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„Meine Güte!“, keuchte Sina und betrachtete die teerartige Flüssigkeit in ihrer Tasse argwöhnisch, die ihr Kollege aus der Gerichtsmedizin seinen Spezialkaffee nannte. „Davon wachen ja die Toten auf.“
Angewidert stellte sie die Tasse beiseite und griff nach der Akte ihres neues Falles. Ein Mann, 34 Jahre, gerade einmal drei Jahre älter als sie, war unter ungeklärten Umständen verstorben. Es war schon etwas dran, nur die Besten starben jung. Vor ihr lag ein dunkelblonder Adonis, der sie selbst tot noch zum seufzen brachte. „Schade drum.“, raunte sie und begann ihn fachmännisch seiner Kleidung zu entledigen. Nachdem sie jedes Kleidungsstück eingetütet hatte, betrachtete sie ihn sich genauer. Dunkle Haare kräuselten sich auf seiner Brust und zogen sich bis hinunter ...
Sina musste laut schlucken, um nicht die Fassung zu verlieren. Herr Gott, es handelte sich dabei um einen Toten. Abwesend suchten ihre Hände nach der Kaffeetasse und führten sie zum Mund, nur um die bittere Flüssigkeit dann sofort wieder auszuspeien.
„Oh Gott!“ In Panik wischte sie sich mit einer Hand über die Lippen. Gesprenkelt mit braunen Kaffeetröpfchen lag der Tote vor ihr auf der Bahre. Sie hatte einen Toten bespuckt.
Außer sich verfrachtete sie den Rest Kaffee in den Abguss des Waschbeckens und stellte die Tasse daneben. In Gedanken rief sie ab, was sie nun tun musste. Sie musste es melden, ganz eindeutig. Stolpernd wankte sie durch die Tür in den Flur hinaus und streifte sich ihre weißen Einmalhandschuhe von den Fingern.
„Ich habe Mist gebaut.“, plärrte sie sobald sie die Tür zum Büro des Leiters der Gerichtsmedizin geöffnet hatte.
„Anklopfen!“, brummte der ältere Mann vor ihr, mit den schütteren grauen Haaren.
„Nächstes Mal.“, winkte Sina ab und lies sich auf den freien Stuhl neben der Tür plumpsen.
„Ich hab einen Toten bespuckt.“ Ohne Umschweife kam sie gleich zur Sache und erntete dafür nur den verständnislosen Blick ihres Vorgesetzten.
„Sie meinen?“, näselte er als Antwort.
„So wie ich es gesagt habe.“ Sina verlor fast die Beherrschung so außer sich war sie. „Ich habe einen toten mit viel zu starkem kalten Kaffee bespuckt. Ein Versehen. Ich war in Gedanken.“, stotterte sie außer Atem.
„Nun mal ganz ruhig.“, brummte ihr Chef und erhob sich gemächlich von seinem Schreibtischstuhl. „Das werden wir uns erst einmal genauer ansehen.“
Sina kräuselte die Lippen um Widerspruch einzulegen, schluckte ihren Kommentar jedoch hinunter. Wieso behandelte er sie immer noch wie eine dusselige Anfängerin. Zugegeben besonders professionell war ihr kleines Malheur nicht gerade.
Schuldbewusst trottete sie hinter ihm die Flure entlang und zermarterte sich das Hirn darüber, was in solch einem Fall wohl die schlimmste Konsequenz sein würde.
„Nun?“, schreckte ihr Chef sie plötzlich aus ihren Gedanken auf, während er in der geöffnet Tür zum Untersuchungsraum stand. „Ich sehe nicht, was sie meinen.“ Verwirrt zog er die Stirn kraus.
„Na da.“, zeterte Sina und drängte sich an ihm vorbei in den Raum, doch ihr Zeigefinger deutete ins Leere. Die Bahre war leer.
„Das kann doch .... Das gibt’s doch ...“, ratlos kratzte sie sich an den Schläfen und drehte sich zu ihrem Chef.
„Mir scheint ein starker Kaffee wäre jetzt genau das richtige für sie.“ Mit diesen Worten lies ihr Chef sie stehen und trat den Rückzug in sein Büro an.
„Aber?“, stammelte Sina und rief sich in Gedanken noch einmal jedes einzelne Detail des Morgens zurück ins Gedächtnis. Sie befand sich im richtigen Raum, dort stand ihre Tasse. Aber wo war der Leichnam?
„Was haben sie mit mir gemacht?“, knurrte es plötzlich neben ihr. Sina wagte es nicht, sich zu bewegen. Verschwommen konnte sie neben sich eine hochgewachsene Gestalt ausmachen, die sich langsam in ihr Blickfeld schob.
„Und wo verdammt noch mal sind meine Klamotten.“ Der Hüne vor ihr starrte ihr gereizt entgegen.
Dunkelblonde zersauste Haare und direkt vor ihrer Nase die dichten Brusthaare, ließen keinen Zweifel daran. Der Tote stand direkt vor ihr. Noch bevor die Tatsache wirklich in ihr Bewusstsein gedrungen war, spürte sie bereits wie ihre Beine nachgaben und sich die Welt um sie in Schatten legte.


Stockstreif wie ein Brett lag sie auf der Bahre und spürte wie die Kälte des Metalls langsam durch ihre Kleidung sickerte. Bereits vor Minuten war sie zu sich gekommen, getraute sich jedoch nicht sich bemerkbar zu machen. Hatte ihn der Kaffee etwa von den Toten auferweckt? Nein. Sina blinzelte angestrengt zwischen ihren Wimpern hindurch an die Decke. Es hatte sicher etwas mit dem Herz zu tun, davon las man doch häufiger. Die Körperfunktionen sind so heruntergefahren, dass manche für Tod erklärt werden. Oder vielleicht doch der Kaffee.
„Sie sind wach.“, raunte da auch schon eine Stimme, bevor sie ihren inneren Monolog zu einem zufriedenstellenden Ende führen konnte.
Widerwillig reckte sie den Kopf dem Fremden entgegen.
„Ja.“, piepte ihr Stimmchen als Antwort. Immer noch nackt stand der Lebende Tote neben ihrer eisernen Liege und beäugte sie angestrengt.
„Sie wissen nicht, was hier passiert ist?“ Seine Frage klang freundlich. Unsicher setzte sich Sina auf und schüttelte den Kopf.
„Tut mir leid, wenn ich vorhin etwas schroff war, aber man wach nicht jeden Tag splitterfassernackt auf einem Tischchen auf.“ Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Sie haben nicht zufällig etwas zum Anziehen für mich?“ Verlegen sah er an sich hinunter.


