Es gibt viele Arten zu denken. Der Gedanke an sich zählt nicht.
Tiere handeln aufgrund von Instinkten, die ihnen die Natur geschenkt hat. Menschen, die weit weniger wert sind als Tiere (aber das ist Ansichtssache), beherrschen die Macht des Denkens, wenn auch nicht ganz, denn ein Gedanke kann mit einer solchen Gewalt auf einen Menschen hereinbrechen, dass dieser droht in diesem Strudel aus Erinnerungen, Worten und Bildern zu versinken. Es ist allein uns Menschen vergönnt durch unser unsichtbares Innenleben zu Grunde zu gehen. Ein Tier handelt nach Instinkten, selbst wenn seine Instinkte es täuschen.
Tiere…
Menschen sind die dümmsten unter ihnen. Sie zerstören nicht nur sich selbst, sondern auch alles, was sie umgibt.
Die Melancholie, die diesen Tag umhüllt dringt, in seine Gedanken wie ein Virus, der sich langsam ausbreitet. Statt grau und verregnet ist dieser Tag heiter, was überhaupt nicht zu seiner Stimmung passen will. Der Schnee knirscht unter seinen Fußsohlen und die Kälte schneidet in seine Haut. Die Wintersonne steht weißglühend am blauen Himmel. Er fröstelt bei dem Gedanken, eines Tages nicht mehr zu sein.
Er weiß selbst nicht, warum er hierher gekommen ist. An diesen Ort. Was trieb ihn dazu? Es war wohl die menschliche Eigenschaft namens Reue. Vielleicht auch Bedauern. Er weiß es nicht. Sein Körper fühlt sich an, als wäre er eine leere Hülle und diese ganzen Gefühle wollen einfach nicht hineinpassen. Die Krähen auf den blätterlosen Baumwipfeln starren finster in seine Seele, die noch finsterer ist, als all ihre Blicke. Seine kalten Finger krallen sich am Brückengeländer fest.
Er hält inne.
Er sieht hinab.
Er atmet flach.
Sein Atem steigt als weißer Rauch gen Himmel. So sind Worte, denkt er. Schall und Rauch. Schwingungen, die sich aus den Kehlen der Menschen lösen. Ein sanftes Raunen, dass das Trommelfell erschüttert und ins Gehirn kriecht, sich dort hineinätzt, bis der Funke im Innern, der den Menschen am Leben hält, langsam mit einem hässlichen Zischen verlischt.
Er lehnt sich weit über das Geländer und versucht zu schätzen, wie weit es dort hinunter geht. Zehn Meter, sagt er sich, aber es kann auch durchaus tiefer sein. Der Asphalt auf der Fahrbahn schimmert durch den Schneematsch, vom Standstreifen keine Spur. Der Winter hat ihn sich geholt. Winter. Er erinnert sich, wie er als kleiner Junge mit seinen Freunden einen Schneemann gebaut hat. Ein paar Wochen hielt er sich gut, doch der schleichende Frühling verzerrte sein Gesicht zu einer traurigen Fratze.
Kein besonderes Ereignis, das seinem Leben einen neuen Lauf gegeben hätte, nur eine unbedeutende Erinnerung, die ihm jedoch Tränen in die Augen treibt. Dieser Friede, der ihn damals umgab und das Gefühl, das sich jetzt in seiner Magengegend einnistet, stehen sich als krasser Kontrast gegenüber. Er spürt wie sich eine einzelne Träne den Weg über sein Gesicht sucht und nach einigen Minuten schon gefroren ist.
Seine Hände lösen sich vom Geländer, er versucht seine steifen Finger zu bewegen. Spreizen, zur Faust ballen. Spreizen, zur Faust ballen. Mit jedem Mal klappt es besser.
Er reibt sie gegeneinander. Die Macht der Physik. Mechanische Energie. Wärme durch Reibung. Er sieht hinab. Atmet durch. Lageenergie. Atmen. Bewegungsenergie.
Atmen. Das Beispiel im Physikunterricht, mit dem Bungee-Springer. Der Scherz des Lehrers: Was passiert, wenn man das Seil weglässt? Ganz großer Lacher. Sein Leib fühlt sich merkwürdig taub an. In seinem Kopf hallt das Gelächter seiner alten Klasse. Unendlich weit liegt es zurück und doch sind seitdem erst wenige Jahre vergangen.
