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Prolog


Die Stadt reibt verschlafen ihr Antlitz und streckt ihre Arme nach dem Tag aus. Nur mühsam kommt sie in die Gänge, räkelt sich und entzündet die Lichter.
Die Straßen und Flaniermeilen erwachen von den ersten Schritten. Menschen hetzen mit ihren Synthetik- und Lederschuhen über den nassen Asphalt.
Einige wenige Radfahrer bewegen sich stadteinwärts. Geschickt umfahren sie die ersten Lieferwagen, die in die Fußgängerzone eindringen und radeln dem neuen Tag entgegen. Einige Gesichter so müde und alt wie die Stadt selbst, andere munter und erwartungsvoll, passend zum neuen Gewand, welches die alte Stadt sich vor Kurzem umgelegt hat.
Auspuffgase strömen vom Straßenboden hinauf in die Luft und vermengen sich mit dem dünnen Sauerstoff, dringen in die Nüstern der Stadt.
Mit wachen Augen atmet sie ein und aus. Das Getöse der ersten vorbeifahrenden Busse löst die bisherige Stille ab, das Schrillen der Straßenbahn-Warnglocken ertönt und läutet endgültig den neuen, geschäftigen Tag ein.
Zufrieden blickt die Stadt auf sich selbst herab.




1. Vormittagsarie


Eine Frau hastet über den grauen Asphalt, den unnahbaren Blick zielstrebig auf das Ende der Straße gerichtet. Die Absätze ihrer feinen Lederstiefel stoßen unsanft auf den feuchten Gehweg auf, auf den vor einer Stunde noch der unbarmherzige Frühjahrsregen eingeschlagen hat.
Glücklicherweise ist es noch früh und die Straßen sind noch nicht übermäßig gefüllt – Menschenansammlungen meidet sie tunlichst, all das Gedränge regt sie nur auf.
Die grünen Augen der Frau mit dem schwarzen Kaschmirmantel, den wuchtigen Diamantohrringen und den seidigen blonden Haaren flimmern und ihre Schritte werden langsamer, als sie sich einem kleinen Lädchen nähert.
Ein warmes Gefühl steigt in ihr auf und mit einem verzückten Lächeln stößt sie die milchige Glastür auf. Es wirkt erstaunlich, mit welch einer Leichtigkeit diese zarte, nach wochenlangem Hungerleiden aussehende Frau, den schwer anmutenden Druckmechanismus bezwingt. Die Freude über die anstehende Aufgabe verleiht ihr eine fast unmenschliche Kraft.
Drinnen nestelt eine kleine Frau hinter dem Verkaufstresen an einem Regel voller Teepäckchen herum. Ihr brauner Kurzhaarschnitt wirkt unfrisiert und vernachlässigt.
Judithas Blick schweift leicht amüsiert umher. Um sie herum stehen hunderte kleine Päckchen, gefüllt mit Tee oder Kräutern, verzierte Teekannen und Stövchen in verschiedenen Größen. Daneben eine Masse Räucherstäbchen und eine Wand voll mit losen Gewürzen, wie Juditha sie ab und zu sieht, wenn ihre Haushälterin in der Küche zugange ist.
Erst als sie kurz vor dem Tresen stehen bleibt, dreht sich die Verkäuferin um. Eine nebelgleiche Anspannung liegt in der Luft und schmiegt sich wie ein Mantel um sie. Ein zaghaftes Lächeln versucht erfolglos ihre Angst zu verbergen und ein dünnes Stimmchen erfüllt die Stille.
»Frau von Rhoden, einen schönen guten Morgen!« Das nächste Lächeln gelingt etwas besser.
Das ausgezehrte Gesicht der Frau ist gespickt mit Falten, eingefallen und blass. Lediglich die Angst in ihren trüben Augen erweckt den Anschein, es könne doch noch Leben in dieser verbrauchten Hülle stecken.
»Frau Meinhardis…« Judithas Stimme klingt herablassend. »Ich nehme an, Sie wissen weshalb ich hier bin?«
Die kleine Frau blickt gen Boden. Es verstreichen einige lange Sekunden, bis sie Juditha wieder ansieht. »Ich habe doch erst letzte Woche den letzten Brief von der Verwaltung bekommen.«
Juditha kann sich nicht helfen, sie muss auflachen.
»Das muss mindestens schon einen Monat her sein.« Sie seufzt bedeutungsvoll. »Wissen Sie, Anfang der Woche wurde ich nämlich darüber unterrichtet dass die Miete der letzten vier Monate immer noch nicht beglichen ist.«
Sie zieht einen dicken Briefumschlag aus ihrer Tasche und legt ihn mit Genugtuung vor der noch stärker erblassten Frau ab, deren Augen starr und leer auf ihm heften bleiben.
»Ich habe Ihnen den kompletten Schriftverkehr noch einmal kopiert, falls Ihnen da was verloren gegangen sein sollte.«
Ein arrogantes Lächeln umspielt ihre rot bemalten Lippen.
Unsicher greift die Frau nach dem Umschlag, zieht die Papiere heraus und sieht sie durch. »Wissen Sie, ich hatte gehofft…« setzt sie mit schwacher Stimme an, doch Juditha unterbricht sie bestimmt.
»Wenn Sie den ausstehenden Zahlungen nicht nachkommen können, erfolgt am Ende dieses Monats die Kündigung zu September.«
In Gedanken lässt Juditha schon die alte hölzerne Theke verschwinden und reißt die veralteten Regale von den Wänden. Schon lange ist ihr die Verschwendung dieser Immobilie in so perfekter Lage ein Dorn im Auge.
Wie durch eine Eingebung sieht sie unvermittelt eine geschmackvolle, minimalistische Einrichtung vor ihrem inneren Auge.

