Cover

Prolog

Blake war seit fast zwei Jahren an der XX und hatte es erfolgreich geschafft jeglichen sozialen Kontakt zu vermeiden. 

Menschen sollten ihm nicht zu nahe kommen. Und das musste er wohl auch ungefähr so deutlich ausstrahlen, wie es ein Neonschild in seiner Hand getan hätte, denn niemand hatte in den zwei Jahren, die er hier verbracht hatte sonderlich hartnäckig versucht ihn kennen zu lernen. Vor allem am Anfang hatte er viel Aufwand betrieben, um Menschen aus dem Weg zu gehen. 

Er war zufrieden damit wie die Dinge nun waren. Die Dinge standen vielleicht nicht gut, aber es war auch nicht schlecht. Alles war okay so wie es war. Er kam mit seinem Leben klar und das war wesentlich mehr als sich noch zwei Jahre zuvor über sein Leben sagen ließ. 

Es gab viele Momente im Leben eines Menschen, die einen veränderten. Bei ihm waren es sieben Monate gewesen, die sein komplettes Leben auf den Kopf gestellt hatten, bis nichts mehr war wie zuvor. 

Nur leider war es keine Veränderung zum Besseren gewesen. 

Ja er war ein anderer Mensch. Ein Mensch, den er nicht mehr mochte, nur noch ertrug. 

Er war einmal beliebt gewesen, hatte Freunde, eine innige Beziehung zu seiner Mutter, war selbstbewusst, ja fast schon nervtötend von sich überzeugt gewesen. Er war ignorant gewesen gegenüber allen, die ihm sein Aussehen, seine reichen Eltern, sein Sportstipendium oder seine guten Noten neideten. 

Er war einer dieser Glückspilze gewesen denen alles zu fiel. Bis er es eben nicht mehr war. 

Mit seinem perfekten Notenschnitt hätte er sich später bei jedem IvyLeage College bewerben können, aber für ihn stand außer Frage, dass er später professionell Icehockey spielen würde. Er hatte Talent und Vertrauen, dass das auch der NHL nicht entgehen würde.

Er hatte gewusst, dass es nichts gab, das er nicht tun konnte, wenn er es nur wirklich wollte. Er war glücklich gewesen wenn er icehockey spielen, surfen oder mit Freunden unterwegs war und nichts in seinem Leben hatte er für etwas anderes als selbstverständlich gehalten. 

Mittlerweile gab es nicht mehr viel selbstverständliches in seinem Leben und „glücklich“ war verschwunden und durch „zufrieden“ ersetzt worden.

Und „zufrieden“ war ein sehr dehnbarer Begriff. 

Er war zufrieden, wenn er in der Öffentlichkeit war, ohne eine Panikattacke zu bekommen, wenn er eine Nacht durchschlief, wenn die Schmerzen nachließen, wenn er alleine war und niemandem vorspielen musste, dass er sein Leben im Griff hatte.

Was für ihn heutzutage Glücklichsein am nächsten kam, war lesen und im Pool hinter dem Haus zu schwimmen. Stundenlang, bis seine Muskeln protestierten. 

Die zwei Jahre, die er in XX verbracht hatte waren alles andere als leicht gewesen. 

Der Anfang war schwer gewesen, weil es der Anfang war. Nach dem er den Anfang hinter sich hatte und fast ein Jahr in XX war, hatte er festgestellt, dass seit den 7 Monaten fast zwei Jahre vergangen waren und sein Leben sich wohl soweit normalisiert hatte, wie es möglich war und kaum weitere Durchbrüche zu erwarten waren. Zu dem Zeitpunkt hatte er das erste mal darüber nachgedacht aufzugeben. Er war einmal ein positiver Mensch gewesen und „aufgeben“ war für ihn lange Zeit kein Teil seines Wortschatzes, aber da hatte ihn zum ersten mal alle Hoffnung verlassen. 

Nein falsch, zum zweiten Mal hatte ihn alle Hoffnung verlassen. 

Nur dass es ihm dieses mal körperlich so gut ging wie es ihm möglich war und sich sowohl in der Schule als auch zuhause eine Routine eingestellt hatte. Und doch war er so unglücklich gewesen wie nie zuvor in seinem Leben und sah keine Chance, dass sich das jemals ändern würde.

Zu der Zeit war er draußen im Wald durch den Schnee gerannt. Schneller als er es in Jahren getan hatte, schneller als er sollte. Doch Frust, Wut, Trauer und Hoffnungslosigkeit hatten ihn den Schmerz vergessen lassen und seine Schritte beschleunigt. Bis sein angeschlagenes Bein unter ihm nach gab und er den Abhang hinunter stürzte. 

Er lag im Schnee auf dem Rücken und konnte genau spüren, an welcher Stelle sein Bein ein weiteres mal gebrochen war. Er fischte sein Handy aus seiner Jackentasche und war kurz davor den Notruf zu wählen. Doch er überlegte es sich im letzten Moment anders und warf sein Handy weg. Wenn er es gewollt hätte, hätte er auch mit einem gebrochenen Bein den Abhang hoch klettern können, aber das musste niemals jemand erfahren. Stattdessen sah er hoch zu den Baumkronen und genoss die Kälte und Erleichterung die ihn befiel. Ein Unfall. Das war alles was er war. 

Und dennoch war er nun, ein Jahr nach diesem Ereignis, immer noch hier. Fast in der gleichen Situation wie damals, mit dem kleinen Unterschied, dass er nun wusste, dass er selbst zum sterben als er die Chance dazu hatte nicht in der Lage war. Selbstmord kam für ihn nicht in Frage. Vielleicht lag es daran, dass ein winziges bisschen Kampfgeist in ihm überlebt hatte, oder aber  daran, dass er seiner Mutter bereits viel zu viel Kummer bereitet hatte und kein Recht darauf hatte dem ganzen noch den Selbstmord ihres einzigen Kindes hinzuzufügen. 

Deswegen warf er seine Schultasche auf den Beifahrersitz und klemmte sich hinter das Lenkrad seines Wagens um wie nach jedem erfolgreichen Schultag nach Hause zu fahren. 

Das große Haus war totenstill, wie er es mochte, seine Mutter noch bei der Arbeit. 

 

Stunden später hörte er wie die Haustür aufgeschlossen wurde und jemand den Flur betrat. Er wusste, dass es seine Mutter war, die von der Arbeit nachhause gekommen war und dennoch konnte er nicht verhindern wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Angst war sein ständiger Begleiter. 

Er gab sich selbst einen Ruck und lief den Flur entlang in das Wohnzimmer. 

„Hey Schatz“, begrüßte ihn seine Mutter. 

„Wie war es in der Schule?“

Ihr Ton war bemüht unbeschwert. Von ihrem guten Verhältnis war genau wie vom Rest seines alten Lebens kaum etwas übrig geblieben, obwohl sie sich beide Mühe gaben. Aber seine Mutter schien genauso ahnungslos wie er selbst, wenn es darum ging die Beziehung zwischen ihnen wieder herzustellen. Vielleicht sogar ahnungsloser, denn er wusste wenigstens, dass er zu Nähe und Vertrauen einfach nicht mehr im Stande war. Trotzdem gab er sich Mühe ihren unbeschwerten Ton nach zu machen.

„Alles gut. Wie war die Arbeit?“ 

Seine Mutter runzelte leicht die Stirn. Sie wirkte untypisch nervös und er wartet geduldig darauf was sie zu sagen hatte. Auch sie hatte sich verändert in den letzten drei Jahren.

Früher einmal waren sie sich recht ähnlich gewesen. Seine Mutter war niemand der schnell aufgab. Sie war voller Lebensfreude und Energie. Sie war intelligent, wunderschön und bekam in der Regel was sie wollte. Nicht ohne Grund war sie XX einer der größten XX Firmen des Landes.

Nun waren in ihrem Gesicht kleine Fältchen, die drei Jahre zuvor noch nicht dort gewesen waren. Sie hatte vereinzelte graue Haare und von der Lebensfreude war nicht mehr all zu viel übrig geblieben. 

„Wir haben einen neuen Aufrage bekommen“, begann sie.

„Mir wurde die Betreuung einer neuen Geschäftsstelle in XX angeboten“ die unterschwellige Frage war unschwer heraus zu hören. 

„Willst du die Aufgabe denn übernehmen?“, fragte Blake und gab sich Mühe die Gleichgültigkeit aus seiner Stimme zu verbannen.

„Es klingt sehr interessant und ich bin auch schon ein, zwei mal nach XX geflogen um mit den Leuten vor Ort zu reden. Alle machen einen sehr netten Eindruck. Ich hab mich nach Schulen und potentiellen Häusern umgesehen. Die Stadt liegt zwar nicht direkt am Strand aber doch recht nahe. Ich vermisse das Meer“ Blake war doch etwas überrascht davon wie sehr sich seine Mutter schon damit beschäftigt hatte, ohne es auch nur mit einem Wort zu erwähnen.

„Wenn du die Schule nicht wechseln willst, ist das natürlich vollkommen in Ordnung. Wir müssen nicht umziehen. Wir machen was auch immer am besten für dich ist.“, beeilte sie sich hinzu zu fügen. Sie klang entschieden dabei. Seine Mutter wollte, dass er glücklich war. Leider war das einzige was ER wollte -zumindest von all den Dingen die im Bereich des Möglichen lagen- das SIE glücklich war. 

Vielleicht waren sie sich immer noch ähnlicher als er dachte. Er unterdrückte ein Seufzen.

„Ich habe überhaupt nichts dagegen die Schule zu verlassen“ es war nicht gelogen. Die Schule war ihm gleichgültig. 

„Wenn du die Aufgabe übernehmen willst sollten wir umziehen.“

Seine Mutter sah nicht überzeugt aus.

„Sonne und Meer klingen gut.“ fügte er hinzu und gab sich alle Mühe motiviert und nicht verbittert zu klingen. Er würde nie wieder auf einem Surfbrett stehen. Er würde auch nie wieder nur in Badeshorts bekleidet am Strand liegen und die Sonne genießen. Aber wenn es das war, was seine Mutter wollte, würde sie es bekommen. 

Eine Aufgabe oder ein Ziel zu haben fühlte sich gut an. 

Ziel: seine Mutter glücklich machen. 

Und er würde verdammt noch mal nicht scheitern.

Ein Lächeln der Vorfreude stahl sich auf ihr Gesicht.

1. Blake

Nun saß ich hier, hinter dem Steuer meines XX und konnte mir noch so sehr einreden wie toll es sich anfühlte ein Ziel zu haben. Das änderte nichts daran das mir mein Arsch gerade ordentlich auf Grundeis ging. Als ich meiner Mutter gesagt hatte, dass der Umzug in eine neue Stadt eine total tolle Idee war, habe ich nicht damit gerechnet wie eilig sie es damit hatte. 

„Nach Häusern und Schulen umgeschaut“ hieß im Klartext, dass sie beides bereits fest im Blick hatte wie ich später erfuhr. Das meine Mutter bis zu den Sommerferien warten würde und ich mich mental auf das Ganze vorbereiten konnte, war wohl ein Wunschtraum gewesen. Also hatte ich nur zu allem genickt und weiterhin Wohlgefallen geheuchelt. 

Dass ich kein Problem damit hatte meine alte Schule zu verlassen war nicht direkt eine Lüge gewesen. Das Problem war nicht die alte Schule, die würde ich keine Sekunde vermissen, das Problem war die neue Schule. Ich saß im Auto auf dem Schulparkplatz und kämpfte gegen die Panik an, die mich befallen wollte. Allein die Vorstellung so viele neue Leute kennen zu lernen löste Brechreiz in mir aus. Die Tatsache, dass ich ungewöhnlicher weise mitten im Schuljahr -es war gerade März- wechselte, also noch mehr Aufmerksamkeit erregen würde als ohnehin schon, machte die Sache nicht unbedingt besser. 

Trotzdem. Ich hatte lange genug hier im Auto gesessen. Ich war verdammt noch mal ein 1,92 großer 18-jähriger Kerl, der fast einen Nervenzusammenbruch wegen dem ersten Tag an einer neuen Schule hatte! Einfach nur erbärmlich.

