmelte Rion und blickte die Anderen hilfesuchend, mit großen Augen an, „Wir müssen den Doktor holen. Was soll ich bloß Onkel Cyrus sagen? Bitte Maddy...steh doch auf!“
Curtis stolperte aus den Büschen hervor und rief: „Du hast sie getötet!“
Verwirrt stolperten die Kinder zurück.
Rion schüttelte leicht den Kopf: „Nein. Sie lag da schon...“
„Er ist der böse Waldschrad“, schloss Thobe daraus und stimmte das Lied an, „Der böse Waldschrad kommt bei Nacht!
Was hast du in der Nacht gemacht?
-Ich sucht die kleinen Kinderlein und bring sie um im Mondenschein.
Was treibst du in der Nacht allein?
-Ich fange mir ein Mädelein!“
„Nein!“, fuhr er ihn an, „Ich bin das nicht!“
Ängstlich wichen sie von ihm weg.
„Bitte...Noelle...du musst mir das glauben“, bat er sie verzweifelt.
Sie schluchzte und versteckte sich hinter ihrem kleinen Bruder.
„Zerhackte es im Mondenschein...“, sang Thobe fröhlich weiter.
„Ich gehe Papa und die anderen Großen holen!“, entschied Curtis und lief davon.
Die Anderen folgten ihm so schnell sie konnten.
„Das hast du davon, dass sie dich mehr lieb hatte als mich...“, murmelte Curtis.
Rion wollte in ihre Richtung laufen, blieb jedoch nach ein paar Schritten stehen.
„Ich bin kein böser Waldschrad“, sagte er sich selbst und beugte sich über die kleine Maddy.
„Steh auf“, bat Rion sie immer wieder und schüttelte ihren leblosen Körper, „Du brauchst jetzt nicht mehr weiter spielen Maddy. Alle sind schon zu Hause. Bitte steh wieder auf. Sonst kann ich nicht zu Onkel Cyrus gehen. Bitte, bitte! Du warst eine ganz tolle Leiche, okay? Wir spielen das auch nie wieder, das verspreche ich dir. Ehrlich. Ganz großes Ehrenwort. Warum sagst du nichts? Maddy? Bitte steh auf...ich hab Angst Maddy. Hör bitte auf damit! Madelaine!!!“
Er biss sich leicht auf die schmale Unterlippe. Sein ganzer Körper begann zu zittern. Von weitem sah er die Laternen der Männer des Dorfes leuchten.
„Wenn er mich findet, schlägt er mich tot...“, dachte Rion und schluckte hart, „Was mach ich jetzt Maddy?“
Schnell stand er auf und rannte in den nahen Wald hinein.

Rion lief den mit Laub bedeckten Waldweg entlang, sprang über Wurzeln, kletterte über im Weg liegende Stämme. Immer tiefer in den Wald führte ihn der Weg. Die schwitzende, kleine Hand griff nach dem silbernen Anhänger, einem Ring. Er hielt ihn so fest umschlossen, dass er sich in der Haut abzeichnete. Als ein kleiner Bach seinen Weg kreuzte, warf er das blutige Messer hinein: „Bitte, lass meinen Onkel mich nicht finden“, hauchte er immer wieder, „Denn er wird mich töten...“
Er wandte das blasse Gesicht gen Himmel. Tränen rinnen die Wangen entlang.
„Hilf mir...“, bat er schluchzend, „Ich hab das nicht gewollt“
Eine große Krähe, die auf einem Ast über ihm saß blickte ihn aus runden, schwarzen Augen an. Sie waren so dunkel wie tiefe Löcher. Kalte, leblose Augen.
„Mörder“, hallte es in seinem Kopf.
Erschrocken starrte er das Tier an.
„Du bist ein Mörder Rion...“.
„Nein“, hauchte er ängstlich und wich ein paar Schritte zurück.
„Verschwinde“, riet die unheimliche Stimme ihm, „Lauf, bevor sie dich töten...“
„Ich wollte das nicht“, stammelte er unter Tränen.
„Du bist ein gottverlassenes Kind“, fuhr er fort, „Geh, denn wenn sie dich erst finden, bist du tot!“
Ängstlich schlich er unter dem Baum vorbei und sein Schritttempo ging in laufen über. So schnell er konnte rannte er durch den dichten, unheimlichen Wald voller Geräusche. Er hatte keinen klaren Gedanken er musste nur weg. Weg von zu Hause, weg von seinem strengen Onkel und weg von diesem schwarzen Vogel, der ihn mit seinen Blicken durchbohrte. Nicht einmal blickte er auf seiner Flucht zurück.
„Böse Kinder müssen sterben“, schrie ihm der Vogel nach.
Erst ein steiler Hang stoppte seine nächtliche Flucht. Er rutschte auf dem Laub aus und überschlug sich mehrmals. Es tat höllisch weh. Er spürte einen stechenden Schmerz in seinem Körper. Dann wurde ihm schwarz vor Augen und die Welt hörte auf sich zu drehen.

„Respekt Deelord“, lächelte Natalyel, deren schwacher Astralkörper ihm in seinem Schloss erschien und klatschte Beifall, „Welch wahrhaft theatralisches Schauspiel“
„Was soll das?“, wunderte er sich, „Was tust du hier?“
„Er ist wehrlos...ein schönes Opfer. Nicht wahr?“, spielte sie auf ihren Deal an.
„Ich bin bereit mich an die Regeln zu halten“, beruhigte er sie und lehnte sich zurück.
„Natürlich wirst du“, kicherte sie und sah ihn überlegen an, „Du hast ja auch sehr viel zu verlieren“
„Warum...“,begann er, doch sie unterbrach ihn.
„Ich wollte nur sichergehen, ob du mir auch ein fähiger Gegner bist. Sonst macht mir das hier alles keinen Spaß. Seine Seele ist nun völlig allein und isoliert...aber er ist nur ein verängstigtes, dummes Kind. Ihn zu erledigen bedarf es keiner großen Sache. Warten wir noch etwas...“
„Wie du es sagst“, er machte eine ausladende Handbewegung und sie löste sich in strahlenden Rauch auf, der sich langsam verflüchtigte.
„Ich hasse sie“, knurrte er und ließ die freundliche Maske fallen.
Augenblicklich rutschten ihm die Mundwinkel weit nach unten: „Diese Schande wirst du mir noch büßen... Engelkönigin“

Neun Jahre später...

„Es ist soweit...“, erkannte Natalyel und warf ihr bis weit über den Rücken reichendes, fast weißes Haar zurück. Ein finsteres Lächeln umspielte die vollen, dunklen Lippen, als sie majestätisch durch einen leeren, sterilen Flur schritt. Das lange, weiße fließende Gewand mit goldener Spitze wehte leicht um ihre schlanken Beine. Der Stoff schimmerte wie Seide und machte ihre fade Haut noch um einiges blasser. Die knochigen Hände stießen eine goldene Flügeltür auf. In diesem hohen, runden Raum ohne Möbel wirkte sie beinahe verloren.
„Möge das Spiel beginnen“, verkündete sie feierlich und blickte herablassend in die blau schimmernde Kugel inmitten des Raumes.
Sie ruhte auf einem silbernen, mit Flügeln verzierten Sockel.
„Zu schade, dass du dein Versprechen nicht einhalten kannst...“, fuhr sie fort.
In der Kugel erschien das Gesicht eines Mannes mit langen, weißen Haaren, die den ihren ähnelten. Sein Gesicht starrte regungslos aus kalten, grauen Augen zu ihr empor.
„Nun mein Lieber...es ist Zeit für die Jagd. Er soll ein ganz besonders hübscher, großer Junge geworden sein...ist das nicht herrlich? Oh wenn Rachel das wüsste...doch leider, leider hockt sie seit sechzehn Jahren in einer winzigen Kammer und betet Tag um Tag um ihre minderwertige Seele. Allein in ihrem selbst gewählten Gefängnis. Und das ist auch noch deine Schuld... Ist das Leben nicht wundervoll?“
„Das einzig schöne in meinem Leben wäre dein Tod“, entgegnete der Mann mit glasklarer Stimme.
„Pass auf was du sagst, du Wurm oder ich zerquetsche dich!“, zischte sie.
„Dafür reicht deine Macht nicht, Engelkönigin...“, erinnerte er sie.
„Ich weiß...“, gab sie zähneknirschend zu, „aber wie dem auch sein. Um dieses Ungeziefer zu vernichten reicht sie allemal. Hör gut zu...Wisdom. Ich werde ihm bei lebendigem Leib das Herz herausreißen und es vor deine Füße werfen. Dann zerfetze ich ihn...in tausend winzige Stücke. Ich will sein Blut trinken...seine Eingeweide verzehren...und dann...ist er auf Ewig mein“
„Ihr seit krank eure Majestät“, grinste Wisdom kopfschüttelnd.
„Das wird euch beiden vergehen“, schnaubte sie, „Euch allen!“
„Verzeiht Hoheit, doch erinnert euch an das letzte Mal...er ist nicht zu kontrollieren, wenn er erst einmal entfesselt wurde“, warnte er sie ruhig.
„Ich will ihn zerstören, nicht kontrollieren. Er kann sich nicht ewig vor mir verstecken“, lachte sie erwartungsfreudig, „beeil dich Wisdom...doch was immer du auch versuchen willst diesen Jungen zu retten, es wird dir nicht gelingen. Stell dich mir nicht in den Weg, Wisdom. Dieses Mal verschone ich niemanden. Nicht mal Zornems Paradies...“
„Du spielst mit einer Macht, die du nicht kennst“, meinte er nicht glaubend, was er da hörte.
„Es spielt keine Rolle. Alles dient nur diesem einen Ziel...und es bleibt mir einzig diese Chance... Deelord hat sein Spiel soeben begonnen“, berichtete sie besonnen.
„Du verbündest dich mit den Dämonen?“, lächelte er abwertend.
„Ich verbünde mich mit niemandem!“, zischte sie, „Ich nutze ihn für die Drecksarbeit...und dann, dann werde ich ihn wegwerfen“, fuhr sie fort.
„Ihr habt den Verstand verloren“, seufzte er.
„Es gibt kein Zurück. Ich werde nicht erneut das nachsehen haben, Wisdom... ich nicht! Dieses mal wird er fallen“, freute sie sich und zeigte ihm einen einfachen, aufgerollten, weißen Bindfaden. Mit diesem fuchtelte sie triumphierend über der Kugel herum und wandte sich lachend zum gehen.
„Das wirst du bereuen...“, hauchte Wisdom und knirschte mit den Zähnen.
„Du hast dein Schicksal selbst gewählt...genau wie er“, entgegnete sie, „Wenn du nicht für mich bist, dann bist du gegen mich. Du hattest die Wahl...nun trage auch die Konsequenz“

Sie eilte mit hastigen Schritten die breiten Steinstufen hinauf, die sich steil einen Turm hinauf schlangen. Vor einer Ranken bewachsenen, unauffälligen Holztür blieb sie stehen. Erwartungsvoll, wie ein kleines Mädchen öffnete sie sie und trat in die finstere Kammer.
„Destinya!“, hallte ihr Echo durch den Raum.
Sofort erschien die durchscheinende, geisterhafte Gestalt eines etwa fünf jährigen Mädchens. Alles an ihr war weiß und durchsichtig. Die Haut, das lange, lockige Haar, das einfache Kleid. Nur die großen, runden Augen leuchteten in gespenstischem blutrot aus der Dunkelheit hervor.
„Verspinne diesen Faden mit dem goldenen Faden des Schicksals“, befahl sie ihr und warf ihn ihr zu Füßen.
Wortlos hob die kleine, durchsichtige Hand ihn auf und setzte sich an das uralte Spinnrad in der linken Raumecke. Dann begann sie den schlichten Faden einzuspannen.
„Ja... spinn Destinya. Spinn mein Netz aus Intrigen weiter, das ich so fein gewoben habe. Damit er sich darin verfängt... im Netz, aus dem es kein entrinnen gibt“, murmelte sie und ihr Lächeln wurde immer breiter. Es verformte das einst so schöne Gesicht zu der häßlichen Maske einer verbitterten Frau.
Schon mischte der weiße Faden sich unter dem leisen surren des Spinnrades mit dem Goldenen.
Zufrieden kehrte Natalyel ihr den Rücken und griff nach der Tür: „Ich werde später noch einmal nach euch sehen...“
Damit war sie verschwunden.
Destinya unterbrach ihre Arbeit für einen Augenblick und ließ den so unscheinbaren Faden durch die Finger gleiten: „Wer du wohl sein magst? Bestimmt bist du sehr mächtig... aber dein Garn ist so gewöhnlich und schlicht. Sie muss dich sehr hassen, wenn du bei mir gelandet bist... mein kleiner, namenloser, weißer Bindfaden“

Schnurrstracks kehrte Natalyel in den Raum mit der Kristallkugel und Wisdom zurück.
„Jetzt bezahlst du dafür, mein Geliebter. Für all das Leid. Für jede meiner Tränen sollst du unerträgliche Qualen erleiden. Allein für diese Demütigung mit dem Dämonenpack. Aber ich habe keine Wahl. Mein Gebieter scheint seine menschlichen Missgeburten gut geschützt zu haben. Aber da hat er seine Rechnung ohne mich gemacht! Ich bin schließlich die Meisterin der Manipulation...“
„Du wirst alles zerstören...“, empfing Wisdom sie warnend und unterbrach damit ihre Gedankengänge.
Sie lächelte kalt von oben zu ihm herunter: „Und du kannst es nicht verhindern“
„Ich nicht!“, musste er zugeben, „Aber Er kann es“
„Das... wird er nicht wagen“, schnaubte sie und wandte den Blick von Wisdom ab.
„Er kann es als einziger verhindern...und ich schwöre es dir Natalyel er wird es tun“, fuhr er fort.
Sie fuhr herum und ballte die Fäuste, während das lange Haar schimmernd flog: „Ich habe ihn zu einem wehrlosen Spielzeug gemacht Wisdom! Er ist nichts als eine schöne Hülle. Wie eine Puppe, die du an ihren Platz setzt damit sie hübsch anzusehen ist und um sie zu zeigen“
„Nein“, schüttelte er lachend sein blau schimmerndes Haar und die leblosen Augen funkelten wie Kristalle, „Du hast ihn nur zu einem Menschen gemacht. Er befindet sich zwar innerhalb eines menschlichen Körpers, aber er wird sich nicht zu deinem Spielzeug machen lassen. Die Menschen sind nicht gerade dafür bekannt sich einfach mit dem ihm gegebenen Schicksal abzufinden. Er wird sich gegen sein ihm auferlegtes Schicksal wehren“
„Was dem selben entspricht“, beharrte sie energisch und die Augen formten sich zu Schlitzen.
„Unterschätz ihn ruhig Engelkönigin... dann kann ich den Sieg noch besser genießen, den er über dich haben wird“, entgegnete Wisdom im gleichgültigem Ton.
Sie riss einen großen, länglichen Fetzen von ihrem Kleid und warf ihn über die Kugel: „So...jetzt bist du ruhig!“
„Das ist typisch für dich Natalyel“, amüsierte er sich, „Glaubst du wirklich nur weil du uns nicht mehr siehst sind wir nicht mehr da?“
Schlagartig riss sie die Augen auf und starrte durch den leeren Raum: „Hör auf damit Wisdom!“
„Aber was habt ihr denn, meine Teuerste? Fürchtet ihr euch?“
„Niemals!“, schnaubte sie und schritt zur Tür.
„Warum geht ihr denn schon? Ihr könnt nicht vor allem fliehen, Hoheit“, hauchte Wisdom und seine Stimme hallte durch den Raum, „Ich kann euch überall sehen. Ich kann euch immer hören. Ich weiß als Einziger immer was war...was ist...und was sein wird. Das solltet ihr nie vergessen...Engelkönigin“
„Wisdom!“, mahnte sie und stützte die zittrige Hand gegen den Türrahmen.
„Ich weiß genau, wessen Zeit wann gekommen ist...“, fügte er hinzu.
„Ich verbiete dir so mit mir zu reden“, ihre Stimme trug eine kleine Unsicherheit mit sich.
„Das ist das einzige, wovor ihr euch fürchtet...nicht war Natalyel“, stellte er fest.
„Hör auf mich zu analysieren!“, befahl sie und schlug mit der Handfläche gegen die Tür, „Ich verbiete es dir“
„Oh...verbiete mir soviel du willst“, hohnte Wisdom, „Das ist allein das Ergebnis deines Fluchs“
„Ich will es nicht hören!“, keifte sie warf ihren Schuh nach der Kristallkugel. Unter lautem Gepolter rollte sie über den Boden
„Das ändert gar nichts...“, lachte Wisdom.
„Hör auf!“, mit jedem Mal da sie es schrie wurde ihre Stimme leiser.
„So fühlt sich das an, wenn sich ein Fluch gegen die Person richtet, die ihn ausgesprochen hat“, belehrte er sie ruhig.
Natalyel ließ ihren Körper langsam an der Tür herab sinken und hielt sich die Ohren zu. So fest sie konnte presste sie die dünnen, langen Finger gegen den Kopf. Obgleich es ihr doch bewusst war, dass er sich in ihrem Kopf befand.
„Und bald wird dein Spiel um eine Menschenseele sich zu deinem schlimmsten Albtraum entwickeln...“, triumphierte er und die Kugel erlosch.
„Er wird gar nichts...“, flüsterte sie in die Stille. Es waren nicht Worte gegen Wisdom. Viel mehr waren es Worte für ihre Seele...Seele! Das erinnerte sie an ihre eigentliche Mission. Wisdom wäre der Letzte, der sie davon abhalten könnte. Nicht jetzt. Nicht nach allem, was er ihr noch schuldig war.
„Ja...du wirst nicht dazu kommen dich zu erinnern“, nickte sie sich selbst zu und stand auf um den Raum zu verlassen, „Und wenn die Zeit der guten, alten Zeit zu gedenken dann endlich gekommen ist...wird es für dich längst zu spät sein...mein Liebster und eines verspreche ich dir, nie ist jemand so tief gefallen wie du jetzt... .Es ist an der Zeit das Spiel einzuleiten...“

2. Akt: Der Weg in eine andere Welt



Es war bereits weit nach Mitternacht. Unter leisen Wispern und Säuseln wiegte der seichte Abendwind die Zweige der gigantischen Pappeln, welche die verlassene Landstraße säumten in den Schlaf. Sanft glitten ihre Äste über den Boden. Das rhythmische Scharren mischte sich mit dem Knistern der Blätter. Das große Haus aus weißem Kalkstein thronte mitten auf einem nur sperrlich bewachsenen Hügel. Es sah aus, als wache es über das zu seinen Füßen liegende Dorf. Nur die abgebrochene Kirchturmspitze in der Ferne überragte es noch. Das Anwesen lag still im Dunkel der Nacht. Ein paar düstere Wolken schoben sich vor den riesigen, vollen Mond, wie ein Vorhang nach einem Theaterstück. Nur in einem der großen Fenster brannte noch ein greller Lichtschein.
Mit lautlosen Schritten schlich eine schattenhafte Person um das Haus herum. Vor einem schmalen, hohen Fenster blieb sie stehen. Die langen Finger in den schwarzen Handschuhen öffneten es mühe- und geräuschlos. Ein erleichtertes Lächeln huschte über die schmalen Lippen und die eisblauen Augen funkelten auf. Langsam schob er es auf und schlüpfte hindurch. Die Augen hatten sich längst an die Dunkelheit gewöhnt. Ebenso geräuschlos schloss er es wieder hinter sich. Er stand inmitten eines langen Flures. Der helle Boden hob sich von den dunklen Wänden ab. Direkt vor ihm führte eine breite Treppe mit hölzernem Geländer nach oben. Des weiteren gab es drei dunkle Türen links und rechts von ihm.
„Das ist das Paradies, Mann“, sagte er sich selbst, „Du hast den Hauptgewinn gezogen...“

Nachdem er sich ausgiebig umgesehen hatte, war der uralte, beige Leinensack bereits gut gefüllt mit silbernen Kerzenständern, Münzen, Goldfiguren und Schmuckstücken. Als er den Blick schweifen ließ, fiel er auf das große Fenster. Der Mond schien hell ins Zimmer. Plötzlich flatterte etwas daran vorbei. So nah, das es die Scheibe streifte. Überrascht eilte er dorthin und versuchte es zu erkennen, doch es war verschwunden.
„Wenn du hier fertig bist, kannst du immer noch pennen gehen“, erinnerte er sich barsch und schlich die Stufen hinauf. Als seine Finger die Klinke der ersten Tür umschlossen, ließ ihn ein Geräusch zusammen zucken. Blitzschnell ging er mit einer seitlichen Rolle hinter einer der hölzernen Tierfiguren, die die Treppe flankierten in Deckung. Es hörte sich so an, als hätte jemand das Haus betreten. Und zwar durch die Haustür!
„Oh, wie gespenstisch“, trat er sich gedanklich in den Hintern, „Es ist natürlich normaler durchs Fenster ein Haus zu betreten als durch die Tür, du Trottel...“
Vorsichtig spähte er hinter der Figur hervor und mühte sich etwas zu erkennen, doch der Flur war völlig leer.
„Du siehst wirklich Gespenster“, beruhigte er sich und atmete tief durch, „Du brauchst Urlaub“
Schnell sprang er auf und ging zur Tür zurück. Kaum hatte er sie erreicht, drang von unten ein weiteres Geräusch zu ihm herauf. Ein seltsames Knarren. Atemlos lauschte er. Dann war es weg. Schulterzuckend schlich er durch die übrigen Zimmer und füllte den Beutel.
Als er seinen nächtlichen Raubzug beendet hatte, was nur an der unzureichenden Kapazität des Beutels lag, schlich er die Treppe wieder herunter. Noch immer lag das Anwesen in eisiger Stille. Mit großen Augen starrte er auf die Tür, die sperangelweit offen stand. Ein gedämpftes Licht fiel auf den Teppich im Flur.
„Oh verdammt“, hauchte er und drückte sich an der Wand entlang, „das hat mir heute noch gefehlt“
So fest er konnte presste er seinen Körper gegen den kalten Stein: „Wieso höre ich nur immer auf die falschen Kerle? Du bist zu dämlich Rion. Das war ein totsicherer Tipp... dieser vermummte Typ wird tot sein, wenn ich ihn in die Finger bekomme. Geh in das Vobelle Manson hat er gesagt... so ein Mist!“
Hinter der Tür atmete er tief durch und lugte kurz hinter dem dunklen Holz hervor. Niemand war zu sehen.
„Ich bin mir sicher, dass die Tür vorhin verschlossen war“, erinnerte er sich.
Vorsichtig betrat er den Raum. Darin standen nur ein Schreibtisch und riesige Regale voller Bücher. Neugierig warf er einen Blick in das geöffnete Buch mitten auf der abgenutzten Ablage des Schreibtisches. Die Seiten des Buches waren weiß und leer. Verwundert blätterte er die Seiten um. Nichts.
„Was soll das denn für ein Buch sein?“, beschwerte er sich und las den Titel vom Hardcover, „Legenden der anderen Welt“
„Was für eine andere Welt?“, er blätterte zum Anfang und hielt das Buch unter die staubige Schreibtischlampe. Da offenbarte sich ihm langsam der Text des Buches. Verwundert begann er ein paar Zeilen aus dieser verwirrenden Geschichte über ein Königreich aus Kristall und eine menschliche Göttin zu lesen, die sich auf Seiten der Dämonen stellte.
Ein monotones Klopfen riss ihn aus den Gedanken heraus. Erschrocken zuckte er kurz und blickte um sich. Am Fenster saß ein fetter Rabe und klopfte mit dem Schnabel gegen die Scheibe. Rion kam auf ihn zu um ihn zu verscheuchen, doch er funkelte ihn aus tiefen schwarzen Augen an. Als er den Blick vom Vogel abwandte, fiel er wieder auf das Buch. Es begann sanft zu leuchten. Als Rion es erreichte, schrieb es in dünner, roter Schrift: „Es ist Zeit“. Er musste zweimal hinsehen, um es richtig zu realisieren. Fasziniert von der Eigendynamik dieses seltsamen Dings fuhr er leicht über die strahlende Seite.
„Rion!“, halte eine männliche Stimme in seinem Kopf.
Er erschrak so sehr, dass er zurück stolperte und nach hinten fiel. Im fallen griff er reflexartig nach dem dunklen Vorhang hinter sich. Unter lautem Gepolter stürzte er zu Boden. Der Vorhang legte sich sanft über ihn. Fluchend erhob er sich und lauschte in die Stille. Doch es schien ihn niemand gehört zu haben. Erleichtert fuhr er sich durchs haar und griff seinen Beutel. Da entdeckte er das Gemälde einer schönen, jungen Frau, welches zuvor vom Vorhang verborgen wurde.
„Warum sollte jemand ein so real wirkendes Bild verstecken?“, wunderte er sich und berührte es leicht mit den Fingerkuppen. Er hinterließ dabei einen rötlichen Film auf dem Bild. Sofort untersuchte er seine Finger. Die rechte Hand war voller Blut.
„Blut? Aber das ist viel zu viel als das es aus dem Buch stammen könnte“, wunderte er sich und seine Augen wanderten den Boden ab. Da entdeckte er tatsächlich einen Blutfleck auf dem Boden. Rion bückte sich herunter. Unterhalb des dunklen, massiven Polstersessel befand sich sogar eine riesige Blutlache.
„Das sieht nach ganz viel Ärger aus...“, machte sich eine üble Vorahnung in ihm breit, „Wenn ich den Informant erwische ist er dran“
Als er am Sessel vorbei trat, realisierte er das ganze Ausmaß seiner Missäre. Hinter dem Sessel lehnte ein Mann im edlen Morgenmantel. Allerdings ohne Kopf. In den Händen hielt er eine Axt, wie sie zum Holzhacken jeder im Garten hat.
„Lass dich hier lieber nicht mehr sehen“, riet er sich selbst und nahm seinen schweren Beutel.
Plötzlich verschwomm das Gemälde der schönen Frau an der Wand und ein blasser Arm griff nach ihm.
„Rion...“, hallte diese Stimme erneut in seinem Kopf.
Die Hand griff nach ihm und zog ihn blitzschnell in das Bild hinein.

