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Im Schutz des Waldes





Dicke Bäume, dünne Bäume. Glatte und zerfurchte Bäume, einige grün, einige braun, andere weiß. In allen Formen und Farben waren sie zu finden und sowohl ihre Nadeln, als auch ihr Laub, bedeckten den größten Teil des Bodens. Die Umgebung veränderte sich schnell, doch nicht beständig.
Immer wieder kam es Sera so vor, als sei sie in einem völlig anderen Teil des Waldes angekommen. Die Welt schien dem Wald gewichen und so stapfte sie alle paar Meilen in eine andere kleine Welt.
Mal standen die Bäume sehr dicht gedrängt und um sie herum wurde es dunkel. Sie sah Gestalten auf dem Nebel und zwischen den Baumstämmen. Dann legte sich ein schleichender ekliger Schatten auf ihr Gemüt, den sie nicht abschütteln konnte.
Im nächsten Moment schienen die Bäume wieder auseinander zu rücken. Die Freiräume wurden einladend groß und der Untergrund wesentlich angenehmer und einfach zu bewältigen. Am Rande standen unzählige Pilze und bunte Blumen. Alles wuchs und gedieh.
Sie sah einen Hasen und sogar ein Reh, beinahe ohne jede Furcht durch das Unterholz springen. Und auch in der jungen Frau erwachten die fröhlichen Lebensgeister, wie sie es zuletzt in der Taverne im Westen getan hatten. Die Reise schien dann ein spannender aber wohltuender Ausflug zu sein, der die Wunder der Natur und das unberührte Leben zeigte.

Sera ging voran, denn sie verfolgten keine besonderen Pfade, stur gingen sie nach Osten. Ihr Vater und Brandy marschierten wachend hinter ihr. Routiniert benutzte der Zwerg dabei seine Armbrust als Wanderstock, wich Hindernisse gekonnt aus und zeigte keinerlei Zeichen von Anstrengung. Immer wenn Sera nach hinten sah, glitt sein Blick über die Umgebung.
Vielleicht suchte er nach Gefahren.
Vielleicht hielt er aber auch nach Tieren zum Schießen oder einem Rastplatz Ausschau, sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie die falsche Person gewesen wäre, um sich nach Gefahren umzusehen. Für sie bewegte sich der Wald ständig: Bäume, Gestalten, Tiere, alles Mögliche und Unmögliche, bildete sie sich ein.
Sie sah überall Gefahr, egal wo sie hinblickte und vor allem dort, wo sie nicht hinblickte.

Nach einer Weile hatte sie sich entschieden die Augen starr zu Boden zu richten. Sie hatte mehr damit zu tun sich erfolglos an den Geruch und die Geräusche des Waldes zu gewöhnen. Eulen kreischten, Bäume knarrten, selbst Wölfe heulten, vielleicht auch nur in ihrem Kopf. Der Duft von nassem Moos und Tannennadeln verbesserte ihren Zustand und ihre Konzentration nicht im Geringsten. Er schien sie sogar noch fortzutragen von diesem Ort und den Geist zu benebeln.

Einige anstrengende Stunden waren seit ihrer Rast am Waldrand vergangen. Anfangs hatte Cedric versucht mit dem Zwerg ins Gespräch zu kommen und Brandy hatte sich durchaus darauf eingelassen. Auf Fragen zu antworten schien keineswegs wider seiner Natur zu sein.
Sie sprachen vor allem über den „Prunkkrug“.
Brandys Anspielung auf die dort ansässigen Gestalten ließ Cedric keine Ruhe, ins Besondere die Möglichkeit, dass sie von irgendeinem gierigen Halunken verfolgt werden könnten.

„Habt ihr denn schlechte Erfahrungen mit den Leuten dort gemacht?“


fragte er nach ein paar einleitenden Worten.
Grinsend drehte sich der Zwerg zu ihm um.
„Nur mit denen an unserem Tisch und die sind Jäger wie ich es bin.“
„Würdet ihr denn eine Gruppe von Leuten verfolgen, wenn sie eure Neugier geweckt hätten?“
„Nein, aber jeder Jäger hat seine eigenen Prinzipien.
Und manche von denen dort sin’ so ziellos, das sie schon grundsätzlich allem und jedem nachjagen, das ungewöhnlich für sie is’.
Klimpernden Münzen, Gerüchten, Rehen oder anderen interessanten Dingen...“


