1. Kapitel: Der Zirkus
„Meine Damen und Herren, machen Sie sich bereit für das erstaunlichste Schauspiel des Jahres! Hier und jetzt werde ich Ihnen präsentieren, was sie noch nie zuvor gesehen habe! Echte und unverfälschte- Magie!“ Das letzte Wort verhallte in der erwartungsvollen Dunkelheit des Zeltes. Alle vorhandenen Scheinwerfer richteten sich nun auf den dunkelroten Vorhang, hinter dem ich mich befand. Die Spannung stieg, Stille breitete sich im Zuschauerraum aus. Ganz langsam zog sich der Stoff zur Seite. Obwohl man noch nicht mehr als nur einen Schatten von mir sah, konnte ich das ganze Zelt überblicken. Viele Menschen richtete sich in ihren Sitzen aufrichteten, in voller Erwartung auf neue, faszinierende Zauber. Sie schienen die Welt hinter den Zeltbahnen, ihren Alltag, vollkommen vergessen zu haben. Hier drinnen hörten für sie Zeit und Raum auf, zu existieren, alle Gesetze der Realität blieben außen vor. Wenn sie nur wüssten! Vermutlich hatte keiner von ihnen eine Ahnung davon, wie es mit der Magie wirklich aussah. In unsere Vorstellungen kamen immer nur die gleichen Menschengruppen: Familien, die sich etwas gönnen wollten, Partner, die unfreiwillig von ihrer besseren Hälfte mitgeschleppt wurden, absolut cool Jugendliche…Es brauchte nicht viel, um diese Leute zu beeindrucken. Allerdings auch nicht viel, um sie zu enttäuschen, wie ich mal wieder feststellte. Im Gegensatz zu herkömmlichen Zauberern trug ich keinen Anzug, keine Krawatte, hatte keinen Zylinder und auch keine hübsche Assistentin- obwohl ich gerne eine gehabt hätte. Nein, ich trat ganz schlicht in Jeans und T-Shirt auf. Zum einen lag das daran, dass ich nichts tragen durfte, was ein Sicherheitsrisiko für meine Bewacher bedeuten könnte, und zum anderen daran, dass ich für Magie keine Hilfsmittel benötigte.
Die anfängliche Spannung war um einiges gesunken, nur manche von ihnen schauten interessiert, da ich wirkte wie ein vollkommen normaler Junge. Abgesehen von meiner Narbe, aber die dürfte dank der Lichtverhältnisse nicht für alle zu sehen sein. Langsam trat ich bis in die Mitte der Manege.
„Ich brauche einen Helfer!“, rief ich. Meine Stimme war nicht wirklich laut, ich benutzte auch kein Mikrofon, aber trotzdem dürfte sie jeden erreicht haben. Wer mich nicht verstanden hatte, hörte es spätestens jetzt von seinem Nachbarn, denn ein aufgeregtes Gemurmel erklang. Einige meldeten sich freiwillig. Einen Moment lang überlegte ich ernsthaft, ob ich das blonde Mädchen vorne rechts wählen sollte. Doch damit würde ich mir hinterher nur unnötigen Ärger einhandeln, und ich konnte nicht noch mehr Ärger gebrauchen. Ein wenig missmutig ließ ich meinen Blick über die Menge schweifen. Ob ich den nehmen sollte, der sich gerade konzentriert mit seiner Nase beschäftigte? Oder sollte ich das junge Pärchen trennen, das bestimmt nicht wegen der Vorführung gekommen war, wenn ich es richtig sah? Konnte den niemand in diesen Zirkus kommen, der auch wirklich an der Magie interessiert war? Das war einfach nur nervig. Noch einmal ließ ich die Augen wandern. Wen sollte ich nur nehmen? Schließlich will ich mich nicht mit einem Idioten oder einer hysterischen Ziege rumärgern.
Plötzlich stockte ich. Konnte das sein? Aber das war doch nicht möglich! Mein Herz klopfte schneller, als ich schnell meine Möglichkeiten überdachte. Was sollte ich nun tun?
Mit festem Schritt ging verließ ich die Manege und ging die Stufen bis zur achten Reihe hoch. Vorsichtig klopfte ich dem Mädchen vor mir auf die Schulter. Überrascht drehte sie sich zu mir um. „Ja?“
„Würdest du meine Zeugin sein?“
„Was? Wofür?“ In den letzten Minuten war sie anscheinend tiefer in das Gespräch mit ihrem Nachbarn verstrickt gewesen, als ich es gesehen hatte. Das Mädchen blickte mich verstört an.
„Du sollst beweisen, dass ich für die Magie keine Hilfsmittel brauche."
Tag der Veröffentlichung: 16.04.2009
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