Sina nickte mechanisch. Seine Kleidung lag immer noch fein säuberlich verpackt in den Tüten auf einem der Regale. Musste sie trotzdem noch untersucht werden? Sina beschloss sie unangetastet zu lassen, bis sie sicher war, dass sie nicht tagträumte.
Stumm zeigte sie auf einen alten Arbeitskittel, der um einen der Stühle gehangen worden und in Vergessenheit geraten war.
„Mein Name ist übrigens Vincent.“, stellte der Fremde sich vor, während er sich mehr schlecht als recht in das dünne Stoffteil hüllte.
„Sina.“, antwortete sie einsilbig und stand auf die immer noch wackeligen Beine. Sofort wurde ihr eine Hand entgegen gestreckt.
„Freut mich.“, verlegen lächelnd griff Vincent ihre Hand und schüttele sie, bis er Sinas entgeisterten Blick bemerkte.
„Stimmt etwas nicht?“, wollte er wissen.
„Na, das ....“ Sina deutete an ihm herunter. „Ich verstehe nicht, was hier los ist.“
„Sie scheinen wohl doch mehr zu wissen als ich.“, mutmaßte Vincent und zog die Brauen kraus.
„Es ist so ....“, begann Sina und unterbrach sich selbst. „So viel mehr weiß ich nicht. Nur, dass sie als Leiche auf meinem Obduktionstisch lagen und jetzt quicklebendig vor mir stehen.“ Ihr Gegenüber riss entgeistert den Mund auf und schloss ihn wortlos wieder.
„Ehrlich gesagt, bin ich anhand der medizinischen Vorgeschichte von einem Giftmord ausgegangen. Keine äußeren Verletzungen oder dergleichen. Aber jetzt?“ Sina raufte sich die Haare.
„Sie denken ich wurde umgebracht.“, stotterte Vincent fassungslos und musste schmunzeln. „Ich meine natürlich, ich sollte umgebracht werden.“
„Es gibt Gifte, die können den Herzschlag so verlangsamen, dass man die betreffende Person für tot halten könnte. Ja.“
Beeindruckt sah er ihr in die Augen. „Sie sind Pathologin.“
Sina nickte. „Jedenfalls war ich das mal. Aber nach der Sache. Wie soll ich das erklären. Außerdem habe ich sie mit Kaffee bespuckt.“
„Kaffee, das hat nach einer beisenden Chemikalie gestunken.“ Angewidert schnuffelte Vincent an seinen Armen.
„Hihi.“ Sina musste kichern. „So stark, dass er Tote aufgeweckt hätte.“ Erschrocken biss sie sich auf die Lippe.
„Der war gut!“ Vincent zwinkerte ihr zu. Wie schaffte es dieser Mann nur, dass sie sich fühlte wie ein minderbemitteltes Schulmädchen.
„Und nun?“, wollte er wissen und sah sich neugierig in dem kahlen Raum um.
Ja, was nun? Ratlos starrte sie ihre quicklebendige Fallakte Nr. 1243 an.