Ein bedeutungsvolles Nicken zu der jungen Dame, die nur wenige Schritte vor ihnen ging, verlieh seinen letzten Worten einige Klarheit.
Entsetzen stand in Cedrics Augen, als er daran dachte, wie Sera am Abend zuvor quer durch die Taverne getanzt war.
Jeder hatte sie gesehen und selbst wenn er, das Geld in seiner Tasche oder der Stofffetzen, keine Aufmerksamkeit erregt hatten, so hatte sie das ganz bestimmt.
Von einem Räuber verfolgt zu werden, der nach Reichtümern jagte, war wohl eine Sache, ein Mann der jedoch sie als Beute ausersucht hatte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
„Meint ihr…?“


Er sprach es nicht aus, genauso wie Brandy es nicht getan hatte. Sie waren sich wohl insgeheim einig, dass es für das Mädchen nicht gerade ermutigend gewesen wäre.

Brandy zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung.
Vielleicht verfolgt man uns auch aus reiner Neugierde. Einfach der Frage wegen, warum ich euch so freizügig begleitet hab’.
Vielleicht heben die Leute, die da gestern gesoffen haben, aber auch heute wieder alle zusammen die Krüge.“


Ein leichtes Grinsen schlich sich in seine Gesichtszüge.
„Uns kann einiges passieren.
Macht euch nicht zu viele Gedanken, ihr könnt sowieso nichts daran ändern.“



Nun war Cedric vollends verwirrt. Er wusste nicht ob er beruhigt sein sollte, weil Brandys Vermutungen reine Spekulation waren, oder ob er sich noch mehr um seine Tochter sorgen musste.
Unbewusst beschleunigte er seine Schritte, um zu Sera aufzuschließen. Er nahm sie an der Schulter und zog sie sacht zu sich heran. Freudig schmiegte sich das Mädchen an ihn und schloss beim Gehen die Augen.
Der Untergrund war beinahe eben und so gingen sie ein paar Meter zusammen, bis die Bäume wieder dichter standen und sie einzeln leichter vorankamen.
Brandy sah dem Reisenden mit prüfendem Blick nach. Er konnte ihn noch immer nicht ganz einordnen.
Zum Einen wollte er über alles Bescheid wissen, was sie auf ihrer Reise erwarten könnte, zum Anderen hatte er scheinbar nie eine passende Reaktion zur Hand. Er war schwach, wenn er stark sein sollte und widersprach dem Zwerg dann, wenn er keine Ahnung hatte, über was er eigentlich redete.

Von diesem Moment an wurden die Unterhaltungen spürbar kürzer und flacher. Sogar der Wald selbst wurde zum Mittelpunkt der Gespräche, bis Cedric die Lust am Reden vollends verging. Die Anstrengung raubte ihm jede Luft.
So stapften sie noch einige Zeit wortlos vorbei an eintönigen, aber auch sehenswerten Orten, umgeben von Bäumen, bis sich der Tag dem Ende neigte.

Man bemerkte die Dämmerung, obwohl der Sonnenuntergang beinahe spurlos an den Nebelschwaden vorüberging. Es war der Wald, dessen wachsende Unruhe sie nicht ignorieren konnten.
Mehr Reisig als sonst ging geräuschvoll in Zwei, Zweige knackten und es heulten tatsächlich Wölfe und die Eulen sangen. Die Nacht begann im Wald und was für die Menschen der Tag war, war für viele Tiere die Nacht.
„Ab jetzt gehen wir jeden Schritt nur um einen Lagerplatz zu finden. Desto geduldiger wir sind, desto zufriedener werden wir am Ende sein.
Kommt.“


Brandy stand an einer jungen Birke und grinste seinen beiden Gefährten entgegen. Falls er mit einer fröhlichen Reaktion, oder wenigstens mit einem ironischen Grinsen gerechnet hatte, wurde er enttäuscht.
Sera und ihr Vater schleppten sich gerade über einen umgefallenen Baum, als seine Worte sie erreichten. Ihre magere Geduld ließ sie wohl mit diesem Stamm als Nachtlager durchaus zufrieden sein.
Kopfschüttelnd stieß sich der Zwerg von dem nachfedernden Baum ab und ging weiter. Seine Augen glitten prüfend über jeden Meter Fläche, den er zu Gesicht bekam. Eine Senke im Waldboden, ein alter riesiger Baumstumpf, sogar an einer kleinen Höhle, die die Natur in den felsigen Boden gefressen hatte, kamen sie vorbei. Doch nichts genügte seinen Ansprüchen. Seine Begleiter hingegen wurden immer unruhiger und langsamer.
Obwohl sie sicher einige Meilen hinter sich haben mussten, bevor sie den „Prunkkrug“ erreicht hatten, war das Leben auf Wanderschaft und das Schlafen unter freiem Himmel eine wahre Tortur für sie.