Kurz darauf fand Rion sich auf einer scheinbar endlosen Öde wieder. Nichts als kalter Stein und Dreck, so weit das Auge reichte. Keine Tiere, keine Pflanzen. Nicht mal ein Geräusch. Nachdem er stundenlag herumgeirrt war, ließ er sich zu Boden sinken. Es herrschte eine bedrückende Stille.
„Rion“, hauchte eine schattenhafte gestalt und kam aus der ferne auf ihn zu. Erleichtert sprang er auf und nährte sich der Person: „Wo bin ich hier?“
„In deinem Leben Rion“, entgegnete die Gestalt ruhig.
Doch obwohl Rion auf ihn zu ging, kam er ihm nicht näher: „Was soll das heißen? Das hier soll mein Leben sein?“
„Ist es nicht so?“, schien die Person verwundert, doch seine Stimme klang immer gleich. Ruhig und beruhigend. Er sprach ohne jede Emotion.
„Nein“, empörte er sich, „Mein Leben besteht nicht aus Dreck und Staub. Wie kommst du dazu zu sagen mein Leben sei trist und eintönig, hä? Wer bist du überhaupt?“
„Ich weiß wer ich bin, doch wer bist du?“, wich er aus.
„Willst du mich verarschen?“, ärgerte er sich, „Du hast mich doch schon x mal beim Namen genannt. Hör mal zu du komischer Kerl, wir hängen hier zusammen auf diesem kargen Stück Land herum. Da kannst du mir ja wohl wenigstens deinen Namen verraten, wenn du mir schon die schuld für diesen Mist hier gibst“
„Du hast dein Temperament nicht im Griff“, erkannte der Mann.
„Und du nervst mich“, verdrehte er die Augen, „Wenn du es mir nicht sagen willst, dann eben nicht. Ich hänge hier jedenfalls nicht länger rum“
„Wohin willst du?“
„Frag doch nicht immer so blöd“, bat Rion, „Ich suche mir einen Weg hier raus. Willst du etwa hier bleiben?“
„Obwohl, so langweilig wie der Typ ist fühlt er sich hier sicher sauwohl...“, fügte er etwas leiser hinzu.
„Es wäre besser du würdest hier bleiben“, meinte der Mann.
„Wieso?“, fragte Rion gereizt.
„Jetzt fragst du blöd“, konterte die Gestalt, „Ich will dich schützen...“
„Schützen?“, wunderte er sich, „Wovor? Vor Abwechslung und Menschen mit denen man sich richtig unterhalten kann? Die einem, stell dir vor, sogar auf gestellte Fragen Antworten...“
„Vor dem Tod“, antwortete er überraschend direkt.
„Ich habe keine angst zu sterben“, zuckte Rion mit den Schultern, „Irgendwann stirbt doch jeder. Wenn ich hier bleibe sterbe ich auf jeden Fall an Langeweile“
„Vielleicht hast du keine Angst, weil du nichts zu verlieren hast...außer deinem Leben“, gab er zu bedenken.
„Was bist du für ein seltsamer Kerl?“, hackte Rion nach, „Bist du Hellseher oder so´n Kram?“
Er schüttelte den Kopf: „Man nennt mich Wisdom. Ich bin die Weisheit. Das Wissen um Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart“
„Wo du herkommst ist man nicht besonders bescheiden was?“, bemerkte Rion unbeeindruckt.
„Gegen deinen Willen kann ich dich hier nicht halten. Wenn du dich psychisch dagegen sträubst, löst sich dieser Ort auf. So muss ich dich doch gehen lassen, Rion. Vielleicht, wenn wir Glück haben, kehrst du an diesen Ort zurück. Nachdem du weißt wer du bist und weshalb der Tod ein schrecklicher Verlust ist. Nur ein Narr fürchtet den Tod nicht...oder jemand, der schon dabei ist zu sterben“
„Was soll das für ein glück sein?“, zweifelte er, „wer will schon an so einen Ort zurück? Hier gibt es ja nicht mal einen Himmel“
„Ich dachte du glaubst nicht daran...Rion“, murmelte Wisdom leise, „Warum müsst ihr Menschen immer so dumm sein? Warum hörst du nicht auf mich?“
„Ich dachte du weißt immer alles“, konterte Rion grinsend, „vielleicht weil Menschen selbst am besten wissen was sie wollen. Oder es zumindest denken...“
„Tu lieber was ich dir sage“, riet Wisdom ihm, „da draußen lauern Gefahren von denen du nicht mal ahnst, dass es sie gibt“
„Mag sein“, zuckte er mit den Schultern, „Aber ich habe einen Kopf um eigenständig zu denken. Menschen wollen nicht die Marionette von wem auch immer sein“
Wisdom nickte kurz: „Es wird dein Ende bedeuten...“
„Dann ist es wohl so“, entgegnete Rion mit leichtem Lächeln auf den Lippen, „Lieber ein Leben voller gefahren als ein Leben in einem goldenen Käfig“
„Ist das deine Entscheidung?“, zweifelte Wisdom.
Rion nickte kurz.
„Dann kann ich jetzt nichts mehr für dich tun...Das hier ist deine Geschichte, Rion...“, fuhr Wisdom fort und Rion schien es fast, als klang Wisdom traurig darüber.
„Menschen sind so dumme Geschöpfe...“, hauchte Wisdom, dann verstand Rion seine Worte nicht mehr. Alles um ihn herum hüllte sich in ein bedrohliches Licht, dass alles auf seinem Weg verschlang. Wisdom verblasste vor ihm. Unter seinen Füßen öffnete sich die Erde. Rion fiel durch ein tiefes Loch im Boden in die Dunkelheit hinab.

„Bitte ihr hohen Götter...erhöret meine Gebete“, flehte die sanfte Stimme eines Mädchens. Ihre geflüsterten Worte mischten sich mit der seichten Brise, die vom Meer herüber wehte und in den Blättern der vielen Bäume säuselte. Sie wandte den Blick zu den majestätischen Klippen, die sich vor dem Ozean aufgetürmt hatten und erhob sich langsam aus ihrer betenden Haltung. Ihre Augen blickten traurig als sie sich den Klippen nährte und über einen der Felsen beugte.
„Warum kann nicht einmal etwas passieren? Irgendetwas...“, bat sie.
Fast fünf Meter unter ihr schlugen die Wellen gegen das Gestein. Sehnsüchtig fixierte sie die Umrisse eines Schiffes am fernen Horizont.
„Ach könntest du mich mitnehmen...ganz weit weg von diesem öden Ort...“, seufzte sie, „Hinaus in ein völlig fremdes Land am Ende der Welt“

Plötzlich riss ein lautes Platschen sie aus den schwärmerischen Gedanken. Erschrocken fuhr sie herum.
„Es muss vom heiligen Ort kommen“, erkannte sie sofort und lief zurück. Vorsichtig nährte sie sich dem Ort der Ruhe. Und sie hatte recht. Dort im Wasserbecken bewegte sich etwas. Nein, jemand. Ihr Herz schlug höher, als sie hinter einem der Bäume in Sicherheit ging.
„So´n Mist...“, beschwerte Rion sich und fand sich in einem zweimal zwei Meter breiten Wasserbecken wieder. Zum Glück war es nur knietief. „Das so was auch immer mir passiert“, fuhr er fort und zog seinen klitschnassen Körper aus dem Wasser, „In letzter Zeit hast du aber auch gar kein Glück...“
Er ließ den blick schweifen.
„Ziemlich ruhig hier“, dachte er sich. Um ihn herum befanden sich zahllose Bäume und Büsche. Direkt neben ihm stand eine drei Meter hohe Statue. Zu ihren Füßen lag ein rostiges Schwert.
„Sieht aus als würde es sich in Staub auflösen, wenn man es nur ansieht“, murmelte er.
„Du...du bist es“, erkannte das Mädchen sofort und lief auf ihn zu.
Rion sah sie überrascht an und strich sich die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht um besser sehen zu können: „Und wer bist du?“
Mit einem strahlenden Lächeln und leuchtenden Augen antwortete sie: „Mein Name ist Maideya“
„Maideya...“, wiederholte er, „Du bist wohl nicht von hier?“
„Woher soll ich nicht sein?“, wunderte sie sich.
„Ach, nicht so wichtig. Vergiss es“, meinte er abwehrend.
„Komm mit“, bat sie und fasste nach seiner Hand, „ich muss dich allen zeigen. Endlich bist du hier. Du glaubst gar nicht, wie erleichtert ich bin“
„Soll das heißen, dass du mich erwartet hast?“, wunderte er sich.
„Du machst wohl Witze, natürlich“, entgegnete sie, „Ganz Acris hat auf dich gewartet“
„Wer ist Acris?“, wollte er wissen.
„Der Name dieses Planeten“, antwortete sie.
„Kennst du jemanden mit Namen Wisdom? Bist du auch sone Wahrsagerin oder so?“, erkundigte er sich naserümpfend.
Sie legte die Stirn in Falten: „Ich kenne niemanden der so heißt. Ich bin Priesterin des St. Viktorien Ordens von Xixon“
Rion nickte kurz: „Aber was genau wollt ihr dann alle von mir?“
„Das du uns rettest“, war die überraschende Antwort.
„Was?“, erschrak Rion, „Ich? Wieso denn ich?“
Sie lächelte verlegen: „Weil du der legendäre Held bist, der kommt um uns alle zu erlösen“
„Ich bin kein Held“, versicherte er ihr.
Maideya stand wie versteinert vor ihm. Ihre Augen glänzten feucht und der zierliche Körper zitterte: „Aber...aber du musst es sein. Du bist mir doch erschienen“
„Das war nur ein Unfall. Ich suche nur nach einem Weg zurück“, erklärte er.
„Wohin zurück?“, erkundigte sie sich vorsichtig.
„Nach Hause“, sagte er kurz und ganz selbstverständlich.
„Du...wirst uns also nicht helfen?“, ihre Stimme klang fast flehend.
„Das hier ist eure Welt. Ich muss zurück in Meine“, entgegnete er.
Maideya wollte nach ihn greifen, zog ihre blasse Hand jedoch wieder zurück: „Aber alles was in der Legende steht trifft auf dich zu. Du bist vom Himmel gefallen, du kommst aus einer fernen Welt und du trägst seltsame Kleidung“
„Das sind ganz normale Jeans. Die trägt doch jeder“, verteidigte er sich, „und das hier ist ein gewöhnliches Shirt. So laufen doch alle herum. Du kennst doch wohl auch Turnschuhe oder? “
„Ich hab das noch nie gesehen“, entgegnete Maideya, „Vielleicht weißt du ja noch gar nicht, dass du es bist“
„Hör mal...“, begann er, doch sie wurden durch ein plötzlichen Beben unterbrochen. Der Boden begann stark zu vibrieren und die kleinen Steine hüpften über den Boden.
„Was ist das?“, hauchte sie ängstlich.
Da erhob sich hinter den Büschen ein echsenähnlicher Kopf. Zwei feuerrote Augen starrten sie an. Eine lange Zunge leckte sich das spitze, schuppige Maul und lange Fangzähne blitzten hervor.
Erschrocken ging Maideya hinter Rion in Deckung: „Hilf uns legendärer Held“
„Ich bin kein Held“, verbesserte er sie.
Das Monster machte einen Schritt auf sie zu und stieß ein erschauderndes Gebrüll aus. Grüner Speichel floss aus dem Maul heraus.
„Okay, pass auf ich hab eine Idee“, meinte Rion plötzlich, „wir müssen die Statue erreichen. Aber ganz langsam. Nicht rennen“
Sie nickte heftig. So wichen sie bis zur Statue zurück.
„Du bleibst hier“, bat er sie und Maideya hockte sich dahinter und machte sich so klein sie konnte.
Rion griff nach dem alten Schwert und hoffte es damit wenigstens verjagen zu können. Als er den Griff des Schwertes umschloss, begann die Klinge blauviolett zu strahlen.
„Das ist sie“, erklang Wisdoms Stimme in seinem Kopf, „Das ist eines der gefürchteten Zwillingsschwerter. Es hat dich erwählt Rion. Du bist jetzt sein Meister. Du besitzt die Himmelsklinge Aura. Die strahlende Seite des Lebens. Sie allein ist ungefährlich. Sei vorsichtig Rion. Die Welt beginnt jetzt sich nach deinem Herzschlag zu drehen. Es gibt kein zurück mehr...lerne es zu benutzen“
Verwundert schüttelte Rion sich leicht, dann erinnerte er sich. Er fasste den Griff des Schwertes fester und stellte sich dem Monster.
„Hey du häßliches Riesenbaby“, erlangte er die Aufmerksamkeit der Echse, „Hier steigt die Party“
Mit einem gierigen Schrei begann der schwerfällige Leib sich in Bewegung zu versetzen.
Rion sprang auf seinen Rücken und versuchte ihm die Klinge in den Rücken zu stoßen, doch sie kam nicht durch die schuppige Haut.
„Was soll das für ein Schwert sein?“, empörte er sich und sprang mit einer seitlichen Rolle wieder vom Monster herunter. Sogleich musste er sich unter dem kräftigen, langen Schwanz ducken. Immer wieder schlug es nach ihm.
„Jetzt ist Schluss“, dachte er sich ein wenig außer Atem vom vielen springen und wegrollen und schlug mit aller Kraft nach dem Schwanz. Dieser fiel sauber abgetrennt zu Boden. Doch sogleich wuchs ihm ein neuer.
„Guter Trick...“, musste Rion zugeben und rannte am Körper entlang zum Kopf, „wenn nicht mit Gewalt dann eben mit Köpfchen“
Er stellte sich dem Monster frontal entgegen und versuchte es mit kleinen Stichen auf die Beine zu reizen. Auf einmal sah er kleine Steine an sich vorbei fliegen.
„Maideya“, erkannte er, „gut so. Wir müssen ihn dazu bringen sich aufzurichten. Versuch den Kopf zu treffen“
Kaum hatte er den Satz beendet, hatte sie auch schon den ersten Treffer gelandet.
„Nicht schlecht“, grinste er anerkennend.
Bald darauf schrie er abermals auf und stellte sich auf die Hinterbeine. Rion nutzte die Chance und rammte ihm im Sprung die Klinge in die Gegend, wo er das Herz vermutete. Die Echse kreischte vor Schmerz wild auf und schlug um sich. Sie erwischte ihm und schleuderte ihn gegen einen der Bäume, dann brach sie zusammen und rührte sich nicht mehr.
„Legendärer Held!“, rief Maideya besorgt und lief zu ihm, „Hast du dir weh getan“
„Nein...“, murmelte er und hielte sich die linke Seite, „Ich tu nur so...“
„Gut...“, atmete sie erleichtert auf.
Rion sah sie empört an.
„Du hast mich gerettet. Damit bist du doch ein Held“, freute sie sich.
„Das hätte jeder gemacht. Wer lässt schon ein Mädchen im Stich, hä? Da wo ich herkomme nennt man solche Menschen Mistkerle“
„Wirklich?“, fragte sie nach, „Vielleicht kommst du ja aus einem Land voller Helden?“
„Das glaube ich nicht“, grinste er, „Nein...echt nicht. Außerdem hast du mir geholfen. Wahrscheinlich hätte ich es ohne dich gar nicht geschafft“
Er beschloss sich zusammen zu reißen und den Schmerz zu unterdrücken.
„Lass mich das machen“, bat sie ihn und deutete auf seine Rippen, „Ich habe heilende Kräfte“
„Gute Anmache hm?“, bemerkte Rion.
Maideya ignorierte sein Kommentar lächelnd und legte ihre Hände übereinander. Die Stelle begann sich stark zu erhitzen und ein grelles Licht umschloss die Handflächen.
„Au...!“, beschwerte Rion sich.
„Fertig“, sagte sie kurz, „Für einen Helden bist du aber ziemlich empfindlich“
„Helden sind auch nur Menschen“, bemerkte er.
„Kann ich mir nicht vorstellen“, lehnte sie ab.
„Doch“, beharrte er, „Sie können sich verletzen, bluten...und sogar sterben oder? Hört sich für mich ziemlich menschlich an. Jeder Held ist doch in erster Linie auch ein Mensch. Er kann traurig sein, fröhlich und verletzlich“
Sie schüttelte den Kopf: „Helden sind Helden und keine normalen Menschen. Sie besitzen große Macht und können einfach alles“
„Du willst mich verarschen“, glaubte Rion zu erkennen, doch ihre Miene blieb unverändert
„Nein...du meinst den Quatsch ernst oder?“, fuhr er fort.
„Natürlich“, beharrte sie fast schon empört.
„Ich muss hier ganz schnell weg“, dachte er sich.

„Maideya!“, brüllte plötzlich jemand hinter ihnen. Auf der Anhöhe erschienen zwei muskulöse Männer in Uniform. Erst nach kurzer Zeit erreichte sie ein kleiner, dicker, bärtiger Mann in rotem Gewand. Seufzend wischte er sich den Schweiß von der Stirn und stapfte schwerfällig auf sie zu.
„Wir vernahmen eine düstere Aura von diesem Ort. Was ist hier geschehen Maideya?“, schnaubte er und japste nach Luft. Die Männer fächerten ihm Luft zu.
Maideya verbeugte sich ehrfürchtig: „Ich habe den legendären Helden gefunden Pater Randolph“
„Warum musstest du das sagen?“, zischte er und verdrehte die Augen, „Wie soll ich da jetzt wieder raus kommen?“
„Er trägt das Schwert“, erkannte einer der Wachmänner und deutete empört darauf.
„Erklär dich!“, forderte Pater Randolph ihn auf.
Rion sah sich hilfesuchend um: „Das? Äh... also das is ne ganz blöde Geschichte“
„Nehmt ihn fest!“, befahl er den Männern sofort.
„Aber Pater...“, erschrak Maideya und wusste nicht recht, was sie sagen sollte.
„Wegen diesem alten, wertlosen Blechteil?“, fragte Rion aufgebracht.
„Wegen der Entweihung der heiligen Stätte und der Beschädigung eines heiligen Wesens“, entgegnete er und fächerte sich selbst weiter Luft zu.
„Beschädigung? Das Vieh ist doch kein Gegenstand...“, murmelte Rion, „Ich wusste doch nicht das es heilig ist. Es hat uns angegriffen. Was sollte ich denn sonst machen? Es zum Kaffee einladen?“
„Ich lasse mich von einem dahergelaufenen Dieb nicht ärgern. Er ist ein Lügner und Betrüger. Sperrt ihn ein!“
„Pater bitte“, flehte Maideya und küsste den Saum seines Gewands, „Er ist wirklich der Held. Bitte glaubt mir“
„Du solltest dich lieber um deine Pflichten als Priesterin kümmern“, scholl er sie barsch und ließ sie allein zurück.

3. Akt: Die Flucht



Kurz darauf fand Rion sich bereits in einer winzigen Zelle wieder. Der kalte Steinboden war nur vereinzelt mit Stroh bedeckt. Vor der Gittertür stand ein schäbiger Holzteller und ein zerbeulter Zinnbecher.
„Was für ein Loch“, seufzte Rion und lehnte den Kopf gegen die nackte Kerkerwand. Eine Ratte steckte den Kopf durchs Gitter und hielt die Nase in die Luft.
„Hi“, lächelte er kurz zu ihr herüber, „Na was hast du verbrochen?“
Die schwarzen Augen sahen ihn stumm an.
„Ziemlich stinkende Gegend was?“, fuhr er fort, „Sicher ganz schön einsam hier...“
Vorsichtig nährte sie sich und verschwand dann auf den Flur hinaus.
„Komm mal wieder vorbei!“, rief er ihr nach, „Hab sonst nich so viele Freunde hier drin“
„Mit wem unterhältst du dich?“, fragte eine Stimme vor der Zellentür.
„Mit der Ratte“, antwortete er ganz selbstverständlich, „ist grad bei dir vorbei gekommen. Redet aber nicht sehr viel... Hat bestimmt schlechte Erfahrungen gemacht...mit Menschen meine ich“

Ein graugrünes Augenpaar blinzelte ihn durch die Gitter hindurch an: „Du bist ein seltsamer Kerl“
„Ja...“, nickte er grinsend, „Alles nur Galgenhumor. Manche Menschen verstecken ihre Angst damit...oder versuchen es zumindest“
„Hast du Angst?“, fragte die tiefe Stimme.
„Ist das ein Scherz?“, empörte er sich, „Ich hänge hier in diesem Drecksloch fest und weiß nicht was die Herrschaften da oben sich für´n Mist ausdenken“
„Mach dir nicht zu viel Gedanken“, entgegnete er.
„Du bist ein Scherzkeks, hä?“, murmelte Rion, „Aber vielleicht hast du recht. Die machen mich eh kalt. Früher oder später“
„Das meinte ich nicht...“ ,die Unsicherheit in der Stimme war nicht zu überhören, „Tut mir leid...das war so nicht gemeint“
„Schon gut“, beruhigte er ihn, „Was bist du überhaupt für einer? Du machst den Job noch nicht lange, hab ich recht?"
„Ja...“, gab er zu, „Mein Name ist Geroh, Geroh Dionne. Ich war mal Wachsoldat im Schloss. Aber...irgendwie hab ich es versaut und wurde seit dem hierher abkommandiert“
„Wow...was für ne Karriere“, dachte Rion sich, „Was hast du gemacht?“
„Ich bin beim bewachen der Tore eingeschlafen...dreimal“, antwortete er.
„Trottel...“, grinste er, „Und gefällt dir der Job?“
„Ich hasse ihn!“, kam schneller als Rion seine Frage beendet hatte.
„Prima“, freute er sich und richtete sich auf, „Ich hasse es hier auch. Dann hast du sicher Verständnis dafür, dass ich hier raus muss“
„Warum?“, stellte Geroh die Frage nach kurzem Zögern.
„Warum?“, wiederholte Rion genervt, „Das hast du nicht wirklich gefragt oder? Mach mich nicht wahnsinnig. Weil ich zu jung bin um hier zu versauern. Ich will hier nicht sterben!“
Vor Wut trat er gegen den Strohhaufen in der Mitte der Zelle. Nach allen Seiten flogen Knochen und Splitter über den Steinboden. Der Schädel sah ihn aus einer Ecke der Zelle an.
„Deshalb“, deutete Rion mit dem Finger darauf, „Aus diesem Grund will ich weg von hier“
„Ich...das...ich kann das nicht machen...“, stotterte Geroh vor sich hin und seine Schritte auf dem Flur verhallten langsam.
„Jetzt sind wir wohl wieder allein“, hauchte Rion traurig und hob den Schädel auf um ihn zu betrachten. Er ließ sich die Wand entlang nach unten sinken und legte den Schädel auf die angewinkelten Knie.
„Du warst wohl auch kein Glückskind...“, bemerkte er fast flüsternd, „Wie lange dauert es, bis man sich völlig aufgibt? Wann hat man keine Kraft mehr und verliert den Verstand?“
Schweigend starrte er ihn an.
„Wenn du wenigstens antworten könntest. Selbst dieser dämliche Waschlappen von Wächter würde mir jetzt reichen...der kann zumindest reden. Wenn er schon nicht denkt“, fuhr Rion fort und bemerkte die Hilflosigkeit seiner Worte.
Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen als er den Schädel beiseite legte und sich wieder erhob: „Aber ich werde ja zum Glück nicht so lange bleiben um es zu erfahren“

„Legendärer Held“, flüsterte plötzlich jemand vor seiner Zelle. Diese Stimme erkannte er sofort.
„Maideya“, freute er sich sichtlich und die Anspannung wich aus seinem Körper.
Mit einem Lächeln welches Rion nicht einordnen konnte, kam sie näher zum Gitterfenster. Rion beugte sich zu ihr.
Maideya musste sich auf die Zehenspitzen stellen, da sie nur einen Meter sechzig miss und klimperte mit dem Zellenschlüssel vor seinen Augen herum.
Überrascht sah er sie an: „Was? Aber wie hast du das gemacht?“
„Das verrate ich dir später“, antwortete sie geheimnisvoll und sperrte die Tür auf.
Rion blickte kurz zum Schädel herüber: „Sorry Kumpel...“
Er ballte hastig das Stroh zu einer länglichen Form zusammen, legte den Schädel an das hintere Ende und legte das schäbige Lacken darüber, sodass es fast wie eine schlafende Person aussah. Vorsichtshalber verschloss sie die Zellentür wieder.

Schnell gingen sie über den langen Gang durch eine schmale Holztür hinaus auf eine Grünfläche. Die Sonne ging gerade auf und es war kaum eine Wolke am Himmel zu sehen.
„Wir müssen hier warten“, sagte sie kurz und presste sich gegen die Mauer.
Rion hob die Augenbrauen: „Worauf?“
Kaum hatte er gefragt, da stand Geroh schon vor ihm.
Rion war wenig begeistert und machte keine Anstallten dies zu verbergen: „Geroh...“
„Du solltest ihm dankbar sein. Geroh hat dich quasi gerettet“, meinte Maideya.
„Dafür ist jetzt keine Zeit“, drängte Geroh und drückte Rion seine Waffen wieder in die Hand.
Maideya nickte ihm zu. Schnell ließen sie die Gärten hinter sich. Nachdem sie den seichten Fluss passiert hatten, konnten sie bereits die Umrisse einer winzigen Hütte erkennen.
„Dort“, zeigte Maideya im laufen in die westliche Richtung, „Da müssen wir hin“
Rion verdrehte die Augen und folgte ihr.
Je näher sie kamen, je schäbiger sah die einfache Holzhütte aus. Überall lagen kaputte Netze und Angelhaken herum. Maideya öffnete die Tür und schloss sie, nachdem alle drin waren, sofort wieder.

Erleichtert atmete sie auf.
„Kann mir jetzt mal einer sagen wieso wir abgehauen sind, wenn ich doch nicht mehr beschuldigt werde sonst was gemacht zu haben?“, forderte Rion.
Maideya sah kurz zu Geroh herüber. Dieser senkte den Blick: „Ich wusste gleich, dass es eine blöde Idee ist“
„Was soll das denn jetzt heißen?“, fragte er geschockt.
„Naja...“, begann Maideya, „Ich habe versucht mit ihm zu reden, doch er wollte mir nicht zuhören. Sie glauben mir nicht, dass du der Held bist. Darum dachte ich...wenn du die Chance hast, kannst du beweisen wer du bist“
„Jetzt mal ganz langsam“, mühte Rion sich zusammen zu reißen, „Diese Typen denken jetzt ich sei abgehauen?“
Maideya zuckte mit den Schultern und versuchte ein unschuldiges Gesicht zu machen.
„Wenn die mich finden bin ich doch noch toter als vorher schon...“, fuhr Rion fort.
„Wir gehen zurück, wenn du die Heldenprüfung gemacht hast und zeigen ihnen das du der Held bist. Dann wird schon alles gut ausgehen“, war sie überzeugt.
„Was für eine Heldenprüfung?“, fragte er kopfschüttelnd nach und wollte die Antwort doch gar nicht hören.
„Drei Prüfungen um genau zu sein. Es gibt da ein altes Buch in der Bibliothek des Klosters indem Orte aufgelistet sind an denen es seltene Dinge gibt. Damit überzeugen wir sie“, entgegnete Maideya.
„Das glaub ich jetzt nicht...“, murmelte Rion und fuhr sich tief durchatmend durchs Haar, „Maideya, sag mir bitte dass das nicht dein Ernst ist“
„Doch, es ist ihr Ernst“, versicherte Geroh und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
„Wie alt bist du?“, es klang eher wie ein Vorwurf als wie eine Frage.
„Sechzehn“, lächelte sie, „Warum?“
„Vergiss es...“, resignierte Rion.
„Dann sollten wir keine Zeit verlieren und das Buch finden“, schlug sie vor.
Rion verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern, „Hab ich denn eine andere Wahl?“
„Das Kloster befindet sich weit abseits im Nordosten. Ich warte in Chirinth“, erklärte sie ihm.
„Wo?“, fragte er nach.
Maideya lächelte leicht: „In der Stadt Chirinth. Dort werde ich im Gasthaus warten. Geroh begleitet dich und zeigt dir den Weg“.
„Was für ne Hilfe“, murrte Rion und blickte durch die zersprungene Fensterscheibe hinaus auf den ruhigen See und sagte sich selbst, „Wenn du nach Hause willst, spielst du hier lieber mit...“
Maideya öffnete vorsichtig die knarrende Tür und sah sich um: „Die Luft ist rein“
„Sie werden uns doch überall suchen...“, fiel es Rion ein.
Doch Maideya schüttelte den Kopf, „Sie werden davon ausgehen, dass du den Kontinent verlassen hast. Wenn es irgendwo sehr gefährlich wird, dann in der Nähe vom Hafen“
„Also bleibe ich weit vom Hafen weg“, dachte er sich.
„Außerdem hat dich kaum jemand gesehen“, fügte sie hinzu, „So gut wie keiner weiß wie du aussiehst“
Rion nickte: „Okay, dann geht’s los“
„Moment noch legendärer Held...“, hielt sie ihn am Arm zurück.
„Rion“, bat er, „Sag Rion, sonst Jagd mich Morgen die halbe Welt“
„Ist gut“, stimmte sie zu, „Pass auf dich auf...Rion“
Er grinste leicht und deutete mit dem Daumen nach oben: „Wird schon schief gehen“
„Ich hoffe nicht...“, flüsterte Geroh.
So machten sie sich auf den Weg zum Kloster.