Ich gab mir einen Ruck und öffnete die Autotüre. Ich stieg aus, schloss ab und machte mich dann langsam und erhobenen Hauptes auf den Weg zum Schulgebäude. Ich lief aufrecht und belastet mein rechtes Bein stärker als ich sollte, um mein Hinken so gut es ging zu verbergen. Ich wusste, dass es mir meine Hüfte heute Abend nicht danken würde, aber ich wusste auch, dass ein guter Angriff die beste Verteidigung war und der sicherste Weg ein Opfer zu werden der war, Schwäche zu zeigen. Ich wischte meine schweißnassen Hände an meiner Jeans ab bevor ich das Schulgebäude betrat und mich auf den Weg ins Sekretariat machte. Zum Glück hatte ich mittlerweile jede Menge Übung darin meine Panik zu verbergen. 

Sofort nachdem ich das weitläufige Sekretariat betreten hatte kam mir eine kleine, überschwänglich lächelnde Frau entgegen.

„Du musst Blake Wesley sein!“, sagte sie mit einem warmherzigen Ton und ergriff meine Hand um sie zu schütteln und ich wendet jedes bisschen Selbstbeherrschung an, das ich besaß, um sie ihr nicht sofort wieder zu entreißen und die Berührung über mich ergehen zu lassen.

„Wir haben bereits auf sie gewartet“, fügte die wesentlich weniger großzügig wirkende Frau, die hinter dem Tresen saß vorwurfsvoll hinzu und musterte mich über ihre halbmondförmige Brille hinweg streng. Ich war nicht in der Lage irgend etwas zu äußern und es folgte eine Sekunde unangenehmes Schweigen bevor die kleine Frau es mit einem enthusiastischen

„Dann zeige ich dir mal wo du hin musst.“, durchbrach und voraus marschierte ohne ab zu warten ob ich folgte.

Es stellte sich heraus das meine aller erste Stunde Sport war. SPORT. Mein Magen rutschte noch eine Etage tiefer, falls das überhaupt möglich war. In XX war ich vom Sportunterricht befreit gewesen, aber als meine Mutter mich danach gefragt hatte, bestand ich darauf, dass ich bereit für Sportunterricht war. Während ich nun der gut gelaunten Frau den Flur entlang folgte, konnte ich meine Entscheidung nicht mehr wirklich nachvollziehen. Als wir in der Sporthalle ankamen und die Frau mich mit ein paar erklärenden Worten, die ich durch das Rauschen in meinen Ohren nicht mit bekam, vor 20 Mitschülern stehen ließ, wäre ich am liebsten weggerannt. Meine Mitschüler sahen von ihrem Platz auf dem Boden neugierig zu mir auf. Erst jetzt bemerkte ich den Sportlehrer der mich mit einem verwirrten Blick musterte und mehrmals blinzelte. Er war nicht sehr alt, vielleicht Mitte dreißig, muskulös und sah mit seinem Stoppel kurzen, schwarzen Haar und dem dreitage-Bart aus wie einer dieser „coolen“ Lehrer die von ihren Schülern vergöttert wurden. 

Der Lehrer räusperte sich und schien sich zu fangen von was auch immer ihn aus der Bahn geworfen hatte. Er kam auf mich zu und ich stieß ein kurzes Stoßgebet aus, als er sich als Coach Tanner vorstellte und darauf verzichtete mir die Hand zu geben. Die freundliche Sekretärin war eine Sache gewesen, aber niemals hätte ich ertragen von diesem Kerl Berührt zu werden. Das einzige, was verhinderte, das meine Panik die Überhand gewann war die Tatsache, das Coach Tanner  mir nicht mal bis zum Kinn reichte. Und vielleicht die Tatsache, dass ich keine Sportsachen dabei hatte. Niemand konnte also von mir erwarten, dass ich mich schon heute vor allen zum Depp machte. Sah so aus als hätte ich noch eine Woche Schonfrist, bis ich allen demonstrieren musste was für ein Krüppel ich war. Coach Tanner gab seinen Schülern die Anweisung sich warm zu Laufen und bevor ich so tun konnte, als würde ich nicht nur nutzlos in der Gegend rum stehen verwickelte er mich in ein Gespräch.

„Ich wurde darüber informiert, dass du eine alte Beinverletzung hast, die dich einschränkt?“, es klang weniger nach einem Statement und mehr nach einer Frage, doch ich erwiderte nichts darauf. Ich war nicht verwundert darüber, dass meine Mutter mit dem Lehrkörper über meine Behinderung geredet hatte.

„Welche Aktivitäten solltest du denn vermeiden?“, hackte er weiter nach, nachdem er keine Erwiderung erhielt. Ich atmete einmal tief ein und gab mir einen Ruck.

„Ich sollte beim Laufen nicht übertreiben, für längere Strecken muss ich mir Zeit nehmen. Springen, in die Hocke gehen und alle anderen Bewegungen die übermäßig mein Bein oder meine Hüfte belasten sollte ich am besten ganz vermeiden.“ Ich sprach sachlich und versuchte mir nicht anmerken zu lassen wie unwohl ich mich dabei fühlte meine Schwächen offen zu legen.

Couch Tanner runzelte die Stirn.

„Ich bin mir sicher, dass du dich auch vom Sportunterricht befreien lassen könntest?“, merkte er überhaupt nicht hilfreich an. Mein Magen zog sich zusammen.

„Ich weiß, an meiner letzten Schule war ich befreit vom Unterricht. Ich dachte nur..“, verdammt, ich hatte keine Ahnung was ich mir dabei gedacht hatte! Mein Blick huschte zum Ausgang. Ich war wirklich versucht die Flucht zu ergreifen.

„Wenn du am Sportunterricht teilnehmen willst, dann tust du das natürlich! Ich überlege mir schon wie wir das machen, dass bekommen wir hin!“, beeilte sich Coach Tanner hinzuzufügen. Entweder war er eine sehr einfühlsame Person, oder aber ich benahm mich nur mitleidserregend erbärmlich. War mir eigentlich ziemlich egal, ich war trotzdem erleichtert. Stolz konnte ich mir schon lange nicht mehr leisten. 

„Was machst du sonst so für Sport?“, wollte er dann von mir wissen. Vielleicht war doch ein winziges bisschen Stolz in mir übrig geblieben, denn ich verspürte ein gewisse Genugtuung darüber, dass er mich nicht danach gefragt hatte ob ich überhaupt Sport machte. 

„Ich schwimme, mache Krafttraining und zweimal die Woche habe ich Physiotherapie, zumindest bisher, hier muss ich mir erst einen neuen suchen.“ 

Coach Tanner nickte, als würde er sich mental Notizen machen.

„Ein Freund von mir ist ein guter Physiotherapeut, ich kann dir seine Kontaktdaten geben wenn du willst.“, bot er an und und zückte sein Handy, noch bevor ich etwas erwidern konnte. Pflichtbewusst holte auch ich mein Handy hervor und speicherte den Namen und die Nummer ab. Dass ich ganz sicher niemals zu einem männlichen Physio gehen würde behielt ich lieber für mich. 

„Wir werden uns das erste halbe Jahr mit Ballsportarten beschäftigen. Volleyball sollte kein allzu großes Problem für dich werden, mit Fußball und Basketball sieht das vielleicht etwas anders aus.“ Überlegte er laut.

„Das nächste halbe Jahr ist dann Leichtathletik und Schwimmen dran. Zumindest beim letzteren hast du dann ja keine Probleme.“ Es war offensichtlich, dass er versuchte aufmunternd zu sein, aber seine Worte hatten den gegenteiligen Effekt auf mich. Ausgerechnet Schulschwimmen! Da hatte ich mich ja schon wieder in eine großartige Lage manövriert. Allein bei der Vorstellung zog sich mein Magen zusammen. Wenigstens hatte ich noch ein halbes Jahr Zeit, bis ich mir eine Ausrede einfallen lassen musste, die plausibel erklärte warum ich nicht zum Schulschwimmen konnte obwohl ich doch gerade verkündet hatte, dass ich schwamm. 

Meine neuen Mitschüler liefen immer noch mehr oder weniger motiviert ihre Runden, aber das Tempo hatte doch stark nachgelassen. Coach Tanner rief ein paar Nachzüglern hinter her, dass sie nicht einschlafen sollten und ging dann mit mir die volleyball Netze holen und erklärte wie man sie aufbaute. Die restliche Stunde verbrachte ich damit meinen Mitschülern zuzuschauen oder von Coach Tanner zu lernen wie man ein Spiel pfiff. Er gab sich wirklich sehr viel mehr Mühe, als er müsste und dank ihm war die Sportstunde wesentlich angenehmer als ich befürchtet hatte.

Trotzdem war ich froh als es rum war, jedenfalls so lange, bis einer meiner neuen Mitschüler auf mich zu kam. Automatisch musterte ich ihn einmal von oben bis unten und versuchte ihn einzuschätzen. Groß, schlaksig, längeres blondes Haar, babyblaue Augen und ein riesiges, albernes Grinsen im Gesicht. Sein Gesichtsausdruck erinnerte mich etwas an einen Hundewelpe. Er sah harmlos aus. Begleitet wurde er von einem großen Mädchen mit braunen Locken, die mich etwas kritischer musterte.

„Ich bin Lukas“, stellte sich der Hundewelpentyp immer noch lächelnd vor.

„Julien“ folgte, das Mädchen seinem Beispiel. Ich war mir nicht sicher, ob mich die Frau, die mich hergeführt hatte vorgestellt hatte oder nicht. Spielte wohl auch keine große Rolle.

„Blake“ erwiderte ich also pflichtbewusst und klang dabei wahrscheinlich wenig begeistert. Aber das schien Lukas nicht zu stören.

„Wir haben jetzt gleich Englischunterricht und im Anschluss Physik. Ich kann dich danach rumführen, dir etwas die Schule zeigen.“, Lukas grinste immer noch und sah mich an als wäre es ganz ausgeschlossen, dass ich von diesem Plan etwas anderes als begeistert war. 

Ich wollte nein sagen. 

Ich wollte still und unbeachtet im Unterricht sitzen und danach so schnell es ging abhauen. Aber ich erinnerte mich an die Vorsätze, die ich mir gemacht hatte. Ich konnte nicht ewig allem aus dem Weg gehen. Wollte ich etwa später auf die Frage meiner Mutter antworten, dass ich den ganzen Tag mit niemandem gesprochen hatte? Ich gab mir selbst einen mentalen Tritt und brachte ein Nicken zustande. Das schien Lukas zum Glück zu reichen. Ich folgte ihm in die Umkleidekabine und bemerkte erst dort, dass das ein Fehler war. Überall um mich herum begannen meine Mitschüler sich auszuziehen und mir brach der Schweiß aus. Mein Puls beschleunigte sich, das Atmen fiel mir immer schwerer. Alles um mich herum schien sich zu drehen. Ich ergriff die Flucht. 

Vor der Sporthalle blieb ich stehen und versuchte meinen Atem in den Griff zu bekommen. Ich spielte mit dem Gedanken ganz abzuhauen. Aber mittlerweile hatte ich genug Übung darin meine Panik nieder zu kämpfen, um mich soweit in den Griff zu bekommen, dass mir niemand mehr anmerkte, dass etwas nicht in Ordnung war, als meine ersten Mitschüler fertig waren mit Umziehen.

Lukas kam wieder auf mich zu, als hätte ich ihn nicht gerade einfach stehen gelassen und begleitete mich zum Schulgebäude. 

Er lief etwas zu schnell, als dass ich, mein Hinken verbergend, problemlos hinterher gekommen wäre und mir brach recht schnell der Schweiß aus.

Die Schulgebäude waren groß und modern. Die ganze Schulanlage war eigentlich sehr schön und wenn ich nicht so angespannt wäre, hätte ich vielleicht sogar Gefallen daran finden können.

Von allen Seiten wurde auf mich eingeredet. Im Klassenraum angekommen wurde die Sache nicht besser. Ich wusste natürlich, dass meine Mitschüler mich nicht aus Boshaftigkeit belagerten, dass half mir nur leider wenig weiter. Mein Puls wollte sich deswegen trotzdem nicht normalisieren.