„Ah!“


Mit ungewöhnlich heller Stimme zerriss der Zwerg fröhlich die Stille.
„Das sieht gut aus.“


Und sofort war das Interesse seiner Kumpane geweckt. Cedric hatte sich gegen einen Baum gelehnt und suchte fieberhaft nach dem Grund für Brandys Entzücken. Er atmete tief und unruhig und die Anstrengung stand ihm im Gesicht, aber er war sich sicher, nichts und wirklich nichts zu sehen, das nach einem Nachtlager aussah.
Sera teilte seine Meinung scheinbar. Als sie die Worte des Jägers gehört hatte, war sie sofort über das nächste Hindernis gesprungen, wie am Morgen aus ihrem Bett und starrte in die Richtung, in die der Zwerg unterwegs war.
Bäume.
Sogar mehr als sonst. Zwar waren sie nicht besonders groß, aber eng standen sie und kein Lichtstrahl drang durch sie hindurch. Ihr Nadelkleid reichte bis zum Boden.
Cedric und Sera konnte sich nur ausmalen was auf der anderen Seite dieser Wand aus Holz und Nadeln lag.
Brand’Orok jedoch nickte freudig, als er an der Gruppe von Tannen entlang ging und nach irgendetwas auf dem Boden zu suchen schien. Als er sich hinhockte und anfing mit der Hand den Boden aufzuwühlen, hielt Vater und Tochter keine Erschöpfung mehr zurück. Mit wenigen Schritten hatten sie zu ihrem Führer aufgeschlossen.

„Was ist so toll an diesen Bäumen?“


Sprach Cedric, während er vorsichtig nach den Nadeln tastete.
„Nun… könnt ihr durch sie hindurch sehen?“
Brandy hatte eine kleine Schaufel aus seinem Rucksack gezogen und grub einen kleinen Gang in den feuchten, mit alten Nadeln bedeckten Boden.
„Natürlich nicht, na und?“
„Das heißt, dass auch Fremde uns auf der anderen Seite nicht sehen.“


Warf Sera ein, obwohl sie kein Geheimnis um ihr Misstrauen machte.
„Sehr richtig.“
„Aber warum drunter durch und nicht außen herum?“
„Ich will ja nicht auf die andere Seite… . Ich will hinein in diese Baumgruppe. Passt auf.“


Mit einigen gezielten Griffen und leichtem Kraftaufwand zerbrach er leise ein paar Zweige, die den Weg versperrten und befestigte noch ein wenig die Erde. Mit einem Ruck hatte er die Armbrust vom Rucksack gelöst, das Gepäck vor sich genommen und krabbelte nun langsam zwischen den eng stehenden Bäumen hindurch.
„Wartet kurz. Ich sag euch Bescheid.“



Sera und ihr Vater sahen sich ratlos an. Sie wären nie auf die Idee gekommen, unter irgendwelchen Bäumen hindurch zu kriechen um ein Lager zu finden. Und auch jetzt schienen sie dem Ganzen noch nicht so richtig zu glauben.
Die Nacht unter den Bäumen verbringen?
Ihnen wurde scheinbar schlagartig klar, wie verloren sie allein in der Wildnis wären.
„Gut. Wer zuerst ist mir egal. Es ist sicher.“


Hörten sie von der anderen Seite, ein wenig gedämpft.

Kurz überlegte Cedric, ob er dem Zwerg hier tatsächlich trauen sollte. Auf der anderen Seite konnte alles und jeder sein.
Wenn er uns etwas hätte antun wollen, hätte er das schon getan…


Beruhigte er sich selbst.

Energisch nickte Cedric seiner Tochter zu und sah sich um. Alles in der näheren Umgebung war ruhig, nichts bewegte sich und kein Geräusch, das er hörte, schien näher als einen Steinwurf zu sein. Sera hatte sich langsam hingekniet und blickte in den Tunnel, durch den sie den Zwerg leise atmen hören konnte. Ein Weg hindurch zwischen feuchtem vermoderndem Boden und vom Nebel nassen spitzen Tannennadeln.
Ein tiefer Seufzer war alles, was von ihr zu hören war.

