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Lilly war immer ein gutes Mädchen gewesen, umso mehr war sie überrascht über ihre jetzige Lage. War es nicht so, dass guten Menschen immer nur Gutes wiederfahren sollte. Mama hatte es ihr doch immer wieder erzählt, und wenn es mal nicht so sein sollte, dann gäbe es immernoch den lieben Gott, welcher schützend die Hand über einen hält. Leider wusste sie nicht, wie diese Hand aussah und wie der liebe Gott aussah, wusste sie leider auch nicht. Sie ging einsam und verlassen zwischen den großen Bäumen des Waldes. Ihr Gesicht war überlaufen mit frischen und bereits vertrockneten Tränen. Sie machte sich nicht mehr die Mühe sie wegzuwischen, sie kamen ja trotzdem immer wieder. Vor weniger als einer Stunde war sie noch gemeinsam mit ihren Eltern unterwegs. Sie lief zwischen Papa und Mama und war fasziniert von dem hoch über ihr befindlichem Blätterwerk des Waldes. Ihr tat schon der Nacken weh, soviel hatte sie nach oben geschaut und beobachtet, wie das Licht der Sonne durch die Blätter schien. Der Wind vollendete dieses wundervolle Lichtspiel. Wenn ihre Beine müde wurden, nahm Papa sie auf die Schultern, und wenn sie wieder etwas sah, was sie interessierte, verflog die Müdigkeit wieder in Windeseile. Sie strampelte dann so stark, dass er sie wieder absetzte und schon konnte sie ihren Entdeckergeist wieder befriedigen. Dabei vergaß sie gerne ihre Umgebung und leider kam sie genau so auch in ihre missliche Lage. Alleine im Wald zu sein war kein großer Spaß mehr für sie und der kleine Schmetterling, den sie verfolgt hatte, war auch schon lange aus ihrem kleinem Sichtfeld verschwunden. Sie schluchzte wieder und eine frische Träne kullerte über ihre Wange. Wo sollte sie nur lang gehen? Sie ging einfach in die Richtung, aus der ihr die rote Sonne entgegen schien. Es war das Einzige, woran sie sich orientieren konnte und bald wird sie leider nicht mehr zu sehen sein. Es war schon spät und die Sonne wich immer weiter zurück, um Platz für den Mond zu schaffen. Als ihr wärmendes Licht verschwand und Lillys kleine blaue Augen nicht mehr von diesem erfüllt waren, verlor sie ihren Mut. Ihr Beine knickten ein und sie fiel unsanft, mit dem Hintern voraus, auf den braunen Untergrund. Die gleichfarbigen Blätter knisterten unter dem harten Aufprall. Sie legte ihre Hände in den Schoß und schluchzte bitter, würde sie Papa und Mama wiedersehen? Sie glaubte nicht mehr wirklich daran. Wie sollten ihre Eltern sie finden, immerhin war es dunkel und das Licht des sichelförmigen Mondes war zu schwach um etwas zu sehen. So hallte nur das Jammern eines kleinen Kindes weiter durch den düsteren Wald, der jetzt gar nicht mehr so interessant für Lilly war. Plötzlich hörte sie es knacken im Untergeäst, konnte aber nichts durch ihre verheulten Augen sehen und rieb sich die frischen und alten Tränen aus ihrem Gesicht, mit den Ärmeln ihres rosa Kleides. Sie konnte zwar immernoch kaum etwas erkennen, aber war in der Lage Silhouetten auszumachen. Es waren dunkle Schatten, die viele Meter vor ihr von Busch zu Busch huschten und sie spürte neben der frisch aufgezogenen Kälte, jetzt auch noch die Angst, die in ihre Knochen kroch. Sie klapperte mit den Zähnen, aber wendete ihren Blick nicht von den Schatten ab. Sie kamen näher und umso näher sie kamen, umso besser konnte sie ihre Umrisse erkennen. Sie liefen auf allen Vieren und waren von Kopf bis Pfote mit Fell bedeckt. Einer von ihnen erreichte das