'Lass es mich doch erklären!'
Der Ruf verklang ungehört an der sich schließenden Türe.
Langsam drehte sie sich um, ihre Schultern, die bis gerade eben noch angespannt waren sanken leicht nach unten und sie ließ den Kopf hängen.
Ein Schatten lößte sich leise von der Wand hinter ihr und kam langsam auf sie zu. Zwei kräftige Hände umfassten ihren Hals, wanderten zu den Schultern und fingen an, sie leicht zu massieren.
'Er hat es nicht verstanden', erklang eine leise, rauhe und doch sehr melodische Stimme hinter ihr. 'Er wird es nie verstehen, weil er es nicht sehen kann. Und so oft du es ihm auch noch erklärst, er wird immer wieder so davon stürmen, weil er es einfach nicht versteht.'
Die Hände umfassten wieder ihren Hals und richteten dadurch ihren Kopf nach oben.
'Blick geradeaus, und nicht nach unten. Denn das wäre ein Fehler, Kleines.'
Sie spürte noch einen sachten Hauch eines flüchtig auf ihren Hals gepressten Kusses und spürte, dass er verschwunden war. Und im Gegensatz zu seinem Vorgänger war er leise gegangen, ohne einen Laut. Nicht einmal die Tür hatte sich geöffnet. Wie immer.
Sie seufzte gequält auf, aber er hatte Recht, sie würde nicht nach unten schauen. Das war ein Fehler gewesen.
Noch einmal seufzte sie auf, noch gequälter als zuvor, doch diesmal straffte sie ihre Schultern, hob den Kopf und ihre Augen verrieten nichts mehr von dem, was in ihr tobte.
Langsamen Schrittes ging sie auf die Tür zu, setzte die Sonnenbrille auf und watete in das gleißende Sonnenlicht von draußen....
'WIE OFT SOLL ICH DIR DAS NOCH SAGEN? DU KLEINE SCHLAMPE!!!!!'
Die darauf folgende Ohrfeige ließ das kommende Gebrüll verklingen. Ihr dröhnte der Schädel, aber keine Träne kam aus ihren Augen. Kein Ton über ihre Lippen, nicht ein Laut ließ sie vernehmen, auch wenn es keiner gehört hätte. Und interessiert hätte es erst recht keinen.
Sie hatte ihre Chance gehabt, dem zu entkommen, aber sie musste noch etwas zu erledigen, und bis dahin ließ sie all das über sich ergehen, ertrug es ohne einen Laut, als ob sie nur eine Puppe wäre.
Der stark angetrunkene Mann ließ nun all seinen Frust an ihr ab. Sie spürte die Schläge kaum, merkte nicht, wie ihre Haut unter den harten Schlägen aufplatzte, auch nicht, wie die Schuhkappen ihr fast die Rippen brachen. Sie spürte und sah von all dem nichts mehr.
Erst als sie blutend und bewusstlos am Boden lag, ließ der Mann von ihr ab, drehte sich zu seiner Frau um, die in der Ecke stand und brüllte sie weiter an. Diese flüchtete in die Küche und brachte ihm ein neues Bier.
Jeden Abend war es das Gleiche. Sobald die Kleine von draußen wiederkam, ging das Gebrüll und die Schläge los. Denn nie verriet sie, wo sie sich nach der Schule rumgetrieben hatte. Nie kam ein Wort über ihre Lippen. Sie hatte noch nie ein Wort gesagt, seit ihre Mutter den neuen Mann hatte. Wenn man ihn überhaupt so nennen konnte.
Und ihre Mutter war zu schwach und hilflos, um sich zur Wehr zu setzen. Innerlich war sie froh, dass er ihr noch nie etwas getan hatte. Und doch tat ihr ihre Tochter leid, aber was sollte sie denn machen?
Jeden Abend huschte sie heimlich in ihr Zimmer und bekniete sie, doch nie wieder zu kommen, sonst würde er sie irgendwann noch zu Tode prügeln. Aber andererseits hoffte sie jeden Abend, dass sie wieder kam, still und leise, ohne ein Wort, sodass er seine Wut an der Kleinen ausließ, und nicht an ihr.