Mit hochrotem Kopf schob sie Vincent am Pförtnerhäuschen vorbei zu ihrem Auto. „Nur nicht hochgucken“, ermahnte sie sich und kramte ihren Autoschlüssel aus der Tasche.
„Einsteigen.“, flüsterte sie, während sie zitternd die Fahrertür öffnete. Das Lenkrad fest umklammert legte sie den Rückwärtsgang ein und trat auf das Gaspedal. Heulend setzte ihr Wagen zurück.
„Nicht nervös werden.“, presste sie zwischen den Zähnen hervor und legte den ersten Gang ein. Ruckelnd bewegte sich ihr Wagen der Tiefgaragenausfahrt entgegen.
Sie war 31 Jahre alt und dieser Mann neben ihr machte sie so nervös, dass sie sich wieder vorkam wie während ihrer ersten Fahrstunde. Krachend schaltete sie in den zweiten Gang und schickte Stoßgebete gen’ Himmel, dass ihr der Wagen nicht auch noch absaufen möge.
Vincent saß ganz Gentleman stumm neben ihr und verkniff sich ein Schmunzeln.
„Wir sind da.“, verkündete sie erleichtert, als sie nach zehn Minuten Fahrt auf ihrem Parkplatz vor ihrer Wohnung einparkte.
Dritter Stock, kein Fahrstuhl und jede Menge geschwätzige alte Nachbarinnen. Wie ein Spießrutenlauf kamen ihr die genau 60 Stufen vor.
Ihre Wohnung dagegen war ihr kleiner Lichtblick. Hell, freundlich, bunt.
Kaum hatte sie die Tür hinter sich und ihrem Gast geschlossen atmete sie erleichtert aus.
Sie mussten sich überlegen wie sie nun handeln sollten. Und zwar schnell.
„Nehmen sie Platz.“, wies sie Vincent an und zeigte auf ein gemütliches breites Sofa. Danach lief sie wortlos in ihr Schlafzimmer und kam mit einem Arm voller Männerhosen und Oberteile wieder heraus.
„Von einem Ex, ich wusste, ich kann sie irgendwann mal wieder gebrauchen.“, erklärte sie sich und schmiss ihm den Kleiderstapel in die Arme. Dann marschierte sie schnurstracks in die Küche. Kurz darauf hörte man den Wasserhahn plätschern.
„Aber bitte keinen Kaffee.“, frotzelte Vincent, während er sich in ein etwas zu kleines Poloshirt zwängte.
„Jaja.“, kam prompt die Antwort aus der Küche. Kurz darauf erschien sie mit einem Tablett, auf dem zwei Tassen, ein Zuckertöpfchen und eine gläserne Teekanne standen. Langsam verfärbte sich das Wasser blutrot und verströmte einen fruchtigen Duft.
„Und nun ....“, begann sie in unheilvollem Tonfall. „Wer könnte sie so sehr hassen, dass er sie gerne umbringen würde?“
Vincent knüpfte sich verdattert die Hose zu und setzte sich. „Eine gute Frage.“ Grübelnd schaufelte er sich einen Löffel Zucker nach dem anderen in seine Tasse.
„Ihre Zähne vielleicht?“, witzelte Sina und erntete ein freches Grinsen.
„Eine Geschäftspartnerin, eventuell.“, entgegnete er wieder in ernstem Tonfall.
Sina spitzte die Ohren.
„Eine Affäre?“, platzte es aus ihr heraus.
„Ja, aber ich bedauere es zutiefst, das müssen sie mir glauben. Es war unprofessionell von mir.“ Vincent gab ein lautes Schnaufen von sich und suchte ihren Blick.
Unruhig rutschte Sina auf ihrem Platz hin und her, wieso kam sie sich nur so ertappt vor. Hatte da gerade wirklich ein Hauch Eifersucht in ihre Frage mitgeschwungen?
Zerknirscht starrte sie auf ihre Schuhspitzen.
„Seit einem Monat ist sie bereits beendet, aber es hatte Konsequenzen auf geschäftlicher Ebene.“ Vincent schüttelte den Kopf.
„Mehr für sie, als für mich, obwohl es wohl anders von ihr geplant war. Sie müssen wissen, ich arbeite bei einer Werbeagentur, sie arbeitete bei einer anderen. Ihre Unterstellung lautete also Ideenklau, bezogen auf einen unserer neueren Großkunden. Dumm nur für sie, dass der ausgearbeitete Marketingplan schon bei dem Kunden vorlag, lange bevor ihr Unternehmen überhaupt davon Wind bekam. Sie wurde wegen unlauterer Methoden entlassen. Ihr Verhalten wurde als unternehmensschädigend deklariert. Das Aus für ihre Karriere.“
Vincent hielt ihren Blick immer noch gefangen.
„Was meinen sie?“, fragte er schließlich und griff beherzt nach der Teekanne. Während er einschenkte wartete er gespannt auf ihre Antwort, doch Sina betrachtete stumm den wabernden Wasserdampf, der über die Oberfläche ihres Tees kroch.
„Vielleicht.“, antwortete sie schließlich und nahm einen vorsichtigen Schluck.
„Hätte sie denn eine Gelegenheit gehabt, sie zu vergiften?“ Vorsichtig stellte sie die Tasse wieder ab und lehnte sich zurück. Vincent zuckte mit den Schultern.
„Ich fürchte ich werde den üblichen Weg gehen müssen.“, überlegte sie.
„Den üblichen?“ Vincent starrte sie verwirrt an. „Sie meinen mich aufschneiden?“ Er wollte lachen, doch stattdessen nippte er nervös an seinem Tee.
„Nein.“ Sina musste kichern. „Ihre Kleidung untersuchen, ihr Haar und Blut einem Labortest unterziehen. Wenn da was ist, werde ich was finden. Es gibt nur ein Problem.“ Ihre Nackenhaare stellten sich zu Berge, als sie daran dachte.
„Und das wäre?“, fragte Vincent vorsichtig.
„Sie sind tot.“, war ihre kurze, aber aussagekräftige Antwort. Und Vincent wusste nicht, ob er nun lachen oder weinen sollte.
„Meine Putzfrau hat mich in meiner Wohnung leblos aufgefunden?“, schrillte Vincents Stimme durch ihre Wohnung. „Es gab eine Todesanzeige?“ Aufgewühlt war er vom Sofa aufgesprungen und tigerte nun von einen Ende des Raumes zum anderen.
„Das heißt ich bin wirtschaftlich tot. Meine Konten, meine Kreditkarten, mein Führerschein, alles futsch.“
Sina nickte. „Ich fürchte, ja.“
„Und jetzt? Wenn ich bei meinen Eltern auftauche glauben sie an den heiligen Geist persönlich.“ Vincent musste kurz grinsen, als er sich das Bild vor Augen führte, dass seine Eltern abgeben würden.
„Ich finde es wesentlich schlimmer, dass wer immer versucht hat sie umzubringen, es dann wohl noch einmal versuchen würde.“ Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe.
„Dann muss ich untertauchen, bis die Sache aufgeklärt ist. Aber ist es denn sicher ... ich meine ist es sicher, dass man versucht hat mich zu vergiften?“ Abrupt lies er sich zurück auf das Sofa fallen und starrte sie an.
„Das werde ich morgen herausfinden. Sobald ich meinen Chef davon überzeugt habe, mich wegen der Geschichte nicht zu feuern.“, seufzend schnappte sie sich ihre Tasse, nur um sie kurz darauf wieder abzustellen.
„Können sie irgendwo unterkommen?“, hakte sie nach.
Vincent schüttelte den Kopf. „Höchstens in einer Gruft.“ Sein Lachen blieb ihm im Halse stecken. „Könnte ich denn hier, solange bis ...?“, begann er und legte ein einschmeichelndes Lächeln auf.
Ein wohliger Schauer durchjagte sie, als ihr Blick zum Ausschnitt seines Poloshirts wanderte. Einfach mit der Hand durchfahren und ...
„Jaaa.“, kam es in schmachtendem Tonfall, noch bevor sie ihre Gedanken wieder alle beisammen hatte. Sein neckendes Lachen trieb ihr nur noch mehr die Schamesröte in die Wangen.
„Aber.“, begann sie und räusperte sich, um ihre Autorität wenigstens einigermaßen wieder herzustellen. „Die Couch muss reichen.“, schmetterte sie ihm möglichst gleichgültig entgegen und blickte demonstrativ zur Seite.