Gebüsch gleich links von Lilly. Sie traute sich nicht nach links zu schauen und konnte nicht sehen, wie die Schnauze eines Wolfes sich ihrem kleinen Köpfchen näherte. Der Wolf schwebte regelrecht aus seinem Versteck, so graziös bewegte er sich und er war sich seiner Beute sicher. Leise knurrte er und legte dabei seine scharfen Zähne frei, die nur darauf warteten sich in das kleine Mädchen zu rammen und es aufzureißen. Sein Rudel der Silbermähnen würde heute Nacht nicht hungern müssen, denn ihnen wurde diese leichte Beute zum Geschenk gemacht. Lilly spürte den Atem des Wolfes auf ihrer Wange. Sie war vielleicht noch klein, aber sie wusste aus Rotkäppchen, dass Wölfe nicht die freundlichsten Tiere waren. Zum allerersten Mal, in ihrem Leben, hatte sie Todesangst und es war kein besonders schönes Gefühl. Sie hätte gerne niemals erfahren, wie es sich anfühlt. Sie wurde von der Angst überwältigt und gab sich ihr ganz hin. Ihr Körper wollte nicht mehr wie sie. Er war wie gelähmt und erwartete nur noch den Biss des Wolfes. Sie schloss in der Erwartung die Augen. Hoffentlich wird alles schnell passieren, dann muss sie nicht das ganze Leiden mit in den Himmel nehmen, denn dort wird sie landen, dem war sie sich sicher. Für den Moment aber fing sie innerlich an zu zählen, es fiel ihr nichts Besseres ein.
„Eins, zwei“, das Knurren kam dichter an ihr Ohr.
„Drei, vier“, das Knurren wurde immer deutlicher.
„Fünf, sechs“, das Knurren entfernte sich etwas von ihr.
„Der Wolf setzte sicher zum Sprung an“, dachte sie.
„Sieben, Acht“, das Knurren war nicht mehr alleine zu vernehmen.
„Neun, zehn“, ein Jaulen drang an ihr Ohr und sie zuckte zusammen. Der Biss des Wolfes blieb aber aus und sie öffnete ihre Augenglieder wieder, um zu erfahren, woran es wohl lag. Ihre Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt und sie besser als vorher die Wölfe vor sich aufgereiht. In Reih und Glied hatten sie sich vor ihr aufgebaut und knurrten sie gemeinsam an. Ihre Hinterläufe waren ausgestreckt, während ihre Vorderläufe dicht am Boden lagen. Sie fletschten allesamt die Zähne und abwechselnd heulte einer von ihnen. Lilly verstand nicht, warum sie nicht angriffen und bekam kurz darauf die Antwort präsentiert. Ein großer Schatten fiel von hinten über sie hinweg. Es war kein Wolf, es war etwas noch Größeres. Mit einem großen Satz sprang es über sie hinweg. Sie hätte nur einen Arm heben müssen und hätte es mit Leichtigkeit berühren können. Vor ihr türmte es sich auf und schüttelte demonstrativ sein weißes Fell. Es folgte ein markerschütterndes Brüllen des Riesen und die Wölfe wichen zurück, bevor der Riese wieder runter fiel, auf seine Vorderpfoten. Auf allen Vieren schien er nicht mehr ganz so bedrohlich auf Lilly zu wirken und die Wölfe sahen es wohl ähnlich, denn einer nahm all seinen Mut zusammen und griff den Riesen mit einem Hechtsprung an. Dieser schwang blitzschnell eine seiner Pranken und erwischte den Wolf noch während er flog. Seine Flugrichtung wechselte, durch den Schlag, abrupt und unter lautem Krachen prallte er jaulend gegen einen der Bäume. Er verletzte sich dabei nicht schwer und stand nach einem kurzen Schock sofort wieder fest auf seinen Beinen. Das Rudel sah keine unbesiegbare Bedrohung in dem Riesen und griffen nun gemeinsam an. Sie konzentrierten ihre Angriffe auf seinen Nacken. Doch der Riese wusste sich zu helfen und richtete sich erneut auf, nachdem ein Wolf auf seinen Rücken sprang und wild nach seinem Kopf