I
Rotglühend stand der Mond am sternklaren Himmel. Unsere zittrigen Stimmen verloren sich in der Unendlichkeit des Nichts. Der Wald verschlang uns. Die Dunkelheit, die uns umgab, schien mir mit jedem Knacken und Rascheln bedrohlicher. Hethinn packte meinen Arm und zerrte mich weiter durch das Dickicht. Er folgte unbeirrt einer Fährte, die nur er sah. Natürlich. Schließlich war er ein "Seher". Einer der letzten, wohlgemerkt. Das machte ihn zu etwas Besonderem. ganz im Gegensatz zu mir. Ich war ein Nichts. Ich hatte keine besondere Position, keine Fähigkeiten oder Begabungen. Auch war ich keine Priesterin, Prinzessin oder sonst was. "Seher" haben die Fähigkeit im Dunkeln annähernd so gut wie bei Tageslicht zu sehen. Für einen Moment hörten wir nur das Rascheln unserer Kleidung und unser keuchendes Atmen. Mit dem Ärmel meines Kleides wischte ich mir über das tränennasse Gesicht. Hethinn stoppte. "Nun mach schon. Lauf weiter.", ermahnte ich ihn.
"Sei still", kam es zurück. Ich lauschte in die Dunkelheit. Nichts. Dann ein Scharren. Der "Seher" packte meinen Arm fester. "Was ist?", flüsterte ich ruhig. Stille.
"Schon gut. Ich habe mich getäuscht. Weiter."
Zu gern hätte ich sein Gesicht gesehen, doch das Mondlicht drang nicht durch das dichte Blätterdach. "Warte noch", ich zögerte, als er meinen Arm losließ."Wie weit ist es noch?"
Ich hörte das Klatschen als er seine Hände zusammenschlug.
"Bei allen Göttern", spuckte er missmutig,"Warum fragst du? Du bist schon längere Strecken gelaufen, deshalb bezweifle ich, dass du deswegen herummeckerst."
Da protestierte ich. "Ich meckere nicht herum! Ich bin durstig. Vom Hungrigsein ganz zu schweigen."
Hethinn seuftzte. "Ich habe auch Hunger und Durst. Vielleicht finden wir eine Quelle, wenn wir weiterlaufen."
Unter unseren Füßen knirschte es leise. Die kühle Nachtluft ließ uns frösteln. Wie dumm, dass ich nur dieses knöchellange weiße Leinenkleid und die Lederweste trug. Hethinn war besser dran: er hatte ein hellbraunes Hemd an und trug darüber den schwarzen Kapuzenmantel, den er immer zu besonderen Anlässen anlegte.Leider waren wir Hals über Kopf geflüchtet und hatten so nichts dabei als die Kleidung, die wir an hatten.
Nach gefühlten drei weiteren Stunden Fußmarsch und einer kurzen Pause an einem Bach waren wir an unser erstes Etappenziel gekommen. Im schwachen Mondlicht konnte ich einige Teile der Lichtung erkennen. Hethinn suchte sich eine weiche, moosbewachsene Stelle in der Nähe eines knorrigen Baumes. Unschlüssig stand ich auf der Lichtung und versuchte die Gegend genauer auszumachen. Wir waren umgeben von dem tiefsten und dunkelsten Wald, den ich je gesehen hatte. Ich wollte gar nicht wissen, welche schrecklichen Kreaturen sich dort verbargen…außer uns natürlich, ha ha.
“Es wird noch kälter werden, diese Nacht. Komm her zur mir!“ Seine Augen schimmerten im Mondschein. Ich trottete also zu ihm. Er zog seinen Mantel aus, der mit dem dunkel im Hintergrund verschmolz und bedeutete mir mich neben ihn zu setzen. Als ich saß, breitete er seinen Mantel wie eine Decke über uns aus. Ich vernahm ein Seufzen, dann legte er zögernd seinen Arm um mich und zog mich näher zu sich heran. Ich ließ es geschehen, ihm widerstrebte es mir so nahe zu kommen- genau wie auch mir. Wir redeten nichts mehr, sondern drückten unsere frierenden Körper aneinander und versuchten zu schlafen- mit Erfolg, schon bald konnte ich Hethinns gleichmäßige Atemzüge hören und dann, nach einer Weile, dämmerte ich selbst weg.
Die ersten Sonnenstrahlen weckten mich sanft. Ich spürte die Wärme seines Körpers. „Ich liebe dich“, murmelte ich und schmiegte mich an seine Brust. “Hm? Was?“, kam es verschlafen zurück. Erschrocken zuckte ich weg von ihm. Hethinn!? Was…? Mein gesamter Körper schmerzte wegen der unbequemen Nacht. Hethinn rappelte sich auf und gähnte erst einmal. „Hast du was gesagt?“, fragt er verwundert. Verlegen kratzte ich mich im Gesicht. „Nööö… Das war bestimmt nur…“, meine Augen weiteten sich, „dieses prächtige Exemplar eines Riesenwildschweins, das im Begriff ist, uns zu attackieren“ fuhr ich fort und wich einige Schritte zurück.