Sie ergriff den nächsten Baumstamm und zog sich vorwärts in den Durchgang, dann benutzte sie ihre Ellenbogen, um auf dem lockeren Boden voranzukommen. Unablässig regnete es tote Nadeln, bis sie schließlich wieder im Freien war. Die Wand aus Bäumen lag hinter ihr und gleichzeitig erstreckte sich eine Neue nur wenige Meter von ihr entfernt. Sie war von einem Ring aus dichtem Geäst umgeben, das einen Bereich von eineinhalb Mannslängen umfasste. Der Boden in der Mitte war von ein paar Wurzeln und saftig grünem Moos bedeckt.

Grinsend stand der Zwerg am Rand und hatte seine Armbrust geschultert.
„Und du dachtest du müsstest „unter Bäumen“ schlafen, hmm?“


Flüsterte er sacht und zwinkerte.
„Hol deinen Vater.“



Alle Anstrengung fiel von Sera ab und ein breites Lächeln thronte auf ihrem Gesicht. Ihre Angst, irgendwo ungeschützt mitten im Wald zu liegen und kein Auge schließen zu können, hatte sich aufgelöst.
Freudig rief sie ihren Vater, der nur wenige Meter entfernt stand, ihre Stimme aber dennoch ein wenig gedämpft hörte.
„Paps, komm, das musst du sehen.“


Die Bäume schienen jetzt auf ihrer Seite zu sein. Freunde, Beschützer, uralte Wächter. Dicht an dicht gedrängt, um sie vor ungebetenen Blicken und Gefahren zu beschützen.
Die junge Frau schritt jeden Meter des Ringes aus Zweigen ab und tastete nach den spitzen Nadeln. War sie ihnen eben im modrigen Tunnel noch ausgewichen, genoss Sera jetzt das Kitzeln auf ihrer Haut. Selbst die Bedeutung ihres Geruchs hatte sich in Sekunden zum Guten gewandt.

„Unglaublich.“


Cedric hatte den Kopf an den letzten Ästen und dünnen Zweigen vorbeigesteckt und sich sofort nach seiner Tochter umgesehen. Erst als er sie unversehrt auf der anderen Seite ausgemachen konnte, hatte er Augen für den Ort, an den sie Brandy geführt hatte.
„Dafür lohnt sich allerdings jede Geduld.“


Musste er eingestehen, während er sich erschöpft erhob und sich so gut wie eben möglich den Dreck von der Kleidung klopfte.
„Das will ich wohl meinen.“


Sagte Brandy triumphierend und band sich den Beutel vom Rücken.
„Hier endet unsere Reise… natürlich nur für heute. Macht es euch bequem.
In der Mitte werden wir ein kleines Feuer machen.“


Sofort waren seine Begleiter darauf angesprungen. Die Taschen wurden auf die Erde geworfen und für jeden eine dünne Decke ausgebreitet. Ein schönes Plätzchen war für jeden schnell gefunden und vor allem Vater und Tochter waren minutenlang eifrig dabei, ihr Nachtlager ihren Bedürfnissen anzupassen.
Kraft um sich auf die Nacht vorzubereiten, hatten sie scheinbar noch genügend.


*klong*
Die kleine metallene Schaufel hatte eine große Wurzel getroffen und die Aufmerksamkeit von Sera und Cedric auf sich gezogen.
„Grabt ein kleines Loch, nicht länger als ein Arm und halb so tief. Und sucht einige dünne Zweige, Rinde von Birken und ein paar dicke Stücken Holz. Schafft ihr das?“


Der Zwerg saß im Schneidersitz auf seiner Decke und zog einige Utensilien hervor, während er seine Gefährten beäugte.

„Natürlich… aber, was habt ihr vor?“


Gerade hatte es Brandy geschafft eines seiner präparierten Holzstücke zu entzünden und versuchte nun seine Pfeife anzustecken. Als die ersten Rauchschwaden aufstiegen, grinste er Cedric fröhlich an.
„Ich denke hier dürfte es noch etwas ruhiger sein, darum geh ich uns etwas Jagen, ist ja meine Arbeit, nich‘?“


Vorsichtig bewegte er das Zündholz zu einem kleinen Haufen dünner Zweige und ließ das Feuer übergehen.
Leise begann das Feuer vor sich hin zu knistern.