schnappte. Er rutschte unbeholfen vom Rücken des Riesen herunter. Eine Pranke wirbelte wieder herum und diesmal flog mehr als ein Wolf, unter erneutem lautem jaulen, durch die Luft. Sie waren ihrem Feind nicht gewachsen und mit einem lauten Heulen rief der Rudelführer zum Rückzug. So verschwanden die Schatten wieder dorthin, wo sie hergekommen waren, in die dunkle Nacht. Der Riese schnaufte, als er seinen Oberkörper wieder fallen lies und sich zu Lilly wendete. Sie hatte wieder diese schreckliche Angst, als der Riese näher kam und sie erkannte, dass er ein großer Bär war. Sie konnte diesmal aber nicht ihre Augen schließen und fühlte sich gezwungen dem Bären in die Augen zu schauen. Sein Fell strahlte förmlich im Mondlicht und seine Augen brachten ihr keine Angst, sondern erlösten sie von ihr. Sie spürte jetzt nur noch die Kälte der Nacht. Er kam mit seinem wuchtigem Schädel näher und rieb damit an der Seite von ihr. Sie strich ihm durch das Fell. Es war schön weich, wie die Kuscheldecke von ihr, die sie daheim in ihrer Spielkiste verwahrte. „Zuhause“, kam ihr in den Sinn und sie musste erneut eine kleine Träne vergießen. Würde sie ihr Zuhause überhaupt wiedersehen? Der große Bär erkannte ihre Zweifel, ging einen Schritt zurück, um ihr wieder in die Augen zu schauen und nahm ihr ihre Unsicherheit, wie vorher auch schon ihre Angst. Sie lächelte und es schien ihr so, als wenn der Bär ihr Lächeln erwiderte, auch wenn sie schon schlau genug war, um zu wissen, dass dies unmöglich war. Der Bär umlief sie und lies sich hinter ihr so nieder, dass sich eine Kuhle in seinem Bauch bildete. Seine Pranke schwang wieder, aber es lag keine Wucht in ihrem Schwung. Er nutzte sie nur, um Lilly in die neu geschaffene Kuhle zu schupsen. Weich fiel sie auf das Fell und zum ersten Mal, seitdem sie ihre Eltern verloren hatte, spürte sie ein Gefühl von Sicherheit in sich einkehren. Durch das dicke Fell konnte sie das Herz des Bären schlagen hören. Es schlug langsam und beständig in einem ruhigen Rhythmus. Sie verfolgte seinen Herzschlag noch solange sie konnte, was nicht mehr sehr lange war, denn sie schlief nach den ganzen Strapazen ein und der große weiße Bär wachte über sie, die ganze Nacht.

Sie erwachte, zusammen mit den ersten Strahlen der Sonne, auf dem braunen Blätterwerk des Waldbodens. Erst als sie ihre Augen gerieben hatte, merkte sie, dass sie wieder alleine war. Ihr großer neuer Freund war verschwunden. Erschrocken sprang sie auf und schaute um sich, aber konnte ihn in ihrer Umgebung nicht ausmachen. Sie konnte nur starre Bäume sehen und welche, sie waren in einer langen Reihe angeordnet, kamen sogar auf sie zu. Ungläubig rieb sie erneut ihre Augen, das konnte doch nicht möglich sein und richtete ihren geschärften Blick wieder auf die laufenden Bäume. Es waren Menschen und einer dieser Menschen kam direkt auf sie zugelaufen. Er schrie und jauchzte dabei. Sie konnte nicht verstehen, was der Mensch sagte, aber sie konnte inzwischen sehen, dass es ihr Papa war. Auch sie sprintete los, mit Freudentränen in den Augen. Als sie einander endlich erreichten, umschlangen sie sich und weinten beide bitterlich vor Freude. Sie hatten sich wieder.

Impressum

Texte: © Jean Pascal Schettler
Tag der Veröffentlichung: 27.02.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese paar Seiten den Träumern unter uns. Es ist nie zu spät seinen Traum zu leben, man kann ihn nur verpassen.

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