Ein perfekter Ort für ein kleines Fotostudio.


»Sie wissen doch, wie es um die Einnahmen bestellt ist«, wimmert die Tee- und Kräuterfrau fast. »Bitte, geben Sie mir noch etwas Zeit…!«
»Sie hören von mir, falls die Zahlung nicht eingeht.« Juditha wirft der Frau einen abschätzigen Blick zu und wendet sich ab. In ihrem Rücken hört sie noch Bitten, einen flehenden Ton, der es nicht mal bis in ihr Bewusstsein schafft. Schon ist sie wieder auf dem Gehweg und schlägt die Richtung stadteinwärts ein, wo sie noch ein paar Besorgungen für heute Abend zu machen hat.

Heute Abend.


Zunächst wird sie im Haus nach dem Rechten sehen müssen, in letzter Zeit vernachlässigt die Haushälterin gern mal einige ihrer Pflichten. Und dann wird sie sich kurz um die Kinder kümmern müssen. Eine Stunde am Tag hat die Therapeutin geraten, damit sie nicht Theresa als Bezugsperson und Vorbild anerkennen.

Gott im Himmel, die Haushälterin als Vorbild der Kinder.

Fernsehen vielleicht. Ist das eine gemeinsame Aktivität?

Sicher.


Und dann kann sie sich endlich fertig machen. Ein kleines schwarzes von Chanel, die neuen Pumps…Bei dem Gedanken an den heutigen Abend ummantelt ein warmes Gefühl ihren Körper und sie denkt wieder an das Fotostudio. Es wäre perfekt für ihn.
Während Juditha Richtung stadteinwärts stolziert, wo ihr überteuerter Audi im Halteverbot auf sie wartet, kreuzt ein älterer Mann in dreckigen, zerschlissenen Klamotten ihren Weg. Er schiebt einen mit Decken und Tüten beladenen Einkaufswagen vor sich her, das rechte Bein schwerfällig nachziehend.
Verständnislos und voller Abscheu schüttelt sie den Kopf und wendet sich schnell ab. Beim Gedanken daran, was sie selbst für Anstrengungen in Kauf nehmen musste um nun ein sorgenfreies und luxuserfülltes Leben führen zu können, verdreifachte sich das Unverständnis für all die anderen, die ihr Leben versagt haben.
Auch sie hat es ganz und gar nicht einfach gehabt. Ihre Eltern waren zwar gut situiert, aber nicht reich in dem Sinne. Nicht so, wie sie es nun ist, nach ihrer Hochzeit mit Sebastian.
Seit jeher war klar gewesen, dass sie als einziges Kind aus einem gehobenen Haushalt einen aufstrebenden Geschäftsmann heiraten würde. Nie erhoben sich Zweifel an ihrer eigenen Perfektion und dem damit verbundenen Recht auf ein glanzvolles Leben an der Seite eines einflussreichen Mannes, der für sie sorgen konnte.
Und so kam es, dass sie schon mit siebzehn den mehr wohlhabenden als gutaussehenden Sebastian kennen lernte. Nach fünf langen Jahren des Augenklimperns erfolgte endlich der Antrag.
Und dann zog Juditha in ihr neues Leben ein, noch glanzvoller als sie es sich je erträumt hatte; einen erfolgreichen Mann, zwei durchaus vorzeigbare, hübsche Kinder; mehrere eigene Immobilien, eine große Villa am Stadtrand mit einem weitläufigen Grundstück am Wasser und den Status einer anerkannten und begehrten Innenarchitektin.
Eine platinblonde Strähne fällt ihr über die verdächtig ausgeprägten Wangenknochen und mit einer schnellen Bewegung ihrer makellos manikürten Hand bringt sie ihr Erscheinungsbild augenblicklich wieder in Ordnung. Ja. Von außen betrachtet sieht alles wunderschön aus.

