London 1990
Es war außergewöhnlich ruhig, als eine kleine unscheinbare Gestalt die Straßen herunter eilte. Alle paar Meter warf sie einen Blick über die Schulter, als hätte sie Angst, verfolgt zu werden. Ihr Weg war nur von einigen Straßenlampen beleuchtet. Eine von ihnen erzitterte kurz, dann erlosch sie.
Schwer atmet hielt die Gestalt an. Sie war weit gelaufen und Schweiß tropfte von ihrem schönen, ovalen Gesicht. Ihr Herz pochte heftig in ihrer Brust und sie verspürte nur den Wunsch, sich in ihr warmes Bett zu legen und zu schlafen. Sie warf erneut einen Blick über die Schulter. Vielleicht war sie ja entkommen?
Die junge Frau riskierte einen Moment, um sich auf eine Parkbank zu setzten. Aus ihrer Jackentasche zog sie ein kleines Päckchen. Gott sei dank,dachte sie. Es war noch da.
Dieses kleine Päckchen war die gesamte Existenz ihrer Familie. Es war das einzige,was sie nach London hatte retten können, als sie aus Wolgograd geflohen war. Doch nun war es hier nicht mehr sicher. Säuerlich verzog sie das Gesicht. Schon seit Wochen spionierte man sie aus, rief sie nachts an und verfolgte sie sogar auf die Toiletten in den teuren Restaurants. Nur um ihr die allgegenwärtige Präsens des.. ja, wer waren diese Männer bloß? Doch nicht etwa der KGB, jetzt, wo die Sowjetunion doch kurz vor ihrem Ende stand? Die junge Frau konnte es sich nicht erklären und das war das schlimmste. Dieses Gefühl,von einer unbekannten Gruppe verfolgt zu werden. Sie hatte bereits um Polizeischutz gefleht,doch die hatten sie ausgelacht. So hatte sie bloß Anzeige gegen Unbekannt erstatten können und seither hatte ihre Lage sich zusehends verschlimmert. Nirgendwo war sie mehr sicher.
Dabei war ihr nur zu klar, dass es diesen Männern nicht um sie ging. Ihnen ging es nur um dieses verdammte Päckchen. Inzwischen bereute sie es, es überhaupt mitgenommen zu haben.Sicher, es waren Erinnerungen, doch es war auch Vergangenheit. Ein Geschenk ihrer Großmutter, Babuschka Mascha. „ Bewahre es gut auf!“, hatte sie gesagt. Und die junge Frau hatte es getan. Doch heute war dieses Geschenk nur ein Fluch.
Plötzlich hörte sie Stimmen hinter sich und sie sprang auf. Sie begann zu laufen, dennoch wurden die Stimmen lauter.
Der Angstschweiß breitete sich auf ihrem Körper aus. Die Schritte der anderen kamen näher, immer näher. Sie waren zu nahe.
Wo waren bloß all die Menschen, dachte sie panisch. Weshalb ließ man sie gerade heute Nacht allein?
Ihr Ende war nah, das spürte sie. Kurzentschlossen riss sie das Päckchen aus ihrer Tasche und warf es in die Themse.
Ein Schuss ertönte.
Eine junge Frau lag auf dem Boden, die Gliedmaßen verrenkt. Ihr Blick war kalt und leer, wie der Sternenhimmel über ihr. Aus ihrem Rücken tropfte eine rote Blutlache, als Zeichen, dass der Schütze sein Ziel verfehlt hatte.
Grobe Hände rissen sie herum. „ Ricerche si!“. Der Reißverschluss des dunkelgrünen Parkers der Frau wurde aufgerissen, man durchsuchte die Taschen, innen, wie außen. Zum persönlichen Vergnügen griff man noch unter das Kleid der Toten, um sich an den prallen Brüsten zu erfreuen.
Doch es war nicht da. Die Kieferknochen des Anführers knackten. Diese verdammte Hure! Wochenlange Arbeit, vollkommen umsonst! Der Zorn erfüllte die Adern seinen Körpers, bis er, aus einem Wutanfall heraus, seinem Nebenmann in die Eier trat. Sie würden das Päckchen finden. Und wenn es das letzte war, was sie taten.
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Tag der Veröffentlichung: 26.12.2012
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