Majestätisch erstreckte das uralte Gemäuer mit den dicken Mauern sich vor ihnen. Es thronte direkt auf den Klippen vor dem Ozean. Die Mauern schienen mit dem Gestein der Klippen verwachsen zu sein, so nahtlos gingen sie ineinander über. Von weitem hörte man die wild tosenden Wellen, die gegen die Klippen schlugen. Die Luft wehte stechend ins Gesicht und über allem braute sich eine breite Front grauer Wolken zusammen. Rion spürte den aufziehenden Sturm
„Ich hoffe das hat nichts mit der nahen Zukunft zutun“, dachte er bei sich und blickte in den bedrohlichen Himmel.
„Kannst du gut klettern?“, fragte Geroh plötzlich und riss Rion unsanft aus den Gedanken.
„Ich“, grinste er breit, „Du machst wohl Witze“
So kletterten sie an den hohen Ranken, die sich die Mauern hinauf schlangen empor. Vorsichtig blickte Rion über den Rand. Vor dem Gebäude im Innenhof patroulierten zwei Wachen. Rion zog einen Dolch aus dem Stiefel und deutete Geroh zu warten. Dieser setzte sich in eine stabile Gabelung und machte sich so klein wie möglich. Lautlos sprang Rion auf die Mauer und rannte unbemerkt zur Rückseite des Gebäudes. Dort ließ er sein Schwert fallen. Kaum hatte es seine Hände verlassen, wurde es wieder zu einem stumpfen, verrosteten Gegenstand, der hart und klirrend auf den Pflastersteinweg fiel. Rion sprang sofort hinterher und duckte sich im dichten Gebüsch. Kurz darauf erschien einer der alarmierten Wachposten. Überrascht beäugte er das rostige Ding und blickte um sich. Bevor er ihn sehen konnte, hatte Rion ihn niedergeschlagen. „So kann´s gehen“, freute er sich und steckte das Schwert weg. Vorsichtig schlich er um die Mauer und suchte nach der zweiten Wache. Er stand noch immer vor der Tür. Rion warf einen der herumliegenden, kleinen Steine in seine Richtung. Sofort sah er sich um und kam in Rions Richtung. Rion drückte sich gehen die Wand hinter der Ecke und wartete. Kaum war der Schatten des Wächters zu sehen, holte er mit dem Griff des Schwertes aus und schlug ihn nieder.
Als er zu Boden glitt, wischte Rion sich den Schweiß von der Stirn: „Träum schön...“
Er stellte sich an die Mauer und pfiff nach Geroh. Dieser war sogleich zur Stelle. So liefen sie schnell in das Gebäude.
„Wir müssen hier durch den Gang und dann zur breiten Flügeltür. Die Treppe herunter in die Bibliothek“, erläuterte Geroh ihm, „In einem Glaskasten in der linken, oberen Raumecke liegt ein dickes Buch. Das brauchen wir“
„Na dann los“, nickte Rion.
„Nein, ich halte uns den Rückweg sauber“, schlug er vor, „Ich trage schließlich noch immer diese Uniform. Damit falle ich nicht auf“
„Dann sollte ich besser auch eine Verkleidung haben“, meinte Rion und sah sich um.
„Ach richtig!“, fiel es Geroh wieder ein.
„Psst. Sein nicht so laut“, mahnte Rion ihn erschrocken.
„Hier“, flüsterte Geroh und warf Rion eine Kutte aus groben Leinen zu, „Maideya hat sie mir gegeben, damit wir hier hinein kommen...ich hatte es fast vergessen“
Rion verzog kopfschüttelnd das Gesicht und zog sich, während er den langen Gang entlang schritt, eilig die Kutte über.
„So ein Trottel...“, murmelte er ärgerlich vor sich hin und stieß die Flügeltür auf.
Empörte Blicke der anderen Mönche folgten ihm und hinter seinem Rücken entbrannte ein abfälliges Raunen. „Ja, ja, ja...“, seufzte er und war froh endlich in der Bibliothek zu stehen.
Zu seinem Glück war sie angenehm leer. Nur vereinzelt las jemand ein Buch. Der perfekt quadratische Raum war bis zum Bersten mit Regalen gefüllt. Alle bis oben hin voll mit Büchern über alles erdenkliche.
„Ich frage mich wie viel Leben man braucht um die alle zu lesen...“, dachte er sich und ging zielsträbig in die linke, obere Raumecke in die Geroh ihn geschickt hatte. Zu seiner Überraschung stand dort wirklich ein Glaskasten mit einem Buch darin. Vom etwa 30 cm schmalen, hohen Fenster her fiel ein sanfter Lichtkegel auf das Buch. Rion warf schnell einen Blick hinein, doch die Buchstaben auf den vergilbten Seiten konnte er nicht lesen.
„Na toll...“, murrte er und versuchte den Kasten zu öffnen oder anzuheben. Doch er bewegte sich nicht einen Millimeter. Rion biss sich leicht auf die Unterlippe und blickte ruhig durch den Raum. Er vergewisserte sich, dass ihn niemand beobachtete und sprang auf den Kasten. Rion nickte zufrieden und löste das Seil, welches etwa 5 mal um den Körper gewickelt werden musste, als Gürtel der Kutte diente und befestigte es an seinem Kukri, einem langen, fast wie ein Boomerang geformten Dolch. Diesen schleuderte er um die äußere Eisenstange, die das Fenster horizontal in der Mitte vergitterte. Er zog sein Schwert und schlug damit den Glaskasten ein. Doch statt völlig zu zerspringen, glitt die Schneide sauber durch das Glas so schnell, dass er ihr kaum folgen konnte. Erst als das Glas auf dem Boden zerklirrte riss es ihn wieder aus seiner Bewunderung für die seltsame Waffe. Er griff nach dem Buch und schwang sich nach oben zum Fenster. Immer mehr Mönche sammelten sich in der Bibliothek und Rion spürte sie förmlich im Nacken. Mühsam quetschte er sich durch das Fenster vorbei an der Eisenstange und rettete sich an die stabile, graue Regenrinne und nahm Kukri sowie das nützliche Seil wieder mit. Unter ihm befand sich ein Regensammelbecken. Rion warf das schwere Buch auf den schmalen Grünstreifen und sprang ins Regenbecken. Schnell zog er sich heraus, griff das Buch und rannte die Mauer entlang.
Am Eingang wartete Geroh auf ihn und war deutlich erleichtert ihn zu sehen, doch von weitem näherten sich die klappernden Rüstungen der Soldaten. Geroh drückte Rion unsanft ins Gebüsch herunter.
„Hey, hast du etwas auffälliges gesehen oder bemerkt?“, hielt er Geroh für einen von ihnen.
„Nein...“, schüttelte er den Kopf und Schweiß rinn von seiner Stirn, „Ich...es war niemand hier...nichts auffälliges“
„Halte die Augen offen, Neuer. Hier treibt sich ein falscher Mönch herum“, forderte er ihn auf.
„Jawohl!“, versicherte Geroh am ganzen Leib zitternd.
Dann rannte der Soldat weiter.
„Komm Geroh, hier lang“, riss er Geroh mit sich und rannte zum Wasserbecken zurück.
„Ich kann nicht schwimmen“, jammerte Geroh und sträubte sich vor dem Wasser, „Ich hab ne Wasserallergie...“
„Musst du auch nicht. Wir klettern da hoch, über das Dach und hinten heraus“, erklärte Rion und drängte ihn hinauf. Schwerfällig zog Geroh sich hoch.
„Das dauert zu lange, die erwischen uns noch“, ahnte Rion, „Wirf die Rüstung ab“
„Was? Nein...“, bat er.
„Du bist zu schwer“, erinnerte Rion ihn als sie das Dach erreicht hatten und riss ihm die Panzerschienen vom Bein herunter. Schweren Herzens trennte Geroh sich auch vom Brustpanzer und der Armpanzerung sowie dem Helm. Sie ließen die Rüstung auf dem Dach zurück und schlichen über die Dächer zur Nordseite.
„Hier ist der Abstand zur Mauer am Geringsten, dass hab ich vorhin bemerkt, als ich abgehauen bin“, flüsterte Rion.
Kurz nachdem er das sagte, traf ihn ein kühler Tropfen auf der Hand.
„Nein...“, bat er und blickte hoch. Die graue Wolkenfront hatte sie erreicht und es begann zu regnen.
Schnell nahm er das Seil mit dem Kukri und warf es um den über die Mauer hängenden Ast eines großen Baumes. Das andere Ende band er an den Schornstein.
„Seilen wir uns ab“, forderte er Geroh auf und riss zwei Stücken Stoff von der Kutte. Eines reichte er Geroh.
„Beeil dich“, drängte er ihn. So schlitterte Geroh etwas wacklig zum Baum herüber und umarmte den dicken Stamm dankbar, dass er es überlebte. Rion zog die Kutte aus, riss sie zu einem langen Viereck und legte das Buch in die Mitte. Er verpackte es wie ein Bündel und nahm den dicken Knoten zwischen die Zähne. Der Knoten war jedoch so breit und rau, dass ihm fast die Tränen in die Augen stiegen. So seilte auch er sich ab und spuckte den Knoten des Bündels erleichtert wieder aus.
„Jetzt hast du live und in Farbe miterlebt wie ich mir selber das Maul gestopft hab. Das is ne Rarität“, meinte er grinsend zu Geroh, als er sein Kukri löste und den Baum hinab kletterte. Es goss bereits in Strömen und die Sonne ging beinahe unter.
„Chirinth befindet sich im Westen“, deutete Geroh ihm den Weg.
„Nein, wir gehen lieber die Klippen entlang und machen einen Umweg zur Stadt“, schlug Rion vor, „Damit werden sie nicht rechnen und wir laufen den Wachen nicht in die Arme“
Geroh seufzte und folgte Rion über die regennassen, glitschigen Klippen nach Süden. Auf allen Vieren bewegten sie sich langsam durch den Regenschauer voran. Unter ihnen türmten sich die Wellen bedrohlich auf. Die Schaumkronen spritzten bis zu ihnen hinauf und zerstäubten.


4. Akt: Die Heldenprüfung



Müde und erschöpft erreichten sie mitten in der Nacht das Lichtermeer der Stadt Chirinth.
„Wir sind da...“, keuchte Geroh und sank auf die Knie nachdem sie das Ortsschild passierten.
„Reiß dich zusammen, wir müssen Maideya finden“, erinnerte er ihn.
Seufzend nickte er und führte Rion durch die engen Straßen bis zu einem hohen Steingebäude.
„Jetzt sind wir aber da“, war Geroh erleichtert und öffnete die hohe, schmale Holztür unter dem „Gasthof zur fröhlichen Runde“
Rion folgte ihm unauffällig. Das seichte Licht einer Tranfunzel erhellte den großen mit dunklem Holz ausgekleideten Raum. In der Halle standen zwölf Tische mit jeweils sechs Stühlen. Aus dem benachbarten Raum nährten sich Schritte.
„Ihr seid sicher die Gäste, die Fräulein Maideya erwartet“, begrüßte eine höfliche Frauenstimme sie.
Als sie ins Licht trat, sahen die Jungs in das gütige, vom Leben gezeichnete, rundliche Gesicht der Gastwirtin: „Ich hoffe Sie werden sich hier wohl fühlen und haben eine ruhige, angenehme Nacht. Das Fräulein wartet im Hinterzimmer auf Sie“
Rion nickte ihr kurz zu. Mir einer einladenden Geste deutete sie ihnen an ihr zu folgen. An einer vertäfelten Wand blieb sie stehen und schob den Blütenbestickten Wandteppich zur Seite. Dahinter verbarg sich eine Tür, die vom Rest der Wand nur sehr schwer zu unterscheiden war. Lächelnd drückte sie Rion eine Lampe mit winziger Flamme in die rechte Hand, öffnete die Tür und bat sie hinein zu gehen. Als die Jungs hindurch geschritten waren, schloss die Wirtin die Tür fast Geräuschlos hinter ihnen und ihre Schritte verhallten.
„Sie ist nett...“, bemerkte Rion beiläufig und drehte die Flamme der Tranlampe hoher. Die Schatten lichteten sich und gaben einen kleinen, quadratischen Raum mit einem Tisch, zwei Stühlen, einem Schreibtisch und einem hohen Fenster, welches mit dunklen, schweren Vorhängen verdunkelt wurde preis.
„Sieh mal“, deutete Rion auf den Stuhl bei dem Tisch am Fenster.
Darauf saß Maideya und hatte den Kopf auf den verschränkten Armen über den Tisch gelegt. Sie atmete ruhig und schlief ganz fest.
Geroh sah ihn achselzuckend an. Rion ging zu ihr herüber, stellte die Lampe auf dem Tisch ab und legte seine Hand vorsichtig auf ihre Schulter: „Maideya... wach auf“
Ihre Lippen bewegten sich langsam, es kam jedoch nichts heraus.
„Maideya?“, fragte er nach.
Endlich zeigte sie eine Regung und hob den Kopf.
„Da seid ihr ja endlich“, gähnte sie und rieb sich die müden Augen.
„Hier“, entgegnete Rion und übergab ihr das Buch, „während du gepennt hast, haben wir unser Leben dafür aufs Spiel gesetzt“
Sie schlug es hastig auf und suchte im Verzeichnis nach dem Eintrag über die drei geheimen Zutaten.
„Das ist es!“, jubelte sie und legte den Finger auf die Mitte der linken Seite.
Rion warf einen Blick darauf, er konnte jedoch nichts aus den seltsamen Zeichen erkennen: „Und? Ich seh da nichts besonderes“
Maideya lächelte etwas stolz: „Das ist Xixonisch. Die uralte Sprache der Xixoner. Es gibt nur noch sehr wenige, die diese Sprache sprechen können“
Rion hob die Augenbrauen: „Und so was lernt man im Kloster...“
„Na ja...eigentlich nicht“, gab sie zu, „Es gab bei uns einen alten Lehrmeister, der die Xixonische Sprache studiert hatte. Er unterrichtete mich heimlich, weil ich ihn fast täglich damit genervt habe. Ich wollte es unbedingt können, um die alten Geheimnisse des Landes zu entschlüsseln, die sich in diesem Buch befinden“
„Das kann ich mir vorstellen, dass du ihn genervt hast“, murmelte Rion zu Geroh herüber und stellte sich vor das Fenster. Durch einen Spalt zwischen den Vorhängen warf er einen Blick auf die verlassenen Gassen in den Hinterhof des Gasthofs.
Sie ignorierte ihn und begann zu lesen.
Geroh mühte sich die Augen offen zu halten und ließ sich auf den anderen Stuhl sinken.
Rion strengte seine Augen an. Vor sich entdeckte er einen schwarzen Punkt in der Dunkelheit. Mit einer schnellen Handbewegung drehte er die Flamme so herunter, dass sie fast erloschen war.
„Hey, so kann ich nicht lesen“, beschwerte Maideya sich.
Rion legte den Zeigefinger auf die Lippen und wandte den Blick nicht vom Hinterhof ab. Da flog ein schwarzer Schatten am Fenster vorbei. So nah, dass er die glänzenden Augen sehen und den Flügelschlag fast spüren konnte.
Rion wich einen Schritt zurück: „Wie damals im Anwesen, bevor ich hierher kam...“
„Was hast du gesehen?“, wollte Maideya wissen und schob ihn leicht zur Seite.
„Nur eine Krähe“, meinte er.
Maideya drehte die Flamme höher und las zu Ende.
„Also ich kann in dieser Dunkelheit nichts sehen...“, bemerkte Geroh, „Du musst Augen wie eine Katze haben“
„Quatsch“, sagte Rion erschrocken und beschloss die Vorhänge ganz zu zu ziehen, bevor sie seine Augen sehen konnten.
„Ich kenne diese Orte“, freute Maideya sich plötzlich und Geroh wäre vor Schreck fast vom Stuhl gekippt, „Die Rede ist von dem Gestein, dass Wasser speit. In Xixon gibt es nur zwei Bergmassive und eines davon hat einen Wasserfall. Es handelt sich um den Bergsee im Norden des Kontinents. Es ist nicht weit von hier und man muss nur dem kleinen Fluss folgen“
„Der Bergsee im Norden“, wiederholte Rion, „Und was soll da sein?“
„In den Tiefen, dem Reich der Kreatur schlummert das grüne Auge“, las Maideya laut weiter.
„Was soll das sein?“, wunderte Rion sich.
Alle zuckten mit der Schulter.
„Na Wunderbar...“, entgegnete er und setzte sich auf die Kante des Schreibtischs.
„Das ist das erste, dass du machen musst“, forderte Maideya.
„Ich allein?“, fragte er etwas überrascht.
„Ja...“, nickte sie ganz selbstverständlich, „Schließlich bist du...“
Rion unterbrach sie jedoch: „Der legendäre Held...ja ich hab´s schon verstanden“
„Gut“, meinte sie kurz, „Geroh und ich werden uns morgen früh auf den Weg zum Einsiedler im Osten machen. Dort werden wir warten. Es ist das beste Versteck das ich kenne und dort findet uns niemand“
„Wo soll das sein?“, fragte Rion leicht genervt, „Dass muss ich doch wissen, wenn ich da hin kommen soll“
„Ach ja“, stimmte sie zu, „weit im Osten hinter der Kleinstadt Magoran befindet sich der Schattenwald. Tief in diesen Wäldern versteckt steht eine kleine Hütte. Darin lebt der Einsiedler“
„Ach und der freut sich sicher riesig, wenn er die ganze Bude voll hat, da sein Versteck ja so geheim ist“, zweifelte Rion.
„Es ist der Lehrmeister von dem ich dir erzählt habe“, verriet sie in fast flüsterndem Ton, „Als ich klein war, besuchte er oft die Bibliothek und dort lernte ich ihn kennen. Bevor er verschwand sagte er, er habe jemanden verraten und müsse in die Wälder gehen um sich zu verstecken. Weiter hat er gesagt, dass ich ihn widersehe an dem Tag, an dem mich ein Junger Mann begleitet der mein ganzen Leben auf den Kopf stellen wird. Dieser Mann bist du“
Rion mühte sich nicht los zu lachen: „Ich glaube das hat er anders gemeint“
„Nein, er ist ein Wahrsager“, war sie sicher und schlug das Buch zu, „Es ist Zeit zu schlafen, du musst doch ausgeruht sein, wenn du dich an die Heldenprüfungen wagst“
Rion verdrehte die Augen und folgte ihnen aus dem Raum durch die Halle, die Treppe hinauf zu den Zimmern.
„Das hier ist euer Zimmer“, erklärte sie, als sie es aufschloss.
Zu dritt betraten sie es.
„Ich wecke euch morgen, wenn ich wach bin“, meinte sie zu Geroh, der sich bereits in seinem Bett breit machte.
Dieser murmelte etwas nicht Verständliches und zog sich die Decke bis zur Nase.
„Rion...“, begann sie, doch er unterbrach sie: „Du kennst meinen Namen ja doch“
Maideyas Wangen röteten sich und sie senkte sofort den Blick: „Ich lasse das bei euch. Wenn es in meinem Zimmer liegt, kann ich nicht ruhig schlafen“
„Okay“, grinste Rion breit und nahm ihr das Buch ab, „Gute Nacht“
Sie nickte kurz.
„Habt ihr euch schon was überlegt?“, wollte er von ihr wissen.
Sie runzelte die Stirn: „Was überlegt?“
„Ihr wollt doch morgen früh los. Da solltet ihr euch verkleiden“, schlug er vor.
„Verkleiden? Daran hab ich gar nicht gedacht“, gab sie peinlich berührt zu.
Rion nickte: „Ja, ich weiß. Darum hast du ja mich“
Ihre großen Augen leuchteten, als er das sagte und sie lächelte sanft.
„Ich hab da schon eine Idee. Wenn du aufstehst, geh in die Küche und lass dir die Asche aus dem Ofen geben, damit kannst dann deine Haare schwärzen. Für die Verkleidung sorge ich“, versprach er, „Geh nun schlafen. Morgen wird ein anstrengender Tag“
Sie nickte glücklich und schloss die Tür leise hinter sich.

Rion warf seine Waffen aufs Bett und versteckte das Buch unter dem Lattenrost. Gähnend ging er zum Fenster und öffnete es. Das Metall war angenehm kühl in seiner warmen Handfläche. Er setzte sich auf das breite Fenstersims und schloss die Augen. Sanft strich der kalte Hauch der Nacht über seine Haut.
„Was machst du da?“, fragte Geroh, „Es wird kalt...“
„Ich dachte du schläfst“, entgegnete Rion ihn und entzündete seine Zigarette.
„Kannst du das wirklich?“, wollte er wissen, „Im dunkeln sehen meine ich“
„Wie kommst du darauf?“, wunderte Rion sich.
Geroh seufzte: „Es stimmt also“
„Es ist geheim“, bat Rion ihn mahnend.
„Wer bist du?“, fragte Geroh verwirrt, „Bist du überhaupt ein Mensch?“
„Ich bin doch ein Held...“, erinnerte Rion ironisch, „Was glaubst du, was ich alles kann“
„Gut, dass ich keiner bin“, war er erleichtert und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand.
Rion lehnte den Kopf gegen die Wand und stieß den Rauch aus.
„Das ist ungesund“, murmelte Geroh, „Ich hab mal gehört, dass man davon sterben kann“
Rion blickte zu ihm herüber: „Und bei Maideyas kleinem Abenteuer nicht? Das ist viel gefährlicher“
Geroh schwieg.
„Ich muss noch mal weg“, sagte er kurz.
„Hauptsache du machst das Fenster zu“, bat er im Halbschlaf.
Rion nickte und schloss das Fenster. Dann machte er sich auf den Weg.

Es war eine ruhige Nacht. Alle Straßen waren leer und verlassen. Rion griff nach dem hauchdünnen Dietrich, den er im oberen Bund seiner Unterhose versteckte und verschaffte sich so Zugang zu einer kleinen Boutique in einer der Seitengassen. Geräuschlos durchstreifte er die Regale und stellte Maideya und Geroh eine neue Gaderobe zusammen. Danach mussten noch zwei paar Stiefel eines Schusters dran glauben und seine nächtliche Shoppingtour war beendet.
Vorsichtig öffnete er die Tür zu Maideyas Zimmer und legte ihr die Sachen hin. Dann kehrte er zu Geroh zurück und legte sich ins Bett.

„Rion! Geroh!“, riss Maideyas liebliche Stimme sie aus dem Schlaf.
Müde blickten die Jungs sie an.
„Bist du das?“, wunderte Geroh sich, „Warum hast du schwarzes Haar?“
„Das ist doch nur Asche“, beruhigte sie ihn.
Die Jungs quälten sich aus dem Bett und packten ihre Sachen. Maideya setzte sich auf den kleinen, runden Tisch und wartete geduldig.
„Rion...“, begann sie plötzlich, „Woher wusstest du welche Kleidergröße ich habe? Das hab ich dir doch gar nicht verraten...“
„Augenmaß“, antwortete er kurz und zwinkerte zu Geroh herüber.
„Wow“, staunte sie anerkennend, „Du bist voller Überraschungen. Wir sollten die alten Sachen unbedingt mitnehmen. Babeth, die Wirtin, ist immer so freundlich. Ich will nicht, dass sie wegen uns ärger bekommt“
Nachdem Geroh sich umgezogen hatte und Maideya ihr Buch und die alten Sachen verstaut hatte, gingen sie zusammen zum Ortsausgang.
„Wir warten in der Hütte“, erinnerte sie ihn, „Viel Glück...Rion“
„Passt ihr lieber auf euch auf“, entgegnete er und machte sich auf den Weg in Richtung Norden.
„Ob er es schafft?“, fragte sie Geroh besorgt.
„Er ist doch dein Held...“, grinste Geroh, „Zweifelst du daran?“
„Nein!“, sagte sie energisch, „Ich weiß, dass er es schafft“
„Komm...“, bat Geroh sie.

