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»Mmmhm«, schmatzte ein blonder Junge genüsslich, das hohe Summen der Stimme lauter als erwartet. Der Saft des knackigen Apfels lief ihm in dünnen Fäden das Kinn hinunter und seine Wimpern und Haare leuchteten im grellen Sonnenlicht golden auf.
Im Hintergrund vermischte sich das eingespielte Vogelgezwitscher vom Band mit der leisen Musik, deren Melodie die Basis für den Gesang eines kleinen Kinderchores war.
Voller Elan und Freude riefen sie »Damit du dein Leben lang so kraftvoll zubeißen kannst« im Klang der fröhlichen Melodie, während der Junge grinsend in die Kamera winkte, die Augen glänzend vor Freude.



Jonas wandte seinen trüben Blick vom Bildschirm des Fernsehers in seinem Zweizimmerappartment ab und streifte dabei mit seinen Augen den Spiegel. Er verharrte für einen Moment und betrachtete den jungen Mann. Er schien bis auf ein paar grobe Gesichtszüge so gar nichts mehr mit dem Kind aus dem Werbespot gemein zu haben. Der Glanz in seinen Augen war schleichend einem nebligen Schleier gewichen, der geübt die traurigen Gedanken hinter seinem Mantel versteckt hielt. Das Lachen war verklungen. Die Lebenslust aus seinem mittlerweile zwanzigjährigen Gesicht gewichen. Der scheue Blick eines Kindes, abwechselnd gefüllt mit Ängsten und einer alles umfassenden Leere, entwich seinen einst so freundlichen blauen Augen und lähmte sein Bewusstsein.
Jonas war abgeschottet in einer Welt aufgewachsen, in der Spielkreise durch Babycastings ersetzt wurden. Es galt einzig und allein anderen Menschen zu gefallen und diesen Selbstwert mit der Zuneigung seiner Mutter aufgewogen zu bekommen.
Er bewunderte seine Mutter – sie war ehrgeizig gewesen, kämpferisch und aufopfernd hatte sie all ihre Kraft auf seine Karriere verwendet. In ihr sah Jonas sein Vorbild, eine starke Persönlichkeit, eine Frau, die bereit war wie eine Löwin zu kämpfen. Dass seine Mutter jedoch nicht für ihn, sondern für die Verwirklichung ihrer eigenen gescheiterten Träume kämpfte, fand nie den Weg in sein Bewusstsein. Er verschloss die Augen, verdrängte die Zurückweisungen und die Einsamkeit und glaubte immer fest daran, dass seine Mutter nur ein Interesse hatte: ihn.
Jonas hatte stets Schutz gesucht, sich an seine Mutter geklammert, abgewiesen von den Menschen, denen er sich näher fühlen wollte – Freunde, ein unbekanntes Wort. Er wurde nur allzu oft von seinen Klassenkameraden gehänselt und schikaniert. Etwa weil er in der Werbung als verschnupfter Junge einem blauen Zeichentrick-Nilpferd für ein neues Nasenspray dankte oder in einem ihrer Meinung nach schlechten Fernsehfilm mitgespielt hatte. Egal ob an der Seite von Uwe Ochsenknecht, Jeanette Biedermann oder in einem Fußballfilm mit Oliver Bierhoff - keiner seiner Filme vermochte die Anerkennung seiner Mitschüler zu erlangen.
»Neid« hatte seine Mutter das genannt. Jonas hatte gehofft, sie könne ihm einen Rat geben, einen Tipp wie er beliebter werden könne. Vielleicht könne er ja mit der Werbung aufhören, ihm wäre das nicht wichtig, hatte er genuschelt und sie aufrichtig und bittend mit seinen großen Augen angesehen, für den Werbeproduzenten so viel Geld zahlten. Doch seine Mutter hatte nur gelächelt, ihm beiläufig den Kopf getätschelt und ihn dann einfach stehen lassen um einen wichtigen Termin wahrzunehmen.
So war es weitergegangen, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Jonas hatte gespürt, dass die Liebe seiner Mutter abhängig war von seinem Erfolg. Daraufhin begab er sich immer tiefer in die Welt, die ihn so sehr verunsicherte, die ihn trennte von den Kindern aus seiner Schule und dem Fußballclub seiner Kleinstadt. Immer stärker lastete der Druck auf ihm, nicht mehr gut genug zu sein, seinen Wert zu verlieren.
Und nun stand er in seiner Wohnung, im Dunkel seines eigenen Schattens. Seine Karriere lag Jahre zurück und nur die Videokassetten mit den Werbespots und Filmauftritten waren ihm geblieben. Manchmal ließ Jonas eine Kassette stundenlang in einer Wiedergabeschleife laufen. Dann sah er sich selbst als strahlenden Jungen und fragte sich, wer er nun war, was ihn jetzt noch ausmachte.
Eine innere Leere begleitete ihn durch die Tage, von einer Sekunde auf die andere abgelöst durch Gefühle der Angst, Verzweiflung und Resignation. Ein Chaos in seinem Kopf, das nie enden wollte. Einzig und allein zu ertragen durch die Mauer der Taubheit, hinter der er sich verschanzt hatte.
Er blickte an seinem nackten Oberkörper herunter. Seine alarmierend knochigen Hände glitten über die kleinen kreisförmigen Narben unterhalb seines Bauchnabels. Zwei von ihnen waren noch als frische Brandwunden zu erkennen. Die Einsamkeit traf ihn wie so oft wie ein harter Schlag aus dem Nichts.

Sein Bewusstsein taumelte, und erst als die Nägel seiner zitternden Finger sich tief in eine der offenen Wunden bohrten und der Schmerz seine Gedanken erreichte, entspannte sich sein Gesichtsausdruck. Die Leere, die ihn noch vor Sekunden erfüllt hatte, wich einer feierlichen Macht. Endorphine rauschten durch seinen Körper. Für diesen Moment fühlte er sich stark und unberechenbar wie ein Löwe - wie der Sohn einer mächtigen Löwin. Erhaben schloss er die Augen und atmete ruhig und zufrieden ein. Das Echo eines schwachen Glücksgefühls drang in sein Innerstes und gab vor, stärker zu werden. Doch ehe Jonas erfahren konnte, ob es ihn nur täuschen oder tatsächlich erfüllen wollte, regulierte sich sein Schmerzempfinden und die Taubheit kehrte zurück. Krampfhaft drangen seine Fingernägel tiefer in die Wunde ein, tiefer und tiefer, auf der Suche nach sich selbst.

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Tag der Veröffentlichung: 16.04.2009

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