„Versucht es zu erhalten, diese Hölzer sin‘ kostbar.
Und entfernt euch nicht zu weit von hier, aber das brauch ich wohl kaum zu betonen.“


Mit einem vielsagenden Blick wandte sich der Zwerg von seinen Gefährten ab und schulterte seinen Beutel und die Armbrust.
„Wie lang bleibt ihr weg?“


Hakte Cedric nach.
„Wieso? Könnt ihr mir sagen wann die Sonne wieder aufgeht?
Legt euch schlafen, wenn euch danach ist. Wenn ihr aufwacht und ich nicht da bin, ist etwas schief gegangen.“
„Na das klingt sehr beruhigend.“
„Macht euch keine Gedanken, als ich angefangen hab im Wald zu überleben, hatte ich noch keinen Bart...
Zumindest keinen richtigen.“


Mit breitem Grinsen ging er in die Knie und zog sich durch den engen Tunnel.

Auf der anderen Seite waren die beiden Reisenden, die leise Worte wechselten, kaum zu hören und weder das Knistern des Feuers noch sein Geruch drang an Brandy heran. Vor ihm lag nun die Unendlichkeit des Waldes, ein Bild, das sich wie ein roter Faden durch sein Leben zog. Allein im Wald und auf der Jagd. Der Zwerg merkte wie ihm die Spannung durch den Körper fuhr.
Er verfolgte die Spuren der kleinen Gruppe auf Schritt und Tritt zurück. Gleichzeitig verwischte er Fußabdrücke, überdeckte abgebrochene Zweige und gab sich alle Mühe, keine neuen Wegweiser zu hinterlassen. Er brachte langsam mehr als zwei Meilen hinter sich, bis er schließlich Halt machte.
Hier waren sie zwischen zwei großen Findlingen hindurch gestiegen.
Falls sie tatsächlich jemand verfolgen sollte, würde auch er diesen Weg nehmen.
Brandy legte einige unscheinbare Stöcker auf den Boden und imitierte dann ein paar Spuren in die falsche Richtung.
„Lass nie eine Möglichkeit aus...“


Flüsterte er vor sich hin.

Jagdbereit machte er sich auf den Weg nach Süden. Ständig beäugte er den Waldboden und die Bäume vor sich. Hin und wieder blieb er sogar stehen, um einfach nur in den Wald zu horchen. Er blieb ohne Erfolg, bis er schließlich ein paar kleine, aber auffällige Spuren fand.
Manche waren bereits alt, andere frischer. Sie waren aber vor allem sehr zahlreich, ein guter Hinweis auf eine Stelle, die des Öfteren von diesem Tier besucht wurde.
An einer besonders vielversprechenden Stelle angekommen, legte er sich mit geladener Armbrust ins Gras und lauerte. Die Minuten, vielleicht Stunden, gingen wie ins Land und er bemerkte sogar, wie sich seine Umgebung verdunkelte und die Nacht hereinbrach. Doch genau darauf wartete er, denn die meisten Tiere erwachten erst, wenn die Sonne untergegangen war.
Schließlich wurde er belohnt. Aus einem kleinen ausgetretenen Pfad stampfte ein schwarz-weiß gestreifter Waldbewohner lautlos aus dem Unterholz.
Ohne zu zögern erlegte der Jäger das Tier und begutachtete seine Beute. Ein ausgewachsener, gut genährter Dachs.
„Das gibt ein Mahl…“


Mit ein paar geübten Schnitten und Handgriffen nahm er das Tier aus und rollte es in einen kleinen Sack, den Rest ließ er zurück. Weit genug weg von ihm, seinem Lager und seinen Gefährten.
Das Abendessen war gesichert und schnellen Schrittes begann der Zwerg den Rückweg.
Mittlerweile machte sich die fehlende Sonne vollends bemerkbar. Im Freien sorgte der reflektierende Nebel für diffuses Licht, doch im Wald schienen andere Regeln zu gelten.

Sein Weg zurück brauchte ein wenig mehr Zeit, aber schließlich erreichte er die Findlinge. Von weitem schien sich nichts, außer der Helligkeit des Waldes, verändert zu haben, doch als er näherkam, fuhr ihm ein Schock durch Mark und Bein.
Er hatte die Fallen nur aus Routine gelegt, eine Absicherung, beinahe ein Scherz. Doch darüber, konnte er nun wahrlich nicht lachen:
Jeder der Stöcker war zerbrochen, die Stücke lagen verstreut und sogar ein paar frische Spuren konnte er nach angestrengter Suche zwischen Laub und Nadeln ausmachen.
Sie wurden verfolgt, das war nun klar, doch der Verfolger war ihnen wesentlich näher, als Brandy jemals angenommen hätte.
Welchen Weg der Verfolger genommen hatte, konnte er nicht erkennen, aber das war auch nur eine Einzelheit, die die Situation keineswegs verbessert hätte.