Die Türe, die hinter der eintretenden Lehrerin zufiel wirkte auf mich wie eine Falle, die hinter mir zuschnappte. Wenigsten gingen nun, da der Unterricht begann, alle auf ihre Plätze und ich wurde nicht mehr von allen Seiten umringt. Von dem was meine neue Englisch Lehrerin sagte bekam ich trotzdem kaum etwas mit. Ich saß auf meinem Platz in der zweiten Reihe, starrte auf die Tischplatte vor mir und konzentrierte mich auf meine Atmung. Die Englischstunde, die Pause und die Physikstunde danach verschwammen zu einem einheitlichen Wirrwarr, das gefühlte Ewigkeiten dauerte und an das ich mich hinterher trotzdem kaum erinnern konnte. 

Als der Unterricht endlich vorbei war wollte ich nichts anderes, als nachhause fahren. Bevor ich aber auch nur einen Schritt gemacht hatte kam Lukas, Julien und zwei weitere Kerle, vermutlich Freunde von ihnen, auf mich zu.

Einer davon war xxx und betrachtete mich mit milder Neugierde. 

Der andere war nicht sonderlich groß, vielleicht 1,82 und seine blauen Augen betrachtet mich nicht direkt feindselig, aber er schien auch nicht sonderlich erpicht darauf mich näher kennen zu lernen.

Seine hellbraunen Haare vielen ihm ins Gesicht. Er sah eigentlich nicht unfreundlich aus, aber er strahlte ein stilles Selbstbewusstsein aus, das mich nervös machte.

„Bist du bereit für die XXTour des Jahrhunderst?“ , wollte Lukas gut gelaunt von mir wissen und ich wollte nein sagen, so sehr. Aber ich rief mir nochmals all die Gründe ins Gedächtnis aus denen ich zugestimmt hatte und folgte den anderen aus dem Klassenzimmer.

„Wo kommst du eigentlich her?“, wollte Lukas von mir wissen.

„XX“, antwortete ich kurz angebunden. 

„Wie ist es da so?“, ich mochte die Richtung nicht die unser Gespräch nahm.

„Es ist okay“ hoffentlich merkte er bald, dass ich nicht die geringste Lust hatte mit ihm über meine Vergangenheit zu reden.

„Und warum wechselst du mitten im Schuljahr?“ , entweder war er etwas langsam von begriff oder einfach nur neugierig.

„Meine Mutter hat hier einen neuen Job angenommen. Und wie ist es hier so? Irgendwelche interessante Sachen die man hier machen kann?“, versuchte ich dezent das Thema von mir weg zu lenken. Und es schien zu funktionieren. Die nächsten 15 Minuten berichtete Lukas mir von all den großartigen Dingen, die man angeblich in dieser Stadt machen konnte und ich wusste jetzt schon, dass für mich 99% davon nicht in frage kam. Neben her zeigte er mir das Foyer, die Toiletten, erklärte mir wie ich meine Klassenräume fand. Die Schmerzen in meinem Bein und meiner Hüfte wurden immer schlimmer.

Seine Freunde wurden stattdessen immer stiller. Der blauäugige, der sich mir nicht vorgestellt hatte schaute immer finsterer. Ich war mir nicht ganz sicher was ich tat um ihn gegen mich aufzubringen. Aber zum Glück verabschiedete er und & sich bald und ließen mich wieder mir Lukas und Julien alleine. Julien sah so aus, als begleite sie mich nur, um sicher zu gehen, dass ich Lukas auch anständig behandelte und dem Goldenretriever nicht ausversehen auf die Pfoten trat. Man schien mir hier generell nicht sonderlich über den Weg zu trauen. 

Wir waren gerade dabei über den Park zu laufen nach dem die beiden mir die Kantine gezeigt hatten. Und ich hoffte das die Tour endlich, endlich vorbei war.

„Und jetzt zeige ich dir das Stadium.“ ,erklärte Lukas auf ein Gebäude am anderen Ende des Parks deutend und machte alle Anstalten dorthin zu marschieren, aber ich hatte genug. 

„Nein danke.“, sagte ich schärfer als ich wollte und zum ersten mal wich der gut gelaunte Ausdruck aus Lukas Gesicht. 

„Oh. Ok.“ Ich konnte ihm förmlich dabei zusehen wie er zu realisieren begann, wie unwillkommen seine gut gemeinten Versuche mich einzubeziehen waren. Er sah aus wie ein getretener Hund und Julien warf mir einen giftigen Blick zu. Ihre Lippen pressten sich zu schmalen Schlitzen zusammen. Schlechtes Gewissen befiel mich.

„Es ist nur,..Ich bin genug gelaufen für einen Tag.“, versuchte ich zu erklären. Doch an ihren Blicken, die sich nur weiter verfinsterten, konnte ich erkennen, dass sie das als Anschuldigung verstanden.

Lukas runzelte die Stirn

„Okay dann lassen wir dich mal in Ruhe.“, schien als hätte selbst seine Geduld irgendwann ein Ende. Ich presste meinen Kiefer zusammen. 

„Ich muss mich einen Moment hinsetzen.“

Ich hasste es das laut aussprechen zu müssen. Nicht weil mir meine Gehbehinderung peinlich war, sonder weil mich meine Erfahrung gelehrt hatte, dass es ein Fehler war Schwäche zu zeigen. 

Lukas sah mich einen Moment verwirrt an, dann breitete sich Erkenntnis auf seinem Gesicht aus.

„Shit. Daran hab ich überhaupt nicht mehr gedacht. Tut mir leid!“, er sah sich energisch um und führte mich dann zu einer niedrigen Mauer, auf der wir uns niederließen. Ich war nur minimal erleichtert darüber endlich zu sitzen. Die Schmerzen waren nur Teil meines Problems. Ich wollte die beiden loswerden und endlich nachhause! Warum musste Lukas nur so unsagbar nett sein? Es war ja wohl wirklich nicht zu erwarten, dass er an meine Gehprobleme dachte. Selbst Julien, sah mich nun eindeutig verständnisvoller an als zuvor. Mitleid! Das hatte mir gerade noch gefehlt. Aber man nahm was man kriegen konnte.

Ich war jedoch mit meiner Geduld mittlerweile am Ende. Mir war es egal wie umfreundlich ich klingen würde. Ich setzte die beiden darüber in Kenntnis, dass ich abhauen würde und lief dann zu meinem Auto. Wenigstens konnte ich mir nun sicher sein, dass sie mich in Zukunft in Ruhe lassen würden. Niemand tat sich das freiwillig an. 

An meinem Auto angekommen schloss ich mit zitternden Händen auf und ließ mich erleichtert auf den Fahrersitz sinken. Mein Kopf sank gegen das Lenkrad und tief ein und ausatmend wartete ich darauf, dass die Anspannung von mir abfiel und mein Puls sich normalisierte. Ich wartete lange Minuten und als sich mein Körper endlich soweit beruhigt hatte, dass ich in der Lage war zu fahren, drehte ich den Schlüssel im Schloss und legte den Rückwärtsgang ein.

 

Nach und nach fiel die Anspannung immer mehr von mir ab und machte Müdigkeit platz. Zuhause lief ich bis ins Wohnzimmer und ließ mich dort auf der Couch sinken. Bis in mein Zimmer zu laufen schien im Moment zu viel Energie zu kosten. 

Meine Hüfte und mein Bein pulsierten schmerzhaft, aber ich schlief dennoch wenige Augenblicke später ein. 

Erst Stunden später wurde ich wieder wach, als meine Mutter das Wohnzimmer betrat. Erschrocken fuhr ich hoch und sah mich verwirrt um. Ich hatte nicht vorgehabt den ganzen Tag zu verschlafen. Meine Mutter warf mir einen musternden Blick zu, sagte aber nichts während sie sich die Jacke auszog und die Tasche auf der Couch ablegte. 

„Wie war dein Tag?“, fragte ich sie, bevor sie auf die Idee kommen konnte mich nach meinem zu fragen und setzte mich anständig hin. Sie musterte mich einen Moment weiter bevor sie antwortete.

„Gut.“, zum ersten mal seit langem stahl sich ein echtes Lächeln auf ihr Gesicht.

„Wir haben noch nicht viel gemacht heute. Ich habe mich etwas in die Vorgänge eingearbeitet um mich vertraut mit der Arbeitsweise der Filiale und vor allem meiner Abteilung zu machen. Die Leute sind kompetent und gute Arbeiter. Sie waren alle noch etwas zurückhaltend, aber das wird sich geben wenn man sich erstmal etwas besser kennt.“ , sie schien wirklich zuversichtlich zu sein.

„Dafür habe ich längere Zeit mit Mr XX und Frau XX von der XX Abteilung geredet. Die beiden hatten weniger Probleme damit mir jedes noch so unwichtige bisschen klatsch zu erzählen.“ Sie lächelte offensichtlich amüsiert beim Gedanken daran. 

„Und dann ist da noch ein älterer Herr aus der XX. Er ist schon 80 und nicht mehr der schnellste, aber er will noch nicht in Rente gehen und niemand würde auf die Idee kommen ihn zu feuern.“ Ihr Blick nahm einen seltsam sanften Blick an.

„Er hat einen autistischen Sohn, der jetzt 49 ist und seit letzten Freitag sind die beiden das erste mal länger als ein paar Tage voneinander getrennt. Du solltest ihn hören, wenn er über seinen Sohn spricht, er vergöttert ihn.“, sagte meine Mutter und klang dabei selbst, als würde sie dem Firmen-Opi demnächst eine Statue errichten. Sie schien sich in dieser neuen Firma wirklich wohl zu fühlen. Natürlich freute mich das, aber es überraschte mich auch ein wenig. Sonst hatte sie nie groß von ihrer Arbeit berichtet, vielleicht hatte auch sie einen Neuanfang gebraucht. Kurze Zeit später wich der glückliche Blick allerdings wieder ihrem üblichen, angespanntem Gesichtsausdruck. 

„Und wie war dein Tag?“, wollte sie von mir wissen und ich konnte genau sehen, dass sie nicht mit einer positiven Antwort rechnete. 

Ich bemühte mich um einen unbeschwerten Ton.

„War okay.“, antwortete ich schulterzuckend und tat so als hätte ich nicht den ganzen Tag am Rande einer Panikattacke verbracht. Ich wusste genau, dass sie mir ein >gut< sowieso nicht abgekauft hätte. 

„Als erstes hatte ich Sport. Der Coach ist wirklich nett, hat die ganze Stunde damit verbracht mir beizubringen wie man ein Volleyballspiel pfeift.“ , beeilte ich mich Dinge anzuführen, die untermauerten, dass mein Tag “okay“ war.

„Danach hatte ich Englisch und Physik“ führte ich aus und ging schnell zum nächsten Teil über, damit sie nicht nachfragen konnte. Mehr als an das Fach konnte ich mich nämlich beim besten willen nicht erinnern. 

„Hinterher haben mir zwei meiner neuen Mitschüler, Lukas und Julien, das Schulgelände gezeigt und mir bisschen was über die Stadt erzählt.“ Meine Mutter sah mich auf diese Ausführung hin überrascht, fast schon erschrocken und immer noch etwas ungläubig an. Nun war ich doch ganz froh das ich mich durch die Führung gequält hatte.

„Anscheinend gibt es in XX ein Restaurant wo es die besten XX der Stadt gibt. Da können wir ja vielleicht mal hin.“, führte ich die erstbeste Empfehlung von Lukas an, an die ich mich erinnern konnte. Meiner Mutter dürfte klar sein, dass ich nicht wirklich mit ihr in ein Restaurant wollte. Mir vielen spontan tausend Sachen ein, die ich lieber tun würde als zwischen einer Menschenmasse in einem geschlossenen Raum zu sitzen. Mir die Augen mit einem Suppenlöffel auskratzen zum Beispiel. Meine Mutter nickte unbestimmt und wusste die Geste hoffentlich trotzdem zu schätzen. 

„Ja, als ich mich mit deinen Lehrern unterhalten habe hat Mr Tanner auf mich auch einen sehr netten Eindruck gemacht.“ 

Bildete ich mir das ein oder wurde meine Mutter tatsächlich rot?

