Der Himmel war bedeckt mit dunkelgrauen Wolken. Sie hatten sich weit entfernt mit Feuchtigkeit vollgesaugt und diese dann schwermütig hierhin transportiert. Jetzt waren sie es aber leid die Last zu tragen und entledigten sich ihrer schweren Fracht. Sie entließen das Wasser und es regnete, wie aus Kübeln, hinunter auf die Erde. Dort unten war eine kleine Stadt. Sie bestand aus vereinzelten Hochhäusern, einigen Geschäften und kleinen schnuckeligen Familienhäusern. Aufgrund der Dämmerung hatten einige Stadtbewohner bereits die Lichter in ihren Wohnungen eingeschaltet und strahlten nun gegen die stetig ausbreitende Dunkelheit. Auch ein ganz besonderer Bewohner hatte keine Lust im Dunkeln zu sitzen und hatte seine rote Nachttischlampe eingeschaltet. Normalerweise benutzte er sie um ein wenig im Bett zu lesen, am liebsten Fantasy, aber gerade brauchte er sie nur um sein Zimmer ein wenig auszuleuchten. Er stand am Fenster und beobachtete, wie die Regentropfen lautstark gegen die Scheibe schlugen. Von hier oben hatte er einen guten Blick, denn immerhin befand er sich im elften Stock und konnte so über jedes der umstehenden Häuser hinweg gucken. Sie waren alle niedriger und für ihn stinklangweilig. Vielleicht konnte der ein oder andere mehr damit anfangen bei Nachbarn in die Fenster zu schauen, aber für ihn war das einfach nichts. Er betrachtete lieber das treiben auf den Straßen. Tagsüber, wenn noch viele Menschen unterwegs waren, dachte er häufig er wäre ein Schöpfer, so etwas wie ein Gott und könnte die, wie Ameisen aussehenden, Menschen steuern und lenken. Manchmal tat er sogar so, als wenn er ihre Gedanken lesen könnte, und dachte sich für jeden von ihnen eine Geschichte aus. Damit er diese leichter zuordnen konnte, gab er den Ameisenmenschen auch Namen und so gab es zum Beispiel einen Heinz, der ein fleißiger Arbeiter war, aber leider keine Familie hatte und deshalb abends immer alleine Fertiggerichte vorm Fernseher aß. Oder es gab Gertrud, die leider ihren Mann bei einem Unfall verloren hatte, aber jetzt wieder bereit war jemand Neues kennenzulernen und mit ihrem Leben in den zweiten Frühling zu starten. Heinz und Gertrud hätten sicher toll zusammengepasst, aber egal wie sehr er sich bei seinem Schöpferspiel anstrengte, schaffte er es nie beide gleichzeitig auf dieselbe Straße zu lenken. Es war letztendlich halt nur ein Spiel, welches er gerade nicht spielen konnte, denn aufgrund des Unwetters, war keine Menschenseele draußen unterwegs. So betrachtete er einfach die Bemühungen der Straßen, wie sie unermüdlich versuchten die auf sie einfallenden Wassermassen hinfort zu schaffen. Das Abwassersystem war bereits überfordert und jeder Gulli der Stadt war wahrscheinlich bereits vollgelaufen. So entwickelten sich, in den Rinnen der Straßen, reißende kleine Flüsse. Wie gern hätte er diese mit einem kleinen Boot befahren, oder noch besser mit einem Floß. Das wäre ein Abenteuer gewesen. Sein kleines Herz schlug bedeutend schneller bei diesem Gedanken, auch wenn es wusste, dass es keine Möglichkeit für ein solches Abenteuer gab. Er seufzte und seine Augen fokussierten sein Spiegelbild, welches von der Fensterscheibe zurückgeworfen wurde. Er mochte wie er aussah, besonders seine grüne Augen und seine kleine Stupsnase. Was er nicht so mochte, waren seine fehlenden Haare und so wand er seinen Blick auf die Fensterbank, als seine Augen gerade seinen kahlen Schädel mustern wollten. Auf der Fensterbank stand ein kleiner Kaktus, der jetzt seine ganze Aufmerksamkeit bekam und seine Gedanken wieder ablenkte. Er tastete den Kaktus mit seiner Hand ab und drückte immer wieder mit dem Zeigefinger gegen einen seiner Stachel, bis er seine Haut durchstach. Ein runder Blutstropfen bildete sich auf seiner Fingerkuppe, den er ganz genau betrachtete. Am liebsten hätte er Augen wie eine Lupe gehabt, denn egal wie genau er den Tropfen betrachtete, er konnte leider nichts Ungewöhnliches erkennen. Da knallte es plötzlich hinter ihm und erschrocken wand er sich herum zu seiner angelehnten Kinderzimmertür. Sie führte zum Flur der Wohnung, und als er den ersten Schritt in ihre Richtung machte, drang schon eine freundliche Stimme an sein Ohr.