2. Mittagssinfonie


Die schwere gläserne Tür fällt krachend hinter Elisabeth ins Schloss. Sie zuckt merklich zusammen. Dieses Geräusch hat sie in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren fünf Tage die Woche gehört, mal mehr, mal weniger bewusst. Heute jedoch durchfährt es sie wie ein wütender Donner und verankert sich in ihrem Bewusstsein, als wolle es sie strafen.
Seufzend dreht sie den Schlüssel und lässt ihn dann in ihren grauen Manteltaschen verschwinden. Der Himmel ist noch immer bewölkt, doch der Regen hat schon am Vormittag kehrt gemacht um in Richtung Hamburg weiterzuziehen. Sie fröstelt beim Anblick des grauen Himmels, der so verheißungsvoll über ihr schwebt.
Abwesend schwingt sie sich auf ihr altes, schon angerostetes Fahrrad und fährt die Hauptstraße stadteinwärts entlang, vorbei an Feinkostläden, Dessousgeschäften und Kosmetikinstituten. Am Theater biegt sie ab, entlang am Leibnizufer, die bunten Nanas von Niki de Saint Phalle und die Ihme lässt sie hinter sich.
Es dauert keine fünfzehn Minuten, dann ist sie in der Nordstadt angekommen.
Gerade als sie in eine kleine Seitenstraße einbiegen will, fällt ihr Blick auf einen verwahrlosten Mann, der auf der anderen Straßenseite direkt neben einem Supermarkt kauert und zu schlafen scheint. Armer Mann. Elisabeth durchfährt eine allzu bekannte Angst, in naher Zukunft ähnlich zu enden.
Was ist das bloß für eine Welt, in der sie trotz harter Arbeit nun vor den Scherben ihrer Eixistenz steht. All die Jahre Schufterei, und trotzdem weiß sie auch heute nicht wie lange sie überhaupt noch dazu in der Lage ist, die Miete für die Wohnung zu zahlen. Ganz davon abgesehen, dass die Kinder bald Geburtstag haben. Wird es für mehr reichen als bloß für einen Kuchen? Es ist irrsinnig. Vermutlich würde sie mehr Geld zur Verfügung haben wenn sie gar nicht arbeiten würde. Was für ein verkorkstes System... Tränen steigen ihr in die Augen.

Es ist nicht fair.


Wieder schaut sie kurz zu dem Mann hinüber, von dem sie nur die Konturen wahrnimmt. Sie trägt ihre Brille nicht und er ist zu weit entfernt um sein Gesicht zu erkennen. Was ihm wohl widerfahren ist? Durch einen wässrigen Schleier starrt sie auf die löchrige Decke, die der Mann um sich geschlungen hat. Das kräftige Blau, das es einst gewesen sein muss, scheint nur noch schwach unter dem dreckigen schwarz-grau hervor. Nach Fassung ringend berührt Elisabeth den goldenen Herzanhänger an ihrem Hals, in dessen Mitte ein Saphir funkelt. Ein Geschenk zum zehnten Hochzeitstag und der Eröffnung des Geschäfts. Blau, Manfreds Lieblingsfarbe.

»Mama!« tönt es über den Flur, als Elisabeth im dritten Stock die Wohnungstür aufschließt. Zwei völlig gleich aussehende Jungs stürmen auf sie zu und grinsen begeistert. Für einen Moment vergisst sie ihre Angst und kann nicht anders, als den beiden ein liebevolles und sorgenfreies Lächeln zu schenken und ihnen durch ihre strubbeligen braunen Haare zu wuscheln.
In der Küche wartet bereits Alexander, ihr Ältester. Ein Topf Spagetti steht auf dem Tisch und auf dem Gasherd köchelt eine Tomatensoße vor sich hin.
»Danke, mein Liebling«, flüstert Elisabeth und küsst ihren Sohn auf die Stirn.
»Du siehst mitgenommen aus«, flüstert Alex zurück und blickt ihr besorgt in die Augen.
»Es war ein anstrengender Tag.«