Sie hatte in der Nacht kaum ein Auge zu getan. Und jetzt, da ihr Wecker geklingelt hatte, fühlte sie sich einfach nur noch zerschlagen. Da sie ihm nicht im Spitzennachthemd in die Arme laufen wollte, hatte sie sich auch nicht getraut auf die Toilette zu gehen. Was zur Folge hatte, dass sie nun, die Beine steif verschränkt, versuchte aus dem Bett zu krabbeln und trotz allem noch elegant zur Toilette gelangen musste.
„Mist verdammter.“, stöhnte sie und hoffte inständig er möge bereits in der Küche weilen. Zu ihrem Leidwesen, saß er nur mit einer viel zu straff sitzenden Boxershorts bekleidet auf dem Sofa und blinzelte ihr verschlafen entgegen.
„Nicht an Wasserfälle, Regen, oder tropfende Wasserhähne denken.“, ermahnte sie sich in Gedanken und torkelte Richtung Badezimmer.
„Oh. Ich muss mal.“, grunzte es plötzlich hinter hier und schon wurde sie Beiseite geschoben und die Badetür mit einem lauten Rums direkt vor ihrer Nase geschlossen. Gleich darauf hörte sie es plätschern, dann ging die Klospülung und danach wurde auch noch der Wasserhahn betätigt.
„Oh Gott!“ Sina verschränkte angestrengt die Beine. Als die Tür sich wieder öffnete, wollte sie schon losstürmen, ging jedoch aufgrund mangelnder Beinfreiheit ungewollt in eine liegende Position über. Zu Füssen eines verdutzt dreinschauenden Adonis in zu engen Boxershorts, die auch wirklich gar keine Fragen offen ließen, lächelte sie gequält, stammelte etwas von eingeschlafenen Beinen und robbte ihrer Erlösung entgegen. Ihre Kraft reichte gerade noch, um der Tür mit einem Bein einen Stoß zu geben, damit ihre Schmach vor weiteren Blicken verborgen blieb.
Danach saß sie angesäuert und zu Tode beschämt am Frühstückstisch und blubberte Blasen in ihre kalte Milch.
„Nicht gut geschlafen?“ Vincent beäugte sie mitfühlend und nahm neben ihr Platz. Kein Zeichen von Belustigung. Langsam begann Sina sich wieder zu entspannen.
„Wir müssen dann los.“, bemerkte sie statt einer Antwort und griff nach ihren Autoschlüsseln.


Ihr Chef starrte beide immer noch entgeistert an. Er musste die Geschichte erst einmal sacken lassen, bevor er sich entschied, was nun zu tun war. Sina knetete nervös ihre Finger.
„Das ist also ihre Kaffeeleiche?“ Ihr Vorgesetzter zeigte geradewegs auf Vincent. Sina nickte.
„Die Geschichte ist ihr voller Ernst?“, hakte er noch einmal nach.
„Ich bitte sie darum.“, schaltete sich Vincent ein.
„Nun gut. An die Arbeit.“, verkündete er schließlich. „Den Bericht schreiben aber sie.“, brummte er Sina hinterher, als sie bereits das Büro verlassen hatten.
Aufgeregt stapfte sie in die Räumlichkeiten des Labors für Spurensicherung. Drei Augenpaare wandten sich sofort in ihre Richtung.
„Wir brauchen eine Untersuchung von Haar- und Blutproben. Außerdem habe ich noch ein paar Tüten mit Kleidung, die man durchkämmen müsste. Der Verdacht besteht auf ein Gift, das dem Opfer zugeführt wurde und einen massiven Rückgang der Körperfunktionen zur Folge hatte, aufgrund derer das Opfer fälschlicherweise für tot erklärt wurde.“ Sina ratterte ihren Bericht routiniert herunter. „Allerdings.“, fügte sie schließlich hinzu. „Das ganze unterliegt der höchsten Vertraulichkeitsstufe, bis der Fall aufgeklärt wurde. Aus Sicherheitsgründen.“ Ihr Hinweis führte zu einstimmigem Nicken. Danach stürmten sie mit Nadeln und Pinzetten bewaffnet geradewegs auf den verdatterten Vincent zu.
Lachend wandte sich Sina ab und überlies ihn seinem Schicksal. Jetzt konnte sie erst einmal nur Warten. Und hoffen, dass die Ergebnisse ihnen helfen würden, die Wahrheit herauszufinden.


Unruhig saßen die in dem kleinen Aufenthaltsraum der Pathologie und wartete auf die Laborergebnisse. Die Minuten krochen dahin und wurden zu Stunden. Stille hatte sich über sie gelegt. Sina saß, den Kopf auf die Arme gelegt, am Tisch und schielte zu Vincent hinüber.
„Wie war sie so, diese Geschäftspartnerin?“, wollte sie plötzlich wissen. „Ich meine wegen der Ermittlungen.“ Beeilte sie sich hinzuzufügen.
Vincent lächelte angeschlagen. „Anfangs schien sie mir ganz nett, eine Karrierefrau mit Prinzipien. Doch nach einer Weile ...“
Seine Stirn begann sich in Falten zu legen. „Sie wurde immer Besitz ergreifender. Telefonierte mir überall hinterher. Rastete aus, wenn ich zu spät zu einer Verabredung kam.“ Nervös fuhr er sich mit der Hand durch die Haare. „Meinen sie wirklich, sie könnte versucht haben mich zu vergiften?“
Kaum hatte er die Frage ausgesprochen klingelte Sinas Handy.
„Ja?“, meldete sie sich kurz angebunden. „Ist okay. Wir sind unterwegs.“, hastig stecke sie es wieder zurück in ihre Gesäßtasche und stand auf.
„Die Ergebnisse sind da.“ Sina spürte wie ihr Herz bis zum Hals schlug. Ob sie mit ihrer Vermutung recht behalten würde?
Als sie das Labor erreichten, wartete bereits einer der Mitarbeiter auf sie und drücke ihr wortlos einen Stapel Blätter in die Hand. Die Seiten waren gefühlt mit eng aneinander gereihten Zahlen und Buchstaben, dazwischen Namen, die Vincent nichts sagten.
„Und?“, wollte er nach schier endlosen Minuten wissen, in denen Sina schweigend die Notizen überflog.
„Ich hatte recht.“, bemerkte sie da auch schon. „In ihrem Blut befand sich Tetrodo-Toxin.“ Hastig blätterte sie weiter. „Das ist seltsam.“, nuschelte sie und kratze sich nachdenklich am Kinn.
„Was?“ Vincent starrte sie ratlos an. „Und was in Tetroxin?“
„Tedrodo-Toxin!“, verbesserte ihn Sina. „Das ist ein Gift, dass unter anderem in den Innereien von Kugelfischen vorkommt. Es lähmt die Körperfunktionen, bis hin zum Tod. Das seltsame ist allerdings, dass sich in ihrem Blut auch Atropin befindet. Sozusagen eine Art Gegengift.“ Aufgeregt raschelte sie mit den Seiten. „Das ergibt keinen Sinn, wieso sollte sie jemand vergiften und gleichzeitig ein Gegengift geben?“
Vincent zuckte mit den Schultern. „Dann hat also jemand versucht mich umzubringen?“ Halb fragend starrte er sie an.
Sina nickte. „Es sieht jedenfalls danach aus. Obwohl ich zugeben muss, dass mir die Sache mit dem Gegengift Kopfzerbrechen bereitet.“
„Und wie?“, wollte Vincent wissen, während er sich vor Nervosität begann an den Armen zu kratzen.
„Oh, das ist einfach. Das Gift ist farb- und geruchslos. Es könnte als Pulver an Türgriffe angebracht werden und über kleinste Verletzungen in den Organismus gelangen.“ Sina musterte ihn von oben bis unten. „Können sie sich erinnern, ob ihnen eventuell schlecht gewesen ist oder es sie irgendwo ungewöhnlich stark gejuckt hat?“
Vincent schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern. „Ja, ich glaube da war was.“ Ängstlich starrte er auf die roten Flecke, die sein nervöses Kratzen bereits auf der Haut hinterlassen hatten. „Gejuckt hat es mich zwar nirgends, aber mir war schlecht. Ich habe es für eine Erkältung gehalten.“
„Fieber?“, hakte Sina nach.
„Hatte ich wohl auch, ja.“ Vincent, sah ihr verloren in die Augen. „Und jetzt?“
„Wir werden in ihrer Wohnung auf Spurensuche gehen. Alles was sie an diesem Tag berührt, gegessen oder getrunken haben, müssen wir eintüten und untersuchen lassen. Außerdem werden wir Abstriche von ihren Türgriffen, der Computertastatur und anderen Gebrauchsgegenständen machen müssen.“ Aufgeregt begann sie mit den Füssen zu wippen.
„Ich soll in meine möglicherweise vergiftete Wohnung zurück?“ Fassungslos wich Vincent vor ihr zurück.
„Ganz ruhig. Wir werden Schutzkleidung tragen. Atemschutz und Handschuhe. Sie zeigen mir nur, was sie an dem Tag alles gemacht haben. Das Probennehmen übernehme ich.“ Sina drehte sich schnell Beiseite, damit Vincent nicht ihr amüsiertes Grinsen bemerkte.
„Kommen sie.“, befahl sie und stolzierte voraus.