5. Akt: Das grüne Auge


Rion war unterdessen schon gut eine Stunde lang dem wirren Flusslauf gefolgt, der zu den Bergen am Horizont führen sollte. Es war kurz vor Mittag.
„Sie sind noch weiter entfernt als ich dachte“, murmelte Rion und legte an Tempo zu, „Da denkst du: Hey, gleich hast du´s geschafft. Aber weit gefehlt, Kumpel“
Gut eineinhalb Stunden später erreichte er endlich ein großes Gewässer, dass Maideya ihm als den Bergsee beschrieben hatte. Bis er allerdings den Wasserfall erreichte, vergingen noch einige Minuten. Zu hören war sein Rauschen jedoch schon seit fast einer Stunde. Es war ohrenbetäubend laut. In hohen Fontänen spritzte das Wasser um sich und schäumte beim zusammentreffen mit dem See auf. Nur ein paar Enten schwammen ihre Bahn im unruhigen Wasser. Neben dem Wasserfall entdeckte Rion einen hohen, schmalen Felsspalt. Aus seinem inneren wehte ein ganz schwacher Wind heraus. Mühsam quetschte Rion sich durch die Felsspalte. Dabei traf der Strahl des Wasserfalls seine linke Schulter und drückte ihn mit seiner Kraft leicht weg. Er war froh endlich hindurchgeschlüpft zu sein. In dem hohen Höhlenraum erwartete ihn bizzar geformtes Gestein, ein paar grüne Pflanzen und ein kleiner Teich am westlichen Ende der Felswand.
Rion atmete tief durch und blickte in den Teich hinunter. Alles war still. Das Wasser ruhte ohne jede Regung. Über ihm lag ein breiter, offener Spalt durch den er den wolkenlosen Himmel sehen konnte. Die Strahlen der Sonne brachen hinein und fielen auf die Wasseroberfläche.
„Die Strahlen der Sonne durchbrechen die Wasseroberfläche bis auf den Grund ohne ihre Spuren darin zu hinterlassen“, erinnerte er sich an eine alte Weisheit und strengt seine Augen noch weiter an.
Doch auf dem Grund schimmerte nichts grün. Es lagen nur ein paar graue Steine herum.
„Es muss das falsche Gewässer sein...“, überlegte er und beschloss nachzusehen.
Er ließ sein Schwert am Ufer liegen und glitt vorsichtig ins eisige Wasser: „Ist das kalt! So ein mist...“
Er verzog das Gesicht und tauchte zum Grund hinunter. Da entdeckte er ein Loch in der Wand und tauchte hindurch.
„Es ist länger als es aussah“, dachte er sich und die Luft wurde knapper.
Schnell schwamm er zur Oberfläche herauf. Erleichtert schnappte er nach Luft und ließ den Blick kreisen. Die Wände müssen sehr dick sein, so weit wie sein Weg durch den Unterwassertunnel war. Hier hörte er das Getöse des Wasserfalls noch lauter als zuvor.
„Ich muss direkt hinter dem Wasserfall sein“, kombinierte er folgerichtig und zog sich aus dem Wasser. Nach einem schmalen Gesteinsteg folgte ein größerer See mit tiefdunklem Wasser.
Rion verdrehte die Augen und sah hinunter. Erst nach und nach konnten seine guten Augen die Schatten unter der Wasseroberfläche durchdringen. Da sah er kurz etwas aufblitzen.
„Das grüne Auge“, erkannte er sofort und die Erleichterung war ihm deutlich anzumerken.
Er atmete kurz tief durch und sprang dann ins Wasser. Während er immer tiefer tauchte, bemerkte er wie sich das Wasser aufzubäumen schien. Die Bewegungen schienen ihm schwerer zu fallen. Rion schüttelte die Gedanken ab und strengte sich mehr an. Da blitzte es vor ihm wieder auf. Grell und giftgrün. Entschlossen machte er kräftigere Züge. Endlich hatte er es erreicht und streckte seine Finger danach aus. Kaum hatte er es berührt, da öffneten sich vor ihm ein feuerrotes Augenpaar. Erschrocken riss er an dem funkelnden, grünen Ding und es flutschte aus dem glatten, aaligen Ding indem es zuvor steckte. Rion steckte es unter sein Hemd und schoss so schnell er konnte an die Oberfläche. Völlig außer Atem schnappte er nach Luft und wischte sich die schweren Strähnen aus dem Gesicht um sich orientieren zu können. Kurz darauf sah er neben sich ein schwarzes Ding aus dem Wasser schießen. Rion nahm den grünen, leuchtenden Gegenstand aus seinem Hemd und stieg aus dem See. Doch plötzlich schlang sich etwas glitschiges um sein rechten Bein und zog ihn zurück. Vor Schreck ließ Rion das Grüne Ding, welches sich als eine Art Edelstein entpuppte fallen. Es rollte über den Boden in den kleinen Teich hinein. Mit einem weiteren Ruck riss der Fangarm Rion zu sich ins Wasser. Erst jetzt erkannte er das Monster von dem Maideya gesprochen haben musste.
„Die Kreatur, die das Auge bewacht“, erinnerte er sich an ihre Warnung aus dem Buch.
Er sah in das affenähnliche Gesicht einer Riesenkrake mit acht Armen. Zu seinem Pech hatte sie jedoch auch ein riesiges Maul mit vielen, kleinen, spitzen Zähnen, die wie Messer blitzten.
„Messer!“, schoss es ihm durch den Kopf. Schnell wich er einem weiteren Fangarm aus, zog sein Wurfmesser und stach es in den Tentakel. Zuckend ließ der Arm von ihm ab. Einem nächsten ausweichend rettete er sich ans Ufer. Schnell atmete er durch. Sein Körper fühlte sich erschöpft und schwer an. Das Herz raste. Sein Blick war vernebelt.
„Ich muss hier raus“, sagte er sich und mahnte sich somit zur Eile. Neben ihm schlug einer der Fangarme hart zu Boden. Rion rollte sich blitzschnell seitlich weg. Kaum hatte er sich aufgerichtet, da musste er dem Nächsten im Sprung ausweichen. Der Tentakel raste mit voller Wucht gegen das Gestein und schlug eine Delle in die Felswand. Von der Decks rieselte feiner Steinstaub und kleine Brocken fielen zu Boden.
„Raus hier!“, beschloss er und hechtete sich in den Teich um im aufgewühlten Wasser nach dem Stein zu suchen. Als er ihn endlich hatte, schnellte schon der erste Arm nach ihm.
„Blödes Vieh!“, fluchte er genervt und rettete sich in den Tunnel. Kaum war er darin, schlugen die Fangarme gegen die Wände und vergrößerten in erschreckendem Tempo das Loch. So quetschte es sich mühevoll durch den Tunnel hindurch.
Rion hatte ihn hinter sich gelassen und erreichte das rettende Ufer. Da er das Monster in der Tiefe schon erblickte, wollte er den Stein zu seiner Waffe rollen um ihn in Sicherheit zu bringen, doch da griff ein Noppen des Fangarms nach dem Stein und riss es ihm weg. Rion tauchte ihm nach und griff auf der anderen Seite nach dem länglichen Stein. Da es stärker war und ihm der Stein ständig entglitt stach er mit dem Messer wieder in den Arm der seltsamen Krake mit dem Affengesicht. Wütend griff es nach seinem Arm und quetschte ihn so fest es konnte. Rion ließ vor Schmerz sein Messer fallen und versuchte sich aus dem festen Griff zu winden. Er nahm den Stein zwischen die Zähne und griff nach seinem Dietrich. Fast blind vor Schmerzen stach er auf das Monster ein. Es ließ von ihm ab und wich aufkreischend zurück. Die hohe, helle Stimme schmerzte in Rions Kopf. Er griff schnell sein Messer und zog sich ans Ufer. Sein Arm war rot und blau und er brannte furchtbar. Mit schmerzverzehrtem Gesicht steckte er den Stein in eine der Taschen an seiner Hose und nahm sein Schwert. Dann trat er zum See herüber. Es tat sich jedoch nichts.
„Ich hoffe es ist geflohen...“, schickte er ein Gebet mit samt der Hoffnung in den Himmel und steckte seine Waffen weg. Da zischte ein weiterer Fangarm aus der stillen Tiefe auf ihn zu. Rion zog sein Schwert und durchtrennte ihn so schnell, dass er es erst merkte, als eine dünne Spur kühlen Blutes auf sein Gesicht tropfte. Das Monster verschwand nun endgültig und zog eine Blutspur hinter sich her.
Rion blieb erleichtert zurück und sah auf die Klinge hinunter. Sie hatte nicht einen Spritzer abbekommen.
„Das ist Magie“, war er sich sicher, „Du musst ein magisches Schwert sein“
Schnell machte er sich auf den Rückweg und mühte sich durch die Steinspalte nach draußen. Dort, wo der See sich in die einzelnen Flussarme teilte, blieb er kurz stehen um zu verschnaufen und nahm den etwa sechzehn Zentimeter langen Stein zwischen Daumen und Zeigefinger. Im Licht der Sonne sah Rion, dass der Stein gar nicht grün war. Es war noch nicht mal ein richtiger Stein.
„Es sieht aus wie eine Flüssigkeit in einem Glasfläschchen“, fand Rion bei näherer Betrachtung und beschloss es lieber wieder einzustecken.
Erleichtert die erste Aufgabe erledigt zu haben legte er sich ins Gras und ließ seinen angespannten Körper kurz zur Ruhe kommen. Erst dann machte er sich auf den weg zu Geroh und Maideya.
„Sie sagte hinter der Stadt im Wald...oder?“, versuchte er sich zu erinnern.
Sein Arm schmerzte noch immer. Er konnte nicht mal sein Schwert halten. Obwohl es leicht wie eine Feder war.

Nach einem langen, Kräfte zehrenden Marsch hatte Rion die Städte Chirinth und Marogan hinter sich gelassen. Endlich stand er vor den dichten, dunklen Wäldern im Osten des Kontinents. Rion nickte sich selbst zu und betrat ihn vorsichtig. Laub und Äste knarrten und knackten unter seinen Stiefeln. Die Kleidung war noch immer klamm und feucht. Der kühle Abendwind überzog seine Arme mit einer leichten Gänsehaut. Über den Baumkronen flog eine aufgebrachte Schar Vögel hinweg. Der Wald schien ihm sehr belebt zu sein. Überall fand er die Spuren von kleinen Tieren. Nussschalen, angebissene Früchte und Eckern. Im matschigen Boden konnte er sogar die Abdrücke von Wolfstapsen erkennen. Rion freute sich jedoch eher darüber als dass er sich fürchtete.
Nach stundenlanger Suche fand er sie schließlich. Eine unscheinbare, kleine Holzhütte mit Reetdach. Froh es gefunden zu haben klopfte er gegen die stabile, dunkle Holztür und wartete. Es vergingen gut fünf Minuten und er begann sich leicht verarscht zu fühlen, als sie sich dann doch einen winzigen Spalt weit öffnete.
„Ja? Wer ist da?“, fragte eine heisere Männerstimme.
„Ich bin´s Rion. Maideya und Geroh warten auf mich“, antwortete er eilig.
„Rion...“, wiederholte der Mann und schien zu überlegen.
„Warum lassen sie mich nicht einfach rein?“, schlug er vor, „Es ist kalt und ich bin todmüde“
„Ja...komm nur herein“, nickte er und ließ die Tür offen stehen, „Aber zieh deine Schuhe aus!“
Rion verdrehte die Augen und schloss die Tür schnell hinter sich. Im Haus selbst war es jedoch auch nicht viel wärmer als draußen. Er rieb sich leicht über die Arme und schritt über den knarrenden Holzboden. Sogar die Wände waren nur mit einfachen Holzlatten ausgekleidet. Alles zusammen vermittelte ein trostloses, wenn gleich harmonisches Bild.
„Rion“, freute Maideya sich und kam ihm entgegen, „hast du es?“
„Logisch“, grinste er etwas müde und übergab ihr den seltsamen Gegenstand.
„Komm erst mal rein“, bat sie und nahm es ihm zu seiner Überraschung nicht ab.
Verwundert folgte er ihr.
In der Stube, einem viereckigen, breiten Raum in dessen Mitte ein stabiler, rustikaler Ebenholztisch mit filigranen Verzierungen stand saß Geroh bei reich gedecktem Tisch und schlug sich den Bauch voll. Rion musste sich aufgrund des amüsanten Bildes das Lachen verkneifen.
„Rion ist zurück“, machte sie ihn darauf aufmerksam.
„Hallo“, schmatzte Geroh kurz und griff noch ein Stück Braten.
„Setz dich“, bat der ältere Herr und nahm selbst in einem hölzernen Schaukelstuhl, der vor einem großen Kamin stand platz.
Rion nickte ihm zu und setzte sich auf einen der ebenfalls in Ebenholz gehaltenen Stühle. Es war sehr hart und unbequem.
„Ich mache dir einen Tee“, schlug Maideya vor und verschwand in die Küche.
Der alte Mann mit dem schütteren, grauen Haar legte eine braune Wolldecke über seine Beine. Seine knochigen, langen Finger griffen nach der dunklen Pfeife auf dem runden Beistelltisch. Genüsslich entzündete er sie und zog daran. Dann trafen seine schmalen, wachen, grauen Augen Rions und er fühlte sich leicht unbehaglich dabei.
Einen Moment sahen sie sich still an. Dann nickte der Mann und schloss die Augenlider.
Rion wandte sogleich den Blick ab.
„Was war das für ein komisches Gefühl...?“, fragte er sich und sah nochmals zu ihm herüber.
„Mein Name ist Kentry“, sagte er plötzlich und völlig unaufgefordert, „Egidius Kentry. Ich bin ein pansionierter Mythenforscher. Den Rest meines Lebens widme ich nur noch der alten Kultur der Xixonier und ihrer verlorenen Sprache“
Maideya kam aus der Küche zurück und goss den heißen Tee ein: „Mr. Kentry ist ein Experte auf seinem Gebiet“
Er schmunzelte ob ihrer Bewunderung für ihn: „Du übertreibst mein Kind. Auf diesem umfassenden Gebiet bin ich doch nur ein Unwissender wie wir alle“
Sie schüttelte den Kopf und setzte sich zu ihrem Teller. Rion wärmte seine Hände an der Tasse und rollte das grüne Auge zu ihr herüber.
„Das ist es also“, meinte sie kurz und hielt es unter das Licht des mit Kerzen versehenen Leuchters an der Decke.
Kentrys Augen blitzten auf: „Zeig es mir mal herüber Kind“
Maideya stand sofort auf und übergab es. Rion musterte ihn kritisch.
„Ja...“, staunte der alte Mann und kniff die Augen mit den buschigen Brauen noch weiter zusammen, „Wahrlich meine Kleine, dass ist das grüne Auge vom Bergsee“
„Und, was ist das?“, wollte Rion wissen.
Er warf ihm kurz einen empörten Blick zu: „In diesem Kristall, der eine ähnliche Beschaffenheit hat wie Glas befindet sich ein gefährliches Nervengift“
„Ein Nervengift...“, wiederholte er fassungslos und erinnerte sich daran, wie er es beim Kampf kurzzeitig zwischen den Zähnen hatte.
„Sehr richtig“, fuhr Kentry fort, „Ein Tropfen genügt um einen Menschen zu töten. Es greift das Gehirn an, dann die inneren Organe und zum Schluss das Herz. Es ist eine taktische Waffe“
„Wann merkt man, dass man vergiftet wurde?“, fragte Rion nach.
„Nun...das merkst du sofort“, lachte er.
Rion war sichtlich erleichtert und lehnte sich im Stuhl zurück.
„Gib mir bitte das Buch“, bat er Maideya.
Er schlug es vorsichtig auf und begann weiter zu lesen.
„Ah...“, machte er nach einiger Zeit, „Es heißt hierin: Was winzige Hände fein gesponnen ruht in der unsichtbaren Stadt die ewig schläft. Nur der Mondschatten vermag es zu entschlüsseln“
„Was ist ein Mondschatten?“, wunderte Rion sich, „Können sie damit etwas anfangen?“
„Natürlich“, murmelte Kentry, „Ich bin nicht nur Forscher, sondern auch Mystiker wie ich schon erwähnte“
„Worum handelt es sich“, war er neugierig.
„So lass mich doch aussprechen“, mahnte der alte Mann und zog erst einmal an seiner Pfeife, „Dass die Jugend von heute es immer so eilig hat“
Rion machte eine beruhigende Geste und beschloss lieber seinen Tee zu trinken.
„Nun“, blickte Kentry zu ihm herüber, „Merk es dir gut, denn ich sage es nur einmal. Jenseits des Städtedreiecks, in dessen Mitte der Xixonsee liegt, gibt es einen schmalen Pfad durch die Klippen am Westende des Kontinents. Am Tag toben dort die Wellen des Xixonischen Meeres, doch in einer lauen Mondscheinnacht gibt das Meer ein verschlucktes Dorf preis. Dieses Dorf ist durch einen natürlichen Wall mit einer Insel verbunden, die eigentlich in den Tiefen des Meeres begraben liegt. Doch im Mondschatten des Dorfes liegt sie frei. Auf dieser kleinen Insel liegt die Ruinenstadt oder auch die Stadt der Verdammten. Im Kellergewölbe eines Hauses wartet ein vergessenen Material auf den glücklichen Finder. Die Silbermythrilseide“
Rion lauschte atemlos und versuchte sich das wichtigste zu merken.
„Dir bleibt beim Erscheinen der Insel nur gut eine Stunde“, warnte er ihn, „Die Naturgewalten machen keinen Unterschied zwischen tot und lebendig...“
„Okay“, entgegnete Rion, „Ich hab´s verstanden“
„Verstehen reicht manchmal nicht aus“, seufzte Kentry, „Du musst es verinnerlichen“
Rion pustete gegen eine Haarsträhne vor seinen Augen und trank die Tasse Tee aus. Er schmeckte sehr bitter und schien wohl gesund zu sein.
„Iss jetzt etwas“, forderte der Alte ihn auf, „Sonst sehe ich schwarz für deine nächste Prüfung“
Rion beschloss ihm nicht zu widersprechen und nahm sich großzügig von dem mittlerweile kalten Gemüse.
„Hier“, reichte Geroh ihm den Braten.
Doch Rion winkte ab: „Nein danke, ich esse nicht gern Fleisch“
Verwundert sahen sie ihn an. Kentrys Augen wurden größer und er musterte ihn Rauch ausstoßend.
„Was denn?“, fragte er fast genervt, „Was ist so besonders daran. Ich esse nicht gern etwas, dass noch nach Tier aussieht“
„Musst du ja nicht“, meinte Maideya und räumte ihr und Gerohs Geschirr weg.
Missmutig sah Geroh ihr nach: „Hey, ich bin noch nicht fertig!“
„Vielleicht sollte Geroh gehen“, bemerkte Kentry ruhig.
Rion sah zu ihm herüber.
„Der hat nicht so eine lächerliche Hühnerbrust wie du“, fuhr er fort und schien fast wütend zu sein, „Das ist ein richtiger Mann“
„Ich habe andere Talente als nur reine Kraft“ ,meinte Rion dazu und kaute zu Ende.
„Mir scheint es fast so...“, stimmte er zu und stand auf um das Buch in sein Regal zu stellen.
Als Maideya auch sein Geschirr abräumte bat Kentry sie: „Sei so gut Kind und bring unseren Gast in sein Zimmer. Ich ertrage diese hitzköpfigen, selbstverliebten Bengel von heute nicht besonders gut. Die bilden sich immer ein alles besser zu können und halten sich für schlauer als den Rest der Welt“
„Ja, Mr. Kentry“, versicherte sie mit trauriger Stimme, „Komm Rion...“
Rion schritt an ihm vorüber zur schmalen Treppe: „Sie können sagen was sie wollen. Ich weiß was ich kann. Ich kenne meine Stärken genau“
Kentry lächelte kurz: „Weisheit und Vorsicht gehören wohl nicht dazu“
Er deutete dabei auf seinen verletzten Arm.
„Nur ein Kratzer“, behauptete Rion und folgte ihr die Treppe hinauf.
„Hochmut kommt vor dem Fall“, rief er ihm nach.
Wütend schlug Rion oben die Tür zu seinem Zimmer zu.
„Sei vorsichtig mit meinem Eigentum!“, brüllte der alte Mann entrüstet.
„Was für ein seniler Kauz“, ärgerte Rion sich und warf sich auf die schmale Matratze vor dem hohen Fenster. Der Mond schien seicht hinein.
„Er meint es nicht so“, versuchte sie ihn zu beruhigen.
„Doch!“, war er sich sicher, „Er hat es genau so gemeint“
„Eigentlich ist er ganz nett“, wunderte sie sich.
„Vielleicht kann er mich einfach nicht leiden“, entgegnete er ihr und zuckte mit den Schultern.
„Na ja.. gute Nacht...“, stammelte sie und wusste nicht recht, was sie noch sagen sollte.
„Es hat nichts mit dir zu tun, mach dir keine Gedanken um mich. Ich bin härter als ich ausseh“, grinste er, „Geh nun schlafen, wir haben eine harte Zeit vor uns“
„Ja...“, lächelte sie leicht, „Wird ich machen Rion“
Dann verschwand sie und schloss die Tür fast geräuschlos hinter sich.
Rion setzte sich auf und seufzte leise: „Sieht aus als ob der Wind sich dreht. Es kommen eisige Zeiten auf uns zu...“

6. Akt: Die Ruinenstadt



Mitten in der Nacht erwachte Rion aus seinem ohnehin schon sehr leichten Schlaf. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, dass er nur gut zwei, drei Stunden geschlafen hatte. Da er trotz allem nicht mehr müde war und auch nicht länger schlafen konnte, beschloss er an die Luft zu gehen. Als er vorhin durch den Flur ging, hatte er eine Tür bemerkt, die auf eine Art Balkon zu führen schien. Rion ging den Flur entlang durch die unauffällige, helle Tür. Kalt wehte es ihm entgegen. Es war eine sternenlose Nacht. Ein Blick in den schwarzen Himmel zeigte ihm, dass sie morgen wohl Vollmond haben würden.
„Was für ein Glück du heute wieder hast Kumpel“, dachte er sich und wusste nicht recht ob es gut oder schlecht für ihn war.
Die plötzliche Reaktion des Alten war ihm unerklärlich, er beschloss sich jedoch nicht deshalb verunsichern zu lassen. Dafür hatte er schon zu viel erlebt.
„Was tust du hier?“, erschreckte die knurrende Stimme des Alten ihn.
Rion fuhr herum: „Ich konnte nicht mehr schlafen...“
„Das meine ich nicht“, umrundete Kentry ihn kritisch in seinem weinroten Morgenmantel, „Wie bist du her gekommen?“
„Ich bin mir nicht sicher“, gab er zurück.
„Lüg mich nicht an!“, fuhr er Rion an.
Rion hob die Augenbrauen.
„Und hör auf so unschuldig zu gucken“, fuhr Kentry fort, „Was bildest du dir ein, undankbares Balg“
„Ich weiß nicht was sie für ein Problem haben...“, entgegnete Rion ruhig.
Der Alte umfasste Rions Hals und drückte ihn über das labil wirkende Geländer. Rion blickte ihn überrascht an.
„Diese Augen...“, begann Kentry und drückte fester zu, „Ich sehe keine Angst darin. Keine Reue. Nur ein dunkles, nicht zu identifizierendes Geheimnis alter Zeit“
Rion befreite sich energisch aus seinem Griff: „Was kann ich für ihre Komplexe?“
„An nichts von alle dem vermagst du dich zu erinnern“, schollt er ihn barsch.
„Nein...ich versteh nicht was sie von mir wollen“, gab Rion zu.
„Verdammt seiest du“, keuchte der Alte verbittert und seine trockenen, rauen Lippen bebten.
„Was hab ich ihnen denn getan?“, wollte er wissen.
Kentry schenkte ihm noch einen verachtenden Blick und wandte sich zur Tür.
„Ich hab sie war gefragt“, erinnerte Rion ihn und hielt ihn zurück.
In Kentrys Augen lag nur Kälte und Ablehnung für ihn.
„Was hab ich ihnen getan, dass sie mich so hassen?“, fragte er erneut.
Der Alte schnaubte: „Die Vergangenheit kann tiefste Wunden niemals heilen“
„Wir sind uns noch nie zuvor begegnet. Was kann ich ihnen also getan haben?“, beharrte er.
„Du bist ein Grenzgänger, nicht wahr?“, startete er die Gegenfrage.
„Was soll das sein?“, erkundigte er sich zweifelnd.
„Du bist kein Mensch“, erkannte Kentry, „Sieh dir doch deine Augen an. Sie scheinen völlig gewöhnlich zu sein. So blau wie der Himmel. Doch auf den zweiten Blick durchziehen dunkle Linien, gleich Mustern das unschuldige Blau. Je näher man dir kommt, je dunkler werden deine Augen, Je breiter die so feinen Linien. Bis alles sich vermischt. Du bist dem Mond näher als der Sonne...nicht wahr, Rion?“
„Dafür kann ich nichts“, verteidigte er sich, „Ich wurde damit geboren. Ich hab es mir nicht ausgesucht und kann es ja wohl nicht mehr ändern“
„Und doch bist du was du bist“, zischte Kentry, „Nicht besser als ein Monster“
Er riss die Tür auf und verschwand.
Rion blieb still zurück und atmete tief die kühle Nachtluft ein. Er lehnte sich vorsichtig über das Geländer und lauschte der Eule, die in der Ferne rief.
„Rion...“, vernahm er Maideyas zitternde Stimme.
Als er sich zu ihr drehte, glänzten ihre Augen nass im Schein des Mondes.
Langsam kam sie auf ihn zu und musterte ihn penibel.
„Mr. Kentry hat recht damit“, hauchte sie sanft, „Deine Augen verändern ihre Farbe wirklich...“
„Ja“, sagte er nur kurz dazu und wandte sich wieder der Nacht zu.
Sie kam zu ihm herüber und legte ihre kleine Hand auf seine: „Es tut mir leid. Wenn ich es gewusst hätte, dann hätte ich dich nicht hier her geschickt“
„Das ist nicht deine Schuld“, beruhigte er sie.
Sie nickte kurz und eine Träne rann über ihre Wange.
„Nicht doch...“, bat er sie und wischte die Träne mit dem Daumen weg, „Es hat nichts mit dir zu tun“
„Das alles hier ist meine Schuld“, erkannte sie.
„Niemand kann es ändern, also ist es doch egal“, grinste er, „Weißt du, Helden können so was ab“
„Du hast recht“, lächelte sie erleichtert, „Trotzdem...“
Er schüttelte den Kopf: „Vergiss es“
Sie seufzte tief und ging zur Tür zurück: „Ich wollte dir nur sagen, dass Mr Kentry unrecht hat. Du bist kein Monster. Du bist der wundervollste Mensch, den ich kenne...“
„Ich bin irgendetwas dazwischen“, entgegnete Rion, als sie durch die Balkontür verschwand, „Weder schwarz noch weiß. Ich bin nur ich und niemand sonst“
„Schlaf schön...“, bat sie als sie die Tür schloss.

Rion beschloss keine Zeit zu verlieren und packte seine Sachen. Auf Zehenspitzen schlich er die Treppe hinunter und durch den Flur. Als er gerade seine Stiefel schnürte, hörte er Schritte hinter sich. Vorsichtshalber griff er nach seinem Schwert und zog die Klinge ein paar Millimeter heraus.
„Das ist es also...“, bemerkte Kentry.
Die Anspannung wich aus Rions Körper: „Ich hab es beim Heiligtum gefunden, als ich gegen eine Riesenechse gekämpft habe. Aber das glauben sie mir ja eh nicht“
„Das schon, denn ich weiß es“, musste Kentry gestehen.
Rion ließ sich die Überraschung nicht anmerken: „Wow, dass is ja mal ein Wunder“
„Arroganter Kerl. Ich hab schon Leute sterben sehen, die deutlich mehr Muskeln hatten als du“, ärgerte er sich.
„Aber die sind tot und ich bin noch da“, entgegnete Rion kurz.
„Noch“, betonte der Alte, „Bei der Einstellung aber sicher nicht mehr lange“
„Was wissen sie schon über mich“, murmelte Rion und schnürte seine Schuhe zu Ende, „Ich bin nur Ehrlich und damit nicht mal halb so arrogant wie sie“
„Pah“, machte er verächtlich und ging in seine Stube zurück.
Rion zuckte mit den Schultern und machte sich auf den Weg zu den Klippen im Westen.