Einige Autos schleichen über die schneebedeckte Fahrbahn. Die Geräusche dringen gedämpft zu ihm hinauf. Wie hat sie sich gefühlt? Wie konnte sie ihn so im Stich lassen? Er kann es nicht begreifen. Vor allem versteht er nicht, wie er sie im Unverstand so verletzt haben konnte, dass sie allen Mut verlor.
Schuld.
Wenn er die Augen schließt, sieht er ihr trauriges Lächeln. Deshalb lag er nächtelang wach. Deshalb musste er hierher kommen. Sie um Vergebung bitten. Er würde vor ihr auf die Knie fallen und sie anflehen, wenn er es noch könnte. Er macht sich Vorwürfe. Insgeheim weiß er, dass ihn keine Schuld trifft.
Niemand hätte es sehen können. Niemand hätte es überhaupt erahnen können. Sie hatte ihre Gefühle völlig abgeschottet. Immer mehr zog sie sich in sich zurück, ohne dass es jemand wirklich bemerkte. Er war der Einzige, der noch einen geringen Zugang zu ihr hatte, doch sie bemühte sich um Distanz zu ihm.
Die Kälte kriecht in seine Kleidung und so bohrt sich die mit Widerhaken besetzte Kralle der Realität in sein Herz.Der Geschmack von Blut breitet sich aus, als er sich mit der Zunge über die Lippe fährt. Schon drängt sich die nächste Erinnerung in seinen Geist. Ihre blutroten Lippen, wie lechzte er nach einem Kuss von diesen Lippen! Doch wie Schneewittchen liegt sie nun in einem gläsernen Sarg, und
vermag es nicht zu lächeln. Die Menschen stahlen ihr das Lächeln, das einst so süß ihr Gesicht erhellte. Es wäre das wundervollste Geschenk, es noch einmal zu sehen.
In vier Tagen ist Heiligabend. Eigentlich mag er Weihnachten sehr, doch dieses Jahr kommt die Falschheit ans Licht. Dieses Fest, das jedem Versucht eine heile Welt vorzugaukeln. Seine Welt ist in tausende von Scherben zerbrochen, die tiefe Wunden in seine Seele schneiden. Dieses Weihnachtsfest sollte so schön werden. Er hatte ihr ein schmales Silberarmband gekauft. Wie schön es an ihrem zarten Handgelenk ausgesehen hätte. Er hatte seinen Mut zusammen nehmen und ihr sagen wollen, dass sie ganz und gar nicht ungeliebt war, wie sie es oft erwähnte. Im Gegenteil. Sie war seine heimliche Göttin. Sein Lichtblick in schwärzester Nacht. Leider wusste sie es nie. So viele Male wollte er es ihr sagen, sich befreien und hätte er die Courage gehabt, hätte er gewusst, dass er dadurch auch sie befreit hätte. War er schuldig? Diese Bürde, die ihm das Schicksal auferlegt hatte, er hatte noch schwer an ihr zu tragen.
Er legt zuerst eine Hand auf das Geländer. Dann stellt er seinen Fuß darauf, zieht sich hoch und setzt sich. Starrt in die Tiefe, lässt die Füße baumeln. Wolken ziehen auf. Er weiß nicht wie lange er dort sitzt. Schneeflocken tänzeln im Licht der Dämmerung und heften sich an seine Haare. Plötzlich hört er etwas. Ein leises Summen. Er braucht einen Moment um zu realisieren, dass es der Vibrationsalarm seines Handys ist. Ohne nachzudenken greift er in seine Jackentasche und nimmt den Anruf entgegen.
„Ja?“ Seine Stimme klingt rau. Er räuspert sich. „Wer ist da?“
Dann die Stimme am anderen Ende der Leitung, atemlos: „Sie ist aufgewacht.“
Drei kleine Worte, die alles verändern. Hitze steigt in sein Gesicht. Sein Puls beschleunigt.
„Hallo?“, keucht das Telefon. Er lässt es sinken.
„Bist du noch dran?“ Den starren Finger auf die rote Taste drückend dreht er sich und rutscht vorsichtig vom Geländer. Als seine Füße leise auf dem Boden aufsetzen, steckt er sein Handy zurück in die Tasche. Ein kaum bemerkbares Lächeln huscht über sein Gesicht, dann rennt er durch den Schnee.
ENDE
Texte: Alle Rechte bei MIR *muhaha*
Tag der Veröffentlichung: 09.12.2011
Alle Rechte vorbehalten