Sina war überwältigt. Sie befand sich im teuersten Viertel der Stadt und war gerade aus einem Fahrstuhl in eine riesen Penthousewohnung getreten.
„Das ist ...“, begann sie und sah sich mit großen Augen um. „Beachtlich.“, stammelte sie und trat an die bodenlangen Fenster, die einen atemberaubenden Blick auf den Park preisgaben.
„Ja, nicht.“ Vincent stellte sie neben sie und seufzte. „Nur ob ich hier nach der ganzen Geschichte jemals wieder in Ruhe Schlafen können werde, weiß ich noch nicht.“
Argwöhnisch sah er sich um. „Die Putzfrau scheint nichts angerührt zu haben, nachdem sie mich gefunden hat. Es ist noch alles so, wie ich es in Erinnerung habe. Soweit ich mich erinnern kann.“ Vincent trat an seinen Wohnzimmertisch und deutete auf eine inzwischen mehr als kalte Tasse Tee. „Das hier sollten sie dann wohl auch eintüten.“
Sina nickte und stellte ein silbernes Aluminiumköfferchen auf den Boden. Als der Deckel klackend nach oben sprang, kamen unzählige Tüten, Glasröhrchen und Pipetten zum Vorschein.
„Frisch ans Werk.“, witzelte sie und begann mir ihrer Arbeit.
Akribisch nahm sie von allem Proben, was ihr wichtig erschien. Einschließlich dem spärlichen Inhalt des Kühlschranks. Bier, eine halb leere Packung Chickenwings vom Lieferservice und etwas, das wohl zu bessern Zeiten ein Apfel gewesen sein sollte, jetzt jedoch eher wie der Blob aus einer anderen Welt aussah.
Nachdem sie das Bad abgegrast hatte, trat sie ins Schlafzimmer und sah aus den Augenwinkeln heraus gerade noch, wie Vincent etwas, das entfernt aussah wie ein Leopardenstring, unter das Bett schob.
„Hier wird wohl, denke ich, nicht viel zu holen sein.“, räusperte er sich.
Sina grinste ihn breit an. „Ich sollte auf jeden Fall einmal unter dem Bett nachsehen, es rollen ja immer wieder Dinge darunter, die man dann vergisst.“
Vincent entsetztes Gesicht, gefolgt von einer geradezu erheiternden Röte, lies sie mit noch größerer Genugtuung in die Hocke gehen, um kurz darauf das mysteriöse Kleidungsstück mit gespielt entsetztem Blick zurück ans Tageslicht zu befördern.
„Das müssen wir auch eintüten. Man weiß ja nie.“, schmunzelnd packte sie die Modesünde in eine braune Papiertüte und beschriftete sie.
Privat, kritzelte sie eilig darauf und freute sich schon auf sein Gesicht, wenn sie im die Tüte später wortlos zurückgeben würde. Dann fiel ihr Blick auf eine kleine Flasche, die unscheinbar auf dem Nachtisch stand.
„Woher kommt das?“, wollte sie in ernstem Tonfall wissen.
„Ich habe mich schon seit einer Woche schlecht gefühlt. Hatte nachts Husten. Mein Arzt hat mir deshalb dieses Hustenelixier empfohlen.“ Vincent sah ihr neugierig über die Schulter, während Sina ausgiebig die Inhaltsstoffe studierte.
„Und seit wann haben sie diesen Hustensaft genommen?“ Abrupt drehte sie sich um.
„Seit fünf Tagen, drei bis viermal täglich 15ml. Das war die Empfehlung des Arztes.“ Vincent musterte das braune Fläschchen in Sinas Hand fragend.
„Wieso?“, verunsichert griff er nach der Verpackung des Hustenelixiers, die immer noch auf dem Nachtisch stand.
„Ganz einfach. Das Hustenelixier enthält als Wirkstoff Atropin. Dieser Hustensaft hat ihnen vielleicht das Leben gerettet. Da sie ihn schon eine Zeit lang zu sich genommen haben, hatten sie wohl genug davon im Blut, um die Wirkung des Tetrodo-Toxins zu mildern.“
Vincent sah abwechselt von Sina zu dem Fläschchen und dann wieder auf die Verpackung in seiner Hand.
„Ich verdanke mein Leben einem Hustensaft.“, bemerkte er trocken und begann zu lachen.
„Sieht ganz so aus.“, kicherte Sina und lies sich auf’s Bett sinken.
Gluckernd gab die Matratze nach.
„Oh!“, stutzte sie, während sie zwischen der Bettdecke versank.
Doch noch bevor sie sich weiter mit dem wogen Wasser unter ihrem Hintern beschäftigen konnte, fiel ihr Blick auf etwas, dass sie wie von einer Tarantel gestochen aufspringen lies.
„Was?“ Vincent starrte sie erschrocken an.
Doch statt einer Antwort kramte Sina in ihrem Koffer nach einem sterilen Wattestäbchen und tupfte damit behutsam über das Kopfkissen.
„Als ich nach hinten gesunken bin, hab ich ein feines Pulver auf dem Kissen bemerkt. Aber keine Angst, der Mundschutz schützt uns ausreichend.“ Hoch konzentriert steckte die das Wattestäbchen in eine gläserne Ampulle und verschloss das ganze.
„Wir gehen.“ Klackend klappte sie den Deckel ihres Koffers zu und hob ihn vorsichtig hoch.
„Ich denke wir haben alles was wir brauchen.“
Verunsichert folgte ihr Vincent in den Fahrstuhl. „Das war es, ein bisschen Pulver auf dem Kopfkissen?“
Sina nickte nachdenklich. „Vermutlich.“
Etwas wollte hier nicht recht zusammenpassen.