Nach dem späten Mittagessen sinkt Elisabeth erschöpft im Wohnzimmer auf das alte Sofa, das ihr gleichzeitig als Bett dient.
Die Wohnung erscheint ihr von Tag zu Tag kleiner. Die Zwillinge werden älter, bald wird jeder von ihnen ein eigenes Zimmer wollen. Und Alex, mit seinen dreiundzwanzig Jahren, sehnt sich sicherlich schon lange nach seinen eigenen vier Wänden. Sie darf gar nicht daran denken, auf was der Junge verzichtet, nur um seiner Familie willen.
Er war damals ihr Halt gewesen. Damals, vor zehn Jahren, als ihr Mann nach einem Streit die Familie verlassen hatte. Er war nie zurückgekehrt.
Die Zwillinge waren damals erst ein Jahr alt und die Probleme schienen übermächtig. Und obwohl Alexander erst dreizehn gewesen war, entpuppte er sich als ihre größte Stütze.
Er half im Geschäft, büßte seine Freizeit ein um auf die Kleinen aufzupassen und nahm mehr und mehr die Rolle des Mannes im Haus ein.
»Mama?«
Erschrocken fährt Elisabeth hoch, als Alexander sich neben sie sinken lässt.
»Ist was passiert im Laden?« Seine blauen Augen mustern sie bekümmert. Sie ähneln den Ihrigen so sehr, die einst ebenso strahlten und hell funkelten. In den letzten Jahren hat sich jedoch ein grauer Schleier der Betrübung darüber gelegt.
»Ach Alex…« Sie bricht ab, unsicher ob es richtig wäre ihm die Wahrheit zu sagen. Er sorgt und kümmert sich ohnehin zu sehr. Andererseits ist das Geschäft sein Erbe und er hat ein Recht darauf zu erfahren, dass sie es verlieren werden.

3. Abendständchen


Es dämmert. Die Lichter strahlen aus den Schaufenstern hinaus auf den Gehweg und beleuchten die Passanten in einem flauen gelb. Es ist kurz vor Ladenschluss und Aufruhr herrscht in der Innenstadt. Gedränge, schweiß ausdünstende Menschenschaaren und eine aufdringliche Geräuschkulisse erfüllen die Straßen und hallen als Echo weit über die Köpfe der hektischen Konsumenten hinüber.
Ein Ansammlung von verharrenden, möglichst gelangweilt aussehenden Menschen, hat sich in einem zwanzig Meter Radius von einer moosgrünen Standuhr angesiedelt. Von ihr aus strahlen seit mehr als hundertzwanzig Jahren die Menschen aus, treffen sich, schwatzen.
Nur ein paar Meter weiter, an der Treppe hinunter zur U-Bahn Station Kröpcke, steht ein junger Mann. Die braunen Haare fallen ihm leicht über die blauen, hervorstechenden Augen.
Er wirkt nachdenklich und fährt erschrocken herum, als zwei Männer ihn von hinten umgreifen und freundschaftlich in die Rippen boxen. Die Gruppe wirkt vertraut, das ernste Gesicht des jungen Mannes lockert sich auf und gibt ein Lächeln frei.