Irgendwann sehr viel später in der Nacht, der Mann und die Frau waren irgendwann eingeschlafen, er in seinem Suff, sie sich in den Schlaf weinend, leise und heimlich, wissend, dass sie ihrer Tochter nicht helfen konnte, die immer noch bewusstlos in dem Zimmer lag, regte sich die kleine Gestalt auf dem Boden. Langsam und unter großen Schmerzen versuchte sie sich aufzurichten, doch ihr Körper hatte keine Kraft mehr. Sie hatte sich in den letzten Wochen, Monaten zu sehr verausgabt.
Ein leichtes Wimmern kam über ihre Lippen, doch sie presste sie sofort wieder zusammen. Keiner durfte sie hören. Nicht die zwei Menschen, die sich ihre Eltern nannten, noch die, die unten lauerten. Sie hätten sich sonst sofort über sie hergemacht, und dann wären die Schläge und Tritte nur leichte Blessuren.
Also biss sie die Zähne noch fester zusammen, ballte all ihre innere Kraft zusammen und zog sich langsam auf die Knie und dann auf ihre Füße.
Schweißgebadet klammerte sie sich an der Wand fest, legte den Kopf an die raue Tapete und schloss die Augen. Irgendwie musste sie die Schmerzen niederkämpfen, die in Wellen durch sie schossen, hervorgerufen durch die Schläge und Tritte, und dem, was in ihr tobte und unbedingt rauswollte.
Langsam und behutsam zog sie sich ihre Jacke drüber, ihre Schuhe hatte sie noch an, da sie gestern nicht mehr dazu kam, sie auszuziehen.
Leise schloss sie die Tür hinter sich, setzte die Sonnenbrille auf und wankte durch die stille Mondnacht.
Sie erreichte noch den Rand der Stadt, dann verließen ihre Kräfte sie. Sie schloss nur kurz ihre Augen und versank erneut in tiefe Bewusstlosigkeit.
Noch während sie fast wie in Zeitlupe umzuknicken schien, schoss ein Schatten auf sie zu, fing sie auf und hob sie hoch, wie wenn sie nicht zu existieren schien.
Keiner sah die beiden durch die Straßen gehen, niemand bekam mit, wie zwei starke Arme die kleine Gestalt fest hielten während eine Träne auf das bewusstlose Gesicht fiel.
Langsamen Schrittes ging er mit der Kleinen Stück für Stück weiter in die Dunkelheit. Und nach einer Stunde stand er endlich da, wo er hinwollte.
Hier herrschte absolute Dunkelheit. Es war, als wäre er mitten ins Nichts gegangen. Kein Stern war am Himmel zu sehen, kein Lichtschimmer am Horizont. Kein Laut regte sich in der totalen Finsternis, nichts, was auf Leben hätte schließen können. Und genau hier fühlte er sich am wohlsten, hier konnte er vollkommen sein, in dieser Dunkelheit, die er durchdrang mit seinen Augen, mit seinem Körper.
Der Schatten war überall, in der Luft, die sie atmete, in den Armen, die sie zärtlich hielten, und auch in den Tränen, die sachte durch die pechschwarze Nacht fielen, doch beim Aufkommen keinen Laut verursachten. Er umgab sie, mit allem, was er war, was er zu sein schien und was in ihm war.
Die Kleine in seinen Armen regte sich nicht, wenn er ihren Herzschlag nicht spüren und sehen könnte, hätte er sie für tot gehalten.
Und so tat er das einzige, was er tun konnte, um ihr Leben zu retten, dass langsam aus ihrem geschundenen Körper rann, und dessen Herz bei jedem krampfhaften Schlag langsamer wurde...
Er beugte seinen Kopf langsam in ihre Richtung und legte sanft seine Lippen auf ihre, immer noch sachte die Arme um sie legend. Sie würde nie wieder seine Hände auf ihren Schultern spüren, nie wieder seine Stimme hören, wenn sie auf ihrer Suche einen Schritt weiter gekommen wäre. Vielleicht würde sie es irgendwann erfahren, es spüren, und ihn dann dafür hassen. Aber er wollte sie nicht verlieren. Sie durfte nicht sterben.
In dem Augenblick, in dem seine Lippen auf ihren auftrafen und sich zu einem Kuss verschmolzen, seine Hände noch ein letztes Mal ihre Schultern berührten und ein sanftes Seufzen erklang, in diesem Moment kam das Licht wieder.
Die Sterne waren am Himmel zu sehen, der Mond erhellte die Szenerie und am Horizont sah man die Lichter der Stadt funkeln.
