In der dunklen Nacht wurde der Regen nur leicht von einigen Laternen der Stadt erleuchtet. Sanft prasselte er herab und wusch den Schmutz der letzten Tage von den Dächern und Wegen.
Alles war in milde nasse Farben gehüllt, fast jedes Fenster war dunkel und die Straßen waren leergefegt. In mattem Orange konnte man die Brücke sehen und überall sprangen Tropfen auf der Fahrbahn, prallten am Geländer ab, auf den Laternen und der kleinen Gestalt, die mitten auf der Fahrbahn entlanglief.
Ein nassglänzender Ledermantel schmiegte sich an eine zierliche Person. Schwarze Boots liefen gemächlich durch das kalte Nass. Die kurzen Haare klebten an dem Gesicht, waren leicht zerzaust. Ein schwermütiger Ausdruck lag in den dunklen Augen und die Hände tief in die Taschen vergraben setzte sie einen Schritt vor den anderen.
Sie wusste nicht, warum sie überhaupt unterwegs war. Erst recht bei so einem unwirtlichen Wetter. Aber sie genoss mehr oder weniger bewusst die absolute Stille, die sich über die sonst so aufgewühlte und lärmende Stadt gelegt hatte, nur unterbrochen von dem sanften Rauschen des Regens und den erzeugten Klängen, wenn er auf unterschiedliches Material traf.
Mit einem wehmütigen Lächeln schloss sie die Augen und lauschte bewusst dem Chor der Tropfen um sie herum, währenddessen sie weiter einen Schritt vor den anderen setzte.
In der Nacht war alles so einfach. Es gab keine Schwierigkeiten, keine Probleme, alles schien lösbar, selbst Dinge, die unmöglich erschienen.
Sie fühlte sich wohl in den anschmiegsamen Schatten der Nacht, sogar in dem steten Herabprasseln des Regens. Und nur in Momenten wie diesen konnte sie es ertragen durch die Stadt zu streifen.
Was brachte es einem, jetzt zu Hause zu sitzen, Musik zu hören oder gar vor dem Fernseher zu sitzen und sich von den wild blitzenden Bildern berieseln zu lassen, währenddessen man hier, mitten auf der Hauptstraße, stehen konnte und mit dem Regen tanzen?
Langsam nahm sie ihre Hände aus den Taschen und streckte sie sanft vor sich aus, betrachtete, wie der Regen nach und nach von der Haut Besitz ergriff, seine Bahnen zog um dann geräuschlos zu Boden zu fallen.
Tief versunken in das Bild, das sich ihr dadurch bot, bemerkte sie nicht, wie sich ihr jemand von hinten näherte.
Erst als zwei ebenso nasse Hände sanft ihr Haar zur Seite strichen um einem Kuss in ihrem Nacken Platz zu machen, stahl sich ein erkennendes Lächeln auf ihre Lippen.
Ein leises genieserisches Schnurren entwich ihrem Mund und ihre Hand fuhr langsam zu ihrem Hals, nach dem Gegenpart suchend.
Mitten im Regen fanden sich zwei Hände, verschränkten sich ineinander und spielten mit den Fingern, während sich der Kuss langsam vom Hals zum Ohrbereich vortastete, von zwei lächelnden Lippen ausgeführt.
Vollkommen von dem Gefühl eingenommen ließ sie sich nach hinten fallen, lehnte sich an die starke Brust und genoss das Gefühl des geliebt-werdens.
Die andere Hand des Mannes fuhr um ihren Mantel herum und blieb auf ihrem Bauch liegen, in dem ein wahrer Sturm der Gefühle tobte.
Wieso fand er sie immer dann, wenn sie ihn am dringensten brauchte und ihn am intensivsten genießen konnte? Wieso wusste er, dass sie gerade in dem Wetter unterwegs sein würde? Und gerade hier, auf der Brücke warten würde?
Sie konnte es nicht erklären und so reihte sich auch dieser Gedanke unter all den anderen ein, die eigentlich unmöglich sind.
Aber hier, jetzt, in der Situation, um die Uhrzeit, bei den Bedingungen, war scheinbar nichts unmöglich.
Sie schloss die Augen um so noch besser fühlen zu können: den starken Körper, an den sie sich lehnte, die Hand, die mit sanftem Druck auf ihrem Bauch lag, die spielerischen Lippen an ihrem Ohr, der sanfte Lufthauch, der damit einherkam und die warme Hand, die ihre umschlossen hielt und mit ihren Fingern spielte.
Für sie verlor alles seine Bedeutung. Nur der Moment, in dem sie gerade gefangen war, nur der war von Wert. Nie hatte sie sich an dem Tag so lebendig gefühlt wie eben gerade, während sie auf einer Brücke mitten auf der Fahrbahn stand und in den Arm genommen wurde.
Der Mann ging langsam um sie herum, immer noch ihre Finger festhaltend, schaute ihr tief in die Augen, die ihm hungrig und dunkel entgegenschauten, versank darin und wusste im selben Moment genau, wo er war.
Seine Lippen fanden die ihren, und nur der Regen schaute dem innigen Kuss zu, perlte an ihren Nasenspitzen ab, lief an ihren Wangen herunter um sich im ewigen Nass zu verlieren.
Tag der Veröffentlichung: 10.10.2010
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