Nach einem schnellen Entschluss entsorgte er seine frisch gefangene Beute ein einiger Entfernung und verschwand dann in Richtung Lager. Er ging schnell, doch vorsichtig genug, um keinen Laut zu riskieren und keine Spuren zu hinterlassen. Der Verfolger konnte vor mehreren Stunden die Findlinge passiert haben und längst weit entfernt sein. Doch die Möglichkeit, dass er nur einen Steinwurf von Brandy entfernt stand und wortlos horchen könnte, ließ ihn nicht los.
Er sah sich um und versuchte neben seinen Schritten und seinem Herzschlag, noch andere Geräusche auszumachen. Doch er war sich nicht sicher, was dort an sein Ohr drang und gab diese Möglichkeit rasch auf.
Sein Orientierungssinn brachte ihn auch in dieser Situation vertrauensvoll ans Ziel. Mit einem Mal, stand er vor der Baumgruppe.
Kein Feuer war zu hören, keine Stimmen, kein Geruch hing ihm in der Nase, eigentlich war alles so, wie es sein sollte. So, wie er es sich von erfahrenen Begleitern gewünscht hätte.
„Zu schön, um wahr zu sein…“


Er atmete ein paar Mal tief ein, bevor er sich leise durch den Tunnel zog, die Armbrust geladen und bereit.

Nach wenigen lautlosen Sekunden, füllten sich seine Lungen wieder mit frischerer Luft, er starrte jedoch in totale Dunkelheit. Kein Feuer erhellte das Lager.
Die Bäume, die ihnen hatten Schutz bieten sollen, ragten auf wie Schläger um ein am Boden liegendes Opfer. Keine Umrisse bildeten sich auf der schwarzen Wand ab und nur der Tannenduft hing in der Luft.
Leise hörte er jemanden atmen.
Es hätte jeder sein können, Freund oder Feind, sogar er selbst. Er wusste es nicht.
Noch immer lag er halb in dem Tunnel und spähte in die Nacht, als würde er in die Ferne sehen.
Da sich nichts und niemand rührte, waren seine Möglichkeiten äußerst begrenzt. Er ließ einige Zeit verstreichen, um ganz sicher zu sein, das niemand mit einem Schwert über ihm stand, oder ähnliches.
Mit all seinem Mut, brachte er flüsternd ein Wort hervor.
„Cedric?“


Sofort regte sich etwas.
Am Boden hörte er das Reiben von Leder und sah eine Gestalt die sich zu ihm umdrehte. Sofort nahm er den Schemen ins Visier.
„Ja, ich bin hier. Hattet ihr Erfolg?“


Der Zwerg erkannte die Stimme und seufzte laut. Er glaubte sogar zu hören, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel.
Ihr Verfolger hatte sie nicht gefunden.

„So wie es aussieht, mehr als ich mir erhofft hatte.“


Flüsterte er knapp und krabbelte die letzten paar Fuß in die Lichtung in Mitten der Tannengruppe.
„Nun ja, wir haben es nicht geschafft, das Feuer zu erhalten.“
„Wenn das mal nicht ein Segen war.“
„Wie meint ihr das?“
„Erzähl ich euch gleich. Habt ihr Holz gesammelt und das Loch gegraben?“


Eifrig nickte der Reisende und setzte sich auf.
„Ja, natürlich. Wir konnten es nur nicht entzünden. Es ist sogar sehr trocken.“
„Gut Gut.“


Schnell zog der Jäger eines seiner wertvollen Hölzer hervor und entzündete es. Die winzig erscheinende Flamme reichte aus, um das kleine Lager und die Feuerstelle zu erleuchten.
Alles was außerhalb dieses Lichtscheins lag, war tiefschwarz.
Dasselbe Bild hätte sich ihnen in jeder Umgebung geboten, doch nur hier reichte es aus, um Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Sie konnte alles sehen, was sie auch bei Tageslicht hätten sehen können.
Der Reisende saß gespannt auf seinem Platz, eingehüllt in eine Decke. Sera schien bereits in einem Meter Entfernung zu schlafen.