Er erreichte sie erst am frühen Abend. Nach kurzer Zeit hatte er den schmalen Pfad gefunden von dem Kentry gesprochen hatte. Da es jedoch noch früh war, beschloss er sich etwas auszuruhen und auf die Nacht zu warten.
Die Stunden zogen sich wie Kaugummi und Rion wünschte er hätte etwas zu essen mitgenommen.
Nach quälenden Stunden erhob sich dann jedoch der Mond über das wilde Meer und die ersten Konturen des besagten Dorfes wurden vom Meer freigegeben. Rion sprang auf und beobachtete das Schauspiel des sich teilenden Gewässers mit dem gebührenden Staunen.
„Es ist also nicht nur eine alte Legende“, freute er sich und ging vorsichtig hinunter zu dem geisterhaften Fischerort.
Es war ein gefährlich steiler Weg voller Felsklippen und spitzer Steine. Rions Hände und Finger schmerzten als er unten ankam und durch den schweren, nassen Sand stapfte. Das meiste der Hütten hatte das Meer mit sich genommen. Nur noch vereinzelte Baracken und Rohbauten waren geblieben. Eilig balancierte er den schmalen Wall den das Meer preis gab entlang und mühte sich nicht ins Meer zu fallen. Vor ihm lag eine undurchsichtige Nebelwand. In ihm stieg ein ungutes Gefühl auf. Zögernd setzte er einen Schritt in den Nebel vor ihm. Alles verschwamm vor seinen Augen. Er konnte weder seine Füße noch den Wall unter sich sehen. Fast atemlos lauschte er der Stille und konzentrierte sich ganz auf sich und die Schritte. Erst als der Wall endete und der Sand unter seinen Stiefeln knirschte, lichtete die milchige Wand sich und gab ein bedrückendes Bild. Tiefschwarze Ruinen ragten aus dem verwehten Sand heraus. Alles war voller Schnecken, Seetang, Algen und Krebsen. Vorsichtig stieg Rion über die kleinen Kriechtiere herüber. Am Nordende der Insel befand sich etwas abseits der übrigen Gebäudereste eine Art rundliches Haus. In seiner Mitte führte ihn eine Steintreppe voller Tang nach unten in ein dunkles Gewölbe.
„Ich habe nicht lange Zeit“, rief er sich ins Gedächtnis und betrat die uralten Stufen.
Sie waren glitschig und nass. Fast war er unten, da rutschte er auf einer der Stufen aus und fiel die übrigen fünf hinunter. Seufzend richtete er sich auf und wischte den geeligen Algenschleim von seiner Hose. Vor ihm lag ein verwinkelter Gang. Ein unterirdisches Gewölbe. Rion beschloss auf eine Fackel zu verzichten, da er auch so im dunkeln sehen konnte. Nach einigen Gängen von denen manche nur in eine Sackgasse führten, erreichte er eine kleine Betonkiste mit Steindeckel. Mühevoll versuchte er den Deckel zu verschieben, doch er rührte sich nicht. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und zog sein Schwert. Mit einem kräftigen Schlag durchtrennte die Klinge mühelos den Stein.
„Von wegen nur mit Muskeln“, grinste er stolz, „Der Mann von heute nutzt sein Köpfchen“
In dem steinernen Kasten lag ein unscheinbares, kleines, silbern glänzendes Knäuel. Rion nahm es auf und steckte es in eine seiner Taschen an der Hose und machte sich schnell auf den Weg zurück. Vor sich hörte er schwere, stolpernde Schritte. Gefolgt von einem kreischenden Kratzen, dass in den Gängen dröhnte. Rion rieb sich die Schläfe und rannte in Richtung der Treppe. Fast hatte er den Vorraum erreicht, da traten ihm aus dem Kreuzungsgang her vier Skelette in den Weg.
Rion grinste leicht: „So ein nettes Empfangkomitee wäre doch nicht nötig gewesen...“
Er zog sein Schwert und zerlegte sie mit jeweils einem Schlag in ihre Einzelteile. Doch kaum hatte er sie besiegt, standen sie wieder auf.
„Ich wusste, dass die Sache einen Hacken hat“, murmelte er und schlug die zwei vor ihm mit gezielten Schlägen nieder.
Als sie zerfielen, sprang er mit einem Salto darüber und rannte zur Treppe. Kaum hatte er die Mitte der Stufen erreicht, da riss ihn etwas herunter. Im nächsten Moment begriff er erst, dass er an der Südwand neben der Treppe hing. Ein riesiges, breites Schwert hatte sich durch den Stoff seines Shirts gebohrt und nagelte ihn so an die kalte Steinmauer.
„Na toll...“, dachte er sich und spürte wie die Zeit verstrich, „Du hast keine Zeit hier herumzuhängen“
Er nahm sein Messer und hielt sich mit der anderen Hand am Griff des Riesenschwerts fest. Dann schnitt er sich los und schwang sich auf die Klinge, der seitlich in der Wand steckenden Waffe. Vorsichtig balancierte er darauf. Es gab nicht nach, also war es stabil genug. Da begann die Erde leicht zu beben. Rion versuchte angestrengt aufrecht stehen zu bleiben, rutschte jedoch ab und hing nun wieder am Griff. Mit aller Kraft zog er sich hoch. Vor ihm türmte sich eine riesenhafte Kreatur auf. Sie schrie furchtbar schrill und ihr eines Auge suchte wie ein Scheinwerfer nach ihm.
„Ein Zyklop“, erkannte Rion sofort und sprang schnell vom Schwert auf die Treppe zurück. Hart stieß er auf den glitschigen Stein. Wütend riss die Kreatur sein Schwert aus der Wand und schlug nach ihm. Rion duckte sich weg und er schlug ein Loch in die Stufen.
Rion sah ihn anerkennend an und beschloss schnell das weite zu suchen. Das riesige Schwert riss die Stufen unter ihm weg.
„Ich hasse den Job“, dachte Rion sich, als er zur oberste Stufe sprang und sich in die Stadt rettete.
Doch dort bat sich ihm der Blick auf eine noch größere Gefahr. Das Wasser kehrte langsam zurück. Hinter ihm kam der Zyklop aus dem Kellergewölbe und zerschlug die Säulen, die das Gebäude stützten. Erst jetzt sah Rion, dass es überall nur so von Skelettkriegern wimmelte.
„Was für ein beschissener Tag...“, fluchte er.
Den halbtoten Kriegern ausweichend rannte er so schnell er konnte zum Wall.
Er hatte gerade ein paar Schritte auf dem sicheren Weg nach draußen gemacht, da bebte die Erde erneut und er rang angestrengt um seine Balance.
„Hartnäckig was?“, rief er dem Monster zu, „So toll find ich dich auch nicht, dass ich alle Ewigkeit mit dir verbringen will“
Rion rettete sich halbblind durch den verwirrenden Nebel. Die Kreatur folgte ihm noch immer.
„Ich darf ihn nicht mit an Land lassen“, schoss es ihm durch den Kopf und so blieb ihm nichts anderes übrig als sich ihm im Kampf zu stellen.
Wütend aufschreiend schlug er das Schwert zu Boden und brach ein Loch in den Wall.
„Spinnst du?“, fuhr Rion ihn erschrocken an, „Lass den Wall heile du Idiot!“
Plötzlich kam Rion die rettende Idee, als er die Silbermythrilseide in der Hand fasste. Er zog blitzschnell eines seiner Wurfmesser und seufzte: „Du warst echt ein guter Kumpel...all die Jahre“
Er küsste die Klinge sanft und schleuderte es in das Auge des Zyklopen. Schmerzhaft kreischte er auf und schlug um sich. Rion rannte um ihn herum und fesselte seine Beine mit der Seide, deren Garn nicht breiter war als der Fanden eines Spinnennetzes. Es war jedoch sehr viel robuster. Mit einem heftigen Ruck holte er das Monster von den Beinen. Als es strauchelte, trennte Rion den Faden mit seinem Schwert und es stürzte ins Meer. Das löste jedoch eine Welle aus, die Rion nicht mit eingerechnet hatte. Er verstaute noch die Seide sicher, bevor die Welle ihm bedrohlich nah war. Reflexartig schützte er sich mit der Klinge. Sie schnitt das Wasser und die Welle teilte sich vor ihm. Er bekam nur ein paar Spritzer ab. Erst die eisige Kälte des Wasserspiegels, der bereits seine Schuhe erreicht hatte mahnte ihn zur Eile. Stolpernd rettete er sich schließlich an das sandig, feuchte Ufer des geheimnisvollen Dorfs. Rion wusste jedoch, dass es nicht allzu lange dauerte, bis das Meer auch diesen Ort überspült hätte. So blieb ihm keine Zeit zu verschnaufen.
Als er seine zitternden, leicht einknickenden Beine langsam aufstellte, griff eine kräftige, grobe Hand nach ihm.
„Geroh“, hoffte er, doch ein Blick in das vernarbte, bärtige Gesicht mit den hinterlistigen, schwarzen Augen sagte ihm, dass es nur Wunschdenken war.
„Na mein Junge, was gefunden in der toten Stadt?“, fragte der finstere Mann und riss ihn hoch.
„Skelettkrieger und einen Zyklopen“, antwortete Rion ihm und ging an ihm vorrüber.
„Und der Schatz?“, wollte er wissen.
„Ich weiß nicht was du meinst“, behauptete Rion, „Ich lebe noch, das reicht mir“
„Ich weiß, dass du es weißt“, beharrte er.
„Was bist du überhaupt für einer?“, wollte Rion wissen.
„Ganz schön neugierig für einen kleinen Dieb“, lachte er, „Ich bin Xinteon, der Wächter von Xixons Schatz“
„Ach du scheisse“, dachte Rion sich und meinte: „Gut, ich sag dir, wenn ich was finde...“
Seine schwarzen Augen musterten ihn. Sie blieben an seiner Hose hängen und rissen ein Loch in die Tasche. Die Seide fiel heraus und rollte durch den Sand.
„Dreckiger, kleiner Lügner“, knurrte der Wächter und nährte sich ihm.
„Rion...“, stellte er sich vor und griff nach der Seide.
Kaum hatte er das getan, da hatte Xinteon seine Schaufelblatt große Hand um Rions Hand gelegt und drückte kurz zu. Rions Finger wurden leicht auseinander gedrückt und er ließ den Gegenstand fallen.
Xinteon ließ ihn los und nahm die Seide an sich: „Lächerlicher, kleiner Mensch“
Dann schritt er auf das Meer zu.
„Ich bin kein Mensch“, erwiderte Rion und schleuderte seinen Kukri wie einen Boomerang.
Dieser schlug sie ihm aus der Hand und sie stürzte ins Meer. Rion sprang ihr schnell nach und steckte sie unter sein Hemd.
Kaum hatte er die Oberfläche erreicht, da griff Xinteon nach ihm und warf ihn in den nassen Sand vor dem Dorf. Die Wellen hatten es fast erreicht. Rion lief die Zeit davon. Er zog sein Schwert und stürmte auf ihn zu, doch die Klinge glitt durch ihn hindurch.
„Und was jetzt du Wurm?“, lachte er mit tiefer Stimme.
„Warts ab...“, keuchte Rion und sah sich um.
Ein leichtes Grinsen huschte über seine Lippen. Dann rannte er los und kämpfte sich den steilen Hang hinauf. Ruhig stapfte Xinteon ihm nach und lachte so laut, dass die kleinen Steinchen über den Boden hüpften. Völlig aus der Puste zog er sich die Klippen hoch. Xinteon dagegen schien ihm noch frisch zu sein. Xinteon baute sich auf und schlug mit der Faust in seine andere Hand: „Gib auf, du hast keine Chance. Gib mir den Schatz zurück!“
Rion fasste sein Schwert fest und versuchte seinen Schlägen so gut es ging auszuweichen. Seine alte Verletzung meldete sich wider zurück und bereitete Rion zusätzliche Sorgen. Doch ein Blick hinunter auf das Dorf zeigte ihm, dass die Zeit auf seiner Seite zu sein schien. Endlich verschwand es in den Tiefen des Meeres. Der Mond glitt hinter eine bedrohliche Wolkendecke.
„Schluss mit dem Mondschatten“, triumphierte Rion und stach ihm sein Schwert durch den Körper.
Fassungslos starrte Xinteon ihn an. Dann sackte er auf die Knie und fiel tot zu Boden. Rion nahm sein Schwert und machte sich auf den Rückweg. Nach ein paar Schritten blickte er ein letztes Mal zurück. Das Meer lag ruhig und friedlich vor ihm.

7. Akt: Kentry´s Geheimnis



Erschöpft schleppte er sich durch den Wald bis zur Hütte. Es war schon längst Mittag, als er seine schweren Stiefel an der Tür auszog und auf dünnen Socken in die Stube kam.
„Rion!“, freute Maideya sich, „Setz dich, ich hab Tee gemacht“
Überrascht hob er eine Augenbraue.
„Ich hab es irgendwie gespürt, dass du kommst“, fuhr sie fort, „Mädchen haben Talent dazu...“
„Sicher“, zweifelte er und ließ sich erleichtert auf einen der Stühle fallen.
Als sie mit dem Silbertablett kam, zog er die Silbermythrilseide aus der Tasche und schob sie zu ihr herüber.
„Die ist wunderschön“, bewunderte sie das feine Garn in ihren Händen.
„War ein Kinderspiel“, behauptete Rion und nippte am Tee und lenkte schnell ab, „wo steckt eigentlich Geroh?“
„Der liegt draußen im Grass und sonnt sich“, entgegnete sie ganz selbstverständlich.
„Er sonnt sich...“, wiederholte er nicht glauben wollend, was er da hörte.
Sie zuckte mit den Schultern: „Ja, ich denke schon“
„Das Leben ist so unfair...“, dachte er bei sich und stützte den müden Kopf mit der Hand.
„Willst du dich nicht ausruhen?“, fragte Maideya als sie in der Küche verschwand.
„Wollen schon, aber ich kann am Tag nicht gut schlafen“, antwortete er ihr, „Ich geh aber trotzdem hoch und versuche es“

Nachdem er ein paar Stunden nervös und wenig geschlafen hatte, gab er es auf. Er erfrischte sich im Bad mit einer kalten Dusche und ging in die Stube hinunter. Dem Klappern des Geschirrs nach arbeitete Maideya noch immer in der Küche.
„Mein Mitleid dafür, dass sie die einzige Frau hier ist...“, dachte er sich, während er sich etwas umsah.
Interessiert ließ Rion den Blick über ein uraltes Regal voller Bücher schweifen. Es handelte sich zum größten Teil um Wissenschaftliche Sachbücher, Fachbücher über Anatomie und Biologie. Ein dickes, halb zerfleddertes Buch weckte sein Interesse. Es ging darin um Mythen und übernatürliche Phänomene. Er konnte sich selbst nicht genau erklären warum, denn eigentlich glaubte er nicht an solchen Hockus Pockus. Trotzdem schlug er es auf. Auf der schäbigen Innenseite des bordeaux roten Deckels stand in verschnörkelter Handschrift:
„Das gesammelte Wissen der Welt festgehalten und für immer in dieses Buch gebannt durch die, die mehr wissen. Ich kenne die andere Seite der Seele. Auf ewig verbunden durch die Schuld des Blutes. Weder Teufel noch Engel. Weder Vernichter noch Erlöser.
Respektvollst Ihr Thadeus R. Dyne"


PS. Wir haben das Richtige getan. Für die Welt und alles Leben auf Ihr. Vergiss nie was du getan hast und wohin du gehörst Egidius“


„Es geht um Kentry...“, folgerte Rion daraus, „Schuld des Blutes? Andere Seite der Seele?“
„Wer gab dir die Erlaubnis?“, fuhr ihn Kentry plötzlich an.
Rion hatte ihn nicht mal kommen hören: „Es stand hier im Regal...“
„Das geht dich alles nichts an“, fuhr er fort, „Solche Dinge verstehst du nicht!“
„Welche Schuld des Blutes haben sie begangen?“, wollte er wissen.
Wortlos nahm Kentry das Buch an sich und hielt es fest umklammert.
„Sie sind auch nicht so unschuldig wie sie immer tun. Aber mich wollen sie wegen meiner Augen verurteilen!“, ärgerte Rion sich, „Ich hielt sie für einen armen, einsamen, senilen und verwirrten Greis. In Wahrheit sind sie noch viel schlimmer dran als ich dachte“
„Spotte nicht“, mahnte Kentry ihn, „Du bist das letzte Wesen auf der Welt das über mich spotten darf!“
„Was ist die andere Seite der Seele?“, erkundigte Rion sich eindringlich.
Kentry verschwand durch eine schmale Seitentür in einen kleinen Raum und verschloss die Tür hinter sich.

„Er hat seine Gründe“, meinte Maideya mit leiser Stimme.
Er sah sie im Türrahmen stehen: „Ja...das wird er wohl. Ich weiß nicht warum. Ich hatte einfach das Gefühl als müsste ich es wissen. Als wäre es sehr wichtig für mich mehr davon zu erfahren. Das ist seltsam“
„Sei nicht traurig Rion“, bat sie und ein sanftes Lächeln umspielte ihre roten Lippen, „Er ist ein verschlossener, geheimnisvoller Mann“
„Hat er dir mal etwas von einem Mr. Dyne erzählt?“, wollte er von ihr wissen.
Sie überlegte kurz, schüttelte aber den Kopf: „Nein, den Namen habe ich noch nie gehört“
„Und das Buch...hast du mal etwas aus dem Buch...ach wie hieß es noch... ich kann mich nicht erinnern“, ärgerte er sich, „Es ging um Mythen und Übernatürliches...“
„Nein, tut mir leid. Ich war damals noch zu klein. Ich habe nur einfache Bücher lesen können. Märchen und Kinderliedertexte“, erinnerte sie sich.
„Ich habe früher auch immer Kinderlieder gesungen. Hast du mal das Lied vom Waldschrat gesungen?“, fiel ihm plötzlich ein.
„Vom was?“, wunderte sie sich.
„Vom Waldschrat. Ein böses Monster, das im Wald wohnt und Kinder isst. Leider habe ich den Text vergessen. Es hätte ja sein können“, erklärte er.
„Du warst auch mal ein Kind?“, war sie sichtlich überrascht.
„Natürlich. Was glaubst du woher ich gekommen bin? Vom Himmel gefallen?“, scherzte er.
„Ja“, nickte sie energisch, „Ich hab es genau gesehen. Du bist vom Himmel gefallen. Helden werden nicht geboren“.
Rion strich ihr mit dem Zeigefinger die Haare aus dem Gesicht: „Was haben die dir in deinem Kloster für Mist erzählt...?"
„Ich...das verstehe ich nicht“, entgegnete sie verwirrt, „Ich bin mir ganz sicher...“
„Ist schon gut Maideya“, beruhigte er sie, „Wir sollten uns jetzt ausruhen. Morgen früh suche ich nach der dritten Substanz und dann hat der Spuk endlich ein Ende“
Sie nickte ihm zu und stapfte mit hängendem Kopf die Stufen hinauf.
„Wo bin ich hier gelandet?“, fragte er sich selbst, „Was mache ich hier eigentlich. Ich sollte doch ganz wo anders sein...“
Kurz darauf folgte Rion ihr hinauf und ging auf sein Zimmer.
„Hast du Kentry´s Buch wirklich gelesen?“, empfing Geroh ihn auf dem Bett sitzend.
„Hast du echt den ganzen Tag gepennt?“, startete Rion die Gegenfrage und schlug sein Deckbett zurück.
„Nicht den ganzen...aber was war jetzt mit Kentry´s Buch?“, beharrte Geroh neugierig.
Rion seufzte leicht: „Ja und er hat eine riesigen Szene deshalb gemacht“
„Und? Was stand da?“, hakte er nach.
Rion sah ihn überrascht an: „Warum interessiert es dich? Guck doch selbe nach“
„Haha“, sagte Geroh etwas beleidigt, „Ich kann nicht lesen“
„Wirklich nicht?“, fragte er nach.
„Nein“, gab Geroh zu, „Ich komme aus einer armen Familie in der Stadt. Meine Mutter führt ein Gasthaus und kommt davon gerade mal so über die Runden. Die Zeiten sind hart. Aber das waren sie auch schon bevor mein Vater gestorben war“
„Oh...das tut mir leid Geroh“, entgegnete Rion vorsichtig, „Du hast es schwer genug“
„Ich?“, lächelte er traurig, „Ich bin ein Nichtsnutz. Meine Mutter hat es wirklich schwer. Ich bin ihr einziges Kind. Und ein Versager“
„Sei nicht so hart zu dir selber“, bat Rion ihn und setzte sich zu ihm, „Jeder muss erst seinen Platz im Leben finden. Etwas für das er geboren ist. Das niemand besser kann als du“
„Das gibt es nicht“, meinte Geroh und ließ den Kopf hängen.
„Doch“, versicherte Rion und legte ihm die Hand auf die Schulter, „Du musst es nur finden“
„Bei dir wirkt immer alles so leicht. Du bist so anders“, seufzte er.
Rion grinste leicht und blickte aus dem Fenster: „Da draußen wartet irgendetwas oder irgendwer auf dich. Es wartet so lange, bis du es entdeckt hast. Du darfst nur nie aufgeben“
„Wenn ich es nur schon gefunden hätte“, murmelte Geroh und sah in die selbe Richtung.
„Dann würdest du dich vielleicht furchtbar langweilen“, führte er Gerohs Gedanken zu ende.
Er sah ihn mit großen Augen an.
„Ich will im Leben einfach nichts bereuen müssen“, erklärte Rion ihm und sprang auf, „Ich will sagen können. Hey Alter, jetzt hast du alles erlebt und alles gesehen. Jetzt kannst du sterben ohne es zu bereuen. Ohne dir zu sagen: Ich wollte noch so viel sehen und erleben. Doch jetzt ist es zu spät“
Gerohs Blick spiegelte Bewunderung wieder.
„Es ist doch total öde wie jemand anders sein zu wollen. Sei lieber du selbst“, riet er ihm.
„Aber ich will nicht ich sein. Ich zu sein ist das Letzte was ich will“, sagte er, „Ich wäre lieber du“
„Nein, „lachte er plötzlich auf, „Das wärst du sicher nicht gern. Du hättest nach 5 Minuten die Schnauze voll. Ich bin sicher die Leute mögen dich so wie du bist“
Geroh nickte leicht: „Mag sein...was stand nun darin?“
Rion begann die Geschichte zu erzählen und Geroh lauschte gebannt. Er sprach von der Beschaffung der Gegenstände und von der rätselhaften Widmung im Buch.

„Wow...“, murmelte Geroh, „Ich wünschte ich wäre dabei gewesen“
„Komm doch mit“, schlug er vor.
„Nein, lieber nicht. Das sagt man doch nur so, wenn etwas spannend ist. Ich bin leider nicht so mutig wie du“, wimmelte er sofort wieder ab.
„Jeder ist mutig, wenn er es sein muss“, entgegnete Rion.
„Das hat mich ganz müde gemacht“, gähnte Geroh.
„Typisch...“, bemerkte Rion und legte sich in sein Bett.
„Rion...?“, fragte Geroh nachdem das Licht schon lange gelöscht war.
Rion lag auf dem Rücken, die Hände unter dem Kopfkissen verschränkt: „Was?“
„Wie bist du darauf gekommen? Ich meine... woher weißt du immer was zu tun ist?“, wunderte er sich.
„Du denkst noch immer darüber nach?“, war er überrascht.
„Bei mir dauert alles etwas länger“, musste Geroh zugeben.
Rion musste leicht grinsen: „Ich weiß es nie so genau. Man denkt dann nicht so viel nach, weil es schnell gehen muss. Ich verlasse mich auf meine Intuition“
Geroh antwortete nicht mehr.
„Geroh?“, fragte er nach, doch Geroh gab nur noch ein rhythmisches Schnarchen von sich.
Rion schüttelte den Kopf und drehte sich um.

8. Akt: Das Zwillingsberg-Dorf



Rion erwachte durch den Gesang der Vögel. Verschlafen öffnete er die Augen und stolperte zum Fenster. Es wehte ihm eine angenehme, frische Brise um die Nase. Rion atmete sie tief ein und streckte sich. Geroh schnarchte noch, so beschloss er ihn nicht zu wecken und ging nach unten in die Küche. Maideya stand dort am Herd und machte das Frühstück. Der Duft von gebratenem Spiegelei schlug ihm entgegen.
„Hm, das riecht herrlich“, meinte er und hielt die Nase in die Luft.
„Guten Morgen Rion“, begrüßte sie ihn lächelnd.
Er erwiderte und lehnte sich gegen den hölzernen Geschirrschrank.
„Holst du bitte Wasser vom Bach?“, bat sie ihn und hielt ihm den verbeulten Blecheimer hin, „Der ist direkt hinter dem Haus kurz vor den Klippen“
„Klar...“, entgegnete er kurz und machte sich auf den Weg, „Hab ja grad nichts besseres zu tun“
„Nach dem Essen erzähl ich dir von der dritten Aufgabe“, rief sie ihm nach.

Rion musste nicht lange suchen. Ein schmaler Fluss, der eher ein Graben war mündete ein paar hundert Meter weiter in einen stillen, kleinen Bach auf einer Lichtung. Sie befand sich wirklich direkt vor den Meter hohen Klippen, die den gesamten Kontinent zu umranden schienen. Ihm bot sich eine wunderschöne Sicht auf den Ozean mit seinen Walen und den vielen, kleinen Schiffen. Weit am Horizont erhob sich ein nebulöser Schatten.
„Das könnte ein anderer Kontinent sein“, überlegte er, während er den Eimer mit den klaren, sauberen Eiswasser des Bachs füllte. Rion stellte ihn bei Seite und warf sein Shirt und die Hose weg. Dann sprang er hinein und erfrischte sich ein wenig. Schnell nahm er den Eimer und seine Sachen und eilte zu Maideya zurück.
„Bist du ins Wasser gefallen?“, wunderte sie sich und nahm den Eimer entgegen.
„Eher gesprungen“, grinste er.
„Aber...das ist eisig“, schüttelte sie sich.
Er stubste ihr mit dem Zeigefinger auf die blasse Nase, wie man es bei kleinen Kindern tut: „Aber es härtet ab und hält den Körper gesund“
„Ach Rion...“, seufzte sie, „Du wirst dich noch erkälten“
„Komisch...“, meinte er und griff nach einem der rotbackigen Äpfel in einer geflochtenen Obstschale, „ich dachte immer Helden werden nicht krank“
Damit verschwand er ins Bad, holte sich ein Handtuch und ging in die Stube. Geroh saß schon am gedeckten Tisch und wartete, Kentry las an seinem Kaminplatz in den Buch, das sie aus dem Kloster gestohlen hatten.
„Morgen!“, rief Rion in die Runde. Geroh erwiderte, Kentry sah nur kurz über den Rand des Buchs und ignorierte ihn.
Rion zuckte mit den schultern und setzte sich zu Geroh: „Fühlst du dich heute besser?“
„Ja“, nickte er, „Ein wenig“
„Siehst du, jeder hat mal einen Durchhänger. Es gibt Tage, da sollte man im Bett bleiben. Das hätte ich damals auch machen sollen“, sagte er seufzend, „Bin ich aber nicht. Also ist es, wie es ist und ich kann es nicht ändern. Basta“
„Hast wohl recht“, stimmte Geroh zu.
„Aber es gibt auch Leute...“, begann er und deutete auf Kentry hinter ihm, „...für die ist jeder Tag ein schlechter Tag. Die sollten ihr Leben lang im Bett bleiben“
Geroh verkniff sich mühevoll das Lachen.
„Essen ist fertig“, unterbrach Maideya sie und servierte.
Erst jetzt gesellte Kentry sich zu ihnen.