Die Laborwerte bestätigten Sinas Vermutung. Bei dem Pulver auf den Kopfkissen handelte sich, um das gesuchte Gift. Doch wie war es dort hin gelangt? Der kleine Tisch an dem sie Platz genommen hatten, wackelte, als Sina sich leicht vorbeugte um die Papiere zu prüfen.
„Sie hatten wann genau ihre Beziehung zu dieser Frau beendet?“ Sina sah von ihren Unterlagen auf und musterte Vincent unverhohlen.
„Vor vier Wochen.“, kam seine knappe Antwort.
„Und seither war sie nicht mehr in ihrer Wohnung. Sie hatte keinen Schlüssel?“, wollte sie weiter wissen.
Vincent schüttelte den Kopf.
Da war es wieder, die Sache, die nicht zusammen passen wollte. Unruhig blätterte sie ihre Akte durch. Alles begann damit, dass die Putzfrau ihn fand.
Sina stockte. „Seit wann arbeitet ihre Putzfrau für sie?“
Vincent kräuselte ratlos die Augenbrauen. „Seit zwei Monaten. Wieso?“
„Erst.“, bemerkte Sina, während sich eine leise Ahnung in ihren Gedanken ausformte.
„Ja. Sie wurde mir wärmstens empfohlen von ...“ Vincent stockte.
„Von ihrer Geschäftspartnerin, Schrägstrich Affäre.“, beendete Sina seinen Satz.
Vincent schluckte. „Ja.“, wisperte er und sank in seinem Stuhl zusammen.
„Da haben wir die Verbindung.“ Hastig klappte sie die Akte zu und packte alles zusammen. „Wird Zeit, dass wir den Fall an die Polizei weiterreichen.“
Stolz auf ihren Scharfsinn lächelte sie Vincent zu, doch außer einem schwachen Nicken kam keine Reaktion.
Missmutig sah sie auf ihn. „Sie können hier warten. Ich werde mich alleine darum kümmern.“, eilig rannte sie aus ihrem Büro. Vincent lauschte, bis ihre Schritte auf den Fluren verhalten, dann lies er stöhnend den Kopf auf den Tisch sinken.
Sina hatte es so eilig, dass sie die rundliche Frau nicht bemerkte, die sich ihr aus einem der Flure näherte. Erst als ihr ein Putzwagen direkt vor die Füße gefahren wurde, sah sie sich die Person genauer an. Eine Putzfrau. Sina spürte wie ein mulmiges Gefühl in ihr hochstieg.
„Alles okay.“, versuchte sie sich flüsternd zu beruhigen.
Die Augen der Alten hafteten an ihr wie eine unheilvolle Vorhersehung.
„Ja?“, krächzte sie und wartete auf eine Reaktion der Frau.
„So nicht, Kindchen.“, knurrte die Alte da plötzlich und hob ihren Besen in die Luft. Noch bevor Sina schreien oder in Deckung gehen konnte, spürte sie einen heftigen Schlag an ihrer Schläfe, der ihr die Besinnung raubte. Hastig packte die Alte ihren schlaffen Körper und hievte ihn in den großen Müllsack, der auf ihrem Wägelchen zwischen einem Metallgerippe eingespannt war. Dann band sie das Paket mit einer festen Schnurr zu und setzte den Wagen quietschend in Bewegung.


Zwei Stunden hatte Vincent in dem kleinen Büro auf Sinas Rückkehr gewartet, doch scheinbar hatte sie ihn vergessen. Er hörte, wie viele ihrer Kollegen bereits zum Feierabend aufbrachen und beschloss, sich nach ihr zu erkundigen.
Ein Mann, hager, mit struppigen Haaren kam direkt auf ihn zu, als er aus dem Büro trat.
„Oh. Der lebende Tote.“, wurde Vincent gegrüßt und musste lächeln. Er nickte.
„Wissen sie wo ihre Kollegin Sina sich befindet. Sie scheint mich vergessen zu haben.“ Vincent sah den Mann vor sich abwartend an, doch der schüttelte nur den Kopf.
„Tut mir leid. Da vorne um die Ecke ist die Zentrale, die überwachen hier alles. Wenn die nicht wissen, wo Sina abgeblieben ist, weiß es keiner.“ Und schon verschwand der Mann in seinen wohlverdienten Feierabend.
Unsicher machte sich Vincent auf den Weg zur Zentrale. Doch das um die Ecke, erwies sich als minutenlanger Marsch bis zum Personaleingang. Und die Zentrale selbst entpuppte sich als kleiner Pult, an dem ein bebrilltes Männchen vor einen Monitor saß und fragend zu ihm aufblickte, als er vor ihm zum Stehen kam.
„Ich suche eine Mitarbeiterin. Sina.“, begann Vincent ohne Umschweife.
„Sina?“, näselte der Mann und sah ihn fragend an.
„Aus der Pathologie.“ Erst jetzt fiel ihm auf, dass er kaum etwas über Sina wusste. Nicht einmal ihren Nachnamen.
„Ah, sie meinen das Fräulein Geiger. Die ist hier nicht vorbei gekommen.“ Die Antwort verwirrte Vincent.
„Sie wollte etwas bei der Polizei erledigen und wieder kommen.“, hakte er nach. Doch das Männlein schüttelte energisch den Kopf.
„Nein. Fräulein Geiger hat nach meinen Unterlagen das Gebäude nicht verlassen.“, bemerkte er nach einem Blick auf seinen Monitor.
„Gibt es nicht noch einen anderen Eingang, vorne, den Haupteingang.“ Vincent spürte wie ihn langsam die Geduld verlies.
„Das Polizeirevier liegt direkt gegenüber vom Personaleingang. Es wäre ein unsinniger Umweg über den Haupteingang zu gehen.“ Damit schien die Sache für den Mitarbeiter der Zentrale erledigt zu sein, doch Vincent gab nicht nach.
„Sind sie sicher, sehen sie noch mal nach.“, bohrte er weiter.
„Ich sagte doch bereits, sie ist hier nicht durchgekommen. Die gesamte Pathologie, Frau Schneider aus dem Labor und die Putzfrau haben bereits ihren Feierabend angetreten und sich mit ihren Chipkarten abgemeldet, der Rest befinden sich noch im Haus.“ Das Männlein schob in einer flinken Bewegung seine Brille zurecht und starrte Vincent herausfordernd an.
„Sagten sie gerade Putzfrau?“ Vincents Stimme überschlug sich. Es konnte doch nicht sein, oder?
„Haben sie irgendwo Bilder ihres Personals?“, wollte er wissen und drängte sich zu dem kleinen Mann hinter dem Bult.
„Ja!“, zischte der als Antwort und betätigte hastig ein paar Tasten auf seiner Tastatur. Ein kurzes Flimmern huschte über den altersschwachen Monitor, dann erschien darauf ein Foto zwischen unbekannten Gesichtern, das Vincent das Blut in den Adern gefrieren lies.
„Nicht, dass es sie überhaupt etwas angehen würde.“, meckerte das Männchen, doch Vincent war nicht mehr ansprechbar. Ein Aufschrei ging durch seinen Körper, der ihn augenblicklich in Bewegung kommen lies.
„Sina.“, donnerte es durch jede noch so kleine Windung seines Gehirn, dann rannte er los.