„Oh…äh. Was?!“ Hethinn erblickte das stolze Tier nun auch. Er schnappte sich seinen Mantel und spurtete schreiend davon. Völlig perplex starrte ich ihm hinterher. Das Wildschwein, das vielleicht drei Köpfe kleiner war als ich, trabte auf mich zu. Erstarrt beobachtete ich es. Mein Herz raste. Glücklicherweise schien es sich nicht länger für mich zu interessieren sondern stapfte in die mir entgegen gesetzte Richtung davon. Nach einigen Minuten, in denen ich noch verharrte, machte ich mich auf die Suche nach diesem verfluchten Angsthasen Hethinn. Ich schrie seinen Namen ein paar Mal und lief in verschiedene Richtungen, bis ich mir sicher war vollkommen die Orientierung verloren zu haben, als ich eine Antwort bekam.
„Hier drüben.“ Tatsächlich saß er neben einem toten Baum und hielt sich den Fuß. Er sah zu mir auf. Durch sein Gesicht zogen sich Kratzer und Schrammen. Verwundert fragte ich ihn, was passiert sei.
„Hab mir den Knöchel verstaucht.“
„Und dein Gesicht?“
Etwas zerknirscht meinte er: „Bin gegen einen Baum gelaufen.“
Ich musste mir mein Lachen so sehr verkneifen, dass ich befürchtete zu platzen. „Warum bist du überhaupt weggerannt?“, bohrte ich weiter. Scheinbar erstaunt über diese Frage erklärte er: „Das war ein Ablenkungsmanöver. Das Wildschwein hätte mir nachlaufen sollen, zumindest wenn es uns von vornherein angreifen wollte.“
„Du bist wahrlich ein guter Lügner.“
„Ich hasse dich. Ich bin gegen diese Viecher allergisch.“
„Allergisch.“, echote ich.
„Ich weiß auch nicht. Immer wenn ich ihnen zu nahe komme fangen meine Augen an zu jucken und ich muss niesen. „Ach.“, bekundete ich mein Interesse und half ihm auf die Beine. Er nieste.
„Bist du mit dem Ding in Kontakt gekommen?“ Ich schnitt eine Grimasse. „Klar doch, ich hab mit ihm gekuschelt. Hethinn, das ist ein Wald, in dem Wildschweine leben. Überall waren die schon mal!“ Hethinn verdrehte genervt die teegrünen Augen. „Du bist wieder ganz die Alte.“
„Du hast mich allein gelassen.“, entgegnete ich.
„Du wärst auch alleine klar gekommen.“
„Weißt du, eigentlich wollte mich jemand beschützen. Jemand hat mir mein Messer weggenommen, weil er meinte, es wäre in meinem derzeitigen Zustand nicht empfehlenswert.“
„Ach lass mich in Ruhe. Tut mir ja Leid, dass ich nur das Beste für dich wollte.“ Er sog scharf die Luft ein, als er versuchte mit seinem verstauchten Fuß auf zutreten. Irgendwie bekam ich Mitleid mit Hethinn. Immerhin machte auch er eine schwere Phase durch und ich war zu sehr damit beschäftigt mich selbst zu bemitleiden als dass ich ihm etwas geholfen hätte. Ich senkte den Kopf. „Es tut mir leid.“
„Ja, ja, spar dir die leeren Worte.“
Was hatte ich anderes erwartet? Ich unterdrückte meinen wieder aufgekeimten Zorn und versuchte mich zu beherrschen. „Wir werden heute noch ankommen.“, sagte er unvermittelt.
„Wo ankommen?“
„Ach, habe ich das noch nicht erzählt? Unsere nächste Station ist das Korendorf.“ Ungläubig schnalzte ich mit der Zunge. „Koren. Ja, hm, aha.“ Hethinn starrte mich finster an. „Das ist kein Witz. Heute Nacht werden wir vermutlich dort eintreffen.“
Schweigend stand ich da und verarbeitete das erst einmal. Für all jene, die nicht wissen, was es mit den Koren auf sich hat: Koren, sagte man, waren ein sehr altes Volk, das einst vom Hohepriester Araun eigens verflucht wurde. Man erzählte sich die schauerlichsten Geschichten über diese Menschen, viele behaupteten sogar, es seien gar keine Menschen sondern vielmehr…Wesen. Geisterwesen, Dämonen, dunkle Albwesen, Schattenlose. Sie galten als blutrünstige Kreaturen, die einzig und allein auf Rache aus waren. Rache an allen Menschen, denen der Hohepriester noch wohlgesinnt war. Deshalb war ich etwas entsetzt, als mir Hethinn eröffnete, dass wir diese…Monster oder was auch immer besuchen wollten. Wahrscheinlich kämen wir nicht mal zu diesem Dorf, weil die Jäger uns vorher erschießen würden. Oder bei lebendigem Leib fressen. Ich hatte Angst. Hethinn war ein Volltrottel.
Texte: Die einzigwahre Rike
Bildmaterialien: Ebenfalls die einzigwahre Rike
Tag der Veröffentlichung: 25.08.2011
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