„Mr. Kentry hat gesagt, dass es ein weiter Weg bis zu den Höhlen ist zu denen du musst“, begann Maideya die Stille zu durchbrechen.
„Was für Höhlen?“, erkundigte Rion sich.
„Man nennt sie die singenden Höhlen. Einige ehemalige Bergleute sagen es seinen aber eher die jammernden Höhlen“, ging sie näher darauf ein und sah zu ihm herüber, „In diesen Höhlen soll ein gefährliches, Menschen fressendes Monster hausen, dass vor Jahren Bergleute und Höhlenforscher gefressen hat“
„Wo sollen die sein?“, wollte er wissen.
„Am Südwestlichsten Zipfel des Kontinents“, mischte Kentry sich ein und wischte den Mund mit einer Serviette ab, „weit hinter der letzten Stadt St. Llewelyn unterhalb des Xixonischen Sees“
„Ja“, nickte Maideya Rion zu, „Auf der anderen Seite der Zwillingsberge. Dort gibt es ein Bergmannsdorf in dem du dich umsehen solltest. Die Opfer des Monsters stammen von dort“
„Also suche ich nach einem Bergdorf und nach einer Singenden oder jammernden Höhle“, schlussfolgerte Rion um alles Wichtige auf den Punkt zu bringen.
„Richtig“, entgegnete sie ihm, „Als beweis, dass das Monster tot ist, brauche ich seinen Kopf. Auf dem Rückweg solltest du in St. Llewelyn übernachten. Es ist ein sehr weiter Weg. Du wirst gut einen Tag brauchen um die Höhlen zu erreichen. Darum wollte ich, dass du dich hier so lange ausruhen und erholen kannst“
„Danke, Maidy. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich bringe dir das Teil. Dann gehst du in dein Kloster und ich in meine Welt zurück und alles ist wieder so wie es war“, versicherte er ihr.
„Pah...“, machte Kentry und verließ den Raum.
„Ich ignoriere ihn einfach“, meinte Rion in ihre Richtung, „mir ist es völlig egal was er denkt“
„Was ist mit deiner Verletzung?“, fiel es ihr wieder ein, „Kentry sagte du wärst am Arm verletzt“
„Das? Das ist schon längst wieder verheilt“, entgegnete er ihr und zeigte die Stelle an der nichts mehr zu sehen war.
„Wie ist das möglich?“, wunderte sie sich und fasste darüber.
„Ich trage das Regena-Gen in meinem Körper. Es beschleunigt die Heilung um einige Tage und lässt selbst tiefere Wunden verschwinden“, erklärte er ihr.
Sie sah ihn mit großen Augen an.
„Kentry hat Recht. Ich bin ein Grenzgänger. Weder Engel noch Dämon. Aber ein Mensch bin ich auch nicht. Keine Ahnung, was ich nun bin...wohl nichts von all dem“, fuhr er fort, „einfach nur Rion...“
Sie musste lächeln: „Ich wünsche dir viel Glück...Rion“
„Danke, das werd ich wohl brauchen“, nickte er und machte sich auf dem Weg, „übrigens Maidy, du bist eine wundervolle Köchin“
Strahlend blieb sie zurück: „Eine wundervolle Köchin...?
Das klappern der Teller riss sie aus den Gedanken: „Geroh du Vielfraß. Warum sagst du eigentlich nie etwas Nettes zu mir? Dich bekoche ich schließlich schon länger“
„Das ist lecker“, schmatzte er.
„Ach Geroh...“, meinte sie und pustete heftig als sie das Geschirr zusammen räumte.

Rion musste lachen, als er sie in der Stube streiten hörte, während er seine Stiefel anzog und sich für den langen Weg bereit machte. Von Geroh hatte er einen alten Rucksack bekommen um den Kopf des Monsters unauffällig zur Hütte bringen zu können.
So stapfte er durch den Wald, über die einsamen Feldwege, durch die xixonische Hauptstadt, vorüber an den Seen und den Hafenstädten. Da erreichte er endlich die flache Grassebene von denen Maideya und Kentry sprachen.
„Dort hinten müssen die Zwillingsberge sein“, orientierte er sich an den bis an die Wolken stoßenden Berge in der Ferne. Es war bereits später Nachmittag, als er den Fuß des Berges erreichte.
„Ein Tag? Ich bin doch nicht Geroh, dass ich so herum trödele“, dachte er sich.
Das Gestein spaltete sich in Schwindel erregender Höhe und so sah es wirklich so aus, als wären zwei miteinander verwachsene Berge. Östlich von ihm befand sich die heilige Stätte an der er Maideya traf. Diesen Ort beschloss er vorerst zu meiden.
„Aber nur bis ich dieses Spielchen hier beendet habe. Danach suche ich genau dort nach dem Weg zurück“, dachte er sich, als er der Abzweigung den Rücken kehrte und sich dem Waldstück um den gigantischen Berg zuwandte. Es handelte sich um einen duftenden, satt grünen Nadelwald. Die dicken, kreuz und quer wachsenden und aus dem Boden ragenden Wurzeln bremsen sein Tempo. Hinter dem Waldstück führte ihn ein schmaler Weg entlang der Südklippen um den Berg herum zu einer Nische im Gestein. Dort wurde das Dorf auf drei Etagen in den Stein hinein gebaut. Das bewachsene Städtchen als das es sich entpuppte schien eine Oase der Ruhe vor der endlos erscheinenden Grasswüste die zum Rest des Kontinents führte. Zu seiner Überraschung gab es hier jedoch auch nicht so etwas wie einen Hafen. Zu hoch waren die spitzen Klippen die es umgaben.
„Was will ein Monster an einem solchen Ort?“, fragte er sich und spazierte durch die steingepflasterten Straßen. Überall standen Loren, Stahl und Kohle stapelten sich in allen Ecken. Von seinem Standpunkt aus entdeckte er einen sehr engen Gang zwischen den Klippen. In an Treppen erinnernde stufige Absenkungen führte der Weg ihn hinunter bis zum Ozean. Die Wellen schlugen hoch bis auf ein paar Stufen. Bis zu den Knöcheln standen eine Hand voll Männern im Meer und fingen Fische mit den bloßen Händen.
„Entschuldigung“, bat Rion und kam zu ihnen herunter, „können sie mir etwas über das Monster in den Höhlen sagen?“
„Warum willst du es wissen? Was für ein Tourismus soll das wieder werden? Wir wollen keine Fremden in unserem Dorf“, zischte einer der Männer und zupfte den Strohhut zurecht.
„Verschwinde!“, rief ein Anderer, „du verscheuchst uns die Fische“
„Wenn ich es besiege wäre es doch auch in eurem Interesse oder nicht?“, fragte er.
„Wir haben genug starke Männer um es zur Strecke zu bringen. Da brauchen wir keine dahergelaufenen Grünschnäbel aus der Stadt“, knurrte der Erste und wandte ihm den Rücken zu.
„Anscheinend doch...“, bemerkte Rion und beschloss sein Glück in einer örtlichen Kneipe zu versuchen.

Er betrat das unscheinbare Backsteingebäude mit der Aufschrift „Halber Becher“ und sah sich um. In dem rundlichen Bau standen zehn runde Tische in völlig ungleicher Aufteilung. Eine junge Frau mit bäuerlicher Kopfbedeckung wischte einen der Tische ab.
„Hey, kann ich dich mal was fragen?“, sprach er sie vorsichtig an.
Sie blickte ihn an und rannte zum Tresen herüber.
„Warte“, bat er sie, „lauf doch nicht weg, ich will doch nur...“
Plötzlich dreht sie sich um: „Warum verfolgst du mich?“
„Weil du abgehauen bist“, entgegnete er.
„Warum läufst du mir nach?“, fragte sie erneut, „Du willst mich heiraten, richtig?“
„Heiraten?“, wiederholte er schockiert, „Um Gottes Willen, nein! Ich will dich nur was fragen“
„Warum sind Männer aus der Stadt immer so unhöflich?“, beschwerte sie sich, „Die Frauen des Zwillingsberg-Dorfs sind die schönsten Frauen der Welt“
„Wenn du das sagst...“, dachte er sich.
„Also. Warum bist du so unfreundlich zu mir? Denk dran, dass du hier zu Gast bist!“, fuchtelte sie mit dem Feigefinger vor seinem Gesicht herum: „Und warum sind Frauen immer gleich so empfindlich? Müsst ihr jedes Wort auf die Goldwaage legen?“
Ihre giftgrünen Augen musterten ihn: „Das kommt daher, das Männer nicht gleichzeitig reden und denken können“
„Okay, gewonnen“, gab Rion nach, „kann ich dich jetzt etwas fragen?“
„Sicher“, nickte sie und setzte sich auf einen der hellen Holzstühle, „nenn mich Mirtha“
„Also Mirtha, weißt du etwas über das Monster in den Höhlen am Südwestzipfel?“
Sie spielte mit dem schäbigen Holztablett herum: „Ich selbst weiß so gut wie nichts darüber. Aber es gibt da einen Mann, Yves heißt er. Der hat das Monster mit eigenen Augen gesehen. Man erzählt sich er und seine Freunde wollten einen Schatz aus der Höhle holen, den das Monster bewacht. Er soll sehr wertvoll sein. Aber dann hat es sie erwischt und alle seine Freunde getötet. Nur Yves hat es lebend geschafft. Man sagt er sei der legendäre Held, der die Dämonen bannen wird. Aber seit er schwer verwundet wurde lebt er zurückgezogen bei Dava, der Frau eines der getöteten Männer. Yves kam als Abenteurer zu uns. Jetzt lebt er hier“
„Weißt du wo?“, erkundigte er sich.
Sie nickte und sah auf: „In den kleinen Landhaus oben auf der dritten Anhöhe zwischen den vielen Bäumen. Der Angriff des Monsters ist jetzt fünf Jahre her, doch man sagt seine Wunden seien noch immer nicht verheilt“.
„Warum nicht?“, wunderte er sich und hob eine Augenbraue.
„Weil das Monster verflucht ist. Es ist ein blutrünstiger Dämon. Seit dem Tag traut sich niemand mehr in die Höhlen oder auch nur in ihre Nähe. Darum gehen die Geschäfte schlecht. Die Menschen haben Angst“, beantwortete sie ihm die Frage.
„Danke“, entgegnete Rion, „du hast mir sehr geholfen“
„Ist das alles?“, ließ sie ihrer Enttäuschung freien Lauf.
„Na gut...“, sagte Rion, kramte in seiner Tasche herum und drückte ihr drei Münzen in die Hand, „Leb wohl“
„Männer...“, murrte sie und wandte sich erneut den Tischen zu.

Rion eilte die Stufen zum Landhaus in fast vier Metern Höhe hinauf.
Doch mitten auf seinem Weg stellte sich ihm ein riesiger Neufundländer in den Weg. Er hielt den Kopf mit den leuchtenden, schwarzen Augen schief. Das Fell glänzte in der Abendsonne. Er schnüffelte an Rions Stiefeln als wolle er ihn fragen wo er herkomme.
„Hi Kumpel“, begrüßte Rion ihn und strich über das dichte, dunkelbraune Fell.
„Da ist er schon fünfzehn Jahre alt und spielt noch immer herum wie ein Welpe“, lachte ein ergrauter Mann in kurzer Hose, der auf einer steinernen Bank saß und auf das Meer hinaus blickte, „ja alter Junge, ich wünschte ich wäre noch so fidel wie du“
Rion lächelte zu ihm herüber.
„Wohin so schnell junger Mann“, erkundigte er sich und strich über die grauen Bartstoppeln um seinen Mund herum, „du bist so jung. Du hast doch noch alle Zeit der Welt“
„Ich wollte zu einem Mann mit Namen Yves. Er soll dort oben wohnen“, antwortete er ihm und kraulte das Tier weiter.
„Ihr Hunde habt es gut Hektor“, lachte er auf, „Wenn wir Menschen alt und krank sind fallen wir anderen zur Last. Um euch kümmert man sich immer. Uns übersieht man leicht“
Der Hund trottete zu ihm herüber und legte den Kopf auf die Bank.
Der Alte streichelte ihn und genoss die letzten, wärmenden Strahlen des Tages: „Zu Yves Rumpold willst du... Was will ein Junge wie du von diesem alten Lügner?“
„Lügner?“, wunderte Rion sich und ging zu ihm herüber, „glauben sie seiner Geschichte nicht?“
„Nein“, knurrte er sofort, „Ich würde ihm niemals ein Wort glauben. Diesem verlogenen Bastard. Der könnte einem Ertrinkenden nicht mal einen Rettungsring verkaufen“
„Warum zweifeln sie daran?“, wunderte er sich.
„Du erinnerst mich an meinen Gregory als er in deinem Alter war. Ein aufgeweckter, gutherziger Junge. Er war fasziniert von Rumpold und seinen Abenteuergeschichten. Das ganze Dorf hat ihm zu Füßen gelegen. Ihm und seinen Lügen. Singende höhlen? Das ich nicht lache. Die Höhlen singen weder, noch jammern sie. Der Wind kündet von Ereignissen. Er berichtet von Geschehnissen. Von Schicksal, Mord und Verrat und die geheimnisvollen Wesen lauschen ihnen. Er behauptete ein Held aus einer Sage zu sein. So ein Spinner. Dann ist mein Sohn mit ihm auf Schatzsuche gegangen... und er kam nie zurück“
„Das Monster hat ihn gefressen“, nickte Rion.
„Haben sie dir das erzählt?“, fragte der Alte mit Tränen in den Augen, „Aus Geschehnissen werden zu oft Lügen wenn man sie falsch weitergibt. Ich ging mit Hektor um ihn zu suchen und ich fand seine Leiche nicht weit vom Ausgang. Es gibt darin keine Menschen fressenden Monster“
„Also gibt es nichts Außergewöhnliches in den Höhlen? Was ist mit dem Schatz?“, wollte Rion wissen.
„Gier ist tödlich mein Junge“, warnte er ihn eindringlich, „Es gibt tatsächlich etwas in diesen Höhlen. Uralte Wesen hausen dort schon seit die Welt besteht. Sie wachen auch wirklich über einen Schatz. Einen Schatten oder auch Sonnenkristall. Gregory hat mir davon erzählt. Er war ein cleverer Junge aber leider zu naiv. Er fiel auf dieses Scheusal herein. Und heute thront er über der Stadt. Was für ein Spott für die Hinterbliebenen der Opfer. Und die gute, alte Dava glaubt all seine Märchen und bewirtet ihn königlich“
„Wirklich...es tut mir leid“, sagte Rion und strich Hektor über die kühle Schnauze.
„Du hast damit nichts zu tun. Sie glaubt ernsthaft Rumpold hätte ihren Mann heldenhaft beschützt und sei dabei verwundet worden. Doch auch er ist tot. Seine Leiche fanden wir nie“, beendete er seine Erzählung.
„Vielen dank, sie haben mir sehr geholfen“, verabschiede er sich bei dem Mann, „Wenn ich etwas erfahre, werde ich ihnen davon berichten“
„Sorge du dich lieber um deine Angelegenheit, mein Junge. Ihr Kinder habt es schwer genug in dieser Welt. Nichts ist mehr wie es war. Lass dich nicht täuschen“, bat er.
Rion schüttelte den Kopf und verabschiedete sich von Hektor: „Sicher nicht. Ich finde die Wahrheit“
Der Alte lachte: „Mensch und Monster sind nicht so leicht zu unterscheiden...“
Rion stimmte ihm zu und setzte seinen Weg fort.

9. Akt: Das Monster in den Höhlen



Nach ein paar Schritten stand er vor der unschuldsweißen Flügeltür. Zögernd klopfte er. Das helle Gestein wurde an einer Front von Schlinggewächsen überwuchert. Es dauerte nicht lange, bis eine hagere Frau mit eingefallenen Wangen und tief liegenden Augen ihm öffnete.
„Bitte?“, fragte sie überrascht.
„Mein Name ist Rion“, stellte er sich vor, „ich muss mit Yves Rumpold sprechen. Es geht um das Monster in der Höhle und den Sonnenkristall“
„Komm herein“, bat sie und zog ihn in das Haus. Bevor sie die Tür schloss, sah sie sich vorsichtig um.
„Warte hier“, sagte sie bestimmt und ging eine breite Wendeltreppe hinauf.
Rion entdeckte ein Hochzeitsfoto in einfachen Holzrahmen. Es zeigte die Frau des Hauses mit einem jungen Mann.
„Das muss ihr toter Ehemann sein“, dachte Rion bei sich.
„Du darfst hinauf“, meldete die Frau sich zurück.
Rion folgte ihr in die obere Etage durch eine einfache Tür in einen Raum mit Balkon.
Sie schloss die Tür hinter ihm und entfernte sich.
„Du suchst nach mir?“, fragte eine Männerstimme vom Balkon her.
Rion ging durch den hohen Raum, der mit Eichentisch und gepolsterten Stühlen an ein Esszimmer erinnerte und trat durch die Glastür nach draußen. In der rechten Ecke des halbrunden Balkons saß ein Mann mittleren Alters in einem blassroten Liegestuhl. Das linke Bein in dicken Verband gehüllt.
„Ja... ich bin hier um ihre Geschichte von der Höhle zu hören“, antwortete er auf die zuvor gestellte Frage.
„Ich bin kein Geschichtenerzähler, Kleiner“, murmelte er und wandte den Blick ab.
„Das hab ich aber anders gehört“, sagte Rion und stützte sich auf das steinerne Geländer des Balkons.
„Ich habe keine Ahnung wovon du sprichst“, zischte er.
„Ein älterer Herr hat es mir erzählt“, entgegnete Rion.
„Der alte Spinner“, lachte er auf, „der muss grade reden“
„Was geschah damals in der Höhle. Wenn sie´s mir sagen bin ich gleich wieder weg“, versprach Rion und sah ihn an.
Der Mann zögerte kurz: „Du kennst die Geschichte sicher“
„Der Alte sagte sie lügen“, machte ihn Rion darauf aufmerksam, „wollen sie es nicht ins rechte Licht rücken? Gerüchte machen sich sicher nicht gut für sie. Besonders wo sie jetzt gar kein strahlender Held mehr sein können“
Er blickte ihn finster an: „Dieses Monster war Schuld!“
„Warum mussten die anderen Männer sterben und sie leben noch?“, wollte Rion wissen.
„Weil sie Schwächlinge waren. Ich war stärker, darum lebe ich noch. Doch sieh was dieses Monster getan hat. Es hat mich zu einem gebrochenen Mann gemacht“, stellte er richtig.
Rion wandte sich ihm zu und hob eine Augenbraue: „Ich höre...“
„Also gut“, nickte der Mann leicht gereizt, „Ich kam als Held in dieses Dorf. Ich war ein berühmter Abenteuer und Schatzsucher. Zusammen mit ein paar Männern des Dorfes suchten wir nach dem Schatz. Den rätselhaften Sonnenkristall. Doch plötzlich griff uns dieses Biest an und tötete alle Männer. Ich wollte Davas Mann schützen und sprang vor ihn. Da biss mich das Monster ins Bein und schleuderte mich weg. Als ich zu mir kam, was das Biest weg und alle Männer tot“
„Warum hat es Sie nicht getötet?“, erkundigte Rion sich.
„Ich war ein bedeutender Mann, ein Held. Es hat sich wohl nicht an mich heran getraut“, behauptete er stolz und schwellte die Brust.
Rion verdrehte die Augen: „Das ist durchaus einleuchtend. Es heißt sie wurden gefressen. Warum fand man dann Gregorys Leiche?“
„Das habe ich nie behauptet. Es hat sie getötet, nicht gefressen“, verbesserte er.
„Meinetwegen“, nickte Rion und schritt auf dem Balkon auf und ab, „warum sprechen dann alle von einem Menschen fressenden Monster?“
„Ich weiß es nicht“, entgegnete Yves genervt, „weil sie Klatschtanten sind?“
„Wohl eher weil sie bei all den Lügen den Überblick verlieren“, bemerkte Rion beiläufig.
„Willst du mich der Lüge beschuldigen?“, fuhr er ihn an.
„Ich will nur wissen was es mit dem Monster auf sich hat“, klärte Rion ruhig.
Yves ächzte: „Pah, du glaubst diesem senilen alten Taugenichts also eher als mir? Immer dieser Rentnerbonus!“
„Und sie verstecken sich ja wohl hinter ihrem Krankenbonus“, grinste Rion.
„Verschwinde!“, forderte Rumpold ihn auf.
„Gerne“, verabschiedete Rion sich und verließ das Landhaus mit eiligem Schritt in Richtung der seltsamen Höhlen, „ich nehme die Sache selber in die Hand und kümmere mich um das Monster...was auch immer es ist“

Unterdessen beobachtete Wisdom ihn aus seinem gläsernen Gefängnis. Erst die sich öffnende Tür lenkte ihn von Rion ab.
„Verzeihung mein Herr...“, verbeugte ein junges Mädchen sich tief vor seiner Kugel und das dunkle, lockige Haar fiel über ihre Schultern nach vorn.
Er schenkte ihr wenig Beachtung und blickte nur kurz herüber. Sie nahm ihren alten, beigen Lappen und den schweren Eimer. Dann begann sie den gläsernen Boden zu polieren. Scheu sah sie zu ihm herüber, doch Wisdom schien sie gar nicht wahr zu nehmen. Enttäuscht ließ sie den Kopf sinken und seufzte.
„Hat man dir zugetragen was ihre Majestät momentan so treibt?“, fragte er sie überraschend, „Ich sah sie schon einige Zeit nicht mehr“
Erfreut sprang sie auf und ließ den Lappen fallen: „Ja mein Herr. Ihre Hoheit hat zurzeit mit der himmlischen Regierung zu kämpfen. Sie sind sich über Reformen uneinig“
„Also ist sie abgelenkt...“, folgerte er daraus und sie bildete sich ein es umspiele ein Lächeln die schmalen Lippen des kühlen Mannes.
„Gestattet mir, ihr wirkt sehr angespannt und nachdenklich. Hat es mit diesem Menschen zu tun?“, begann sie vorsichtig.
Seine Augen trafen ihre und sie glaubte am lebendigen Leib zu Eis zu erstarren: „Du bist nur eine Dienerin. Deine Aufgabe ist die Böden zu schruppen, also tu es auch!“
Sie zuckte zusammen und ging sofort wieder auf die Knie: „Ja, Herr“
„Ein einfacher Mensch würde kaum so viel Theater in unserem Reich verbreiten können“, meinte er dazu.
„Also ist er kein Mensch?“, wunderte sie sich.
„Was verstehst du schon davon?“, entgegnete er, „du bist nur ein Mädchen...“
Sie zögerte und presste die vollen Lippen zusammen: „Aber mein Herr... Königin Natalyel ist doch auch...“
Doch er schnitt ihr das Wort ab: „Ich weiß! Wage nicht meine Intelligenz zu hinterfragen du dummes Ding. Ich bin die höchste Instanz im Himmel. Dieses Weib ist nur eine dreckige Schlampe, die sich diese Position erschlichen hat mit ihrer Schönheit und ihrem Körper“
„Verzeiht“, bat sie in flüsterndem Ton, „ich kann mir gar nicht vorstellen, wie er sein muss, dass er den Himmel so zu spalten vermag“
„Natürlich kannst du es dir nicht vorstellen. Ein so geringes Ding wie du“, lachte er.
„Ich würde euch mit eurem Problem zu gern helfen“, sagte sie entschlossen, „ich würde zu gern etwas für euch tun“
„Mach deine Arbeit“, lehnte er ab, „das scheint dich ja schon zu überfordern“
„Bitte, wenn ihr mir nur sagen würdet wie“, flehte sie und knetete den schäbigen Wischlappen zwischen den Fingern.
„Was kannst du schon?“, spottete er, „um mir wirklich hilfreich zu sein, müsstest du runter zu ihm und ihm bei seinem irdischen Vorhaben unterstützen“
„Ich werde es tun“, platzte es aus ihr heraus, „ich gehe nur für euch, mein Herr!“
„Du? Runter auf Acris?“, seine Stimme war ein Mix aus amüsiertem Gelächter und Verärgerung, „ist dir klar, was dass bedeutet?“
„Nein“, gab sie zu, „aber ich tue es trotzdem“
Wisdom zögerte kurz: „Beschütze ihn mit deinem Leben. Seines ist uns wertvoller als deins. Ich werde dir helfen hinunter zu kommen“
„Ja, Herr!“, versicherte sie ihm, „ich werde es euch beweisen. Ihr werdet stolz auf mich sein“
„Das wird sich zeigen...“, bemerkte er kalt und begann seine Magie zu wirken, „du bist da unten meine Augen und Ohren“
Sie nickte energisch und verschwand in einer dunstigen Wolke aus grauem Rauch.
„Was für ein dämliches Geschöpf“, schüttelte er den Kopf, „aber sei´s drum. Sie wird ein schönes Testobjekt sein. An ihrem Beispiel kann ich Rachels damaligen Weg verfolgen...“