„Ich bin da mein Schatz“, säuselte sie tief in sein Gehörgang hinein und erfreute ihn. Seine Mutter war endlich wieder daheim. Sie war zwar nicht lange fort gewesen, nur zwei Stunden, aber vermisst hatte er sie dennoch. So sehr, dass er nicht warten konnte bis sie in sein Zimmer kam um ihn zu begrüßen, sondern direkt in den Flur hinaus rannte, um sie zu umarmen. Sie hatte nicht einmal die Zeit ihren roten Schal abzulegen, da klebte ihr Sohnemann bereits an ihren gelben Regenmantel. Sie verlor durch seine aufbrausende Begrüßung das Gleichgewicht, konnte sich aber im letzten Moment noch fangen und so den Sturz verhindern. Der Karton, den sie in ihren Händen trug, vereinfachte das Unterfangen nicht gerade. Sie stellte ihn neben sich auf die Kommode.
„Hey mein Prinz. Ich bin doch noch ganz nass“, sagte sie, aber machte keine Anstalten den kleinen Klammeraffen von sich zu drücken, sondern strich ihm liebevoll über den Kopf. Seine Umklammerung lies etwas nach und er schaute zu ihr hinauf. Sein Gesicht war von einer Seite ganz nass und sein Pyjama hatte die Feuchtigkeit, vom Regenmantel, auch schnell aufgesaugt.
„Das ist egal, ich habe dich vermisst!“, verteidigte er sein Vorgehen und vergrub sich wieder in ihren nassen Mantel. Welche Mutter würde sich nicht über solche Worte freuen und sie war da auch keine Ausnahme, es hatte aber einen bitteren Beigeschmack. Sie liebte ihn zwar vom ganzen Herzen, aber sie bedauerte jetzt schon eine gewisse Distanz zwischen ihnen. Eine Distanz, die von ihr aus ging und mit der sie sich vor großen Schmerzen schützen wollte. Für ihr Verhalten fühlte sie sich aber nicht schuldig, immerhin war sie bei ihrem Sohn geblieben, anders als sein Vater. Er verließ die beiden einfach und sie konnte ihm nicht einmal durchgehend böse dafür sein. Denn manchmal wünschte sie sich auch an einen anderen Ort und dann verstand sie seine Entscheidung. Er war für die ganze Situation zu weich gewesen. Sie merkte, wie ihre Augen feucht wurden, und rieb sie sich, um es vor ihrem Sohn zu verbergen.
„Weinst du?“, fragte er und schaute sie wie ein Hundewelpe von unten an. Innerlich fluchte sie über sich selbst, während sie sich zu ihrem Sohn hinunter kniete.
„Nein, der böse Wind hat mir draußen wohl etwas in die Augen geweht“, log sie ihn, ohne einen bösen Hintergedanken, an und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Er glaubte ihr und setzte sein schönstes Lächeln für sie auf.
„Was hast du da mitgebracht?“, fragte er und seine Aufmerksamkeit galt nun dem Karton, der auf der Kommode stand. Er wollte gerade seine Arme nach ihm ausstrecken, als seine Mutter ihn aufhielt. Sie ergriff seine Handgelenke und drückte sie sanft wieder nach unten.
„Da ist eine Überraschung drin. Sei ein guter Prinz und warte in deinem Bett auf mich. Ich komme dann sofort zu dir, zusammen mit der Überraschung“, schlug sie ihm vor und lächelte ihn so freundlich an, wie es nur eine liebende Mutter konnte. Er legte seine Stirn in Falten und überlegte, ob der Deal fair war. Warum durfte er die Überraschung nicht direkt sehen? Er war doch so neugierig und „sofort“ kann manchmal so extrem lange sein bei Erwachsenen.
„Mama, wie lange dauert sofort?“, fragte er deshalb und versuchte extra viel Schmalz in seine Stimme zu legen. Seine Mutter musste darüber schmunzeln. Ihr kleiner Lenny konnte so süß sein, man könnte glatt vergessen …
„Ich bin in zwei Minuten bei dir“, klärte sie ihn auf und setzte das Ausziehen ihres nassen Regenmantels fort. Zwei Minuten waren dem jungen Mann schnell genug und er huschte zufrieden in sein Zimmer. Auf dem Weg zog er seine Söckchen von den Füßchen und schmiss sich letztendlich in sein Bett. Wie ein rasender Falke glitt er unter seine Bettdecke und begann damit die Uhr auf seinem Nachttisch zu betrachten. Sein Starren bewog die Uhr nicht dazu schneller zu laufen, es geschah eher das Gegenteil, aber so bekam er ganz genau mit, ob die zwei Minuten schon vorbei waren. Dann endlich sprang die Minutenanzeige das zweite Mal um und Lenny war sofort enttäuscht.