Erschöpft, aber erleichtert, legte Brandy seine Sachen in die Ecke und übertrug die Flamme auf das vorbereitete Holz. Eilig fischte er viele der Stöcker heraus und legte sie neben sich.
Nur ein kleines Feuer loderte in der Mitte und knisterte leise.
„Was habt ihr gefangen?“


Drängte Cedric, scheinbar begieriger auf die Nachricht, als auf die Mahlzeit.
„Einen Dachs… aber den werden wir nicht essen.“
„Nicht?“
„Nein…“


begann der Jäger langsam und zog eine Ration Proviant aus seinem Beutel.
„…, wir werden uns mit kalter Nahrung begnügen müssen.“


Stirnrunzelnd hakte der Reisende nach.
„Sind Dachse denn nicht essbar?“


Jetzt musste Brand’Orok tatsächlich grinsen. Der gestandene Jäger hatte mehr Angst und Sorge über den Verlauf ihrer Reise, als sein Gegenüber.
Ein seltsamer Gedanke ging Brandy durch den Kopf, als er diesen Zustand bedachte. Er müsste ihm alles erklären. Was er gefunden hatte, was es für sie bedeutete und wie sie weiter vorgehen würden. Er würde ihn mit Fragen löchern, deren Antworten er entweder nicht kannte, oder über die er gar nicht erst nachdenken wollte.
Erst nach einigen Sekunden antwortete er.
„Doch doch, nur… hat mir ein Wolf die Beute weggeschnappt, bevor ich dort war.“


Log er.
„Der Geruch dieses Köters muss alle anderen Tiere vertrieben haben. Ich konnte bis zum Einbruch der Dunkelheit nichts mehr finden.“


Tatsächlich war ihm solch eine Geschichte schon einmal zuvor passiert. Nur hatte danach eine einwöchige Jagd auf diesen allein reisenden Wolf begonnen.
„Ein Jammer.“


Gab der Reisende bestürzt zurück und kramte seinerseits ein Stück Pökelfleisch hervor.
Minuten lang saßen sie da, aßen und genossen die seltene Freude eines Feuers. Brandy schüttelte schließlich all seine düsteren Gedanken ab und wandte sich erfreulicheren Themen zu.
„Gebt mir bitte einmal diesen Stofffetzen, ja?“


Cedric stockte und sah den Zwerg mit unverhohlener Skepsis an, ohne ein Wort zu sagen.
Brandy grinste schließlich, er schien diese Reaktion insgeheim erwartet zu haben.
„Ich könnte euch auch bedrohen, wenn euch das lieber ist.
Ich will ihn mir nur ansehen. Von mir aus, könnt ihr ihn danach bis zum Ende behalten, wenn ihr euch dann sicherer fühlt.“


Der Zwerg wusste genau wie wichtig das eigene Befinden war, um eine solche Reise zu überstehen. Vor allem, wenn man sie nicht regelmäßig machte.
Cedric ließ kurz die Schultern hängen, als er seine Hilflosigkeit erkannte, schien aber keinerlei ernste Bedenken mehr zu haben.
Mit geübter Hand wühlte er sich durch die Taschen seines Mantels, der ihm eben noch als Kissen gedient hatte. Behutsam zog er den leicht glänzenden Fetzen hervor und gab ihn an Brandy weiter.

Sofort beäugte der Jäger die Schriften und Zeichen sehr genau, sogar den Rand und die Rissen untersuchte er ausgiebig.
„Es ist eine Karte, nicht wahr?“


Brand’Orok war noch immer vertieft, nickte jedoch sacht.
„Und sogar ein echter Teil.“


Sagte er schließlich, mit entzückt hoher Stimme.
Die Freude stand ihm im Gesicht, als er zu Cedric herüber sah und breit grinste.
„Da lohnt sich diese Reise sogar.“


Cedric verscheuchte rasch die Frage, was wohl aus der Reise geworden wäre, wenn er keinen „echten Teil“ als Bezahlung bereit gehabt hätte und fragte anderweitig nach.
„Ein echter Teil? Gibt es auch unechte?“
„Ganz Recht. Kopien. Einige sind sogar sehr gut.“


Sprach Brandy schnell und immer noch hocherfreut.
„Kopien. Aber was ist an einer kopierten Karte anders, als an einer „echten“? Zeigen sie nicht alle dasselbe?“


Brandy hielt kurz inne.
Er starrte zwar auf die Karte, seine Gedanken wanderten jedoch in anderen Gegenden umher. Cedric war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Hatte er nach Dingen gefragt, die ihn nichts angingen?
„Ich weiß nicht wie,…“


Sagte der Jäger schließlich.
„..aber, nach dem was ich herausgefunden habe, zeigt die Karte mehr als nur einen Ort. Allerdings nur, wenn man alle echten Teile hat.“