„Er hat mir erzählt, dass er sich erst vor einem Jahr von seiner Frau getrennt hat und seit dem alleine seine drei Kinder groß zieht. Die drei sind jünger als du und mussten auch alle die Schule wechseln. Wahrscheinlich hat er Verständnis für deine Situation.“ Das musste wohl ein längeres Gespräch gewesen sein. 

„Hast du ihn nach seiner Nummer gefragt?“, wollte ich nun doch interessiert wissen. Meine Mutter sah mich überrascht an,

„Natürlich nicht.“ Antwortete sie und schien verwundert, dass ich es überhaupt in Erwägung zog.

„Wieso nicht?“ Auf diese Frage sah sie mich erst mal schweigend an.

„Erstens ist er dein Lehrer und zweitens habe ich nicht vor in nächster Zeit einen Freund mit nachhause zu bringen, nachdem was letztes mal passiert ist.“ Das war wohl so nahe wie sie überhaupt kommen würde die “sieben Monate“ und ihre Auswirkungen anzusprechen. Wir redeten nie darüber. Sie wusste, dass ich mit meinem Therapeuten notgedrungen darüber sprach, aber selbst fragte sie mich nie danach und ich war froh darüber.  Schlechtes Gewissen befiel mich.

„Mom du kannst dich nicht nie wieder mit einem Mann treffen, weil es einmal nach hinten losgegangen ist.“, belehrte ich sie  mit dem offensichtlichen und versuchte angestrengt einen gequälten Gesichtsausdruck zu unterdrücken. Sie musterte mich als wollte sie die eigentliche Bedeutung hinter meinen Worten ergründen.

„Dann würde es dir nichts ausmachen, wenn ich mich mit Männern treffe?“, es schmerzte mich, dass sie überhaupt fragen musste. Das war wirklich kein Thema bei dem eine andere Meinung als ihre eigene zählen sollte. 

„Natürlich nicht.“, antwortete ich, auch wenn es nicht ganz der Wahrheit entsprach. 

„Such dir einfach keinen Psychopaten aus.“, empfahl ich nur halb scherzhaft und konnte diesmal den gequälten Gesichtsausdruck nicht ganz verhindern. 

Trotzdem erntete ich ein müdes Grinsen von ihr und ein Nicken. 

 

 

2. Dave

Sonnenstrahlen fielen in mein Zimmer und ich räkelte mich genüsslich. Ich rollte mich auf die andere Seite mit der Absicht noch einwenig weiter zu schlummern, aber Bellen und lautes Kindergekreische hielt mich wach. Grummelnd ergab ich mich  nach einem Moment meinem Schicksal und setzte mich auf. Wenn das Weckkommando erst einmal Blut geleckt hatte gab es kein entrinnen mehr. 

In dem Moment wurde auch schon meine Zimmertüre aufgerissen und Robin meine kleine achtjährige Schwester kam in mein Zimmer gestürmt mit wehenden schwarzen Zöpfen, dicht gefolgt von unserem Australian Shepherd Boo. Ganz hinten drein, aber hartnäckig bemüht sich nicht abschütteln  zu lassen, rannte mein kleiner dreijähriger Bruder Pete ins Zimmer. 

Robin kletterte, ohne etwas auf meine halbherzigen Proteste  zu geben, auf mein Bett und begann mir von einer übellaunigen Wespe zu erzählen. Seufzend ließ ich mich zurück auf mein Bett fallen. Schlaf konnte ich eindeutig vergessen. In dem Moment erschien meine Mutter in der Tür mit einem Wäschekorb unter dem Arm. So langsam wurde es voll hier drin.

Sie sah mich verdutzt an.

„Was machst du denn hier?“

„Ich wohne hier.“, gab ich Auskunft. Wo sollte ich denn bitte sonst sein um 9Uhr morgens?

„Du weist aber schon das du heute Schule hast?“, wollte sie von mir wissen und sah mich mit wissenschaftlicher Neugierde an.

„Heute ist Samstag.“ 

„Heute ist Freitag.“, belehrte sie mich und warf mir einen tadelnden Blick zu. Ich kratzte mich am Hinterkopf. Freitag? Wirklich? 

„Hups.“, sagte ich minimal verlegen.

„Naja, jetzt lohnt es sich ja eigentlich auch nicht mehr hinzufahren.“, meinte ich pragmatisch und wollte mich wieder nach hinten ins Bett fallen lassen. An ihrem Blick erkannte ich jedoch, dass sie das etwas anders sah. Bevor sie noch Luft holen konnte um zu protestieren, rappelte ich mich auf und begann mein Schulzeug zusammen zu kramen.

„Jaja, ich mach ja schon..“

„Du willst mir doch Rollern beiringen!“, meldete sich nun Pete weinerlich zu Wort und sah von seinem Platz auf dem Boden mit Schmollmund zu mir auf. Hatte ich was verpasst? Wann in den letzten 5 Minuten hatte ich ihm das bitte versprochen? So früh am Morgen überforderte mich meine Familie manchmal. 

„Mach ich wenn ich heute Mittag wieder da bin.“, versprach ich und wuschelte ihm durch die braunen Locken. Pete schien einen Moment überlegen zu müssen.

„Nagut.“, meinte er dann gnädiger weiße, behielt den Schmollmund aber bei.

 

Ausgeschlafen und bester Laune traf ich um 09:45 in meinem Klassenraum ein. Die Hälfte der Mathe Stunde war schon rum, aber unsere Klassenlehrerin warf mir nur einen müden Blick zu, bevor sie sich wieder der Tafel zu wand und weiter die Aufgabe notierte. Mittlerweile vertraten die meisten unserer Lehrer wohl die Meinung, dass wir alt genug waren unseren eigenen Scheiß auf die Reihe zu bekommen und es nicht mehr ihr Problem war wenn nicht. Zugegebenermaßen war Frau Paulston aber noch nie die motivierteste Lehrerin gewesen. Ich fand, dass es das war, was ihren Unterricht so angenehm machte. Diese Meinung teilte ich allerdings nur mit der Hälfte meiner Mitschüler, die nicht Gefahr lief in Mathe durchzufallen. 

Die restliche Stunde verbrachte ich damit mein Matheheft mit Karikaturen unserer Lehrer zu verschönern. In der Pause gesellte ich mich zu meinen Freunden. Wir trafen uns im Sommer immer am gleichen Platz bei der Bank und sonnten uns. 

Als erstes war da Isak, der mit mir im Rugbyverein unserer Schule spielte. Bei unserem Coach hatten wir auch Sportunterricht. Er war blond und blauäugig, was er vermutlich seiner schwedischen Mutter verdankte. Er bestand darauf, das man ihn Isak nannte, wurde aber meistens von uns ignoriert und Sak genannt. 

Amelia, kurz Mell, war klein, hatte lange Blonde Haare und wurde ständig und überall angebaggert. Ich konnte es allerdings gut verstehen. Sie war ständig am lachen und strahlte gute Laune aus wie ein Kernkraftwerk Energie. Manchmal konnte sie etwas bitchy sein, aber auf eine unterhaltsame Art.  Wenn ich nicht schwul wäre stünde ich vermutlich auch auf sie. 

Dann war da noch Julien. Sie und Mell waren sehr gut befreundet, obwohl sie nicht viel gemeinsam hatten. Julien war groß, braunhaarig, kam meistens ungeschminkt und gab nicht viel auf ihre Kleidung. Sie war nett. Mittlerweile konnte ich sie auch ganz gut leiden. 

Der Grund warum ich sie Anfangs nicht so gut leiden konnte stand neben ihr und hieß Lukas. 

Lukas war der netteste Mensch den ich kannte. Er war immer gut gelaunt, hatte Humor und war wirklich nicht das geringste bisschen missgünstig. Wenn er lächelte bildeten sich niedliche Grübchen auf seinen Wangen und seine blonden Haare waren immer verwuschelt, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen. Seine gutherzige Art weckte manchmal das Bedürfnis  in mir ihn vor der Welt zu verstecken. Das einzige, dass ich nicht ganz so toll an ihm fand, war die Tatsache, das er drei Zentimeter größer war als ich, mit meinen 1,82 und ganz offensichtlich in Julien verknallt. Die beiden tänzelten schon seit Jahren umeinander herum. Deswegen habe ich mein kurzzeitige Verknalltheit auch schon lange überwunden. 

„Wo hast du heute morgen gesteckt?“, wollte Mell von mir wissen.

„Verschlafen.“, gab ich Auskunft. Mel schnaubte nur belustigt. Heute war nicht das erste mal dieses Schuljahr, dass ich meinen Wecker überhört hatte.

Nach der Pause machten wir uns auf den Weg zur Sporthalle.

Das Gebäude war recht neu und die Umkleide, die Duschen und auch die Hallen sahen modern und einladend aus.

Coach Tanner war einer dieser Sportlehrer, der der Meinung war, dass Sportunterricht auch wirklich für Sport da war. Dementsprechend kamen wir auch meistens verschwitzt aus seiner Stunde, aber trotzdem konnten ihn fast alle gut leiden. 

Abgesehen davon war er erst Ende dreißig und sah recht gut aus. Ich hatte mich mehr als nur einmal dabei erwischt wie mein Blick zu seinem Arsch wanderte. Aber ich war 17 und schwul, da war das irgendwie kaum zu vermeiden.

Er begann die Stunde damit uns um den Platz zu jagen und ließ uns dann in zweier Teams Pritschen und Baggern üben. Ich spielte Lukas die Bälle so nett wie möglich zu, aber der war ein hoffnungsloser Fall. 

„Sorry.“, entschuldigte er sich verlegen, nach dem ich zum fünften mal dem Ball hinterher gerannt war. 

„Volleyball ist wirklich nicht mein Sport.“

Ich musste grinsen. Sport schien generell nicht so wirklich seine Stärke zu sein, aber diese Feststellung verkniff ich mir lieber. 

„Kein Problem.“, versicherte ich lächelnd und korrigierte seine Handhaltung. So wie er spielte war es ein Wunder, dass er sich nicht die Finger brach. Ich war wirklich über ihn hinweg, aber manchmal war er einfach zu süß. 

Zwischendurch trillerte Coach Tanner in seine Pfeife und wir ließen uns alle ergeben zu Boden fallen und machten so viele Liegestütze wie wir konnten. Anfänglich hatte es noch vereinzelt Protest gegeben, aber mittlerweile kannte jeder den Drill. 

Am Ende der Stunde, als wir schon alle in die Umkleide verschwinden wollten, wank uns der Coach nochmal zu sich und wir versammelten uns alle artig um ihn herum. 

Er hatte eine untypisch ernste Miene aufgesetzt. 

„Wie ihr vielleicht wisst bekommt ihr nächsten Mittwoch einen neuen Mitschüler.“, begann er. Unsere Klassenlehrerin hatte das nebenbei bereits erwähnt und ich wunderte mich darüber, dass er es nochmal ansprach. Neugierig warteten wir auf eine nähere Ausführung. 

„Mir wurde mitgeteilt, dass er eine Gehbehinderung hat und deswegen nicht bei allen Aktivitäten mitmachen kann. Es versteht sich von selbst, dass ihr euch nicht darüber lustig macht, sondern ihn so gut ihr könnt willkommen heißt.“

Er sah uns durchdringen an und entließ uns dann aus seinem Unterricht. 

Seltsam. Irgendwie wunderte es mich, dass der Coach es für nötig hielt das anzusprechen. Und diese unnötige Aufmerksamkeit war auch vielleicht nicht unbedingt das beste Integrationsmittel. Wer dieser Neue wohl war? 

Vor meinem inneren Auge entstand das Bild eines kleinen, dicken Nerds mit Hornbrille auf der Nase, der sein Bein nach sich zog. Nicht gerade nett, ich weiß, aber anders konnte ich mir diese Aufforderung nicht erklären. Abgesehen davon war sie wirklich recht überflüssig. Wir waren alle keine 12 mehr und zumindest die meisten von uns, waren aus dem Alter raus indem es Spaß machte sich über andere lustig zumachen. Nicht, dass ich jemals in diesem Alter gewesen wäre. 