Im Zeitlupentempo sank die Kleine zu Boden und blieb regungslos liegen. Nur ein sachtes Schütteln ging durch ihren Körper. Nach etlicher Zeit öffnete sie ihre Augen. Und was sie sah, jagte ihr Angst ein.
Die Welt hatte sich verändert. Nichts war mehr wie es war. Und tief in sich spürte sie, wie zwei Mächte miteinander rangen. Und sie spürte, dass kein Schatten mehr hinter ihr sein würde, der sie sachte wieder aufrichtete. Auf seine ganz eigene Art und Weise.
Mühelos richtete sie sich auf und streckte sich erst einmal. Ihre Schmerzen schienen der Vergangenheit anzugehören. Und auch das Monster in ihr schien sich beruhigt zu haben, zumindest machte es keinen Versuch, auszubrechen. Und das gab ihr wieder viel Kraft, die sie sonst immer zum Bekämpfen benötigt hatte.
Langsam schaute sie sich um. Es war anders... irgendetwas stimmte nicht, aber sie wusste nicht, wie sie die Situation einordnen sollte.
Langsam und vorsichtig setzte sie einen Schritt vor den anderen.
Der Boden schien sich ihren Schritten anzupassen, sich nach ihr auszustrecken und sie irgendwo hinführen wollen. Aber sie verstand die Richtung nicht. Zu neu waren die Empfindungen, die auf sie einströmten, zu fremd war ihr Körper, der plötzlich anders funktionieren zu schien. Vorsichtig streckte sie ihre Arme zur Seite und sah schon fast die Energie, die sie umgab, und die sich an sie zu schmiegen schien.
Was war nur passiert?
Und tief in sich drin spürte sie die Antwort, spürte Empfindungen, die nicht von ihr zu kommen schienen, und doch ihr gehörten... und sie sah eine Träne lautlos zu Boden fallen...
Sie wusste nicht, wie sie es zurück zu ihrer Behausung geschafft hatte. Sie spürte nur die harte Tür in ihrem Rücken, als sie leise in die Wohnung huschte, um von hellem Licht und einer harten Faust in ihrem Gesicht eingeholt zu werden.
Ihre Sonnenbrille fiel leise klirrend zu Boden, doch niemand außer ihr hörte den sanft klingenden Ton, keiner hörte, wie es leise aber eindringlich um sie herum sang, wie Melodie sie umgab und ihr das tiefe Gefühl des Friedens gab, etwas, was sie, seit sie denken konnte, nicht mehr spürte.
Nach dem dritten harten Schlag hob sie leicht den Kopf und schaute ihrem Peiniger tief in die Augen. Und was sie sah, ließ sie für einen Moment schwanken.
Es war nicht nur der Hass, der mit einer Gewalt auf sie einströmte, sondern all das, was sie glaubte, noch nie gesehen zu haben. Gefühle, die so stark auf sie niederprasselten, dass es ihr die Luft nahm.
Panikerfüllt griff sie sich an den Hals, keuchte kurz auf, während sie weiterhin den Blick starr auf die Augen des Mannes gerichtet hielt.
Dieser konnte sich auf einmal nicht mehr rühren. Man sah, wie aus seinem Blick der Hass wich um tiefer, abgrundtiefer Furcht Platz zu machen.
Die darauffolgende Stille war gespenstisch. Sowohl für die Kleine, als auch für den ihr weit überlegenen Mann, der sich nicht mehr rührte.
'Stille, Stille... es ist so still.... und dunkel?'
Sie sah ihre Hand nicht mehr vor Augen, und mit einem Mal, als wäre das Licht angeknipst worden, sah sie alles um sich herum. Die Welt um sie lebte, atmete, fühlte mit ihr. Sie sah, wie Energie den Mann festhielt, wie sie ihm die Luft abschnürte. Sie sah, wie ihre Mutter in der Ecke kauerte, die Augen weit aufgerissen, in der Hoffnung, in dieser pechschwarzen Stille wenigstens etwas erkennen zu können.
Und sie sah, dass weiches, warmes Licht sie umgab, mit ihren Formen und Konturen spielte und sie liebkoste. Sie spürte schon fast wieder zwei starke Hände ihre Schultern massieren, während ein leises Flüstern in ihren Ohren erklang.