Er hätte sie nicht alleine gehen lassen dürfen. Sie hatte ihm beigestanden und er hatte nicht einmal gewusst, wie sie mit Nachnamen hieß. Geiger, Sina Geiger, wiederholte er in Gedanken immer wieder, um nicht den Verstand zu verlieren. Er hätte zur Polizei gehen können, doch wie viel Zeit wäre dann verloren gegangen, bevor tatsächlich etwas unternommen wurde. Er hätte ihnen erst einmal erklären müssen, was vorgefallen war. Unmöglich, er hatte nicht einmal die Hälfte von dem Verstanden, was Sina herausgefunden hatte. Nur eines wusste er genau, und zwar wo er nach ihr zu suchen hatte.
Todesmutig sprang er auf die Straße und stürzte sich vor ein Taxi.
„Eliesenstraße 9.“, schrie er beinahe, während er nach Luft schnappte.
Als sich das Taxi ruckelnd in Bewegung setzte, zermarterte er sich das Hirn darüber, was er als nächstes tun sollte. Zuerst musste er Sina retten, um jeden Preis. Bilder von ihr in einem Spitzenunterhemd vor ihm auf den Boden liegend tauchten vor seinem inneren Auge auf. Er musste lächeln, wenn er daran dachte. Doch als er sich ins Gedächtnis rief, was ihr alles passiert sein mochte, schmolz sein Lächeln zu einem paar angespannter Lippen zusammen.
Als das Taxi anhielt, drücke er dem Fahrer abwesend 100 Euro in die Hand und stieg aus. Verdattert blickte der bärtige Mann auf den Schein und steckte ihn dann schulterzuckend ein.
Das kleine Häuschen lag direkt vor ihm. Lange Schatten von der untergehenden Sonne schlichen sich um das Haus. In einem der Fenster leuchtete ein Licht auf, Umrisse gingen davor auf und ab. Vincent kannte diese Gestalt.
Mit bleiernen Schritten trat er auf die Türschwelle und strecke die Hand nach der Klingel aus, doch dann hielt er inne. Was wollte er tun?
Noch bevor er sich entschieden hatte, öffnete sich ruckartig die Tür vor seiner Nase und eine Frau, gehüllt in ein rotes Leinenkleid stand grienend vor ihm.
„Na, sieh mal einer an, wenn mir das Schicksal da wieder anspült.“ Ihr Lachen durchbrach die Ruhe des Abends. Als Vincent nicht reagierte, zuckten ihre grellroten Lippen aufgebracht.
„Komm rein.“, säuselte sie und trat zur Seite.
Kaum hatte er beide Füße über die Schwelle gesetzt, schlug die Haustür hinter ihm zu. Hecktisch wanderte sein Blick durch den Raum.
„Sie ist im Keller. Falls du das kleine Mäuschen suchst, dass in unsere Falle getappt ist.“ Ihre roten Lippen verzogen sich zu einem bösartigen Lachen.
„Hunger?“, fragte sie unvermittelt in honigsüßem Tonfall. Vincent spürte wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Er schüttelte den Kopf.
„Ohne Fuhgo, versprochen.“ Ihr sirenenartiges Gelächter verursachte ihm Übelkeit. Erst ein Schrei, rüttelte ihn wieder auf.
„Sina.“, mit wenigen Schritten war er bei einer alten Holztür, die er stürmisch aufriss. Dunkelheit und ein blasser Lichtschein drangen aus der Tiefe.
Er hastete die Stufen hinunter und blieb abrupt stehen. Die Alte hielt Sina ein Messer an die Kehle und fuhr sich dabei mit der Zunge genüsslich über die Lippen. Es hatte etwas grotesken, das Bild das sich ihm bot. Eine alte Glühbirne baumelte über den Beiden und warf wankende Schatten auf ihre Züge. Sina blinzelte durch das Blut, das ihr über die Augen lief, zu ihm hinüber. Wütend ballte er die Fäuste.
Ein Knarren hinter ihm schreckte ihn herum.
„Ihr kennt euch ja bereits. Mutter mein Ex, Ex meine Mutter und dazwischen ein kleiner Pechvogel, der eigentlich gar nichts damit zu tun hat. Oder?“, sie sah Vincent scharf an.
Sina starrte mit trüben Augen zu den beiden. Das war sie also, seine Affäre. Sie hatte ihm einen besseren Geschmack zugetraut.
„Mein Name ist übrigens Isabella.“, stellte sich das rote Weibsbild vor und trat näher an Sina heran. Ihre knochigen Finger streiften im Vorübergehen Vincents Schenkel.
„Nicht doch.“, knurrte sie, als er auswich. Er musste etwas tun.