„Mamaaaaaaaa, wo bist duuuuu?“, rief er entrüstet nach seiner Mutter, die sich nicht an ihre Zeitvorgabe hielt. Er wollte gerade zum zweiten Mal rufen, da trat sie durch seine Kinderzimmertür, zusammen mit dem mysteriösen Karton in den Händen.
„Ich bin doch schon da, du musst nicht brüllen“, ermahnte sie ihn zuerst ernst, aber dann lies sie das Ernste schnell los und lächelte wieder wie eine liebende Mutter. Sie wollte keinen Streit herauf beschwören, dafür war die Zeit zu kostbar geworden. Sein Gesicht strahlte, als sie sich auf die Bettkante setzte und die Hände auf den Karton legte. Er konnte die Spannung kaum ertragen und scharrte unruhig mit den Beinen unter der Decke.
„Was für eine Überraschung ist nun im Karton?“, fragte er aufgeregt. Sie begann den Karton langsam zu öffnen.
„Eigentlich sind es viele Überraschungen“, korrigierte sie ihn und stellte den offenen Karton neben ihren Lenny. Er konnte sitzend nicht über den Kartonrand gucken, also kniete er sich hin und bekam riesengroße Augen, als er hineinsah.
„Boaaaaaa, der ist ja voller Spielzeug.“, rief er vor Begeisterung und begann damit die Kiste zu durchwühlen. Es freute sie, ihn so unbeschwert zu sehen. So etwas wünschte sie sich auch für sich, aber nichts vermag die dunklen Gedanken dauerhaft aus ihrem Kopf zu treiben. Er unterbrach sein Wühlen.
„Wo kommen all die Sachen her, Mama?“, fragte er seine Mutter interessiert.
„Die Kinder aus der Abendgruppe haben sie für dich gesammelt. Jedes von ihnen hat mindestens ein Spielzeug beigetragen, andere sogar mehr. Tom hat sogar vier Spielsachen von sich dazu gelegt und ein Buch“, erklärte sie ihm und nahm das genannte Buch aus dem Karton. Es war eins zum Vorlesen und sein Einband zierte eine malerische Landschaft, mit einem Ritter auf hohem Roß und einem fliegenden Drachen in den Wolken. Es war an den Rändern schon stark abgewetzt, aber das störte den Jungen nicht. Sein Interesse war dennoch geweckt. Er liebte solche Geschichten einfach und diese kannte er noch nicht. Das sollte sich aber, seiner Meinung nach, schnell ändern.
„Mama“, säuselte er extra süß, “liest du mir die Geschichte vor?“
Damit überrumpelte er seine Mutter ein wenig. Ihr Körper wollte sich eigentlich endlich ausruhen von den Strapazen des Leben und der Arbeit mit den Kindern. Sie fühlte sich müde und am liebsten hätte sie sich einfach auf die Couch im Wohnzimmer gelegt und sich beim Einschlafen vom Fernseher berieseln lassen. Während sie noch grübelte, lehnte sich Lenny an ihren Arm und blickte aus einem steilen Winkel zu ihr hoch.
„Bitte Mama“, säuselte er wieder zuckersüß. Sie lächelte zu ihm herab und vergessen war die Erschöpfung in ihren Knochen, als sie ihm zunickte.
„In Ordnung mein Prinz. Ich zieh mich kurz um und dann lese ich dir das Buch vor!“
Er war mit den Bedingungen einverstanden und so verließ seine Mutter den Raum. Weil sie ihren Jungen kannte, hatte sie das Buch mitgenommen, ansonsten hätte er es, neugierig wie er ist, komplett durchgeblättert. Weil er das nicht konnte, wand sich seine Aufmerksamkeit wieder dem Karton zu und kippte ihn auf dem Kinderzimmerteppich aus. Als das letzte Spielzeug hinunter plumpste, stellte er den Karton beiseite. Wie ein reicher Kaufmann betrachtete er seine neuen Besitztümer. Es war alles dabei, vom Spielzeugauto bis zum Malbuch. Im selben Moment schritt seine Mutter durch den Flur und machte einen raschen Blick ins Kinderzimmer. Sie blieb abrupt stehen.
„So bleibt das aber nicht. Räum die Sachen ein, sonst lese ich dir nichts vor“, ermahnte sie ihn aus dem Flur heraus. Lenny seufzte und fing an für jede noch so kleine Spielsache einen passenden Platz in seinem Zimmer zu finden. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit für ihn an, dabei dauerte es gerade einmal zehn Minuten, bis er damit fertig war.
„Fertig! Kommst du Mama“, rief er und stemmte triumphierend seine Hände in die Hüften.