Mitten in der Nacht erreichte Rion die Höhlen. Von weitem hörte man den Wind über die Höhlenöffnungen wehen. Zwischen Klippen und bizzarem Gestein fand er den Eingang in den Berg und begann seine Suche. Die Gänge wurden von Menschenhand in den Berg geschlagen. Überall entdeckte man Spuren von Spitzhacken und Schaufeln. Rion strich über das kalte Gestein. Es bröckelte leicht, so weich war er. Vorsichtig setzte er seinen Weg fort. Je tiefer er ging, desto kälter und stickiger wurde es. Die Luft roch nach Modder und abgestandenem Wasser. Nach einiger Zeit wechselte das Gestein die Farbe. Es wurde dunkler, grauer. Die rauen Wände glitzerten leicht. Rion strich mit dem Finger darüber.
„Salz“, schmeckte er sofort heraus. Nach ein paar Schritten erreichte er den See von dem der Geruch ausging. Als er sich hinüber beugte und davon trinken wollte, erblickte er Knochen inmitten des Gewässers.
„Jemand ist hier ertrunken“, erkannte Rion, „Vielleicht sogar einer von Rumpold´s Männern...“
Wachsam ging er voran und prüfte die Gegend nach ungewöhnlichem. Nach Monstern oder schätzen. Obgleich Schätze ihm lieber waren.
Auf einem mit viel wohlwollen rundlichen Platz auf den das Mondlicht fiel lagen in einigem Abstand zueinander zwei Skelette in unnatürlicher Haltung.
„So stirbt doch niemand...“, fiel Rion auf und er begann die Toten zu untersuchen, „Verrat mir dein Geheimnis Kumpel...“
Am Kopf des einen klaffte ein tiefes Loch.
„Er wurde erschlagen!“, war Rion überzeugt.
Im Oberkörper des Anderen steckte ein Messer. Rion nahm es an sich und steckte es weg.
„Mal sehen was Rumpold dazu sagt“, dachte er sich und ging weiter.
Nach einigen Metern erblickte er eine weitere verkrümmte Leiche. Durch ihren Rücken wurde eine Lanze gebohrt. Die Spitze kam durch den Bauch wieder heraus.
„Was ist hier passiert?“, fragte er sich immer wieder.
Als er sich aufrichtete, hörte er rätselhafte Geräusche aus dem entgegen gelegenen Tunnelgang.
Es war ein leises Scharren. Rion griff nach seinem Schwert und wich zur Wand zurück. Aus dem Dunkel leuchteten zwei blutrote Augen. Er atmete tief durch und mache sich auf das schlimmste gefasst.
„Ich habe dich schon erwartet...Rion“, begrüßte eine verzehrte, weibliche Stimme ihn.
Verwundert ließ er von seiner Waffe ab und ging auf den Tunnel zu: „wer bist du?“
„Ich brauche keine Namen...“, entgegnete es, „Es scheint mir als wäre es gestern gewesen, als ich das letzte Mal menschlichen Besuch hatte“
„Woher kennst du mich?“, wollte er wissen.
„Ich kenne nicht dich. Nur deinen Namen. Der Wind hat es mir erzählt. Er und ich, wir wissen alles. Alles was war und alles was ist. Manchmal sogar das was erst sein wird“, erläuterte die Stimme ruhig.
„Bist du das Monster der Höhlen?“, fragte Rion zögernd.
„So sagt man“, entgegnete es und trat aus dem schatten heraus.
„Ein Xixon-Sathir“, erkannte Rion überrascht und starrte es an.
Der Unterleib war der einer Ziege mit hellem Fell. Es hatte an den Beinen Hufe. Auf dem Kopf trug es zwei gerollte Hörner wie Widder sie haben und dazu Ohren, die an eine Katze erinnerten. Die Ochsenähnliche Schnauze war seltsam lang und wurde von Schnurrhaaren umrandet. Unter dem rechten, winzigen, runden Auge klaffte eine lange Narbe.
„Dies ist wie Menschen uns nennen“, stimmte es ihm zu, „Du bist mir wohl bekannt. Ich kenne deinen Auftrag. Du hast die Monrakatre vom Bergsee ausgetrickst und die verschlungene Stadt betreten. Und jetzt bist du hier um mich zu töten“
„Fürchtet du mich nicht?“, fragte er es.
„Sollte ich? Dein Herz ist voller Zweifel. Es sucht nach Antworten, nach Wahrheit nicht nach Blut“, sagte es ruhig.
Rion blickte es an: „Was ist hier geschehen?“
„Du tust gut daran einen Xixon-sathir zu fragen. Sehr weise...Rion“, meinte es, „Vor kurzer Zeit kamen sechs Männer um den Schattenkristall zu suchen. Als sie ihn fanden, ergriff er besitz von ihnen. Sie begannen zu streiten. Ich spürte Hass und Wut. Die Luft war erfüllt von Bosheit und Geiz. Es roch nach Blut. Der See färbte sich rot. Dann wurde es still. Sie schrien nicht mehr. Sie schliefen ruhig und friedlich unter eine verzehrten Maske von Angst und Schmerz“
Rion beugte sich zur Leiche herunter: „Hast du sie getötet?“
„Bin ich bewaffnet? Warum hätte ich es tun sollen? Was habe ich davon? Viele Fragen Rion. Keine Antwort. Du solltest sie Rumpold stellen. So war sein Name. Er kam und brachte den schatten mit sich...und das Blut“, sprach es.
„Rumpold hat sie getötet?“, erschrak er, „Warum?“
„Neid und Geiz regiert die Menschen“, murmelte es und ihre Augen trafen Rions. Sie blickte tief hinein. Bis auf den Grund seiner Seele.
Dann nickte es: „Sie sind nicht wie wir. Nicht wie ich und nicht wie du Rion. Nie zuvor sah ich einen Grenzgänger. Deine Augen sind in der Tat faszinierend. Dein Herz hat sich jedoch noch nicht entschieden. Es wird sich den Weg selbst wählen. Zum Guten oder zum Schlechten. Das kann niemand beeinflussen. Nicht mal du. Obgleich du dem Schatten näher bist als dem Licht bist du ein gutes Wesen. Rätselhaft und undurchsichtig wie ich es bin. Nicht so rein und heilig wie die Elfen oder Feenwesen es sind, doch auch nicht so bluthungrig wie die Dämonen. Wähle deine Schritte weise und mit bedacht...Rion“.
„Du hast den Schattenkristall erwähnt“, erinnerte Rion.
„Ja, der Schattenkristall“, seufzte es, „Er löst bei dem Menschen ein wahres Blutvergießen aus. Er riecht nach Schlechtigkeit. Nach Blut und Boshaftigkeit“
„Was ist das?“, wurde er neugierig, „Jeder spricht davon, doch kaum jemand hat ihn je gesehen“
„Das stimmt nicht“, verbesserte es ihn, „In dieser Höhle hat ihn jeder gesehen. Du meinst wenige lebende Menschen konnten je darüber berichten. Der Schattenkristall ist ein etwa zwei Meter großer Kristall auf dem Grund des Meeres. Früher stützte er eine Stadt aus Kristall erbaut. Als sie im Meer versank, zersprang der Kristall und die Wesen ohne Namen brachten sie an sagenumwobene, vergessene oder auch schwer zugängliche Orte. Ein Buch, das Buch der Geheimnisse kennt ihr Versteck. Dort warten zwölf bruchstücke des Kristalls auf den Finder. Seine Splitter sind jedoch erloschen. Der einzige Weg das Böse, das die Welt mit Schatten überzieht zu bannen ist... die Splitter aus ihrem dunklen Gefängnis zu holen. Sie reagieren mit der Sonne und laden sich auf. Dabei entfalten sie eine gewaltige Macht, die nur schwer zu kontrollieren ist. Erst wenn alle Splitter an ihrem Ort, in dem Schattenkristall, sind hat die Welt eine Chance auf Frieden. Auf ein Leben ohne Dämonen und Monster. Doch die Macht des Schattens ist verführerisch. Wenn man sich nicht vorsieht, fällt der Besitzer eines Splitters des Schattenkristalls an den selbigen und seine Seele ist verloren. Sie fressen die Seelen der Menschen“
„Also hat er sie alle nur wegen eines Splitters getötet?“, wollte Rion nicht glauben.
„So war es“, nickte es, „was wirst du tun?“
Rion sah es mit großen Augen an: „Ich weiß es nicht“
„Lass dein Herz entscheiden“, bat es und drückte ihm einen winzigen, schwarz glänzenden Splitter in die Hand.
„Ich will das Ding nicht“, sagte er gleich und wollte es zurück geben.
Es schüttelte den Kopf: „Aber es will dich. Zeig den Schatten, dass du stärker bist. Sie wollen dich testen. Du kannst nicht entscheiden ob ja oder nein. Nur was du damit anfangen wirst. Ich spüre, dass dein Herz sich entschieden hat. Leb wohl... Rion“
„Warum ich?“, fragte er verzweifelt.
„Weil alle Mächte deine Stärke spüren. Die Schatten erzittern vor dem was du sein kannst. Weil dies deine Geschichte ist Rion. Helden werden nicht geboren, sie werden dazu gemacht. Aber es ist nie ihre eigene Entscheidung. Sei Stark, wo Andere schwach sind. Sei das Licht, wenn alle anderen Lichter erlöschen. Merke, dass jeder Held einsam ist in der Stunde seines Sieges und in der Stunde seines Todes. Helden Rion, sind immer allein. Diese Welt braucht dich. Sie musste lange auf dich warten. Aber was ist ein Jahrhundert, wenn man unsterblich ist wie ich?“
„Aber ich bin kein Held“, entgegnete er energisch, „Ich bin doch nur ein kleiner Taschendieb aus Likon“
„Nichts ist wie es scheint. Du hast eine faszinierende Anziehungskraft auf die dunkle Seite. Das macht dich für diese Welt so interessant“, erklärte es und wandte sich zum Gehen in Richtung des Tunnels aus dem es gekommen war, „Leb nun wohl Rion...“
„Warte!“, bat er es und wollte ihm nachlaufen, doch vor ihm schoss eine unebene Steinwand nach oben und verschloss den Tunnel vor seinen Augen, „Hey, wir sind noch nicht fertig!“
„Ich habe nichts mehr zu sagen“, klang es hinter der Wand gedämpft hervor.
„Setz dich gefälligst mit mir auseinander!“, schrie Rion wütend, „Du kannst nicht einfach abhauen und mich hier stehen lassen! Was soll ich jetzt machen?“
Es blieb still.
„Hey!“, versuchte er es erneut und hämmerte mit der rechten Handfläche gegen die Steinwand, „Komm raus und beantworte meine Frage! Du kannst doch nicht einfach weglaufen!“
„Ich bin es nicht, der wegzulaufen versucht“, erklang die Stimme ganz leise von weiter Entfernung, „ich bin es auch nicht, der die Konfrontation fürchtet...“
„Du kannst mich mal...“, murmelte er aufgebracht, „Ich lasse mir von euch doch nicht alles gefallen!“
Erst jetzt sah er den blutigen Handabdruck, den er auf der Wand zurück ließ. Die spitzen Steine hatten die Handfläche aufgerissen. Blut rann in schmalen Rinnen sein Handgelenk herunter.
„Scheisse!“, fluchte er verzweifelt und trat mit dem Stiefel gegen die Wand.
Er leckte das Blut ab und warf sich mit dem Rücken gegen eine der kalten Steingangwände. Mit geschlossenen Augen ließ er sich zu Boden gleiten und streckte das linke Bein aus.
„Ich bin doch nicht eure Marionette“, ärgerte er sich und zog eine Zigarette aus der Hosentasche heraus um sie mit seinem Feuerzeug zu entzünden, „Macht euren Mist gefälligst selber“
Er stieß den Rauch aus und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. Missmutig blickte er auf den winzigen Splitter.
„Ich hasse diese Welt. Warum soll ich etwas ausbaden, für das ich gar nichts kann. Das hier ist nicht meine Welt, es hat nichts mit mir zu tun“, war er sich sicher und ballte die schmerzende Hand zu einer Faust.
Entschlossen warf er den Splitter auf den Boden und hob den angewinkelten Fuß an. Dann trat er mit aller Kraft darauf. Doch so dünn und zerbrechlich der Splitter schien, zerbrechen wollte er nicht. Rion verzog das Gesicht und richtete sich auf, dann trat er im Stand auf das winzige, glänzende Ding. Nichts tat sich.
„Verdammtes Mistding“, fluchte er und warf es gegen die Wand, „Ich musste nie für Dinge gerade stehen, die ich getan habe, jetzt tue ich es auch nicht für etwas, an dem ich keine Schuld trage“
Doch auch dieses Mal blieb es unversehrt.
„Jetzt reicht´s“, beschloss er, behielt die Zigarette im Mundwinkel und zog sein Schwert um es damit zu zerschlagen. Doch statt zu zerspringen, gab der Klinge auf dem Splitter ein furchtbares, schrilles Geheul von sich. So durchdringend, dass die Wände leicht vibrierten und Steinstaub von Wänden und Decke rieselte.
„Das wäre beinahe in die Hose gegangen“, dachte er sich und musterte kritisch die rieselnden Wände, „Was bist du für ein blödes Teil?“
„Rion...“, hallte eine seltsam verzehrte Stimme aus drei verschiedenen Richtungen. Ganz schwach und versetzt drang es zu ihm hindurch. Rion lauschte atemlos.
„Rion...du musst die Splitter vereinen“, hallte es vor ihm
„...den Sonnenkristall finden...“, hörte er zeitgleich von rechts, während sie von links hauchten, „die Schatten bannen...“
„Was?“, versuchte er sich auf ihre Worte zu konzentrieren, „Wer ist da?“
„Rion...“, begann es wieder, „Zu lange schon...Sonnenkristall...Schatten...“
„Moment mal...was? Ich verstehe nicht“, rief er verwirrt und fuhr herum.
„Lass dein Herz sich entscheiden...“, erinnerte er sich an die Worte des rätselhaften Wesens.
„Mein Herz...“, wiederholte er und schloss die Augen um sich völlig auf die Stimmen zu konzentrieren.
„Es ist Zeit...Rion. Du hast einen harten Weg vor dir. Geh,...finde die Schatten und führe sie ins Licht“, sprachen die Winde.
„Ins Licht...“, überlegte er.
„Der Sonnenkristall auf einem vergessenen Kontinent mitten im Meer. Die Göttin Iuno. Beeil dich. Das Buch...finde das Buch“, fuhren sie fort, „Die Schatten, hüte dich vor den Schatten. Sie haben ein Auge auf dich geworfen...fall nicht an die Schatten, sonst ist alles verloren“
Rion starrte auf den Splitter und hob sein Schwert auf: „Ich versteh nicht. Ich versteh gar nichts mehr“
Die Winde um ihn herum verstummten langsam.
Er hob ihn auf und machte sich auf den Rückweg.

10. Akt: Die zwei Seiten der Seele



Am kleinen See blieb er stehen und sah hinein zu den Knochen auf den Grund.
„Ich entscheide selber über mein Leben“, sagte er kurz und ließ den Splitter hinein fallen.
Doch statt zu sinken, trieb er an der Oberfläche. Rion stieß genervt den Rauch aus und warf herumliegende Steine ins Wasser.
„Wecke nicht die schlafenden Seelen in der Tiefe“, warnte der Wind ihn.
„Dann nehmt ihr das Ding zurück und lasst mich in Ruhe“, entgegnete er verächtlich und warf einen größeren Stein darauf. Doch er sank trotz des Gewichtes nicht, sondern schwamm mit dem Stein oben auf dem Wasser.
Rion verdrehte die Augen: „Mach was du willst...ich bin weg“
Kaum kehrte er ihm den Rücken zu, stieß es eine Vibration im Wasser aus und die ruhige Oberfläche begann zu brodeln.
Erschrocken drehte Rion sich um und blickte auf das aufgewühlte Nass: „Nicht schon wieder ein Monster aus dem Wasser...“
Er wandte den Blick auf das Tunnelgewölbe aus dem er gekommen war: „Lasst euch mal was Neues einfallen!“
Da erweckte ein schabendes Klirren seine ganze Aufmerksamkeit. Aus der Tiefe erhob sich eine knochige Hand und zog sich ans Ufer.
„Das hat mir gerade noch gefehlt...“, dachte er sich und griff sein Schwert.
Die andere Skeletthand fasste nach dem Splitter und riss ihn in die Höhe wie eine Siegestrophäe.
„Gut, du kannst das Teil behalten“, beschloss Rion, „Ich kann den ganzen Ärger, den es macht nicht brauchen“
Da durchbrach der gierige Schrei einer Krähe die Stille der Höhlen und entriss es der Knochenhand. Sofort fiel es in sich zusammen und die Knochen sanken zurück.
Rion starrte es mit großen Augen an.
„Die Schatten...“, schienen die Winde aufgeregt zu rufen, „Es darf nicht an die Schatten fallen! Das Böse Rion, es ergreift Besitz von dieser Welt. Die Schatten...sie fressen das Licht“
Er verzog das Gesicht und zögerte kurz, dann seufzte er und folgte der Krähe durch die Gänge.
„Du bist ein Idiot, dass du dich immer wieder auf solche Geschichten einlässt“, sagte er sich selbst, „Eigentlich wolltest du doch nichts damit zu tun haben und jetzt jagst du einer fetten Krähe nach. Du bist einfach viel zu weich...dämlicher Trottel...“
Kurz darauf war er fast auf einer Höhe mit dem Vogel. Da die Höhlen schmaler und niedrigen wurde, konnte er nicht mehr so hoch fliegen. Rion versuchte ihn zu fassen, doch es wich ihm aus.
„Das Licht...ich muss es erwischen bevor es die Höhlen verlässt“, schoss es ihm durch den Kopf.
Er zog sein Schwert und drehte es so, dass er mit dem Griff nach oben die Krähe dazu bringen wollte den Splitter fallen zu lassen um ihn nicht zu verletzen.
„Lass es schon fallen“, bat er den zerzausten Vogel, doch der verlor nicht mal eine Feder.
Kreischend flatterte er voraus.
„So viel Stress wegen dem nervigen Ding“, fluchte er während er immer schneller lief und seine Stiefel donnerten über den harten Boden, „Dabei will ich es gar nicht...“
Kurz darauf stolperte er über einen der aus dem Boden ragenden Steine. Sein Schwert schleuderte über den Boden hinweg.
Der Vogel flog eine Wende und landete flatternd neben der Waffe.
Rion richtete sich auf und hielt sein schmerzendes Knie. Der schwarze Stoff färbte sich rötlich.
„Was für ein beschissener Tag...“, murmelte er und sah nach dem Vogel.
Aus leeren Augen beäugte dieser ihn.
„Gib das Ding rüber und verschwinde“, schlug er ihm vor, „ich habe heute keine Nerven für Spielchen, Kumpel“
Es rührte sich nicht.
„Bist du wirklich auf Stress mit mir aus?“, fragte Rion und humpelte zu ihm herüber, „ich will dir nicht weh tun...also sei ein kluger Vogel und fang keinen Streit an“
Plötzlich hüllte es sich in schwarzen Rauch. Rions Augen weiteten sich vor erstaunen, als eine vermummte, große Gestalt mit breiten Schultern heraustrat.
„Wow...“, meinte er anerkennend, „das ist ja echt mal ein krasser Trick“
„Sei mir gegrüßt“, sprach er mit tiefer Stimme und verbeugte sich vor ihm noch tiefer, „Mein Name ist Wendigo. Verzeih, dass ich dir nicht vorher in dieser Gestalt entgegen trat, doch hierin herrschen andere Mächte als meine. Es hätte einer zu großen Anstrengung benötigt“
„Äh...Hi“, meinte Rion kurz.
Nur die schwarzen Augen waren unter dem Mantel und den Tüchern zu erkennen: „Wir haben lange auf dich gewartet. Zu lange... doch nun bist du da“
„Freut mich auch...“, nickte Rion und hatte keine Ahnung, was der Typ von ihm wollte.
„Du bist das Seelengefäß nachdem wir Jahrhunderte gesucht haben“, eröffnete er ihm.
„Ich bin was?“, fragte er überrascht nach.
Er lächelte unter dem schwarzen Tuch, das sein Gesicht fast komplett verhüllte: „Du bist das Gefäß zweier mächtiger Seelen. In deinem Körper ruht eine weiße und eine schwarze Seele. Zwei Herzen schlagen in deiner Brust. Weder Engel noch Dämon und doch beides von ihnen“
„So ein quatsch“, entgegnete Rion, „ich habe keine Zeit für diesen Mist. Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?“
Wendigo hob das Schwert auf, das in seiner Hand nichts als ein rostiger Haufen Blech war und rammte es Millimeter neben Rions Kopf in die Steinwand: „Ich habe den weiten Weg hierher gemacht und du wirst mir zuhören“
Überrascht sah Rion ihn und dann seine Klinge an.
„Also“, fuhr Wenigo fort, „Du hast uns ziemlich viel Ärger gemacht. Trotz dem haben wir beschlossen dir zu vergeben. Wir sind ja keine Unmenschen...wir sind sogar bereit dir zu helfen“
„Wie soll das aussehen...?“, wollte er wissen.
„Unterbrich mich nicht!“, fuhr er ihn an.
Rion machte eine beschwichtigende Handbewegung.
„Wie ich bereits sagte“, knurrte er, „Sind wir durchaus geneigt dir zu helfen, indem wir dir dies überlassen“
Er nahm Rions Hand, drehte sie gewaltsam um und drückte ihm den Splitter in die Hand.
Rion blickte den Splitter an, dann Wendigo.
Er verzog den Mundwinkel und warf Wendigo den Splitter gegen den Kopf: „Ich mache mit dir keine Geschäfte“
„Geh mir nicht auf die Nerven!“, schrie er ihn an.
„Lass du mich in Ruhe“, bat Rion ihn, „Was soll ich damit?“
Wendigo atmete tief durch und drückte ihn Rion erneut in die Hand. Dieses Mal hielt er Rions geschlossene Hand jedoch mit aller Kraft geschlossen.
„Sieh mal, mein Junge“, begann er und rang mit seiner Fassung, „und bitte unterbrich mich nicht erneut. Dieser Splitter ist der Schlüssel zu einem Schloss aus Kristall. Zu einem Königreich von unschätzbarem Wert. Voller Juwelen und Gold“
„Warum solltest du mir helfen an einen solchen Schatz zu kommen?“, zweifelte Rion, „warum holst du ihn dir nicht selber?“
Wütend ließ er seine Hand los und schlug ihn gegen die Wand: „Ich habe dich gewarnt! Reiz mich nicht du Wurm. Ich biete dir hier ein einmaliges Geschäft an, einen Pakt“
Rion rieb sich die schmerzende Seite mit der er gegen die Wand geprallt war.
Derweil beruhigte Wendigo sich wieder: „Nun...wie sieht es aus?“
„Und was ist mit der Gegenleistung? Das war doch noch nicht alles...“, keuchte Rion und ging in die Hocke.
„Cleverer Bengel“, nickte Wendigo, „Was sonst sollte ich von dir erwarten. Du kannst dir nehmen was du willst, aber wir werden in diesem Reich herrschen“.
„An Herrschaft bin ich sowieso nicht interessiert“, entgegnete er, „Ich hasse Politik“
„Perfekt“, freute Wendigo sich und hob ihn unsanft hoch, „Hier ist der Vertrag“
„Vergiss es“, lehnte er ab, „ich schließe keinen Packt mit jemandem dessen Gesicht ich nie gesehen habe. Das hat mir schon mal nur Ärger eingebracht“
„In meinem Wortschatz existiert dieses Wort nicht!“, fuhr er ihn so plötzlich an, dass Rion leicht zusammen zuckte.
Rion musterte ihn: „Armer Kerl, soll ich es dir buchstabieren?“
„Spotte nicht, du kleines Scheusal!“, ärgerte er sich und zog sein Schwert aus der Wand.
Er schlug gereizt nach Rion und die Spitze der Klinge verpasste sein Gesicht um Haaresbreite. Ein paar Haarspitzen mussten dran glauben. Erschrocken wich er zurück und fiel nach hinten.
„Ich könnte dich ganz leicht durchbohren“, machte er seine Position deutlich, „unterschreib den Vertrag du Miststück!“
Rions Augen trafen seine und er wich ihm nicht aus: „Die Antwort ist N-E-I-N, gewöhn dich dran“
In Wendigos Pupillen loderten blutrote Flammen: „Die Unverschämtheit wirst du bezahlen. Wenn wir uns wider sehen, wird es deinen Kopf kosten. Du bist nur ein dummes Kind. Einzig Deelords Gnade wegen lasse ich dich heute davon kommen...sei dankbar du dreckige Ratte“
Rion sah ihn verdutzt an.
„Warum auch immer sie deine Macht der meinigen vorziehen. Du warst und bist ein mieser Verräter. Ich bekomme deinen Platz, verlass dich drauf Brüderchen...“, er warf ihm das Schwert vor die Füße, „und wenn es so weit ist, brenne ich darauf deinen Leib mit dieser rostigen Klinge zu durchbohren“
Er richtete seine Gewänder und lockerte den Körper: „Wie auch immer, da du deinen Teil der Abmachung nicht einhältst, gib mir den Splitter. Du willst ihn ja sowieso nicht“
Rion nickte: „Stimmt“
„Die Schatten...nicht die Schatten Rion. Es darf nicht an die Schatten fallen...“, baten die Winde.
Wendigo zog seinen pechschwarzen Dolch aus dem Mantel und griff nach Rions Hand. Er schnitt in seine Handfläche um eine frische Wunde zu bekommen und drückte den Splitter hinein bis der mit Blut vollgesogen war: „Dein Blut soll die Schatten nähren...“
Rion verfolgte das Geschehen mit zunehmender Skepsis.
Dann ließ er Rions Hand los und hielt den blutigen Splitter in die Luft: „Es ist vollbracht!“
„Ich dachte er reagiert mit Sonnenlicht“, bemerkte Rion und ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit.
„Kennst du die dunkelste Seite der Seele? Da ist kein Platz für Sonne. Ich ziehe den Schatten vor. Eine Welt, die von Schatten verschlungen und von Blut überzogen wird“, erklärte Wendigo noch immer fasziniert von seinem Schatz, „ich suche nach dem gigantischen Schattenkristall...“
„Dämonen...“, schoss es Rion durch den Kopf.
Er richtete sich auf und nahm von Wendigo unbemerkt eine Hand voll Steinstaub, der von den Wänden gerieselt war.
„Du hast es versaut, du musst es wieder gut machen“, sagte er sich selbst und streute Wendigo den Staub in die Augen.
Während er blind um sich schlug, entriss Rion ihm den Splitter, griff sein Schwert und rannte so schnell er mit dem blutigen Knie konnte zum Ausgang. Grell brannte das Licht in den an die Dunkelheit gewöhnten Augen. Einen Moment war er fast blind. Angestrengt mühte er sich den Weg zu erkennen und stolperte weiter. Wendigo stürzte hinter ihm her.
„Gib ihn her!“, forderte er ihn auf.
Rion stützte sich keuchend auf das schmerzende Knie. Sein ganzer Körper war angespannt. Stechender Schmerz durchzog seinen Körper. Vor allem die Hände brannten von dem Staub in der Wunde. Den Splitter hielt er in der geschlossenen, blutenden Faust. Er wusste, dass er ihm nicht entkommen konnte, doch den verhassen Splitter sollte er auch nicht haben.
Plötzlich erschien vor ihnen eine hohe Rauchsäule, deren grelles Licht sich seitlich ausbreitete als wolle es die gesamte Ebene überziehen.
Wendigo hielt sich die schmerzenden Augen mit dem rechten Arm bedeckt
„Engelmagie...“, erkannte er und schützte sich mit dem schweren Mantel, „das ist das Risiko nicht wert, sollte es die Königin sein“
So verschwand er unter einer winzigen, orangeroten Flamme im Nichts.