»Mensch Alex, Berlin ist echt der Wahnsinn!« Thomas grinst und nimmt noch einen großen Schluck von seinem Bier. »Du solltest auch kommen! Und die Mädels da…ich sag’s dir!«
Aufgeregtes Gelächter, so als wären sie immer noch sechzehn.
»Du weißt, dass ich das nicht machen kann.« Alex seufzt schwer. »Meine Mutter schafft das hier nicht alleine. Die Zwillinge…«
»Es ist dein Leben«, wirft Hendrik ein und runzelt die Stirn. »Du musst auch mal an dich denken.«
»Wenn ich das mache, steht Ma ganz alleine da. Gerade jetzt braucht sie mich.«
»Aber wenn ihr den Laden verliert – sorry wenn ich das jetzt so platt sage – ist das deine Chance endlich dein Ding durchzuziehen.«
»Danke für euer Mitgefühl.« Alex fährt sich durch die Haare und hebt seinen Blick zur gegenüberliegenden Wand, wo ein altes Gemälde einer Familie mit Schafen zu sehen ist.
»Ich kann das nicht machen«, hört er sich sagen, so als wäre er weit entfernt. Als stecke er in dem Gemälde. In der Idylle. Als beobachte er eine fremde Familie kurz vor deren Zusammenbruch.
»Ich werde die Miete auftreiben. Hab ja immer was zur Seite gelegt.«
»Ich dachte du sparst fürs Studium?« Thomas mustert ihn nachdenklich.
»Das wird eh nie klappen.« Mit festem Blick starrt Alex auf sein Bierglas. »Die nächsten Jahre braucht Ma mich noch. Vielleicht wenn die Zwillinge groß sind… bis dahin hab ich sicher wieder ne Menge gespart.«
»Dann bis du wie alt? Dreißig?« Henrik mustert seinen Freund aufgebracht. »Du hasst deinen Job. Verdammt, Alex, deine Mutter ist erwachsen und du kannst nicht dein halbes Leben aufgeben.«
Alex blickt auf. Klar hasst er seinen Job als Steuerberater. Und logisch wollte er schon immer mal was mit Film und Fotografie machen. Aber nach dem Abi musste es die Ausbildung sein. Er hätte weder seine Familie alleine lassen noch Geld investieren können. Geld verdienen war das Stichwort.
Und nun ist Thomas in Berlin, lebt seinen Traum: Visual- und Motiondesign. Und will ihm hier einen erzählen. Wo der seine Freundin verlassen hat um in Berlin mit irgendwelchen Disco-Miezen rumzumachen. Das Wort Egoismus hat „Verantwortung“ wohl aus seinem Wortschatz verdrängt.
»Ich muss los Jungs«, hört Alex sich sagen. Allerhöchste Zeit zu gehen.
»Dein Date, nehme ich an.« Hendrik und Thomas werfen sich einen Blick zu. »Bring sie doch nächstes Mal einfach mit.«
»Sie steht nicht so auf Menschenansammlungen.«

»Da bist du ja endlich« Im Türrahmen steht eine schlanke, fast dürre Blondine mit markanten Wangenknochen und einem sinnlichen Lächeln. Die vollen Lippen schimmern in hellem rot und ihre Haare fallen seidig auf ihr Schlüsselbein.
Sie greift seine Hand und zieht ihn in das Haus. Alex ist jedes Mal von neuem beeindruckt von dem hübschen Häuschen direkt am Stadtwald.
Es herrscht traumhafte Ruhe hier, anders als in der Nordstadt, wo von früh bis spät Krawallmacher unterwegs sind.
»Du siehst toll aus, Ju«, murmelt Alex beeindruckt und blickt an seiner Freundin herunter. Im Schein der schwachen Flurbeleuchtung mustert er ihr enganliegendes schwarzes Kleid und die schwarzen hohen Schühchen… etwas regt sich an ihm. Am liebsten würde er sofort über sie herfallen.
»Danke, Süßer« gurrt Ju. Ihre Augen blitzen verführerisch und jugendlich auf. Wie so oft kann Alex nicht glauben, dass sie schon Ende dreißig ist.
Während sie die Haustür hinter ihm schließt, berührt sie wie zufällig den Teil seiner Hose, der sich bereits lüstern nach ihr windet. Seine Augen flackern voller Begierde auf und er packt sie an der schmalen Taille um sie auf das Sofa zu drücken, dass nur wenige Meter entfernt in dem großen Wohnzimmer steht. Der Kamin brennt bereits einladend und die Hitze scheint plötzlich unerträglich.

Alex zwinkert benommen, der Schweiß rinnt ihm den Nacken hinunter. Endorphine durchströmen seinen Körper und er bedeckt Jus Gesicht mit sanften Küssen. Vergessen ist das Geld, seine Mutter, das Studium. Es gibt nur noch ihn und sie.
Er mustert ihr Gesicht. Mittlerweile ist eine Menge des Make-ups verschwunden, vom Lustschweiß davon getragen. Ihr Mund wirkt nicht mehr so voll und kleine Fältchen zeichnen sich rundherum ab.
Das Alter erobert mehr und mehr Zentimeter ihres Körpers für sich. Diese kleine Falte unterhalb des linken Auges war dort vor sieben Monaten zum Beispiel noch nicht. Vermutlich würde Ju das morgen sofort richten lassen wenn er seine Entdeckung mit ihr teilen würde. Er lächelt und berührt ihre Haut an der Stelle. Noch immer findet er Ju wunderschön.
»Also mein Hübscher…« Ju setzt sich auf und mustert Alex glücklich. »ich habe vielleicht eine Überraschung für dich!«
»Vielleicht?« Alex grinst. «Und was muss ich dafür tun?«
»Dein Studium beginnen!« Ju sieht ihn fest an, das Grün ihrer Augen fest mit dem Blau der seinigen verschmolzen.
Genau das Thema, das Alex heute nicht mehr anschneiden will.
»Das geht nicht. Mir fehlt das Geld, das weißt du doch.«
»Ich hab genug davon. Ich bezahl es dir.« Als sie Alex’ strafenden Blick einfängt seufzt Ju schwer. »Es ist dein Traum. Und du bist meiner. Ich will, dass du glücklich bist.«
»Ich hab dich, das genügt mir.« Er streichelt ihr liebevoll übers Haar und den Rücken.
»Du sollst aber mehr in deinem Leben haben als mich. Du hast solch ein Talent… das darfst du nicht verschenken.«
»Ju, es geht einfach nicht.« Ein wütendes Schnauben hallt seinen Worten nach.
»Aber ich hätte ein Studio für dich!« platzt es aus Ju raus, die Euphorie in ihrer Stimme erfüllt ihre ganze Aura. Die Vorfreude strömt ihr aus allen Poren.
»Du hast was?« Jetzt schon wieder belustigt beobachtet er ihre kindliche Freude.
»Ich habe eine Immobilie die bald frei wird. Ich hab sie gesehen und an dich gedacht. Sie gehört mir, verstehst du? Ich würde sie dir schenken – zum abgeschlossenen Studium. Du könntest gleich loslegen. Ich habe so viele Kontakte, du bräuchtest nicht einmal klein anfangen…«
Alex räuspert sich unsicher.
»Ich…«