„Sofort …“, schallte es von irgendwo aus der Wohnung zurück. Erwachsene und ihre Zeitangaben, was sollte sofort bedeuten und wie lange dauert sofort? Er drehte sich einmal in seinem ordentlichen Zimmer und bemerkte noch einen Makel daran. Wie ein Fleck auf einer weisen Bluse stand der Karton noch in einer Ecke rum. Er beschloss diesen Fleck auch noch zu entfernen und freute sich darauf den leeren Karton zu zerreißen, damit er ins Altpapier passte. Gerade wollte er die erste Seite einreißen, als ihm auffiel, der Karton war gar nicht leer. Lenny griff hinein und holte etwas blaues Ovales hervor. Es war mit einem zick zack Muster verziert und mit einem weichen Flaum überzogen. Ein sah aus wie ein Ei, aber wozu sollte dieses gut sein? Wie ein Spielzeug kam es ihm nicht vor. Neugierig klopfte er mit einem Finger dagegen und man vernahm ein helles Geräusch. Anscheinend war das Ei hohl von innen. Vielleicht war das Ei nur ein Behälter für ein Spielzeug? Also versuchte er es aufzudrücken, aufzudrehen und aufzuklappen, aber nichts funktionierte. Als seine Mutter fürs Vorlesen eintrat, stand er sogar auf dem Ei, aber es gab einfach nicht nach. Nur die Lachmuskeln seiner Mutter gaben nach, als sie ihren Sohn so auf dem Ei stehen sah.
„Was machst du denn da?“, lachte sie ihm lautstark entgegen.
„Ich krieg das Ei nicht auf“, antwortete er ihr bedröppelt und senkte den Kopf. Sie lächelte und hob ihn vom Ei runter, bevor sie ihm über den kahlen Kopf strich.
„Hach mein Prinz, das ist doch nicht so schlimm“, baute sie ihn auf. Danach hob sie ihn wieder hoch, aber trug ihn diesmal ins Bett. Nachdem er dort richtig verstaut war, nahm sie das Ei auf und platzierte es auf dem Nachttisch.
„Doofes Ei-dings-bums, dir zeig ich es noch“, fluchte Lenny. Das Fluchen war so leise, dass seine Mutter es nicht wahrnehmen konnte und es dementsprechend auch nicht kommentierte. Sie legte sich neben Lenny und schlug das Buch auf. Ihr Sohn schmiegte sich an ihr und lünkerte auf die erste Seite, als sie mit dem Vorlesen begann.
Ihm gefiel die Geschichte. Sie spielte in einem weitreichenden und friedlichen Königreich. Dort war es so friedlich, dass es nur wenige Soldaten gab. Sie wären auch Verschwendung gewesen, denn es gab ja niemanden zu bekämpfen. Doch eines Tages kam plötzlich ein neuer Feind. Er verdunkelte die Mittagssonne und die Soldaten wimmerten und versteckten sich nur. So groß war ihre Angst vor ihm. Es war ein Drache, der das Land nun bedrohte und seine erste Schandtat war die Entführung einer jungen Maid, die auch noch die Tochter des Königs war. So rief der König die tapfersten Männer des Landes zusammen, aber diese schienen rar gesät, denn es kam nur ein einziger zu Hof. Ein junger Mann mit einer Rüstung, die ihre besten Jahre schon hinter sich hatte. Jeder andere wäre dem König lieber gewesen als dieser Jungspund, aber es gab ja keine Auswahl und so gab er dem Jüngling ein Schwert und ein Pferd. In der Hoffnung er würde seine Tochter zurückbringen …
Nur bis zu diesem Punkt konnte Lenny der Geschichte folgen. Er war zwar sehr interessiert an ihrem Verlauf, aber sein Körper war müde und zwang seinen aufmerksamen Geist dazu einzuschlafen. Als seine Mutter das bemerkte, schlich sie aus seinem Zimmer ohne ihn zu wecken und schaltete noch das Nachtlicht ein.
„Ich hoffe die Welten, in die du dich träumst, mein Prinz, sind besser als die Realitäten, die dich jeden Tag im Hier und Jetzt erwarten“, flüsterte sie leise und zog die Kinderzimmertür bis zu einem kleinen Spalt zu, durch den sie noch einen Luftkuss zu ihrem Sohn sendete, als Gutenachtkuss.