 

Als ich mittags nachhause kam, hatte mein Bruder schon wieder vergessen, dass ich ihm angeblich “Rollern“ beibringen wollte. Am Samstag hatten meine Eltern schon seit längerem ein gemeinsames Date geplant und da mein älterer Bruder Jayden immer noch in Macon studierte fiel das Babysitten mir zu. Ich hatte kein Problem damit auf meine kleinen Geschwister aufzupassen, aber Sonntag Nachmittag war ich doch ganz froh, als meine Eltern endlich wieder auf der Bildfläche erschienen. Ich nutzte die Gelegenheit um zu verschwinden und mich mit Sak am Strand zu treffen. Den restlichen Sonntag verbrachten wir mit Surfen. 

 

Die neue Schulwoche begann recht entspannt. Erst am Mittwoch kam etwas Abwechslung ins Spiel.

In der ersten Stunde hatten wir Sport, aber von dem Neuen war noch weit und breit keine Spur.

Der Coach begann damit uns von dem Sport-Tagebuch zu erzählen, das wir bald für einen Monat führen sollten. 

Mitten in seinen Ausführungen erschien Eva, unsere Schulsekretärin mit dem Neuen im Schlepptau. 

Zu sagen, dass ich mit meiner Vorstellung von ihm etwas daneben gelegen habe wäre wohl zu milde ausgedrückt. 

Das Bild in meinem Kopf von einem kleinen, dicken, hinkendem Nerd löste sich in Luft auf und ward nie wieder gesehen. Der Typ der da neben Eva stand und uns teilnahmslos betrachtete war weder klein, noch dick, noch hätte ich bei seinem Eintreten ein Hinken bemerkt. Eine Hornbrille prangte auch nicht auf seiner Nase. 

Eva stellte ihn gutgelaunt als unseren neuen Mitschüler Blake Wesley vor und machte sich dann von dannen.

 Wir starrten unseren neuen Mitschüler Blake Wesley erst einmal alle etwas überfordert an und glänzten nicht gerade mit Geistesgegenwärtigkeit. Er war wohl nicht das, was irgendeiner von uns erwartet hatte. 

Blake war groß, mindestens 1,90cm und sah lächerlich gut aus. Breite Schultern, muskulös, sonnengebräunt, dunkles Haar, braune Augen, Dreitagebart. Und absolut nicht mein Typ.

Er trug ein weites olivfarbenes Shirt und eine schwarze Hose. 

Selbst der Coach sah ihn etwas verwirrt an. Wenn er gewusst hätte um wen es geht, hätte er sich die mahnenden Worte von letzter Stunde wohl gespart. Blake Wesley sah nun wirklich nicht aus wie Jemand der Gefahr lief Mobbingopfer zu werden.

Er sah auch nicht aus wie Jemand der sich darauf freute Bekanntschaft mit seinen neuen Mitschülern zu schließen. Besagte Mitschüler hätten ihn vermutlich gerne noch weiter angegafft, aber der Coach wies uns an, uns wie jede Sportstunde warm zulaufen und wir trollten uns alle mehr oder minder begeistert. 

Ich machte gerne Sport. Nach einem ausgepowerten Tag, mit zitternden Muskeln ins Bett zu fallen, war so ziemlich das geilste Gefühl auf Erden. Ich lief deshalb wie meistens vorne neben Sak mit, der ein recht schnelles Tempo vorlegte.

Das ist Blake Wesley?“, meinte er ungläubig an mich gewandt. Sak die alte Tratschtante. 

„Sieht so aus.“, antwortete ich Schulterzuckend. Eigentlich interessierte mich der Neue nicht sonderlich.

„Da hat aber wer den Coach ordentlich verscheißert!“, stellte  Sak lachend fest und ich konnte mir ein amüsiertes Schnauben nicht verkneifen. Insgeheim gab ich Sak recht. Irgendjemand hatte dem Coach wohl eine mitleidserregende Story über den Neuen erzählt und sich dabei heimlich ins Fäustchen gelacht. Ich warf unserem Coach beim vorbeilaufen einen Blick zu. Der war gerade mit diesem Blake im Schlepptau auf dem Weg unser Volleyballnetz zu holen.

Ich kniff die Augen zusammen und betrachtet den Gang des Neuen etwas genauer. Wenn man sehr aufmerksam war konnte man wirklich feststellen, das er sein rechtes Bein leicht nach sich zog, aber es sah nicht so aus, als wäre er stark eingeschränkt in seiner Bewegung. 

Wir fingen an uns in vierer-Teams aufzuteilen und Coach erklärte dem Neuen wie man ein Spiel pfiff. Er gab sich wirklich viel Mühe. Das war einer der Gründe, weswegen ich unseren Coach schätzte. Er war ein guter Lehrer und seine Schüler waren ihm wichtig.

Nach der Stunde sah ich wie Lukas und Julien auf den neuen zugingen. Was war auch anderes von Lukas zu erwarten gewesen? Insgeheim hielt ich das nicht für die beste Idee. Dieser Blake machte einen etwas arroganten Eindruck auf mich und sah auch nicht erpicht darauf aus neue Freunde zu finden. Auch jetzt, da Lukas mit ihm sprach sah er meiner Meinung nach nicht aus, als würde er sich sonderlich darüber freuen. Aber ich entschied, dass es das beste war mich da raus zu halten. Lukas war ein großer Junge und ich kannte diesen Blake schließlich nicht. Ich sollte mir kein Urteil über ihn erlauben bevor ich auch nur ein Wort mit ihm gewechselt hatte.

Im English Unterricht besprachen wir das letzte Kapitel von Georg Orwells “1984“, das wir lesen sollten. Englisch war zwar nicht mein Lieblingsfach, aber  mit unserer Englischlehrerin Mrs Clark hatten wir auch ziemlich Glück gehabt. Generell war ich niemand der Schule verabscheute. Das frühe Aufstehen konnte zwar nerven und Nachmittagsunterricht war meiner Meinung nach auch vollkommenen überflüssig, aber ansonsten war Schule doch recht unterhaltsam. Bis auf Hausaufgaben, die könnte man sich  auch sparen. Meine Noten waren mittelmäßig, aber das war in Ordnung. Lernen war meistens nicht  so meins. 

Nach der letzten Stunde ging Lukas auf den Neuen zu, um ihn wie versprochen herumzuführen und ich gab mir selbst einen Ruck und gesellte mich zusammen mit Sak dazu. 

„Wo kommst du eigentlich her?“, erkundigte sich Lukas gutgelaunt und führte uns den Flur entlang.

„Reanoke.“, antwortete der Neue kurz angebunden.

„Und wie ist es da so?“

„Es ist okay.“ Wieder eine knappe Antwort.

„Und warum wechselst du mitten im Schuljahr?“, hackte Lukas weiter nach und gab sich beste Mühe ein Gespräch in Gang zu bekommen. 

„Meine Mutter hat hier einen neuen Job angenommen. Und wie ist es hier so? Irgendwelche interessante Sachen die man hier machen kann?“ Der Themenwechsel war wirklich nicht sonderlich dezent durchgeführt. Ich runzelte die Stirn.

Die nächsten 15 Minuten hielt Lukas das Gespräch am Laufen und erhielt dabei wenig Unterstützung von diesem Blake. Sak und Julien erbarmten sich und warfen auch ab und zu etwas ein. Jedes mal wenn Lukas eine Frage an Blake stellte, erhielt er kurzsilbige Antworten und einen versteinerten Geschichtsausdruck. Blake Wesley trug absolut nichts zu dem Gespräch bei. Ich merkte wie mich das immer mehr verärgerte. Gut, es war soweit. Ich hatte zwar selbst noch kein Wort mit dem Neuen gewechselt, war mir aber doch recht sicher, dass wir keine Freunde werden würden. Wenn er nicht an einem Gespräch interessiert war, dann war das seine Sache, aber wie er Lukas behandelte, der es schlicht gut meinte, war einfach unhöflich. Ich wusste allerdings, dass ich nichts zu der Situation beitragen konnte, was hilfreich gewesen wäre. Ich warf Lukas einen letzten mitleidigen Blick zu und ergriff dann gemeinsam mit Sak die Flucht.

3. Blake

 3. Blake

 

Donnerstag morgen. Und wieder saß ich in meinem Auto, das Lenkrad fest im Griff und versuchte mich zu überwinden auszusteigen. Tief ein und ausatmend, wie es mir beigebracht wurde, redete ich mir ein, dass das Unangenehmste hinter mir lag. Der zweite Tag konnte unmöglich so schlimm werden wie der erste und den hatte ich doch ganz gut überstanden. 

Frustriert atmete ich aus und legte den Rückwärtsgang ein. 

Kunstunterricht brauchte sowieso niemand. Ich beschloss mir ein paar schöne Stunden zu machen, bevor ich zur dritten Stunde Geschichte mit dem aus-dem-Auto-aussteigen sicherlich mehr Erfolg haben würde. Musik brauchte nämlich definitiv auch keiner, oder zumindest brauchte niemand mich, während ich versuchte Musik zu fabrizieren. 

Kunst und Musik zählten definitiv nicht zu meinen vielen Stärken, zumindest nicht was die Praxis anging. 

Noch bevor ich mir aktiv Gedanken gemacht hatte wo ich hin wollte, schlug ich schon den Weg Richtung Strand ein. Da ich allerdings nicht mehr, als die grobe Richtung zum Meer wusste, musste ich nach kurzer Zeit am Straßenrand halten und Goolgemaps befragen. Ich war mir ziemlich sicher, dass Lukas mir gestern Tipps zu Orten gegeben hatte, an denen man nicht von Menschen überrannt wurde, aber ich versuchte vergeblich mich daran zu erinnern. 

Bei dem ersten Strand, an dem ich hielt stellte ich schon auf dem Parkplatz fest, dass ich Lukas Ausführungen wohl besser etwas genauer gelauscht hätte. Ich brauchte eine Weile, bis ich eine freie Parklücke fand, aber die Familien mit Kindern und Rentner die herumliefen, hielten mich davon ab auszusteigen. Wieder saß ich in meinem Auto mit einer Hand am Türgriff, unfähig auszusteigen. 

Verdammt! Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Frustriert ließ ich mich zurück in den Sitz fallen. Vielleicht hätte ich einfach zuhause im Bett bleiben sollen, am besten für immer. Aber Trübsal blasen, brachte nichts. Ich legte den Rückwärtsgang ein und beschloss es wo anders zu versuchen.

Wenig später parkte ich mein Auto am Straßenrand, atmete einmal tief durch und stieg aus. Babyschritte! Ich lief querfeldein durch den Wald. Laut Googlemaps sollte in wenigen hundert Metern das Meer beginnen. 

Als es dann wenig später tatsächlich wie aus dem Nichts vor mir auftauchte, blieb ich andächtig stehen. Ich war von dem Anblick genauso ergriffen wie andere Menschen, wenn sie in einer Kirche vor dem Jesuskreuz standen. Nicht das ich sonderlich viel von Religion verstand, meine Mutter hatte davon noch nie viel gehalten.

Es war über drei Jahre her, dass ich das letzte Mal das Meer gesehen hatte. Ohne groß darüber nach zu denken, streifte ich meine Schuhe ab und lief den Strand entlang, bis ich knöcheltief im Wasser stand.

Erst als es nicht mehr weiter ging, wurde ich mir bewusst, wie unbedingt ich ins Wasser wollte. Ich war vollkommen alleine am Strand. Die nächsten Menschen die ich am Strand weiter östlich erkennen konnte waren mindestens eine Meile entfernt. Ich kämpfte kurz mit mir, aber nur der Gedanke endlich wieder im Meer zu schwimmen ließ mein Herz höher schlagen. Ich überwand mich dazu, mich meiner Jeans zu entledigen. Wenn Jemand vorbei kam würde ich einfach im Wasser bleiben. 

Wie in Trance watete ich tiefer ins Wasser. Früher hatte ich nie viel für Schwimmen übrig gehabt. Wenn ich bei einer Wassersportart nicht auf einem Brett stehen konnte, hatte sie mich nicht interessiert. 

Oft vermisste ich das Gefühl und hasste die Tatsache, dass ich wohl nie wieder auf einem Brett stehen würde. Auch jetzt verpasste mir der Gedanken einen kurzen Stich, aber die Freude am Schwimmen drängte ihn kurz darauf wieder in den Hintergrund. 

