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Ich habe dich viel zu spät kennengelernt. Obwohl, eigentlich kannte ich dich schon sehr lange. Wir sind auf dieselbe Schule gegangen, du warst zwei Jahrgänge unter mir. Und man erkannte dich immer schon von weitem. An deiner langen, schmalen Statur und an deinem eckigen Gang. Das lag an deiner Hüft-Operation. Ach deine Operationen, diese vielen Operationen. Als kleines Kind hatte man bei dir das Marfan-Syndrom festgestellt, eine unheilbare Bindegewebserkrankung. Hört sich für den Laien erst mal nicht so arg an, eine Erkrankung des „Bindegewebes“. Aber das ist überall im Körper vorhanden und eine Schwächung dieses Gewebes an entscheidenden Stellen, wie zum Beispiel an der Herzklappe, kann katastrophale Auswirkungen haben. Mit heutigen Methoden, bei einer umsichtigen Behandlung und einer frühen Diagnosestellung, können Marfan-Patienten ein normales Lebensalter erreichen. Als du Kind warst, in den 1980er Jahren, da war das noch nicht so. Deine Ärzte hatten so manchen chirurgischen Eingriff zunächst abgelehnt, mit der Begründung: „Das lohnt sich doch sowieso nicht mehr!“ So etwas musstest du dir anhören, als du noch auf der Grundschule warst. Aber du hast nie aufgegeben, hast dich nicht klein machen lassen! Du hast Gitarre gespielt in so vielen Schulbands. Du hast immer schon tolle Fotos gemacht. Und dein Musikgeschmack war herzzerreißend schön. Ohne dich würde ich Bands wie „Belle &Sebastian“ oder „Kings of Convenience“ vielleicht gar nicht kennen. Es war immer etwas ganz Besonderes, mit dir zusammen diese Platten zu hören. Und du hattest eine Meinung und hast sie immer vertreten. Warst immer auf der Seite der Kleinen, der Entrechteten, hast geträumt von einer besseren Welt, von einem liebevolleren, respektvolleren Umgang der Menschen untereinander. Dafür habe ich dich sehr respektiert. Aber auch wenn du liebend gerne gestritten hast, um deine Themen, so bist du doch immer sachlich geblieben, hast niemanden diffamiert oder gar ausgegrenzt, der nicht deiner Meinung war. Von deiner Toleranz und Lässigkeit habe ich mir immer gerne ein Stück abgeschnitten. Es gäbe noch so viel mehr über dich zu sagen. Aber nur wer dich kennen lernen durfte, wird wirklich verstehen, wie einzigartig und wertvoll du warst.


Silvester wollten wir noch zusammen feiern. Doch du kamst mal wieder nicht raus aus deiner Bude. Die nächste schwierige OP stand bald an und du hattest sicher Angst, hättest das aber nie zugegeben. Du bist an jenem Abend zu Hause geblieben und hast deine Depression gepflegt, was niemand besser verstehen kann als ich. Ende Januar dann die Podiumsdiskussion vom Konkret-Verlag zum Thema der Occupy-Bewegung. Wir trafen uns an den Landungsbrücken, umarmten uns wie immer und fuhren die letzten zwei Stationen mit dem Bus gemeinsam. Wir verfolgten die Diskussion mit Interesse und einem kühlen Bier in der Hand. Nachdem sich die Veranstaltung aufgelöst hatte, schnorrte ich mir von jemandem eine Zigarette und sagte entschuldigend zu dir: „Ich höre ganz sicher bald auf.“ Danach gingen wir noch in den Golden Pudel Club, es war ein Dienstagabend. Es lief irgendwelcher hypermoderner Electro und es war nur sehr wenig los. Wir verhafteten noch ein oder zwei Bier und sprachen über Gott und die Welt. Ich habe es immer so genossen, Zeit mit Dir zu verbringen. Es sollte das letzte Mal sein, dass ich dich gesehen habe.


Dann stand schließlich diese OP an. Du hattest ein Bauch-Aorten-Aneurysma. Es sollte ein Spezialisten-Team aus Holland kommen, um die Ärzte in Eppendorf zu unterstützen, extra nur für dich. Du konntest noch wählen zwischen zwei Terminen, entweder an deinem 33. Geburtstag oder zwei Wochen danach. Aber du musstest schon über ein viertel Jahr auf diesen Eingriff warten, du wolltest es endlich hinter dir haben, die nächste große OP. Also gingst du wenige Tage vor deinem Geburtstag ins Krankenhaus. Eigentlich wollten sie nur Voruntersuchungen machen und dich nochmal zu Hause schlafen lassen. Aber dann musstest du gleich ganz da bleiben. Der Eingriff hat dann 19 Stunden gedauert. Es gab Komplikationen. Zwischendurch waren deine Organe nicht richtig mit Blut versorgt. Vier Tage später bist du dann gestorben, noch im Krankenhaus. Deine Familie war bei dir.


Erfahren habe ich es dann über Facebook, ausgerechnet. Ich hatte mich schon gewundert, dass du auf meine SMS nicht mehr geantwortet hast. Dann hat ein Freund von dir auf deiner Seite gepostet: „Ciao, André. Wir werden dich vermissen.“ Ich habe es nur zufällig gesehen und erst nicht begreifen wollen. Nicht wahrhaben wollen, was diese Zeilen bedeuten. Dann habe ich deine Seite und deine Pinnwand genauer angeguckt und fand den Eintrag von deinem Bruder. Der Eintrag war noch keine 24 Stunden alt und informierte kurz und knapp darüber, dass du nicht mehr am Leben warst. Für deine ganzen Online-Freunde, die du nur selten oder gar nicht sehen konntest. Noch heute besuche ich regelmäßig deine Seite und sehe mir die ganzen Grüße und Gedanken an, die weiterhin an dich gesendet werden. Am schlimmsten waren die zahllosen Glückwünsche zu deinem Geburtstag. Und schlimm war es auch, deinen besten Freund anzurufen und zu informieren. Michael war nicht bei Facebook angemeldet und deine Eltern hatten keine aktuelle Nummer von ihm. Also habe ich ihm die Nachricht überbracht. Er hat nur kurz aufgeschrien und dann geschluchzt und dann erst mal aufgelegt. Erst später konnte ich ein wenig mit ihm reden.


„Wenn ein Freund weggeht, muss man die Tür schließen, sonst wird es kalt“, hat Bertolt Brecht einmal gesagt. Ich mag diese Tür aber nicht schließen, noch nicht. Zu sehr bist du noch in meinen Gedanken präsent, bist lebendig, als könnte ich dich jetzt sofort anrufen oder mit dir chatten. Am liebsten würde ich dir hinterher durch diese Tür, durch die du gegangen bist. Doch meine Zeit ist noch nicht gekommen. Wenigstens einen Spalt weit möchte ich die Tür offen lassen, auch wenn es dann ein wenig kalt wird. Um nicht ganz die Verbindung zu dir zu verlieren.


André, mein Freund. Wir sehen uns auf der anderen Seite.

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Tag der Veröffentlichung: 18.10.2012

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