Die Stunden vergingen und Lenny schlief tief und fest in seinem Bettchen. Er träumte einen wunderschönen Traum, in dem er fliegen konnte. So flog er gerade durch die Lüfte und war schnell wie ein Düsenjäger und wendig wie ein Kolibri. Seine Flughöhe betrug schon einige Hundert Meter, aber sein Ziel war über die Wolken zu kommen. So schoss er wie ein Pfeil nach oben und flog dicht über sie hinweg. Er wollte sie berühren und tauchte einen seiner Arme in sie hinein. Sie fühlte sich flauschig und klebrig an. So klebrig, dass einzelne Wolkenstücke an seinen Fingern hängen blieben. Jetzt wusste er zwar, wie sie sich anfühlte, aber seine Neugier trieb ihn weiter. „Wie schmeckt eigentlich so eine Wolke?“, fragte er sich und probierte die Wolkenreste an seiner Hand. Sie schmeckten wie Zuckerwatte, genauso wie er es sich immer vorgestellt hatte. Vor Freude machte er ein Looping. Doch plötzlich wurde sein wundervoller Traum von einem Geräusch gestört, welches wie durch ein Megafon durch den Himmel schallte. Es klang wie ein dumpfes Pochen und zwischendurch klackerte es auch. Er versuchte auszumachen, woher dieses nervtötende Geräusch kam, aber es war ihm nicht möglich, es kam einfach von überall. Wie ein blindes Huhn flog er also einfach in irgendeine Richtung und hielt Ausschau. Nach was? Das wusste er nicht.
„Hallo? Wer ist da?“, rief er einfach in sein Umfeld. Er rief es zweimal, dreimal, viermal und jedes Mal antwortete niemand. Das Pochen schien aber nach jedem seiner Rufe lauter zu werden, bis es unerträglich wurde. Lenny hielt sich die Ohren zu und konnte es dennoch wahrnehmen. Er verlor das Gefühl fürs Fliegen und fiel in Richtung der harten Erde. Auf dem Sturzflug durchflog er mehrere Wolken und zog jedes Mal danach einen langen weißen Schweif Wolkenreste mit sich mit. Der Boden kam immer näher. Lenny schloss die Augen und prallte mit seinem Rücken zuerst auf. Die Erde gab unter ihm nach wie ein Stück Papier, welches er mit Leichtigkeit durchbrach. Danach fiel er noch zwei weitere Meter in die Tiefe und landete unter lautem Krachen und quietschen in einem Bett. Als er die weiche Unterlage spürte, traute er sich wieder die Augen zu öffnen. Über ihm war das große Loch und dadurch war der blaue Himmel zu sehen. Vereinzelt fielen noch Stücke vom Rand des Loches, aber keins davon traf ihn. Sein Herz fuhr Achterbahn und sein Atem ging schnell, als er sein Umfeld erkannte. Lenny war nicht in irgendeinem Bett gelandet, sondern in seinem eigenen. Er war in seinem Kinderzimmer und hatte es durch den Aufprall ziemlich zertrümmert. So etwas Komisches hatte er noch nie geträumt und gerade, als er sich fragte, ob dies wirklich noch ein Traum war, öffneten sich seine Augen ein weiteres Mal.
Er lag in seinem Bett und schaute wie zuvor der Decke entgegen. Diesmal gab es aber keinen blauen Himmel zu sehen, sondern nur die weiße Deckenfarbe. Das Loch war verschwunden. Erleichtert atmete er aus und strich sich über die Stirn, sie war nassgeschwitzt. Alles war doch nur ein böser Traum gewesen und jetzt war er wieder sicher in der Wirklichkeit angelangt. Er wollte sich gerade zur Seite drehen und weiterschlafen, als er ein bekanntes Geräusch wahrnahm. Denn es klackerte und pochte wieder und diesmal konnte er auch bestimmen woher. Lenny richtete seinen Körper auf und blickte nach links auf seinen Nachttisch. Seine Augen weiteten sich ungläubig, als er sah, was dort geschah. Das blaue Ei bewegte sich, es wackelte regelrecht und zu jedem dumpfen Pochen machte es einen kleinen Satz zur Seite. Bei jeder seiner Landungen machte es das klackernde Geräusch. Lenny war baff und verfolgte die Bewegungen vom Ei. Licht war von Nöten und so klickte er seine rote Nachttischlampe an. Sie bestrahlte das Ei von hinten und man konnte eine Silhouette eines Schattens im Inneren sehen. Irgendetwas war dort drin und der neugierige Junge wollte unbedingt wissen was. Er näherte sich gerade dem Ei, als es wieder einen Sprung machte, bis auf die Kante des Nachttisches. Dort verharrte es noch eine Sekunde, bevor es unweigerlich nach hinten herunter kullerte und beim Aufprall laut knackte. Damit entzog es sich aus dem Blickwinkel von Lenny. Er sprang aus seinem Bett und ging, mit einem kleinen Sicherheitsabstand um den Nachttisch herum, bis er das Ei wieder sehen konnte. Es sah schon ziemlich lädiert aus und war mit vielen Rissen überzogen. Der Junge wollte gerade den Sicherheitsabstand aufgeben, da explodierte das Ei mit einem großen Knall und ein roter Feuerball dehnte sich vor Lenny aus. Der Feuerball war nicht sonderlich groß, aber groß genug, dass Lenny Wärme in seinem Nacken spürte, als er sich schützend vor ihm wegdrehte. Nach einigen Sekunden war der Spuk vorbei und Lenny traute sich seinen Oberkörper wieder zurückzudrehen.