 

Ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, aber meine Schultern und Arme brannten angenehm. Ich drehte mich im Wasser einmal um mich selbst und versuchte den Ort auszumachen, an dem ich meine Kleidung abgelegt hatte. Beim Schwimmen hatte ich nicht sonderlich auf meine Richtung geachtet. Ich schwamm langsamer zurück und ließ mich von den Wellen tragen. Als ich aus dem Wasser stieg spürte ich die Steinchen unter meinen Füßen. Sonne schien mir ins Gesicht, leises Meeresrauschen im Hintergrund und ich konnte mich nicht daran erinnern wann ich das letzte mal so glücklich gewesen war. 

Hätte mich gestern Jemand danach gefragt, hätte ich überzeugt versichert, dass ich nie wieder jemals an einem öffentlichen Strand im Meer baden würde. Ich war so selbstzufrieden, dass ich kaum einen Gedanken daran verschwendete, dass jeden Moment irgendjemand auftauchen könnte. Mein T-Shirt war komplett nass und meine Jeans klebte an mir wie eine zweite Haut, nachdem ich sie angezogen hatte, aber bis nach hause würde es gehen. 

Bis ich zuhause ankam hatte meine Kleidung den Autositz durchweicht und obwohl es Mitte zwanzig Grad hatte, fing ich an zu frieren. Ich stellte mit einem Blick auf die Wanduhr im Flur fest, dass noch keine zwei Stunden vergangen waren seit ich heute morgen los bin und beschloss mir Zeit zu lassen und erstmal zu duschen. 

40 Minuten später war ich, ein zweites mal an diesem Tag, auf dem Weg zur Schule. Noch bevor ich das Schulgebäude betreten hatte kam Lukas mit seinen Freunden auf mich zu. 

„Wo hast du denn gesteckt?“, wollte er gutgelaunt, wie anscheinend immer, von mir wissen. Ich war ehrlich überrascht, dass er sich nach gestern überhaupt noch die Mühe machte mit mir zu reden. Wahrscheinlich war er wirklich extrem neugierig. 

„Ich war am Meer“, gab ich mit abweisender Miene Auskunft, erntete allerdings nur einen verdutzten Blick von Lukas, bevor er begann mir vom Kunst Unterricht zu erzählen. Ich war milde überrascht, dass er mich nicht weiter mit Fragen löcherte. Ich konnte diesen Lukas wirklich nicht einschätzen. Hörte er sich vielleicht einfach gerne selbst beim reden zu, egal mit wem?

Das aus-dem-Auto-aussteigen war mir dieses mal wesentlich leichter gefallen. Vielleicht lag es einfach daran, dass ich nur noch anderthalb Stunden Unterricht vor mir hatte und nicht die drohende Aussicht vor mir lag den ganzen Tag hier verbringen zu müssen. Trotzdem brachte der Gedanke mich nicht davon ab weiterhin auf meinem Höhenflug zu gleiten. Zum ersten mal fühlte ich mich als würde mich nicht so schnell etwas aus der Bahn werfen. Wahrscheinlich war das der Grund warum ich ohne nachzudenken „ja“ sagte, als Lukas mich fragte ob ich mit ihnen nach der Schule mit in die Stadt ein Eis essen gehen wollte.  Ich blieb wie erstarrt in der Türe stehen. Selbst als sich Lukas schon von mir abgewandt hatte um sich auf seinen Platz zu setzen, sah ich ihm noch völlig fassungslos hinterher und versuchte nachzuvollziehen wie das eben passiert war. Soviel zum Thema ’sich nicht aus der Bahn werfen lassen’. Als Sich unsere Lehrerin hinter mir räusperte schaffte ich es endlich mich in Bewegung zu setzten und zu dem freien Platz in der zweiten Reihe zu gehen. Mein Höhenflug hatte sich zusammen mit meiner Gelassenheit verabschiedet und dem üblichen Anflug von Panik platz gemacht. Aber ich war trotzdem fest entschlossen das durchzuziehen. Ich war heute morgen im Meer schwimmen, ich würde auch ein Eis mit meinen Mitschülern überleben. 

Leider bekam ich vom Unterricht trotzdem genauso wenig mit wie gestern. Mein Bein wippte in schnellem Tempo auf und ab, bis ich mir dessen bewusst wurde und mich dazu zwang aufzuhören. 

Nach dem Unterricht kam Lukas wieder auf mich zu und ich folgte ihm, und dem Rest der sich zu uns gesellte, schicksalsergeben. Ich hatte mich heute bewusste dazu gezwungen mein Hinken nicht so angestrengt zu verbergen wie gestern, aber ich konnte es trotzdem nicht ganz lassen. Lukas und Julien hatten scheinbar schon wieder vergessen, dass ihr Tempo mir Probleme bereitete, aber ich nahm es ihnen nicht übel, etwas anderes hatte ich nicht erwartet. Ich riss mich zusammen und hielt eisern mit ihnen Schritt. 

Bei dem Weg durch die Stadt versuchte ich mir meine Umgebung einzuprägen. Diese Stadt würde ich in auf jeden fall kennen lernen und mich nicht weiterhin von der Welt abschotten wie ich es bislang getan hatte. 

Schluss endlich führten mich meine neuen Klassenkameraden zu einem kleinen Eiskaffee am Rande von einem Park. Die Straßen waren nicht ganz so belebt wie ich befürchtet hatte. Ich setzte mich mit dem Rücken zur Wand um die Straße im Blick zu haben und fühlte mich unter den gegebenen Umständen so entspannt wie es mir eben möglich war. 

„Du musst unbedingt den Nusseisbecher probieren, der ist Weltklasse.“ empfahl mir die kleine Blondine. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie sich nicht vorgestellt hatte. 

„Hör nicht auf Mel, der Joghurteisbecher ist viel besser!“ , widersprach Julien lachend. Das einzige, dass mich an dem Gespräch interessiert war die Tatsache, dass ich nun einen Namen mehr wusste.

„Ich esse nicht wirklich gerne Süßigkeiten.“ Gab ich Auskunft und wurde von sechs paar großen Augen erstaunt angestarrt, als hätte ich gerade erklärt, dass mich Außerirdische auf dem Mars gezeugt hatten. Als die Bedienung kam, bestellte ich mir einen Tee. Ich hätte mehr Lust auf Kaffee gehabt, aber ich wusste, dass Koffein meine Angstzuständen nicht gerade verbesserte.  

„Wisst ihr noch, damals in der fünften Klasse, als Mel ein Gedicht vortragen sollte und sie ganz stolz ein von ihr selbst gedichtetes genommen hat?“, fragte Lukas grinsend.

„Wie könnten wir das vergessen!“, antwortete Julien lachend „Sie hat „Eiscreme" auf „Badengehen“ gereimt!“

„Das war ein voll kreatives Gedicht! Außerdem war ich erst zehn!“, verteidigte sich Mel gespielt empört. Die Bedienung brachte unsere Bestellungen und stellte vor jedem außer mir einen Eisbecher ab. Die Eisbecher sahen zugegebener maßen ziemlich lecker aus, aber ich verspürte trotzdem nicht das Verlangen mir auch einen zu bestellen. 

„Ging das nicht irgendwie weiter mit ’ich fiel auf mein Steiß, deswegen bekam ich kein Eis?’“, überlegte der braunhaarige Typ von gestern grinsend, dessen Namen ich immer noch nicht wusste. Ich hörte die nächsten Minuten ihrem Geplänkel zu. Da sie über Dinge sprachen, bei denen ich nicht dabei gewesen war, konnte ich mich nicht an der Unterhaltung beteiligen, selbst wenn ich es gewollt hätte. Trotzdem kam ich mir nicht ausgeschlossen vor. Die Art wie sie  bisher miteinander und mit mir umgegangen waren, deutete darauf hin, dass ich es hier vermutlich mit recht netten Menschen zu tun hatte. Unter anderen Umständen hätten wir vielleicht sogar Freunde werden können. 

„Frau Dobrey gibt uns öfter mal freie Schreibaufgaben auf“, erklärte Lukas an mich gewandt in dem Versuch mich in das Gespräch mit einzubeziehen.

„Frau Dobrey?“, hackte ich nach und überlegte, ob mir der Name bekannt vorkommen sollte.

„Unsere Englischlehrerin.“

In dem Moment klingelte mein Handy. Ich musste nicht groß überlegen wer mich da wohl anrief. Außer meiner Mutter und den Ärzten hatte niemand meine Nummer. 

„Hallo.“, sagte ich, nachdem ich mein Handy aus meiner Tasche hervorgekramt hatte. Meine Mutter verschwendete keine Zeit mit Begrüßungen.

„Wo bist du?“, wollte sie harsch von mir wissen und ich wunderte mich einen Moment über ihren Tonfall. 

„Ich bin mit ein paar meiner Mitschüler in der Stadt ein Eis essen.“ 

Am anderen Ende war es kurz still, was ich gut verstehen konnte. Ich konnte mir selbst auch kaum glauben.

„Du bist ein Eis essen,“ , wiederholte sie steif. 

„in der Stadt, mit Mitschülern von dir…“ 

„Ja.“ Am anderen Ende war es wieder kurz still.

„Wir sind heute um 15Uhr mit deinen Großeltern verabredet.“ Erinnerte sie mich zögerlich und klang dabei als hätte sie keinen blassen Schimmer, wie sie die Situation bewerten sollte. 

Verdammt, daran hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht.

„Tut mir leid, hab ich vergessen.“ Entschuldigte ich mich, auch wenn es mir nicht wirklich leid tat. Besuche bei meinen Großeltern waren mir aus mehreren Gründen verhasst. 

„Ich habe mein Auto an der Schule stehen lassen, bis ich zuhause bin brauche ich eine Weile.“ Gab ich Auskunft und schaffte es nicht wirklich Motivation zu heucheln. 

„Kein Problem, ich kann dich abholen.“, sagte sie und klang dabei nicht als würde sie mir ein Angebot machen. Wahrscheinlich glaubte sie mir nicht, dass ich wirklich mit Mitschülern Unterwegs war. Da ich das letzte mal, als ich verschwunden war fast tot im Krankenhaus wieder aufgetaucht bin, konnte ich ihr das nicht verübeln.

„Okay.“, gab ich mich geschlagen und wandte mich wieder meinen Mitmenschen zu, die, wie ich jetzt feststellte, meinem Telefonat interessiert zugehört hatten. 

„Wir wollten eigentlich nachher noch zu Julien.“, sagte Lukas und sah mich neugierig an. Ich unterdrückte ein Seufzen, wenigstens taten sie nicht so als hätten sie nicht jedem meiner Worte gelauscht. 

Jetzt war ich doch ganz froh eine Ausrede zu haben um mich abzuseilen. Bei meinen Großeltern wusste ich wenigsten was mich erwartete.

„Sorry, ich hab vergessen das ich verabredet bin. Ein anderes Mal vielleicht.“, entschuldigte ich mich. „Wie heißt diese Eisdiele nochmal?“ 

Ich verrenkte mir den Hals bei dem Versuch hinter mir irgendwo einen Schriftzug aus zu machen. 

„Realto.“, warf irgendwer ein und ich gab den Namen an meine Mutter weiter, die am anderen Ende der Leitung stumm gewartet hatte. Mit einem „Bis gleich.“ beendete sie unser Gespräch ohne eine Antwort abzuwarten. Lukas sah mich noch einen Moment abwartend an, bevor er sich dem Gespräch der anderen zu wand. Ich wusste, dass ich mich alles andere als sozial verhielt in dem ich mich kein bisschen an den Gesprächen beteiligte. Sozialkompetenz zählte schon lange nicht mehr zu meinen Stärken. Ich fragte mich wieder einmal, wie lange es dauern würde bis sie meiner überdrüssig wurden. 

Kaum 20 Minuten später, sah ich den Cadillac meiner Mutter um die Ecke biegen. Sie stellte den Wagen im Parkverbot ab und stieg aus. Sie trug immer noch ihre Businesskleidung, wahrscheinlich kam sie von der Arbeit. Bis ich einen fünf-Dollarschein hervorgekramt und auf den Tisch gelegt hatte, war sie schon fast an unserem Tisch angekommen. Mir entging nicht das meine neuen Mitschüler sie alle ziemlich ungeniert anstarrten. Sie Grüßte mit einem charmanten Lächeln in die Runde und wartete. 