Sina würgte an dem Stofffetzen, den man ihr in den Mund gesteckt hatte, ihr war schlecht. Die Welt drehte sich um sie und sie schmeckte bereits die Galle in ihrem Mund.
„Lass sie gehen.“ Vincent versuchte seiner Stimme die nötige Festigkeit zu geben, doch seine Augen flackerten nervös hin und her.
„Dann bleibe ich hier.“ Es kostete ihn Überwindung die Worte auszusprechen, auch wenn sie nur einem Zweck galten: Sina hier raus zu schaffen.
„Und dann?“, hakte Isabella nach und zog eine rote Schnute.
„Wirst du mir dann sagen, wie sehr du mich begehrst?“ Koket warf sie ihre Haare zurück und schmiegte sich an ihn.
Die Alte lachte, als sie ihrer Tochter zunickte. Langsam lies sie das Messer sinken.
Vincent schluckte. „Ja!“, wisperte er und verschluckte sich beinahe an dem Wort.
„Lass sie gehen.“, brüllte Isabella plötzlich und winkte ihrer Mutter zu. Die Alte zeigte ein garstiges Lachen und schwang das Messer. Ein schneidender Schmerz durchzuckte Sina, als die Klinge nicht nur ihre Fesseln durchtrennte, sondern auch ihre Haut anritzte.
„Geh, Kindchen.“ Die Alte gab dem Stuhl einen Stoß. Sina stürzte nach vorn und landete unsanft auf ihren Knien. Ungeschickt rappelte sie sich auf und wankte zur Treppe. Ihr Augenlicht flackerten und ihr Schädel dröhnte bei jedem Schritt. Sie konnte etwas Bitteres auf ihren Lippen schmecken, noch bevor sie registrierte was geschah. Sie musste sich übergeben, genau auf die rote Furie, die kreischend zur Seite sprang, direkt in das offene Messer, das ihre Mutter noch immer in Händen hielt. Rot vermischte sich mit Rot. Dann sank Sina in sich zusammen.


„Entführer niedergekotzt.“, lautete die aussagekräftige Überschrift, als sie die Zeitung aufschlug. Sina konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Jetzt da sie sich frisch gebadet und verarztet in ihrem Bett befand, hatte sie genug Zeit gehabt sich über ihren unfreiwilligen Ruhm Gedanken zu machen. Isabella wurde schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert, ihre Mutter hatte man gleich in eine Anstalt gebracht. Und Vincent? Es würde sie wundern, wenn er nach der ganzen Geschichte nicht buchstäblich die Nase von ihr voll hatte.
Grummelnd schmiss sie die Zeitung in eine Ecke und zog sie sich die Decke über die Nase.
Ihre Schwester war gleich zu ihrer Hilfe geeilt und bot sich an, Sina zu pflegen, bis es ihr wieder besser ginge. Doch es waren nicht die körperlichen Defizite, die ihr zu schaffen machten. Gerade jetzt hörte sie ihr Schwesterherz mit jemandem sprechen und spitzte die Ohren.
„Störe ich?“ Eine wohlbekannte männliche Stimme lies sie zusammenzucken.
„Ich gehe dann.“, verabschiedete sich auch schon ihre Schwester und warf dem Mann im Türrahmen einen wohl wissenden Blick zu.
Perplex musterte Sina die Gestalt, die mit einem üppigen Blumenstrauß vor ihrem Bett halt machte.
„Als DANK für die Rettung.“, erklärte sich der Mann und hielt ihr den Blumenstrauß vor die Nase. Sina spürte die Hitze, die ihr bis in die Ohren stieg. Da stand ihr lebender Tote, wie aus dem Ei gepellt vor ihr und hielt ihr duftende Blumen vor die Nase, obwohl sie ihn vor noch nicht so langer Zeit unrühmlich bekleckert hatte.
„Oh Gott.“ Sina zog sich die Decke ganz über den Kopf und presste die Augenlider fest zusammen. Scham beschrieb nicht im Mindesten, was sie Angesicht der Geschehnisse der letzten Tage empfand.
Als die Matratze neben ihr nachgab, lugte sie überrascht unter der Decke hervor. Die Blumen lagen auf dem Nachtisch und direkt auf Nasehöhe befand sich ein äußerst reizvoller Schritt. Erschrocken zog sie den Kopf zurück und erntete ein leises Lachen.
„Dabei wollte ich doch dich retten.“, murmelte Vincent und beugte sich so nah zu ihr herunter, dass sein Atem sie kitzelte.
„Dich?“, schoss es durch ihre Gedanken. Doch viel weiter kam sie nicht, denn alle anderen Überlegungen wurden von einem sanften Kuss beiseite gefegt.
„Was war das?“, stammelte sie und wagte es nicht ihm in die Augen zu sehen.
„Ein Anfang?“ Vincent musterte sie abwartend. Vorsichtig strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht und küsste die Beule, die an ihrer Schläfe prangte.
„Von was?“, wollte Sina halb benebelt wissen.
„Na, von dem zum Beispiel.“ Sachte umschloss er ihr Gesicht mit seinen Händen und küsste sie erneut, nur diesesmal lies er sie nicht wieder los.


Als sie blinzelnd die Augen öffnete, standen ihre Blumen hübsch drapiert in einer Vase. Das Bett war zerwühlt, genauso wie ihre Haare und ihre Gefühle. Das Geräusch von klapperndem Geschirr lies ihr jedoch keine Zeit zum grübeln. Langsam öffnete sich die Schlafzimmertür.
„Guten Morgen.“ Vincent strahlte ihr entgegen und stellte ein Tablett auf ihrem Schoss ab. Zwei große Becher brauner Brühe standen darauf.
„Mein Spezialkaffee.“, erklärte Vincent und kuschelte sich wieder zu ihr unter die Decke.
Misstrauisch beäugte Sina die Flüssigkeit und hob die Tasse unter ihre Nase. Er duftete himmlisch.
„Übrigens ...“, fiel es ihr plötzlich ein, als sie den ersten Schluck getrunken hatte. „Das hier gehört glaube ich dir.“, stellte sie fest und griff neben sich unter das Bett. Zum Vorschein kam eine braune Papiertüte, mit der krakeligen Aufschrift: Privat.


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Tag der Veröffentlichung: 28.09.2010

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