„Boa“, stieß er hinaus, als er den verkohlten Fußboden sah. Die verbrannte Stelle hatte die Form eines Sterns, in dessen Mitte ein leeres Stück Eierschale lag. Die andere Hälfte war in Splitterform im ganzen Zimmer verteilt.
„Mama wird mich umbringen“, stieß Lenny aus und schlug die Hände über den kahlen Kopf zusammen. Eigentlich wollte er den Satz gar nicht sagen, sondern nur denken, aber er war so durch den Wind, dass er beide Sachen vertauschte. Er ging nervös auf und ab und überlegte, was er jetzt tun sollte. Wäre es richtig seine Mutter direkt zu holen, oder sollte er einfach heimlich das Putzzeug aus dem Abstellraum im Flur holen, die Sauerei selbst wegmachen und nie wieder ein Wort darüber verlieren? Mitten in seinen Gedankengänge hörte er auf einmal leise Schritte.
„War Mama wach?“, flüsterte er abermals ausversehen und blieb wie erstarrt stehen. Die Schritte wurden komischerweise nicht lauter und allmählich wurde ihm klar, dass die Schritte viel zu leise waren für einen Erwachsenen. Sie kamen auch nicht aus dem Flur oder der Wohnung. Sie kamen direkt aus seinem Zimmer. Anscheinend war mehr als Feuer in dem Ei gewesen und Lenny wurde dies gerade bewusst. Hastig ging er runter auf alle Vieren und drehte sich absuchend um seine eigene Achse. Als seine Augen in Richtung Bett schauten, verstummten die Schritte und ihm war sofort klar warum. Das Wesen aus dem Ei versteckte sich unter dem Bett. Langsam näherte er sich seiner Schlafstätte und starrte regelrecht in die Dunkelheit darunter. Er war sich sicher einen unregelmäßigen Schattenriss erkannt zu haben, oder bildete er sich das ein? Bildete er sich vielleicht alles nur ein? In ihm stieg ein Zweifel hoch, ob er überhaupt wach war. Es war doch viel wahrscheinlicher, dass er nach wie vor in seinem Bettchen lag und träumte. Ja, es musste so sein. Das alles war nur ein Traum, sein Traum. Unmittelbar, nachdem er sich sicher war, in einem Traum zu sein griff er mutig unter sein Bett in Richtung der Silhouette. Was sollte ihm schon passieren?
„Aua, verdammt“, schrie er unter Schmerzen und zog seinen Arm zurück. Das Wesen aus dem Ei hatte ihn gebissen und hinterließ ein stecknadelgroßes Loch in einer seiner Fingerkuppen. Augenblicklich pochte sie schmerzhaft, aber Lenny schrie nicht deswegen, sondern eher aufgrund des Schocks, den er bekommen hatte. Während er seinen pochenden Finger so anschaute, kam ihm in den Sinn vielleicht doch nicht zu träumen und etwas vorsichtiger zu sein. Er distanzierte sich infolgedessen ein bisschen von seinem Bett und legte sich flach auf den Boden. Der Silhouette des Wesens war unverändert zu erkennen und bewegte sich nicht.
„Ich will dir nichts tun, komm doch raus“, sprach Lenny dem Schatten gut zu, aber nichts geschah. Das Wesen blieb starr stehen und der Junge seufzte enttäuscht. Zum Überfluss meldete sich nun auch noch sein Magen und knurrte lautstark. Zum Glück lag noch eine offene Packung Erdnüsse auf dem Schreibtisch, die Lenny holte und dabei sich immer wieder umdrehte, um seinen kleinen Besucher nicht aus den Augen zu lassen. Danach nahm er wieder seine vorherige Liegeposition ein und aß ein paar Nüsse. Auf einmal bewegte sich der Schatten auf ihn zu.