Er setzte einen Blick auf, den man nicht eindeutig deuten konnte. Herausforderung lag darin, aber auch Spannung, als wolle er seinen Gegenüber damit anstecken.
„Und deshalb sucht ihr diese Teile…“


Antwortete Cedric ohne auf seinen Blick einzugehen.
„Ich suche nicht. Ich warte, bis sie mich finden. Ich reise sowieso zu viel, wenn ich da auch noch nach etwas suche, komme ich gar nicht mehr zur Ruhe.“
„Eine seltsame Einstellung.“
„Sie passt zu mir.“


Gab Brandy rasch zurück und beäugte weiter die Karte, während in Cedric die Neugierde langsam aufzuflammen schien. Man sah ihm an, wie er hin und hergerissen war, zwischen dem Interesse und der Angst, zu viel zu erfahren. Dennoch fragte er:
„Hattet ihr denn schon welche von diesen Kopien in Händen?“
„Einige.“


Antwortete Brandy.
„Und…“


Begann Cedric zögerlich.
„…Konntet ihr den Ort finden?“
„Ihr seid sehr neugierig. Glaubt ihr, das ist gut für Euch?“


Gab Brandy zwar gespielt, aber nicht minder bedrohlich zurück.
„E-Entschuldigt. Ich wollte nicht… . Ihr habt Recht, es-es geht mich nichts an.“
„Das denke ich auch.“



Mehr als nur eine peinliche Pause hing in der Luft, bis der Zwerg schließlich sein Versprechen erfüllte und das Kartenstück zurückgab.
Sein Blick fiel dabei auf Sera, die, zur anderen Seite gedreht, tief zu schlafen schien.
„Die Anstrengung,… sie hält sie zwar aus, aber sie braucht die Ruhe.“


Warf Cedric ein, als er den Stofffetzen eingesteckt hatte.
„Danke, dass ihr uns hier hergebracht habt. Ich wünschte, wir könnten jede Nacht an einem solchen Ort verbringen.“


Brandy zuckte nur mit den Schultern.
„Nichts zu danken, es geht ja auch um meinen Bart.
Dennoch,… werden wir dieses Glück nicht sehr häufig haben, fürcht‘ ich.“
„Das dachte ich mir schon.“


Seufzte der Reisende und faltete seinen Mantel wieder zu einem Kopfkissen.
„Habt ihr ein Ziel für morgen? Gibt es in diesem Wald überhaupt irgendetwas Hervorstechendes?“


Energisch nickte der Zwerg, während er sprach.
„Einen Ort gibt es, wir werden ihn allerdings erst in zwei bis drei Tagen erreichen. Man nennt ihn den Wächter.“
„Der Wächter? Wer ist das?“
„Ein Berg. Er ragt aus dem Karrogal-Gebirge heraus und hat ein großes Plateau auf dem Gipfel.
Wo wir morgen rasten, werden wir wohl spontan entscheiden müssen.“



Der Zwerg entledigte sich seines Mantels und wickelte sich in seine Decke ein.
„Ruht euch aus, um so schneller kommen wir morgen voran.“


Und der Reisende tat wie geheißen.
Anfangs zwang er sich, nicht einzuschlafen, die Bewegungen des Zwerges zumindest mit den Ohren zu überwachen, doch schon nach wenigen Minuten übermannte ihn ein erstaunlich ruhiger Schlaf.

Brand’Orok hingegen lag auf dem Rücken und sah in den Sternenhimmel. Seine Gedanken ließen ihn noch nicht ganz in Frieden.
Er wusste nun zwar, dass sie verfolgt wurden, aber das brachte für ihn mehr neue Fragen als Antworten mit sich.
Wer verfolgt sie, und warum?
Die Antworten auf diese Fragen hätten die Entscheidung, wie er weiter vorgehen sollte, erheblich erleichtert.
Ein Gegner, den man kennt, lässt sich schließlich leichter ausspielen.
Eine Frage, die ihm vorher noch nicht in den Sinn gekommen war, schlich sich jedoch erst jetzt in seine Gedanken.
Sie wurden verfolgt und rasteten jetzt. Der Verfolger war nicht weit entfernt…
Was, wenn er sie in der Nacht überholen und keine Spuren mehr finden würde?

„Irgendwann sollte ich mir den leichten, statt den „lohnenswerten“ Weg angewöhnen…“


Flüsterte er leise nach oben und grinste.

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Tag der Veröffentlichung: 15.12.2009

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