Ja. Was?

Alex reibt sich verwirrt die Schläfe. Er kann nicht glauben, was Ju ihm gerade angeboten hat. Auf einen Schlag könnte sein Traum in Erfüllung gehen. Würde seine Mutter es ohne ihn schaffen? Bestünde nicht die Möglichkeit dass…

nein, natürlich nicht.

Und was, wenn sie sich in einem Jahr trennen würden – würde Ju mit einem Anwalt das Geld zurückfordern? So dass er schlimmer dastünde als jetzt?
»Das geht nicht, Ju. Das kann ich nicht annehmen. Und meine Familie…«
»Ja, die Zwillinge. Sie werden zwölf, oder nicht? Alex, sie können für sich selbst sorgen. Ist ja auch schließlich nicht so, als hätten sie keine Mutter.«
»Du kannst das nicht verstehen, Ju. Wir sind pleite, wir haben nur uns. In meiner Welt können wir nicht mit Geld um uns werfen.«
Alex schaut verärgert in die verständnislosen Augen seiner Freundin.
»Herrgott Ju, du brauchst mich nicht kaufen. Ich liebe dich auch ohne dein Geld, begreif das doch. Lass mich einfach mein Leben führen wie ich es für richtig halte.«
»Du verschenkst dein Leben, Alex«, murmelt Ju in sich zusammen gesunken und aus traurigen Augen blickend. »Ich könnte dir so viel ermöglichen…«
»Und ich kann meiner Familie viel ermöglichen. Zum Beispiel, dass meine Mutter nicht vor lauter Stress einen Herzinfarkt bekommt. Es ist mein Leben.«
»Süßer…« hört Alex eine belegte Stimme ihn rufen, doch er klaubt bereits seine Jeans und den Pullover vom Boden um zu gehen.
»Ich fahr nach Hause.«
Als er Jus flehenden Blick sieht, schlägt sein Herz wieder etwas ruhiger, die Wut rollt in kleinen Wellen ein Stück zurück. »Wir sehen uns Sonntag. Ich komm vorbei, und dann reden wir nicht mehr über das Studium.«
Ju nickt bekümmert. So hat sie sich diesen Abend nicht vorgestellt.
Ihre Versteinerung löst sich, und sie lischt das Feuer des Kamins in diesem noblen Einfamilienhaus, das seit mehr als sieben Monaten leer steht. Seit Beginn ihres Verhältnisses hat Ju auch kein Interesse daran, es wieder zu vermieten.