„Hast du auch Hunger?“, fragte Lenny ihn mit vollem Mund, ohne eigentlich zu wissen, ob er ihn überhaupt verstand. Das Wesen antwortete zwar nicht, aber kam weiterhin näher. Der Junge legte eine Nuss zwischen Daumen und Zeigefinger, die er nachfolgend unter das Bett schnippte. Der Schatten huschte flink zur Nuss und anschließend war ein leises Schmatzen zu vernehmen. Anscheinend war es hungrig und Lenny schnippte weitere Nüsse es entgegen. Das Wesen merkte nicht, wie der Junge immer mehr die Distanz zwischen ihnen verringerte, indem er immer kürzer schnippte und seinen Körper nach hinten schob. Es ließ sich so bis ins Licht locken und der bis vor Kurzem unkenntliche Schatten verwandelte sich in eine blaue längliche Echse. Sie war in etwa eine Unterarmlänge groß, hatte eine langgezogene Schnauze, von der zwei wellige weiße Barthaare abgingen und über ihren Rücken verlief ein grader Strich von kleinen Stacheln, die erst an der Schwanzspitze endeten. Lenny hatte so etwas noch nie gesehen und war ganz fasziniert. Gemächlich setzte er sich in den Schneidersitz und fütterte zugleich die Echse weiter, die sich anscheinend kein Stück für seinen Positionswechsel zu interessieren schien. Sie war zu sehr damit beschäftigt den Nüssen auf allen Vieren hinterher zu jagen. Jedes Mal, wenn sie eine Nuss erreichte, ergriff sie diese mit den Krallen ihrer Vorderläufe, richtete sich auf und stand dann nur noch auf ihren Hinterbeine. Lenny wusste nicht, wie sich eine Echse zu bewegen hatte, aber diese hier bewegte sich eindeutig wie ein Eichhörnchen. Das Aussehen der Echse erinnerte ihn aber an etwas anderes.
„Hm,“ fing er an und versuchte Augenkontakt mit der Echse herzustellen, aber sie blieb davon ziemlich unbeeindruckt und interessierte sich nur für ihr Futter. Also stellte Lenny die Fütterung ein und verschränkte die Arme vor sich.
„Sag mal, bist du ein Drache?“, fragte er offen heraus und die Echse unterbrach ihre Bewegung, in der sie die letzte Nuss in ihre Schnauze schieben wollte. Sie wand ihren Kopf in Richtung Lenny und augenblicklich war zwischen den beiden Blickkontakt hergestellt.
„Drache“, zischte die Echse in einem schrillen Tonfall zurück, der keine zu deutende Betonung aufwies.
„Du kannst sprechen?“, fragte Lenny verwundert und musste um Fassung ringen. Er hatte nicht mit einer Antwort auf seine Frage gerechnet.
„Sprechen“, äffte sie ihn nach und betonte das Wort fast genauso wie er. Lenny kam so nicht weiter und dachte sich lieber etwas ganz Einfaches zu versuchen, anstatt die Echse mit anscheinend zu schweren Fragen zu löchern.
„Ich bin Lenny“, stellte er sich der Echse vor und fragte: “Wie heißt du?“
„Ich bin Lenny“, wiederholte diese nur und enttäuschte ihn damit. Anscheinend verstand sie ihn doch nicht, und obwohl sie wahrscheinlich die einzige Echse auf der Welt war, die sprechen konnte, blieb sie dennoch nur eine dumme Echse. Ungeachtet dieser Erkenntnis wollte Lenny nicht gleich aufgeben und versuchte es erneut mit etwas Nachdruck.
„Ich bin Lenny“, sagte er und zeigte mit einem Finger auf sich selbst. Anschließend zeigte er mit demselben Finger auf die Echse und fragte: “Und wie heißt du?“
Die drachenähnliche Echse legte den Kopf schief und war sich wohl immer noch nicht ganz sicher, was Lenny eigentlich von ihr wollte. Sie antwortete jedenfalls nicht, sondern kam Lenny sehr nah und wollte eindeutig an die Erdnusspackung, die er umgehend aus ihrem Zugriffsbereich zog.
„Kein Futter, wenn du nicht mit mir sprichst!“, ermahnte er sie streng und deutete auf die Packung in seiner Hand. Sie bäumte sich vor ihm auf und zischte. Dabei schnellte mehrfach ihre lange Zunge hervor, die an der Spitze gespalten war.
„Ich bin Xian“, erwähnte die Echse, wie eine unwichtige beiläufige Information.
„Futter!“, ergänzte sie noch. Lenny nickte und schnippte erneut eine Nuss durch das Zimmer. Sie wurde unmittelbar von Xian verfolgt und gefressen. Die Echse verstand Lenny offenbar doch und es tat ihm auf irgendeine Weise leid den Gedanken gehabt zu haben, dass sie vielleicht genauso dumm wär wie jedes andere Reptil. Ihm wurde klar, Xian war ein ganz besonderes Geschöpf und er überlegte, wie er ihn vor seiner Mutter verstecken könnte.
„Futter!“, erklang wieder und riss Lenny aus seinen Überlegungen.
„Oh, ja, natürlich“, sagte er und wühlte noch etwas geistesabwesend in der Erdnusspackung. Wie er feststellen musste, gab es in der Tüte nichts mehr zu erfühlen, außer dem fettigen Boden. Lenny hatte bereits alle Nüsse entweder selbst gegessen, oder an Xian verfüttert.