„Ich will gar nicht wissen, was das jetzt wieder ist...“, murmelte Rion genervt und bemerkte Wenigos Verschwinden, „aber wenigstens ist der eine Freak weg“
Erst jetzt löste das beißende Licht sich auf und eine junge Frau trat heraus: „Du bist es, nicht wahr Rion?“
„Sieht so aus“, meinte er kurz, „wenn du später gekommen wärst, hättest du mich aus Einzelteilen zusammenflicken müssen“
„Ich komme immer dann, wenn es für mich der richtige Zeitpunkt ist“, entgegnete sie und musterte ihn kritisch.
„Na herzlichen Glückwunsch, das du mich trotzdem lebend gefunden hast“, murmelte Rion, „was willst du von mir? Wer bist du überhaupt?“
„Mein Name ist Arla. Mein Herr schickt mich um dir bei deinem irdischen Vorhaben zu helfen“, beantwortete sie ruhig seine Fragen und ihre haselnussbraunen Augen schienen ihm zu durchdringen. Spiegeln konnte er sich in ihnen allerdings nicht.
„Gut, dass du da bist“, freute er sich, „zur Belohnung bekommst du ein wunderbares Geschenk“
Er hielt ihr den Splitter entgegen, sie wich erschrocken zurück als sie ihn sah.
„Hier, wenn du mir wirklich helfen willst, dann nimm du das Teil“, bat er sie.
Erneut wich sie weit zurück: „Nein, ich wage nicht ihn zu tragen“
„Warum nicht? Ich will das Ding auch nicht. Ich habe mit dieser Welt nichts zu tun. Gib es deinem Herrn oder sonst wem“, fuhr er fort.
„Es ist deine Geschichte. Du kommst aus dieser Sache nicht heraus, Rion. Dir bleibt nur die Legende zu erfüllen“, offenbarte sie ihm.
„Ich will aber nicht!“, beharrte er.
Verwundert blickte sie ihn an: „Du bist ganz schön stur. Warum hast du ihn Wendigo nicht überlassen?“
Rion zuckte mit den Schultern: „Ich weiß es nicht. Ich wollte, aber mein Kopf und mein Körper waren sich nicht einig. Mein Kopf sagt ja, aber mein Körper hat ihn nicht hergegeben“
„Worauf hörst du sonst?“, fragte sie herausfordernd, „Kopf oder Herz?“
„Eigentlich auf mein Herz“, musste er zögernd zugeben, „aber nur, wenn es nicht so herumspinnt“
„Du hast dich längst entschieden. Nur weißt du es selbst noch nicht“, meinte sie.
„Quatsch“, wies er entschieden zurück.
„Ich beweise es dir“, sagte sie kurz, „nimm ihn und schleudere ihn über die Klippen ins Meer!“
Rion sah erst sie an. Ihr langes Haar wehte im aufkommenden, kühlen Wind. Dann blickte er auf den Splitter und stellte sich an den Rand der Klippen. Weit holte er aus. Dann begann seine Hand stark zu zittern und die Finger öffneten sich, bis der Splitter ins Gras fiel.
„Das kann nicht sein...“, meinte er fassungslos.
„Doch“, nickte sie, „Dein Verstand kann diese mystischen Dinge noch nicht begreifen. Diese unscheinbaren Splitter sind der Schlüssel zu deiner Vergangenheit und der Zukunft. Ohne die Prophezeihung zu erfüllen Rion, wirst du niemals nach Hause zurück finden“
„Woher willst du das wissen?“, fragte er nach.
„Weil ich über den Dingen stehe. Ich weiß was war und was kommen wird...“, kaum hatte sie diese Worte gesprochen, da sackte sie in sich zusammen und fiel zu Boden wie ein Stein.
Erschrocken rannte Rion zu ihr herüber und stützte ihren Kopf auf seinen Beinen. Ihr rotes Kleid hatte einen leichten, fließenden Stoff. So weich wie aus Seide.
Erst kurz darauf öffnete sie langsam die Augen. Sie wirkten kühl und leblos. Ein leichtes Rehbraun.
„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte er sich leicht über sie bebeugt.
Erschrocken schreckte sie hoch und stieß mit ihren kopf gegen seine Stirn: „Au... oh entschuldige. Wer bist du?“
Rion hob eine Augenbraue und rieb sich die schmerzende Stelle: „Wie wer bist du? Du hast mich doch eben noch mit Rion angesprochen“
„Rion?“, ihre Augen weiteten sich, „du bist Rion?“
„Ja“, nickte er, „und du bist Arla. Ist das ne Preisfrage oder sind wir hier bei täglich grüßt das Murmeltier?“
In ihrem Gesicht war nichts als Ratlosigkeit zu lesen.
„Okay, vergiss es. Das ist nicht wichtig“, meinte Rion und reichte ihr die Hand um sie hoch zu ziehen.
Sie blickte ihn stumm an.
„Ich will dir helfen, gib mir deine Hand“, bat er und verdrehte die Augen, „oder willst du lieber noch liegen bleiben?“
Sie legte ihre Hand in seine und er half ihr auf die Beine zurück: „Ich muss ins Zwillingsbergdorf zurück und ein paar Sachen klären. Wohin musst du?“
Sie zuckte mit den Schultern: „Ich weiß es nicht. Ich habe ehrlich gesagt noch nicht darüber nachgedacht“
„Du hast nicht darüber nachgedacht?“, wiederholte er und kratzte sich am Hinterkopf, „weißt du überhaupt etwas?“
„Ich bin hier um dir zu helfen“, sagte sie.
„Richtig, das hast du gesagt“, erinnerte er sich, „es ging um die Splitter“
„Um was?“, fragte sie nach und runzelte die Stirn.
„Das hier“, zeigte er ihr das kleine Ding, „hast du die auch vergessen?“
„Hab ich noch nie gesehen“, versicherte sie ihm.
Rion seufzte: „Egal, im Dorf ruhst du dich erst mal aus, dann sehen wir weiter“
„Was für eine dämliche Angelegenheit“, dachte er für sich, „langsam glaube ich die wollen mich alle nur verarschen..."

Als sie im Dorf ankamen, lieferte Rion Arla im Gasthof ab und machte sich auf den Weg zu Yves Rumpolds Anwesen. Gern hätte Rion auf seinem Weg dem alten Mann von neulich etwas über die Ereignisse in der Höhle erzählt, doch er schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Nicht mal sein treuer Hund war zu sehen.
Endlich erreichte Rion die Tür zum Rumpold Haus und donnerte gegen die Tür. Die vergrämte Frau führte ihn erneut hinauf zu Rumpold. Dieser wartete auf dem Balkon, als wäre Rion nur ein paar Minuten weg gewesen.
„Rumpold“, begann Rion härter als seine Stimme klingen wollte.
Er sah kurz zu ihm herüber: „Was willst du noch?“
„Sie sind ein elender Lügner. Ich kenne die Wahrheit“, kam er auf den Punkt.
„Was willst du nach den Jahren denn gefunden haben, in den tiefen der Höhlen? Knochen können nicht reden. Du weißt gar nichts“, entgegnete er verächtlich.
„Sie haben sie getötet“, fuhr Rion unbeirrt fort, „und zwar nur wegen dieses kleinen Dings“
„Der Splitter!“, erkannte er und funkelte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, „gib ihn her! Er gehört einem Helden. Er wird mich heilen und unsterblich machen. Mit seiner Hilfe werde ich ewig jung und unbesiegbar sein. Ich werde der König der Könige, ein Herrscher wie einst Cäsar“
„Ich bin nicht daran interessiert an deinem Heldenstatus zu kratzen“, entgegnete Rion ruhig, „Wusstest du nicht, das die Übersetzung für Held gehirnamputierter Armleuchter ohne Eigeninitiative bedeutet? Kommt auf meiner Anti Favoritenliste gleich nach Soldat auf der hirnlos- aber- gehorsam- Skala. Mit anderen Worten: Nicht mit mir“
„Du bist nur ein Kind, was weißt du schon über Ruhm und Ehre?“, ärgerte Rumpold sich.
Rion grinste leicht: „Den Mist kannst du dir in die Haare schmieren, wenn das nach deinem Tod auf dem Grabstein steht“
„Ich werde eine Legende sein!“, schrie er, „also gib ihn her!“
„Eine Legende ist nichts als eine lyrisch verpackte Lüge“, lachte Rion, „das kranke Hirngespinst eines gelangweilten Autoren mit zu viel Fantasie“
„Diese wunderschöne Königin an meiner Seite wird mit mir zusammen die Welt regieren. Ich werde in gold und Diamanten schwimmen können. Alle Reichtümer der Welt gehören dann mir“, fuhr er mit seiner Schwärmerei fort. „Behalte den ganzen Quatsch. Was mich wirklich interessiert ist warum du sie alle ermordet hast. War dieses lausige Glitzerding all das Blut wert?“, fragte Rion, stellte dich direkt vor Rumpold und zeigte den Splitter in seiner Hand, „War es das wert?“
„Ja!“, antwortete er fast kreischend, dem Wahn nahe, „Ja, das war es wert. Es ist wert die Welt dafür zu verkaufen. Die Seele!“
„Du bist krank“, schüttelte Rion den Kopf, „wie kann so etwas winziges eine solche Macht haben?“
„Ich brauche ihn, nur mit ihm bin ich komplett“, flehte Rumpold.
Rion schloss die Hand wieder und steckte ihn weg: „In deinen Händen ist er zu gefährlich...“
„Warum bist du her gekommen? Bist du ein kleiner Dämon, der mein Leben zerstören will?“, wich Angst ganz plötzlich dem Wahn, „bist du gekommen um mich hinfort zu nehmen? Mich? Jetzt, wo ich dem wieder so nah bin? Warum quälst du mich Todesengel?“
Rion legte die Stirn in Falten: „Ich bin weder ein Dämon noch ein Todesengel. Ich bin nur zurück, weil ich das Gefühl habe den Toten ihren Frieden zu geben...“
„Eine Lüge wird zur Wahrheit, wenn niemand sie durchschaut“, beschwor Rumpold ihn.
Rion blickte mitleidig zu ihm herüber: „Es ist vorbei Rumpold. Genug mit den Lügen. Wie kannst du es ertragen jeden Tag in das traurige Gesicht der Frau eines Mannes zu sehen, den du getötet hast?“
„Sie wollten ihn mir nicht überlassen. Ich habe ihn gefunden! Ich was es! Sie wollten einen Teil meines Schatzes bekommen. So etwas Unverschämtes. Mit diesem Ding in der Hand bin ich königlich, nein... gottgleich! Diese erbärmlichen Versager glaubten es teilen zu können... teilen... meinen Splitter!“
Erst jetzt bemerkte Rion die Menschen, die unter den Balkon standen und atemlos lauschten.
In einem Anflug von Wahn fuhr Rumpold fort: „Ich habe sie getötet. Ich war wie ein Gott. Ich habe sie erstochen, Huges der Feigling wollte fliehen. Ich habe ihn ertränkt. Ich kannte seine Angst vor dem Wasser! Sie waren Würmer! Nur ich war heroisch, nur ich lebe noch. Der Sohn des Alten wollte mich verraten. Ich habe ihn erschlagen. Ich schlug seinen Kopf gegen die Wand bis er endlich still war! Denn ich bin der neue Herrscher unter dem Himmel! Ich!“
„Was ist mit deinem Bein, du Held?“, erkundigte Rion sich voller Abscheu.
„Da war ein Monster. Ein scheußliches Monster. Ich stürzte über messerscharfe Steine. Es hat mein Bein zertrümmert! Es wagte es! Und dann floh es vor mir. Vor seinem Herrscher. Es hat mich verflucht!“, schrie er in blinder Rage.
„Das wird dann deiner sein“, meinte er und warf ihm das verrostete Messer in den Schoß.
„Ja, damit habe ich einen der Würmer umgebracht!“, rief er stolz und hielt es fest in der Hand.
„Was ist mit Davas Mann?“, wollte Rion wissen.
„Tot“, hauchte er, erhob sich und riss die Augen weit auf, „alle sind sie tot. Huges, der Feigling...tot!“
„Mörder!“, kreischte Dava von der Balkontür aus. Weder Rion noch er hatten sie zuvor gesehen.
„Du widerlicher Mörder!“, stürzte sie auf ihn zu und schlug mit den geballten Fäusten auf ihn ein.
Rion versuchte sie von ihm weg zu ziehen, doch sie hatte eine unglaubliche Kraft durch die Enttäuschung und die Wut der Jahre. Sie schlug, schrie, weinte und fluchte.
Mit einer verzehrten Fratze des Wahnsinns starrte Rumpold Dava an und brach ihr mit einer schnellen Handbewegung das Genick. In Sekunden war es still und sie brach vor Rion zusammen.
Rion kniete sich zur armen Dava herunter und schloss ihre vor Schreck geweiteten Augen: „Jetzt hat alle Welt gesehen, dass du nichts als ein widerwärtiger Mörder bist...“
„Ich bin ein Gott!“, verbesserte er Rion und drehte sich lachend im Kreis.
Aus dem verzehrten Gesicht wurde eine grausam verformte Gestallt. Rumpold wandelte sich in ein Wesen, das aussah wie direkt der Hölle entstiegen: „Ich habe meine Seele gegeben um ein Gott zu sein!“
„Dann sieh dich an was du geworden bist, ein Monster“, bemerkte Rion kopfschüttelnd.
Es kreischte wild auf und trat aus der Hülle hervor. Es glich einem Werwolf mit borstigem, stumpfen Fell und strengen Schwefelgeruch. Das riesige Maul hatte drei Zahnreihen und er wuchs um das doppelte an. Aus den klumpigen Klauen stießen lange Rasiermesser hervor. Er stellte sich aufrecht hin, aus dem Rücken stiegen stachelartige Kämme heraus.
Rion griff entsetzt sein Schwert. In der Menschenmenge entdeckte er den alten Mann und Hektor. Dieser schlug sogleich aufgeregt an. Sogar das seltsame Mädchen aus der Bar. Gestärkt durch den Gedanken den Menschen das Gefühl von Wiedergutmachung und den Toten ihre Ruhe zu schenken, stellte er sich dem ohne Zweifel überlegenen Gegner entgegen.
Über die entstellte Fratze huschte ein überlegenes Lächeln. Rion verstaute den Splitter sicher und ließ sein Schwert in der Hand kreisen. Das kühle Metall beruhigte ihn. Er fixierte das Monster mit seinen wachen Augen und versuchte seine Schwachstelle zu erraten. Sekunden standen sie still da. Rions Brustkorb hob und senkte sich rhythmisch mit dem von Rumpold. Dann griff er die Klinge so fest er konnte.
„Bist du bereit?“, forderte er ihn heraus.
Rions trockene Lippen formten sich zu einem breiten Grinsen: „Ich hab nur auf dich gewartet“
Er erwiderte mit brüllendem Gelächter: „Dann ist die Zeit gekommen zu sterben, Splitterdieb!“
Hauchdünne Schweißrinnen liefen Rions Stirn entlang. Er fühlte sich kühl an.
„Aber nicht halb so kalt wie deine Leiche, wenn du nicht langsam mal den Arsch hoch kriegst“, dachte er sich und stürmte auf das Biest zu.
Lachend wich es mit einem Sprung aus. Er befand sich schneller in Rions Rücken als dieser gucken konnte und holte aus. Rion wich ihm schnell zur Seite aus und die Krallen streiften nur oberflächlich sein Shirt. Erleichtert Atmete Rion durch und wich ein weiteres Stück zurück um eine bessere Angriffsbahn zu haben.
„Das war verdammt knapp“, erkannte Rion, „noch so´ne Aktion und die können dich vom Balkon kratzen. Aber wenigstens weiß ich jetzt, dass er schnell ist...“
Wenn diese Erkenntnis auch wenig tröstend war.
Es sprang auf das Geländer, welches den Balkon umgab und schien seinen nächsten Angriff zu planen.
Rion zog seinen Kukri und schleuderte ihm mit aller Kraft gegen Rumpold. Dabei mühte er sich auf Höhe des Kopfes zu bleiben. Doch das seltsame Monster duckte sich darunter hinweg. Es schien sich mit Wurfwaffen auszukennen, da es wusste, dass der geschleuderte Kukri immer wieder zurück kam und entging so auch diesem Angriff. Rion verzog verärgert den Mund und seine Waffe schlug links oben in die Hauswand ein. Rion beobachtete es entsetzt, denn von seiner Position aus war es unmöglich den Kukri zu erreichen. Doch kaum hatte er sich von dem Monster weggedreht, baute es sich direkt vor ihm auf. Rion war so überrascht, dass er kaum darauf reagieren konnte. Mit der Pranke, die nicht mit Krallen versehen war schleuderte er ihn über den Boden. Schnell stand Rion wieder auf.
„Was du dringend brauchst ist ein Plan!“, drängte er sich selbst und blickte suchend um sich.
Es ließ ihm jedoch nicht die Zeit zum Nachdenken und schlug ihn hart gegen die Hauswand. Rion sah die tote Dava gegenüber von sich liegen. Sein wohl einziger Gedanke war: „Ich darf nicht so enden!“
Über ihm steckte der Kukri in der Wand. Trotz seiner fast einem Meter neunzig befand er sich noch gut eineinhalb Meter über seinem Kopf.
Rumpold presste Rions Körper fest gegen den Stein und holte mit der Krallen versehenden Pranke weit aus. Sie sahen sich tief in die Augen.
„Nicht mit mir Rumpold...“, dachte er sich und trat ihm mit voller Wucht gegen das Schienbein.
Für den Bruchteil einer Sekunde lockerte er seinen Griff und schlug dann die Krallen auf Rions Kopfhöhe zu. Ein lautes Krachen übertönte die diskutierende, verängstigte Menschenmenge unter dem Balkon. Bruchstücke von der Wand verteilten sich in alle Richtungen. Der Putz bröckelte herunter. Dort, wo Rion stand klaffte nun ein tiefes Loch. Rion starrte mit großen Augen darauf. Er hatte sich rechtzeitig darunter weg geduckt und seinen Moment der Ablenkung genutzt. Schnell sprang er auf die Pranke und von dort an seinen Kukri. Nun hing er Meter über dem Boden an seiner Waffe, die sich nicht aus der Wand ziehen ließ. Er hing sich mit all seinem Gewicht daran, doch es rührte sich nicht. Wütend schlug er nach Rion, der immer auszuweichen versuchte. Rion versetzte ihm einen heftigen Tritt ins rechte Auge. Taumelnd wich es etwas zurück. Doch Rions Hoffnung es würde über das Geländer stürzen ging nicht auf. Er stand nur davor und Schrie vor Schmerz. Rion gelang es endlich seine Waffe aus der Wand zu befreien indem er mit seinem Schwert nachhalf. So landete er unsanft, hatte aber den Kukri zurück. Als er sich aufrichtete und die Klinge in Richtung des Wesens hielt, begann sie heller den je zu strahlen. Ein greller Schimmer vergrößerte sie Optisch. Plötzlich unterbrach ein lauter Knall die Stille. Erschrocken zuckte Rion kurz zusammen. In der Brust von Rumpold klaffte ein winziges Loch. Rion nutzte den Augenblick und rief den Menschen zu: „Verschwindet da!“
Dann rannte er auf Rumpold zu und rammte ihm das Schwert mit aller Wucht in den harten Leib. Kreischend stürzte es über das Geländer herunter und zuckte noch kurz. Dann blieb es regungslos liegen. Rion trat an den Balkon heran. Die Menschen blicken sich verstört um. Erst jetzt sah er den Alten, der in den zittrigen Händen ein Gewehr hielt. Rion lächelte zu ihm herunter und hob den Daumen. Der Mann erwiderte nickend und ließ die Schusswaffe zu Boden fallen. Unter lautem Gepolter blieb sie liegen. Hector beschnüffelte neugierig den Leichnam von Rumpold, dessen Gestalt sich bereits wieder zu einem Menschen gewandelt hatte. Rion sprang zu ihnen herunter.
Hector kam Schwanz wedelnd auf ihn zu und leckte ihm über die Wange, während Rion sein Schwert an sich nahm.
„Guter Junge“, beruhigte er das Tier und drückte sich an den breiten Leib des Hundes.
Eine Hand legte sich schwer auf seine Schulter: „Siehst du, es gibt keine Monster in den Höhlen. Wir sollten sie nicht in Gestalt unbekannter Wesen suchen. Viel mehr in Gestalt der Menschen“
„Ja...“, musste Rion ihm zustimmen, „sie haben wohl Recht“
Der Alte hob den Zeigefinger: „Aber du hast uns von diesem Monster erlöst junger Rion. Wir haben dir sehr viel zu verdanken“
„Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre die Sache vielleicht ohne Tote ausgegangen“, warf er ein und seine Augen ruhten auf Rumpold.
Doch er schüttelte den Kopf: „Du hast das Richtige getan. Du hattest als Einziger den Mut dazu“
Rion nickte kurz und er fuhr fort: „Du bist ein wahrer Held...“
Seufzend erhob er sich und kraulte Hector kurz am Kopf. Dann ging er zum Gasthaus hinüber.
„Jetzt wird endlich Ruhe einkehren!“, rief er ihm nach, „du hast uns den Frieden zurück gegeben“
Die Leute stimmten zu und kurz darauf schallten „Rion, Rion“ Sprechchöre aus allen Ecken des Dörfchens.
Rion kratzte sich ein wenig verlegen am Hinterkopf und lächelte in die Menge, dann verschwand er im kargen Gasthaus.
Dadurch, dass die Vorhänge die Sonne abhielten war es drinnen angenehm kühl und deutlich dunkler als draußen.
„Hier bist du jetzt ein Held“, bemerkte Mirtha anerkennend.
Rion ließ sich auf einen der Stühle sinken: „Scheint wohl so...“
Sie stellte ihm ein Glas Wasser hin und kniete sich zu ihm: „Für diese Leute waren die letzten Jahre eine Qual. Aber jetzt bist du gekommen und hast ihnen geholfen. Sie sind dankbar und glücklich...und ich bin es auch“
Rion umfasste das eiskalte Glas: „Warum fühlt es sich dann nicht ruhmreich an? Weißt du, ich fühle mich nicht wie ein Held“
Ihre fragenden Augen trafen seine und sie lächelte: „Männer sind seltsame Wesen“
„Es ist einfach so, dass diese Männer trotzdem tot sind. Dazu kommt jetzt noch Davas Tod und natürlich Rumpold...“, zweifelte Rion an der Sache.
Sie schüttelte den Kopf: „Rumpold war ein Lügner und ein Mörder. Er hat den Tod verdient“
„Ja...vielleicht. Aber Dava würde noch leben“, meinte er und stützte den Kopf auf das Handgelenk.
„Das war Schicksal“, war sie sich sicher, „das Schicksal hat dich zu uns geführt“
„Wollen wir es glauben“, beschloss Rion und trank sein Glas aus, „wo steckt eigentlich das verwirrte Mädchen?“
„Sie ist schon lange weg“, eröffnete Mirtha ihm.
„Weg?“, fragte er überrascht nach, „Wieso?“
Sie zuckte mit den Schultern: „Aber sie hat deinen Kampf gesehen. Sie hat komische Sachen gefaselt. Irgendwas von einem Meister und dem Schwert mit dem du gekämpft hast. Heißt es wirklich Aura?“
Rion nickte: „Ja...aber woher will sie das wissen? Das verstehe ich nicht“
„Das kannst du auch nicht“, lächelte sie, „Sie ist ein Mädchen...“
Rion musste grinsen: „Okay...da hast du wohl recht. Wenn sie sich erinnert ist es um so besser. Ich muss jetzt wieder gehen Mirtha"
Sie schüttelte energisch mit dem Kopf: „Vergiss es! Du ruhst dich aus, isst und gehst erst Morgen nach Sonnenaufgang zurück“
Rion wusste, dass sie nicht nachgeben würde und willigte ein.

Am Morgen wurde er früh von Mirtha aus dem Bett geschmissen und es gab ein ausgiebiges Frühstück. Rion packte entspannt seine Sachen zusammen. Der lange Schlaf hatte seinem Körper gut getan. Endlich konnte er die halb verheilten Wunden der vergangenen Tage richtig auskurieren und Frische tanken.
Er stapfte in den Vorraum des Gasthauses zurück. Mirtha schien ihn schon erwartet zu haben.
„Rion!“, freute sie sich und warf den alten Putzlappen weg, „willst du wirklich schon gehen? In zwei Tagen ist Davas Beerdigung...“
„Tut mir leid. Ich muss zurück“, musste er ablehnen, „außerdem versuche ich Beerdigungen zu meiden“
„Ich verstehe“, nickte sie.
Rion nahm sie in den Arm: „Danke für deine Fürsorge und das gute Essen“
Ihr Herz schlug höher, als er sie zum Abschied küsste. Es war nur ein ganz kurzer Kuss, aber der erste, den sie je bekam.
„Leb wohl...“, wünschte er ihr.
„Rion...“, hielt sie ihn kurz zurück, „wenn du...irgendwann mal nach einer Braut suchst, dann...“
Er musste leicht grinsen: „Dann weiß ich, wo ich dich finden kann“
Sie nickte strahlend: „Leb wohl Rion...mein Held“
„Kein Held“, bat er sie im Hinausgehen, „Bitte nenn mich nur Rion“

Kaum hatte er das Tor passiert, da lief Hector ihm entgegen und sprang erfreut an ihm hoch. Rion freute sich fast ebenso und kniete sich zu ihm hinunter: „Hey alter Junge. Ich muss leider zurück nach Hause“
„Du verlässt uns schon“, seufzte der Alte.
Rion nickte: „Ja, es wird Zeit. Sie warten sicher schon alle auf mich“
„Dann kannst du deinen Erfolg gar nicht genießen“, meinte er.
„Sie haben genau soviel Anteil daran“, entgegnete Rion.
Der Alte lächelte selig und blickte gen Himmel: „Sieh nur Rion. Die Sonne lacht. Sie strahlt heller den je und nicht eine Wolke am Himmel. Gregory ist dir sehr dankbar. Er und die Anderen Männer werden von nun an Frieden finden. Ist das nicht tröstlich?“
„Ja, das ist es“, musste Rion ihm beipflichten.
Er erhob sich und strich über Hectors Rücken: „Auf Wiedersehen, alter Kumpel“
„Lebe wohl mein Junge“, drückte der Alte Rion an sich, „ich wünschte du wärst geblieben. Zuerst dachte ich der Himmel schenkt mir in dir eine zweite Chance ein guter Vater sein zu können“
„Es tut mir leid. Aber niemand hätte ihren Sohn ersetzen können...“, versuchte er ihn zu trösten, „ich hatte nie einen richtigen Vater aber ich denke sie waren ein wunderbarer Dad, so sehr sie Gregory geliebt haben. Er ist sicher wahnsinnig stolz auf sie"
„Geh nun mein Junge“, verabschiedete er ihn mit tränen in den Augen.
„Wenn ich nicht in einem so furchtbaren Schlamassel stecken würde, wäre ich bestimmt geblieben“, tröstete er ihn und machte sich auf den Weg zurück.
„Möge der Himmel dich schützen“, sagte der Alte und winkte ihm noch lange nach.
Rion winkte kurz zurück. Hector lief ihm kurz nach, dann legte er sich ins Gras und blickte ihm nach, selbst als er längst schon nicht mehr zu sehen war. Der treue Begleiter neigte den Kopf und jaulte ganz leise vor sich hin, bis der Alte ihn tröstete...

Fortsetzung folgt in CbP II
Vielen Dank fürs Lesen, ich hoffe Sie hatten Freude daran :0)


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 06.09.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Schwester Ina, meine beste Freundin Lana und meinen Dad, die immer an mich glauben und für mich da sind. Ich liebe euch!

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