4. Mitternachtsballade


Die blauen und gelben Lichter fallen aus fünfzig Metern hinunter auf den Gehweg. Dabei streifen sie die beruhigte Straße und die dösenden Taxis.
Nur Hans ist noch unterwegs und schiebt seinen Einkaufswagen angestrengt und müde vor sich her. Eben hat er noch ein paar Meter weiter gelegen und geschlafen, als ein paar Jugendliche ihn aufgescheucht und vertrieben haben.
Er schlurft an dem alten Hochhaus vorbei, dessen goldverzierte, kaminrote Fassade in der Dunkelheit nur als Schatten ihrer selbst erkennbar ist. Nach oben hin wandert das Licht der Leuchtstoffröhren „A“, „N“, „Z“, „E“, „I“, „G“, „E“ und „R“ bis auf die grüne Dachkuppel.
Hansʼ Glieder schmerzen und er zieht sein linkes Bein mühselig nach. Es wehrt sich immer mehr gegen diese Wanderungen in der Nacht. Dazu kommen die schwachen Augen, mit denen er von Tag zu Tag weniger deutlich seine Umgebung erkennen kann. Langsam aber sicher verschwindet alles hinter einem undurchsichtigen Schleier, ohne das er etwas dagegen tun könnte.
Schnaufend hält er inne und verharrt für einen Moment im Licht des Hochhauses. Ein Schein stürzt auf das Hab und Gut in seinem Wagen – eine ehemals blaue Fleecedecke, ein zerschlissener grauer Schlafsack und eine Plastiktüte mit diversem Kleinkram; eine Flasche Saft, drei Dosen Bier und ein Sandwich aus dem Discounter.
Das graue Haar fällt ihm ins Gesicht. Er hebt seine Hand um sich die Strähnen zurückzustreichen. Dabei fällt sein Blick auf die dreckverkrustete Handinnenfläche. Etwas in ihm regt sich, es ist wieder dieses Gefühl, als würde er nicht hierhin gehören. Als würde er ein fremdes Leben führen.
Dieses Gefühl beschleicht ihn schon seit Jahren, neuerdings in immer kürzer werdenden Abständen. Zum ersten Mal hat er dieses seltsame Rumoren in seinem Geist nach dem Unfall vor zehn Jahren verspürt.
Er war damals offenbar in eine Schlägerei geraten, jedenfalls hatte er eine Wunde am Kopf und die Taubheit seines Beines davon getragen. Er erwachte in der Nähe des Hamburger Kiezes – ohne jegliche Erinnerung an sein bisheriges Leben. Sein Mantel war dreckig und seine Taschen waren leer – bis auf ein paar Essensmarken von der Bahnhofsmission.
Nach langem Hirnzermartern fiel ihm sein Name wieder ein - Hans Castorp. Als die Obdachlosen sich um ihn sammelten, wusste er, dass er einer von ihnen war.
Und so lebte Hans mehrere Jahre auf den Straßen von Hamburg – im Sommer war er gern an der Alster, kauerte auf einer der weniger zentralen Wiesen und verkroch sich im Winter in den hintersten Ecken von überdachten Kaufhauseingängen.
Doch in Hamburg war es immer gefährlicher geworden. Die Aggressivität wuchs, sowohl unter den „rechtschaffenden“ Bürgern als auch unter ihres gleichen. Reviere wurden markiert, die Schwächeren mussten von Dannen ziehen. Hans hatte das alles mit großer Beängstigung verfolgt. Wenn sie sich gegenseitig nicht mehr halfen, wer würde es dann überhaupt noch tun?
Mit zwei Freunden war er dann schließlich vor einem Jahr nach Hannover gekommen. Hier ist es besser, noch jedenfalls, wenngleich auch nicht viel.
Ihm fliegen die gleichen missbilligenden Blicke zu, die gleiche Wut bohrt sich in seine Augen, Ekel und Abscheu hüllen sich unentwegt um ihn.
Aber – so schwer man es glauben mag – hier fühlt er sich heimisch.
Etwas belebt sein kraftloses Herz wieder, wenn er durch die Stadtteile geht. Der Nebel vor seinen Augen lichtet sich etwas und gibt den Blick auf seltsam vertraute Orte frei. Vielleicht ist er ja sogar schon einmal hier gewesen, vor seinem Gedächtnisverlust.

5. Frühe Sonate


Vor sieben Monaten hat Juditha von Rhoden Alex kennengelernt. Auf einer Ausstellung. Sofort fühlten sich beide zueinander hingezogen. Es gab kein verkrampftes Fachsimpeln, keine peinliche Frage nach der Uhrzeit. Wie alte Freunde standen sie nebeneinander und warfen sich tiefe Blicke zu, gefolgt von kehligen Worten und beiderseitigem Verlangen, das sie mehr und mehr zueinander trieb.
Seitdem ist Juditha für Alex Ju Harms – ihr Mädchenname.
Die Ehe mit Sebastian ist nun schon lange am Ende. Die ersten Jahre verliefen noch glücklich, all der Luxus und Reichtum blendeten Judithas Blick. Das Wesentliche trat in den Hintergrund.
Und dann entfernte ihr Mann sich immer mehr, wurde kühl und ließ sich nur noch selten Blicken. Und so wurde auch Juditha kühl.
Dann sind da noch die Kinder, Konstantin und Laura, neun und elf Jahre alt. Eigentlich weiß Juditha bis heute nicht, was sie sich dabei gedacht hat. Sie hasst Kinder seit…eigentlich schon immer. Es war also vorauszusehen, dass sie früher oder später auch eine Abneigung gegen ihre eigenen entwickeln würde. All der Lärm, der Schmutz, die kleinen Gesichter, die dem des Vaters so ähnlich sehen… das ist mehr als sie ertragen kann.
Gott sei‘s gedankt, dass sie mit Theresa einen Weg gefunden hat, den Kontakt zu den Beiden so gering wie möglich zu halten.