„Bis morgen.“ Verabschiedete ich mich und folgte meiner Mutter zum Auto, die so langsam lief wie immer wenn sie mit mir Unterwegs war.

„Vielleicht hätte ich dich nicht abholen sollen,“ stellte sie fest, als wir beide im Auto saßen. 

„ich will dich auf keinen Fall davon abhalten Zeit mit deinen Mitschülern zu verbringen.“ 

Sie musterte mich von der Seite.

„Ich habe genug Socializing gemacht für einen Tag. Ich hätte mich so oder so demnächst abgeseilt.“ , stellte ich klar. Ich wollte vermeiden, dass sie zu viel in das Treffen mit meinen Mitschülern hinein interpretierte. Wenn sie es als großen Durchbruch ansah und nun die Hoffnung hatte, dass ich mich ändern würde, war es besser ihr schnell diese Illusion zu nehmen. Aber meine Mutter musterte mich nur einen Moment weiter und nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet. Sie war keine dumme Frau.

4. Dave

„Das ist Blakes Mutter?!“ Sprach Lukas das aus was wir wohl alle gerade dachten.

„Die ist echt hot!“, fügte Sak mit einem anzüglichen Grinsen hinzu. Ich konnte nicht Wiedersprechen. Ich war zwar schwul, aber nicht blind.

„Nicht wirklich überraschend, sie ist ja schließlich Blakes Mutter.“, merkte Julien beiläufig an und Lukas Kopf fuhr zu ihr herum mit einer halb entsetzten, halb beleidigten Miene.

„Stimmt, Blake ist auch ziemlich hot.“ Fügte Mel an Sak gewandt hinzu und grinste genauso dreckig zurück. Lukas Gesichtsausdruck war wirklich göttlich und leicht mitleidserregend.

„So heiß ist er jetzt auch wieder nicht.“ rutschte mir heraus bevor ich nachgedacht hatte. Klar, Blake sah gut aus, aber ich konnte trotzdem beim besten Willen nicht nachvollziehen was sie an ihm fanden.

„Da spricht der Neid.“ Meinte Mel und ich schnaubte nur. Bis jetzt hatte ich ihnen nicht gesagt, dass ich schwul war und so konnte es meinetwegen auch gerne noch eine Weile bleiben. Die einzigen die Bescheid wussten waren mein älterer Bruder und zwei meiner besten Freunde, die beide selbst schwul waren. Solange ich keinen festen Freund hatte, sondern nur ab und zu den ein oder anderen one-night-stand, sah ich auch keinen Grund das zu ändern. Zwar  ging ich nicht davon aus, dass meine Freunde ein Problem damit hätten, oder mich meine Eltern enterben würden, aber ich hatte trotzdem kein Bedürfnis mein Sexleben mit ihnen zu besprechen. 

„Aber Blake ist dafür nicht gerade die hellste Birne am Leuchter.“ , merkte Julien an. „Tja man kann nicht alles haben im Leben.“ kicherte Mel. 

„Wie kommt ihr darauf?“ Wollte Lukas ehrlich überrascht wissen. Julien sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an.

„Du sagst ihm fünf mal was und wenn du ihn dann darauf ansprichst hat er trotzdem keine Ahnung wovon du redest. Ist dir das nicht aufgefallen?“ 

„Das liegt daran das es ihn nicht die Bohne interessiert was wir zu sagen haben.“ Gab ich meinen Senf dazu und versuchte erfolglos nicht verächtlich dabei zu klingen. 

„Nee ich glaub er ist einfach nur schüchtern.“ widersprach Lukas überzeugt und ich schloss mich Julien an und sah ihn mit ungläubig nach oben gezogener Augenbraue an. War das sein ernst? 

„Der Typ ist einfach extrem arrogant!“ Lukas schüttelte beharrlich den Kopf.

„Er hat auf jeden Fall eine lange Leitung.“ Stellte Sak fest. „Wenn man ihn was fragt braucht er erstmal ein paar Sekunden bis die Frage angekommen ist.“  

„Vielleicht nimmt er Drogen.“ War mein halbherziger Vorschlag. 

„Vielleicht hat er sich bei einem Unfall nicht nur das Bein verletzt sondern ist auch auf den Kopf gefallen und deswegen hinkt er jetzt nicht nur, sondern ist auch etwas langsam.“ War Mels Einfall dazu.

„Alter Mel! Sei nicht so bösartig!“, beschwerte sich Sak unterdrückt grinsend und warf sein halbaufgegessenes Stück Waffel nach ihr, dem sich kichernd auswich. 

„Warten wir einfach mal ein paar Monate ab, dann wissen wir wer recht hatte.“ Sagte Lukas grinsend und ich konnte ein Lachen nicht verhindern. Darauf seine Theorie bestätigt zu sehen konnte er lange warten. Insgeheim gab ich Julien recht, Blake war wirklich nicht der hellste. 

Wir bezahlten unsere Eisbecher und machten uns auf den Weg zum Park, wo wir uns vorgenommen hatten für die Bioarbeit zu lernen, auch wenn es wahrscheinlich eher auf Chillen und Sonnen hinauslaufen würde. 

5. Blake

Ich saß schweigend neben meiner Mutter im Auto, die noch nicht los gefahren war sondern mich seitlich musterte. 

„Wir müssen auch nicht heute zu deinen Großeltern,“ stieß sie mir ein Hintertürchen auf, „wir könnten auch irgendetwas anderes machen.“ Ich war mir sicher, das sie selbst nicht genau wusste was sie damit meinte, sie wollte mir damit eine Ausrede liefern. Wahrscheinlich sah sie den heutigen Tag als Durchbruch an und wollte mir den Tag nicht ruinieren, meistens waren wir beide nicht sonderlich gut gelaunt, wenn wir von einem Besuch bei den Großeltern kamen. 

„Ob wir heute oder nächste Woche hingehen macht keinen Unterschied.“ Stellte ich fest und versuchte meine `bringen wir’s hinter uns‘ Mentalität nicht allzu offensichtlich zu machen. Wenn es nach mir ginge könnten wir auch ganz auf die Besuche verzichten, aber ich war sowieso schon verantwortlich für das schlechte Verhältnis zwischen meiner Mutter und ihren Eltern. Ich wollte nicht der Grund sein weswegen ihre Beziehung vollkommen den Bach runter ging.

Meine Mutter nickte und legte den Gang ein.

 

Wir waren mehr als zwei Stunden unterwegs, bevor wir das Gartentor passierten und in dem Innenhof meiner Großeltern parkten. Der Garten war groß und dank des Gärtners bestens gepflegt. Hinter dem Haus befand sich der Pool. Das Haus meiner Großeltern war zwar groß aber nicht übermäßig pompös, sondern eher von schlichter Eleganz. Wenn mich nicht alles täuschte war die Frau des Cousins meiner Mutter die Architektin, die das Haus damals zusammen mit meinem Großvater entworfen hatte. Mein Großvater war auch der Architekt der mehrere Schulen und Kirchen der Stadt entworfen hatte. 

Meine Großeltern empfingen uns an der Türe und ich schüttelte beiden wie von mir erwartet die Hand und nickte steif. Meine Großeltern wussten warum ich Körperkontakt nicht ausstehen konnte, und das ich Angstzustände davon bekam, aber sie hatten trotzdem von Anfang an darauf bestanden. Es brachte nichts mich mit `Samthandschuhen` anzufassen, war die Meinung meines Großvaters dazu. Und wahrscheinlich hatte er sogar recht damit, denn ich fühlte mich zwar immer noch nicht wohl dabei irgendwem die Hand zu schütteln, aber bei meinen Großeltern war es zumindest erträglich geworden. Heute fühlte ich mich jedenfalls einigermaßen im Stande dazu mich mit den beiden auseinander zu setzen. Die Gespräche bestanden aus oberflächlichem Smalltalk und dem Austausch von Höflichkeiten, bis wir den Creme Brulee Nachtisch gegessen hatten. Ich legte den Löffel beiseite und wappnete mich für die Fragen die unzweifelhaft kommen würden. Meine Großeltern ließen mich nicht lange warten.

„Wie läuft es an der Neuen Schule, hast du Freundschaften geschlossen?“, machte meine Großmutter den Einstieg und sah mich aus stahlblauen Augen ernst an. Schon ihre Frage klang als hätte ich die unzufriedenstellende Antwort bereits gegeben.

„Heute war der erste Tag.“ , antwortete ich schlicht und trank einen Schluck meines Weins. Ich hielt es nicht für nötig zu erwähnen das ich mit meinen Mitschülern ein Eis essen war. Erstens würde ich nicht soweit gehen, das als das Schließen von Freundschaften zu bezeichnen, zweitens ging ich nicht davon aus das der Kontakt lange anhielt und drittens war der Versuch meine Großeltern zufrieden zu stellen ein hoffnungsloses Unterfangen. Meine Großmutter fragte nicht weiter nach. Ihr dürfte klar sein, dass es für meine nicht vorhandenen sozialen Kontakte keine Rolle spielte, ob ich einen Tag oder ein Jahr an der Schule war. Sie sah mich dementsprechend missbilligend an. 

Meine Großeltern waren unzufrieden mit mir und meinem Verhalten und taten das auch bei jeder Gelegenheit kund. Sie verlangten einerseits von mir das ich mich änderte und gaben andererseits zu verstehen, dass ich ihrer Meinung nach nicht dazu in der Lage war. Sie stellten ihre Fragen, obwohl sie davon überzeugt waren die Antworten zu kennen. Ich fragte mich ob sie sich bewusst waren wie paradox sie sich verhielten.

„XX hat eine passable IceHockey Mannschaft, hast du dir den Verein angeschaut?“, führte mein Großvater die Fragerunde fort und imitierte den strengen Blick seiner Frau.

„Nein und das habe ich auch nicht vor.“ Erwiderte ich und nahm einen weiteren Schluck aus meinem Glas. Ich verzichtete darauf meinen Großvater auf meine Behinderung hinzuweisen, schon wenige Sekunden später wurde ich auch daran erinnert warum. 

„Gestern kamen die Paralympischen Spiele im Fernsehen. Jonnie Peacock hat gewonnen. 100 Meter in weniger als 11 Sekunden mit nur einem Bein.“ , er sah mich über sein eigenes Weinglas hinweg vielsagend an. Er verzichtete darauf mir direkt ins Gesicht zu sagen für was für einen erbärmlichen Jammerlappen er mich im Vergleich hielt, aber das war auch nicht nötig. Wir wussten beide was er mir damit sagen wollte. Meine Mutter presste verärgert die Lippen aufeinander, aber sie würde mich nicht weiter in Verlegenheit bringen indem sie mich verteidigte. Ich gestand mir ein, dass mein Großvater recht hatte. Körperliche Beeinträchtigungen waren eine Ausrede. Es gäbe mittel und Wege auch weiterhin IceHockey zu spielen. Leider waren körperlich Beeinträchtigungen nicht das einzige, das mich davon abhielt in die nächste Eishalle zu laufen. 

Mit dieser Art von Fragen, indirekten Vorwürfen und Seitenhieben machten meine Großeltern weiter und meine Antworten wurden immer gezwungener. Ich hatte es satt mich zu rechtfertigen. Normalerweise wäre mittlerweile irgendwann der Punkt erreicht an dem ich ihre Fragen ignorierte und einfach nicht mehr antwortete, aber heute machten mich meine Großeltern wütender als sonst.

„Wie ich schon sagte, ich habe nicht vor mit euch zu der Ausstellung zu gehen. Ich werde auch nicht wieder mit IceHockey anfangen, ich hätte geglaubt, dass das mittlerweile offensichtlich geworden ist.“ Ich konnte nicht ganz verhindern, das meine Stimme verärgert klang. 

„Wieso stellst du dich so an Junge? Setz dich endlich mit deinen Problemen auseinander!“ Sagte mein Großvater nicht weniger verärgert. Er wurde ungewöhnlich direkt, offensichtlich war er mit seiner Geduld am Ende.