Das also hatte der Schatten gemeint.
Das war seine Welt, in der er dauernd lebte. Und sie verstand auch, warum er nur so selten in ihre Welt getreten war. Warum es für ihn immer wieder eine große Überwindung war, sich ihr zu zeigen. Und sie spürte den tiefen Abgrund seiner Liebe zu ihr.
Und was sie als nächstes sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
Ein Monster, wenn man den Schatten überhaupt so nennen konnte, kroch aus der Gestalt des Mannes hervor und blieb vor ihm stehen. Sie konnte es nicht beschreiben, aber sie spürte, dass es der personifizierte Hass dieses Wesens sein musste, was solch eine Kreatur überhaupt hervorbringen konnte.
Und ohne Vorwarnung griff es an...
Sie spürte nichts mehr, ihren Körper nicht, ihre Umgebung nicht, sie war nicht mehr da. Stattdessen übernahm jemand anderes die Kontrolle über sie, verschloss ihr die Augen und alle anderen Sinne und benutzte sie als Werkzeug.
Das nächste, was sie wieder wahrnahm, als sie keuchend auf den Knien zu Verstand kam, waren die Überreste der Kreatur um sie herum und an ihr. Sie sah ebenfalls, wie der Mann auf dem Boden lag, vor Schmerzen gekrümmt, während ihre Mutter apatisch in das Dunkle starrte.
'Wie konnte ich diese Kreatur nur besiegen? Ich hatte nicht einmal eine Waffe...'
Wieder spürte sie in ihrem Inneren eine Antwort, die leise flüsternd zu ihr aufdrang, und doch konnte sie es noch nicht verstehen.
Mit einem schnellen Griff setzte sie ihre Sonnenbrille wieder auf, und noch während sie mit der Hand durch ihre Haare fuhr kam das Licht wieder.
Sie hörte den Mann stöhnen, und sah, dass es innere Schmerzen waren, die ihn zerfraßen. Sie hörte ihre Mutter schreien, kreischen und roch ihre Angst. Und sie sah, wie das Blut langsam von der Wand tropfte, ihre Arme hinunterlief und sich in der Mitte des Zimmers zu sammeln beginn.
Sie sah, wie sie so oft in der Mitte lag, in ihrem eigenen Blut, während ihre Mutter in der Ecke saß und weinte. Und sie sah, wie er sie schlagen wollte aber stattdessen noch einmal auf sie eintrat.
Und sie beginn zu begreifen.
Wortlos drehte sie sich um, nahm ihren Mantel von der Türe und ging lautlos zur Tür.
Ein leises Wimmern ließ sie noch einmal kurz innehalten. Doch das letzte, was die Beiden von ihr hörten, war ein zischendes: 'Du hast es verdient, ich werde sie dir nicht nehmen. Du wirst genauso leiden.' als sie mühelos durch die Tür schritt.
Draußen empfing sie blendendes Sonnenlicht, und für einen Moment wünschte sie sich wieder die Dunkelheit, die Stille herbei, doch sie wusste genauso, dass sie dort Dinge erwarten würden, die sie nicht kannte. Und die sie noch nicht bereit war, kennen zu lernen. Sie hatte einen weiten Weg vor sich.
Und den ersten Schritt, den sie auf ihrer Suche machen würde, hatte sie so eben getan. Doch es würden sehr viel mehr Schrecken auf sie warten. Denn die Dunkelheit, die sie soeben noch schützend umgab, hatte sich wieder in ihr zurückgezogen. Und ihr fehlte so sehr das weiche sanfte Flüstern eines Schattens, der sie sanft berührte.
Hilflos streckte sie ihre Hand Richtung Sonne, sah das langsam trocknende Blut daran und bemerkte erst jetzt die entsetzt starrenden Blicke der Passanten. Jemand schien panisch in sein Handy zu rufen, ob er wohl die Polizei alarmierte? Orientierungslos drehte sie sich im Kreis, die Hand hatte sie über ihre Augen gelegt, um sie vor der Sonne zu schützen. Und dann wusste sie, wo sie hinmusste.
Sie sah die Schatten durch die Mauern der Stadt hindurch.
Sie sah, was passieren würde. Und sie wusste, dass sie etwas tun musste... irgend etwas.
Und so lief sie los...
Tag der Veröffentlichung: 14.10.2010
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