„Sie ist leer“, klärte er die Echse auf und hielt die Öffnung der Packung vor sie. Xian schaute hinein und lies seine lange Zunge mehrmalig hinein tauchen. Er war in der Lage mit ihr zu fühlen, wie es auch eine Schlange kann. Während er langsam merkte, dass die Packung wirklich leer war, machte sich Entrüstung auf seinem schuppigen Gesicht breit.
„Futter“, kreischte er schrill nach oben. Xians Kopf wackelte dabei, während seine Barthaare vibrierten, und wiederholte seinen Ruf immer wieder. Er stellte sich an wie ein kleines Kind, was er in gewisserweise Ja auch war.
„Tut mir leid. Ich habe kein Futter mehr“, versuchte sich Lenny zu rechtfertigen und die Echse stoppte ihr maulen. Sie stellte sich auf die Hinterbeine und nahm einen tiefen Zug durch die zwei Nasenlöcher, die das Ende ihrer Schnauze zierten. Danach huschte Xian an einen anderen Platz im Kinderzimmer und wiederholte die Prozedur. Es war schwer ihm noch mit den Augen zu folgen und als Xian sich zu einer Position im Rücken des Jungen hinbewegte, stand Lenny auf.
„Was suchst du?“, fragte Lenny ihn und Xian unterbrach seine Suche kurz, um zu antworten.
„Wag“, antworte er und bescherte dem Jungen damit nur Fragezeichen überm Kopf. Gerade als er nachfragen wollte was ein ‚Wag‘ ist sprang Xian auf den Schreibtisch und deutete aufgeregt auf ein großes Poster darüber.
„Wag, Wag, Wag!“, grölte er und blickte erwartungsvoll zu Lenny rüber. Der zuckte nur mit den Schultern. Er wusste nicht, was Xian ihm auf dem Poster zeigen wollte? Es zeigte doch nur den Kopf eines grünen Drachen, der aus einer Wolke ragte.
„Ist ein Wag ein Drache?“, fragte Lenny und legte die Stirn in Falten. Xian schlug sich daraufhin entrüstet eine Kralle ins Gesicht. Wahrscheinlich hielt er jetzt den Jungen für ziemlich dumm, damit waren die beiden gedanklich schon mal quitt. Xian wollte sich nicht erneut wiederholen und zeigte Lenny lieber, was er meinte. Er schabte mit den Hinterläufen, bevor er mit einem Blitzstart dem Poster entgegen lief und als er eigentlich dumpf gegen die Wand hätte prallen müssen, glitt sein Körper einfach durch sie hindurch. Nur zwei kreisförmig ausbreitende Wellen, an der Stelle, wo Xian durchgelaufen war, erinnerten noch daran, dass er gerade noch da war, bevor auch sie immer kleiner wurden und verschwanden. Wie die Wellen die entstehen, wenn man einen Stein in einen See warf. Der Mund vom Jungen stand ungläubig offen. Er musste sich erst selbst wieder beweisen, dass er nicht träumte, und kniff sich in den Arm. Der Kniff schmerzte, also war es kein Traum. Lenny schluckte und ging einige vorsichtige Schritte, bis er vor seinem Schreibtisch stand. Eine kühle Brise strich ihm übers Gesicht, obwohl Tür und Fenster in seinem Zimmer geschlossen waren. Er führte seine Hand vor das Poster und fühlte die kühle Brise erneut auf seinen Fingerknochen.
„Sei kein Angsthase“, versuchte er sich selbst Mut zuzusprechen. Lenny streckte seinen Zeigefinger aus, tunkte mit ihm ins Poster und damit auch durch die Wand. Das Innere der Wand fühlte sich kalt an und augenblicklich bekam der Junge Gänsehaut auf seinem Arm, die sich kurz darauf über seinen ganzen Körper ausbreitete. Es fühlte sich unerträglich an und Lenny wollte den eingetauchten Finger wieder zurückziehen, aber es ging nicht. Ein kalter Sog zog ihn immer weiter in die Wand hinein. Er stemmte sich zwar dagegen, aber es schien aussichtslos. Aus Panik wollte er sich mit der anderen Hand abdrücken und versenkte diese auch noch unglücklich in der flüssigen Wand. Lenny verlor den Mut und damit auch die Kraft die er brauchte für seinen Widerstand. Er wurde immer weiter hineingezogen, und ehe der Rest seines Körpers in der wellenschlagenden Wand verschwand, schrie er noch einmal vergeblich nach seiner Mutter. Die Wand verschluckte ihn komplett und beruhigte sich wieder. Sie wurde wieder glatt und damit verschwand der einzige Anhaltspunkt über den Verbleib von Lenny.
Texte: Jean Pascal Schettler
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2012
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