„Was habt ihr davon, wenn ich wieder mit Eishockey anfange? Interessen ändern sich nunmal, wahrscheinlich spielt die Hälfte meiner alten Mannschaft kein Hockey mehr. Und das sich das soziale Umfeld verändert ist auch nichts außergewöhnliches. Ich werde ganz sicher nicht mehr mit Jonnie in Kontakt treten, nur weil ihr in mochtet.“ Mittlerweile konnte ich meine Wut kaum noch beherrschen. 

„Belüg dich doch nicht selbst!“ , auch mein Großvater hatte die Stimme erhoben. Ich gab mir Mühe das ungute Gefühl das dadurch entstand zu ignorieren.

„Wenn du dich einfach nur weiterentwickelt und verändert hättest würden wir dir wohl kaum Vorhaltungen machen! Aber du hast nicht mit Eishockey aufgehört weil du das Interesse verloren hättest. Du verkriechst dich in deinem Schneckenhaus und gehst allen Problemen aus dem Weg weil du Angst hast! Komm endlich darüber hinweg!“ 

Seine letzten Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Mehr oder weniger deutlich sagte er mir jedes mal das gleiche, aber so direkt wurde er selten. Ich senkte den Blick auf meine zitternde Hand die noch immer das Weinglas hielt und kippte dann den Rest hinunter bevor ich eine gleichgültige  Miene aufsetzte und aufstand. Meine Mutter ließ sich nicht lange bitten.

„Zeit für uns zu gehen, wir haben noch eine lange Fahrt vor uns.“  Verabschiedete sie sich trocken, als wäre der Grund weswegen ich die Flucht ergriff nicht offensichtlich. Sie folgte mir aus dem Haus und setzte sich wortlos hinters Steuer. Im Auto herrschte unangenehmes Schweigen, dass meine Mutter erst nach einigen Minuten durchbrach.

„Es tut mir leid. Ich weiß wirklich nicht warum ich dir das immer wieder zumute. Wenn die beiden sich in Zukunft nicht besser beherrschen war das unser letzte Besuch!“, sie klang genauso verärgert wie ich mich bis eben noch gefühlt hatte und es war nicht das erste mal das sie zu diesem Schluss kam

„Die beiden sagen ihre ehrliche Meinung.“ Sagte ich nach kurzem Schweigen. „Ob sie es in Zukunft nur denken, statt es auszusprechen macht nicht wirklich einen Unterschied.“ Meine Mutter erwiderte nichts darauf.

„Außerdem haben sie recht!“ , fügte ich hinzu und konnte den Selbsthass der in meiner Stimme mitschwang nur schwerlich verhindern. 

„Nein haben sie nicht!“, widersprach mir meine Mutter entschieden. 

„Niemand kann nachdem was du durchgemacht hast von dir verlangen darüber hinweg zu kommen! Und nur weil du dich anders verhältst als früher heißt das nicht das dich das zu einem schlechteren Mensch macht!“ Ich erwiderte nichts darauf und nickte stumm, auch wenn ich ihr absolut nicht zustimmte. Ich hatte nicht vorgehabt meine Probleme bei ihr ab zu laden. 

Ich ärgerte mich über mich selbst: Darüber das ich meinem Großvater überhaupt erst widersprochen hatte und ihm damit eine Steilvorlage geliefert hatte, darüber dass ich meine Sorgen an meiner Mutter ausließ und am meisten darüber, dass ich nicht einfach auf meinen Großvater hören und endlich darüber hinweg kommen konnte.

Ich lehnte meinen Kopf niedergeschlagen gegen das Fenster und beobachtete wie die Welt an mir vorbeizog. 

 

Als ich aus dem Auto ausstieg spürte ich die zwei Gläser Wein die ich getrunken hatte und bereute sie auch sofort. Ich hasste das Gefühl betrunken zu sein. Kontrollverlust war meiner Erfahrung nach nichts gutes und das Gefühl wurde begleitet von dem Gefühl aufsteigender Panik. Aber wie das mit Alkohol nunmal so war, sagte man sich hinterher immer „nie wieder“ und wusste doch das es gelogen war. Als ich später im Bett lag war ich fast eingeschlafen als sich mein Herzschlag beschleunigte. Ich spürte den Beginn der Panikattacke, setzte mich auf und versuchte meine Atmung zu kontrollieren. Manchmal half das um eine Panikattacke abzuwenden, aber dieses mal nicht. Meine Atmung wurde immer schneller bis ich kaum noch Luft bekam. Die aufkommende Panik machte es schwer sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Meine Brust schmerzte und mein Gesicht wurde heiß. Ich hatte Angst. Wovor genau wusste ich nicht. Anfangs hatte ich noch gedacht ich würde einen Herzinfarkt bekommen und sterben, aber mittlerweile hatte ich so viele Panikattacken hinter mir, dass ich genau wusste mir würde nichts passieren. Trotzdem nahm die Angst mich jedes mal vollkommen in Besitz. Es dauerte gefühlte Stunden bis sich mein Atem anfing zu beruhigen, auch wenn ich wusste das vermutlich nur 20 Minuten vergangen waren. Ich war durchgeschwitzt und meine Hände zitterten. Sobald ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte kotzentrierte ich mich auf meine Atmung. Das Schwindelgefühl verschwand allmählich und mein Herzschlag wurde langsamer. Obwohl mich Panikattacken müde machten setzte ich mich an den Tisch und arbeitete an dem Puzzle weiter das dort angefangen lag. Puzzeln half mir dabei mich abzulenken und als ich das Gefühl hatte entspannt zu sein legte ich mich wieder ins Bett. Als ich fast eingeschlafen war fing mein Herz wieder an schneller zu schlagen. Ich setzte mich auf. Angst mischte sich mit Wut und verdrängte diese schon bald. 

Nach der dritten Panikattacke gab ich auf und blieb an dem Tisch sitzen. Schlaf konnte ich vergessen. Aber auch Puzzeln war kein Wunderheilmittel und erst gefühlte Jahre später als es draußen schon wieder hell wurde hatte ich nicht mehr das Gefühl mich am Rande einer Panikattacke zu befinden. Ich ging ins Bad duschen. Der Badezimmer Spiegel bestätigte mir das ich genauso beschissen aussah wie ich mich fühlte und ich war froh das meine Mutter bereits weg war als ich nach unten in die Küche lief um zu frühstücken. Ich war wütend, wütend auf mich selbst und die ganze Welt. Was verdammt war falsch mit mir? Es musste doch möglich sein ein bekackt normales Leben zu führen! Wieso war ich so unfähig mein Leben auf die Reihe zu bekommen? 

Ich hatte keinen Hunger aber ich aß trotzdem lustlos mein Müsli mit Obst und Quark auf. Wenn ich nicht schon wieder zu spät kommen wollte hatte ich keine Zeit heute wieder ans Meer zu fahren und ich ging stattdessen in unserem Pool schwimmen. Der Pool war nur halb so breit wie man ihn wahrscheinlich erwartet hätte, aber dafür doppelt so lang. Meine Mutter hatte ihn, wie alles andere auch, ganz nach meinen Bedürfnissen bauen lassen, damit mir ja an nichts fehlte. Schwimmen war zwar nicht das Gleiche wie Eishockey aber meine Motivation war bei jeder Sportart die gleiche. Bei einem Eishockeyspiel war es mir nie um Spaß gegangen sondern darum zu gewinnen! Auch wenn mein Wettkampf denken lange nicht mehr das war was es einmal gewesen ist, schwamm ich doch selten ohne meine Zeit zu messen. 

Heute war ich festentschlossen mehr vom Unterricht mitzubekommen als nur um welches Fach es sich handelte. Als ich dann zur ersten Stunde Mathe pünktlich im Unterricht saß und mich auf die Lehrerin und ihre umständlichen Erklärungen zu Vektoren konzentrierte ließ meine Motivation sehr schnell stark nach. Das einzig faszinierende an dem Unterricht war die Unfähigkeit der Lehrerin die Probleme ihrer Schüler nachvollziehen zu können. Vielleicht war es auch nur die Unlust sich auf besagte Schüler einzulassen. Es wunderte mich jedenfalls überhaupt nicht, das die meisten meiner Mitschüler entweder sehr gelangweilt oder verwirrt aus sahen. Ich hoffte inständig, dass die restlichen Lehrenden nicht genauso unfähig waren und ich das in meinem vernebelten Zustand die letzten Tage einfach nicht bemerkt hatte. Die Mitarbeit ihrer Schüler schien für unserer Mathelehrerin jedenfalls keine Priorität zu sein. Wenigstens musste ich nicht damit rechnen aufgerufen zu werden, außerdem hieß das ich konnte zukünftig die erste Stunde Montags für sinnvollere Dinge nutzen und würde absolut nichts verpassen. Meine Gedanken schweiften ab. Erst als wir aufgefordert wurden die Hausaufgaben mitzuschreiben wurde ich wieder Aufmerksam, aber ich machte mir die Mühe nicht, sondern begann mein Mathebuch, das die gesamte Stunde geschlossen vor mir gelegen hatte bei Seite zu räumen. Die nächste Stunde lief nur unwesentlich besser und ich war froh als endlich Mittagspause war. 

Ich wollte gerade das Klassenzimmer verlassen, als unerwartet Lukas vor mir stand. 

„Wir gehen jetzt in die Mensa, kommst du mit?“ Wollte er von mir wissen und sah mich genauso gut gelaunt wie bisher an. Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet das er ein weiteres mal auf mich zukommen würde. Fast schon tat es mir leid ab zu lehnen, aber Mensa bedeutete eindeutig zu viele Menschen auf zu engem Raum.

„Nein Danke.“ Ich versuchte meine Abfuhr durch ein bedauerndes Lächeln abzumildern, war mir aber nicht ganz sicher wie erfolgreich ich dabei war, dann verließ ich endlich das Klassenzimmer. 

Ich lief zum Parkplatz und aß die Reste meines Abendessens von gestern, einsam und alleine in meinem Auto, ohne es auch nur das geringste bisschen zu bereuen nicht mit in die Mensa gegangen zu sein. Ich fragte mich wie erfolgreich ich dabei sein würde mich wieder am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen, wenn ich nicht den winzigsten Hauch eines Wunsches danach empfand. Die Enchiladas schmeckten plötzlich recht fad. Wie konnte es sein, das ich Menschenkontakt so gut wie möglich aus dem Weg ging, mich kaum am gesellschaftlichen Leben beteiligte und trotzdem das Gefühl hatte das mein komplettes Leben von gesellschaftlichen Zwängen bestimmt war? Stand ich morgens auf, versuchte mit meinen Mitschülern in Kontakt zu kommen und mein Leben in den Griff zu kriegen, weil es das war was ich tun wollte, oder machte ich das alles nur um einen gesellschaftlich akzeptierten, funktionierenden Menschen abzugeben? Wollte ich einen funktionierenden Mensch abgeben, um meine Mutter glücklich zu machen, meine Großeltern zufrieden zu stellen? Und wie sollte ich jemals selbst glücklich werden, wenn ich weder wusste was mein Problem war, noch was ich wirklich wollte? Wütend stellte ich mein Essen beiseite und versuchte wenigstens die letzte Frage zu beantworten. Was wollte ich? Wenn es nach mir ging würde ich auswandern. Irgendwohin wo mich absolut niemand kannte und keiner von mir erwartete dass ich mich am gesellschaftlichen Leben beteiligte. Und wenn ich dann feststellen sollte, dass mir dieses Leben nicht zusagte könnte ich es jeder Zeit beenden und niemand würde sich daran stören. Aber ich würde niemals tun was ich wollte und warum war das so? Weil es eben nicht nach mir ging, oder zumindest nicht darum ob ich glücklich war. Weil ich kein Recht darauf hatte. Weil ich mich verantwortlich fühlte. Weil ich mich schuldig fühlte. 

Ich nahm mein Essen wieder in die Hand. Es fiel mir wesentlich leichter mich mit Dingen abzufinden, bei denen ich wusste warum sie waren wie sie waren. Es viel mir leichter auszusteigen und die letzten zwei Stunden Geschichte über mich ergehen zu lassen. 

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Tag der Veröffentlichung: 09.09.2018

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