Natürlich liebt sie die beiden. Es sind ja ihre Kinder.

Aber die Abneigung ist einfach größer.

Judithas Blick schweift in die Ferne der Nacht, deren Lichter sich aufgrund der hohen Geschwindigkeit ihres Audis wie im Zeitraffer aneinanderreihen. Ein Seufzer entfährt ihrem ausdruckslosen Gesicht – dann pressen sich die mit Kollagen gefüllten Lippen um die Marlboro Light zwischen ihren Fingern.
Vor einer Stunde noch waren diese Lippen innig mit denen eines anderen verschmolzen.

Alex.

Judithas Augen flackern glücklich auf. Bei ihm kann sie ihren stählernen Mantel ablegen, die Augen schließen und sich den Gedanken einer glücklichen Frau hingeben. Sie braucht ihn.
Zum hundertsten Mal überkommt sie die Angst, er würde sich von ihr abwenden, sich eine Jüngere suchen – in seinem Alter. Was kann sie ihm schon geben, außer dem Geld, das er ablehnt?
Bisher ist alles käuflich gewesen –

jeder

ist käuflich gewesen. Und ausgerechnet der, der ihr das Wertvollste seit langem ist, will unverkäuflich bleiben.
Tränenverschleierte Augen nehmen ihr die Sicht und die Verzweiflung in ihr drückt das Gaspedal hinunter, als wäre ihr Fuß aus Stein.
Es geht so schnell, dass Juditha nicht einmal mehr Schreien kann.

Epilog – Morgenburleske


Gähnend reckt sich die Stadt, streckt ihre Glieder in alle Himmelsrichtungen aus und kratzt sich im Nacken. Die Sonne kitzelt sie aufmüpfig unter der Nase und ein donnerndes Niesen hallt über die Straßen.
Blinzelnd fliegt ihr Blick über die Plätze, Gassen und Schienen. Das Quietschen von Straßenbahnbremsen und das Trippeln von eleganten Stiefeln dringen an ihr Ohr, langsam steigt der Geruch von Abgasen wieder in die jungfräuliche Morgenluft. Ein neuer Tag. Stolz blickt die Stadt auf sich selbst herab und lächelt zufrieden.



Elisabeth, Alex und die Zwillinge sitzen noch am Frühstückstisch. Es ist ein warmer Tag heute, die Sonne steht schon fast gänzlich frei zwischen den Wolken.
Der kleine Fernseher in der Küche läuft. Er zeigt den Regionalsender mit den Nachrichten des Tages, ein allmorgendlicher Ritus von Elisabeth.
Während die Zwillinge gierig ihre Cornflakes in sich hinein schaufeln, sieht Alex nachdenklich auf die laute Straße vor seinem Fenster. Irgendetwas stimmt mit ihm nicht, das merkt Elisabeth. Aber was? Vielleicht sollte sie…
Der Nachrichtensprecher reißt sie aus ihren Gedanken.

"In der Innenstadt von Hannover ereignete sich in der vergangenen Nacht ein Verkehrsunfall, bei dem eine 37jährige Frau und ein nach Schätzungen 60-jähriger Obdachloser getötet wurden. Zeugenaussagen zu Folge raste die Fahrerin ungebremst mit 120km/h auf den, sich noch auf dem Gehweg befindlichen, Mann zu. Noch immer konnte der Mann nicht eindeutig identifiziert werden. Offenbar war er unter den Obdachlosen als „Hans Castorp“ bekannt. Hinweise auf die Identität des Mannes nimmt die städtische Polizeidienststelle entgegen. Und nun zu etwas Erfreulicherem, das Wetter…"


Hans Castorp. Elisabeth wird warm ums Herz. Der Held aus Thomas Manns Zauberberg, dem Lieblingsbuch ihres Mannes, welches er im Grunde besser auswendig kannte als seine eigene Biografie.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.04.2009

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