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Emilio

 

»Und? Durftest du schon ran?« Etienne – den alle außer mir Eddy nennen – stupst mich mit dem Ellenbogen in die Seite und funkelt mich neugierig an. Ein Glück ist unser Religionslehrer ein Waschlappen, der mehr Angst vor der brodelnden Konstellation seiner zu unterrichtenden Klasse hat, als dass er jemals einen von uns zurechtweisen würde. Na ja, ich kann es ein bisschen nachvollziehen, hier sitzen immerhin die Katholiken aus drei verschiedenen zehnten Klassen, da kommt schon einiges zusammen.

Etienne und ich, beispielsweise. Da haben uns die Lehrer doch tatsächlich in der siebten Klasse getrennt, weil wir ein so chaotisches Duo sind, und nun hocken wir doch wieder zusammen. Herr Deppenbrock – ja, auch das ist ein Grund, wieso er bei uns nichts zu lachen hat – wirft kurz einen nervösen Blick auf unsere Ecke, fährt dann jedoch unsicher fort, in dem Versuch uns die Bibel näherzubringen.

»Das mit uns läuft erst seit zwei Wochen, meinst du wirklich, da lässt sie mich schon ran?«, seufze ich. Tja, was soll ich sagen. Ich bin seit Kurzem mit einem der hübschesten Mädchen der zehnten Klassen zusammen, Sophie heißt sie, und das einzige Highlight bisher war ein flüchtiger Kuss auf den Mund. Nicht gerade das, was ich mir erhofft hatte.

»Ach Milo«, höre ich meinen besten Freund leise lachen. »Du hast dir eindeutig die Falsche rausgesucht. Die ist zwar hübsch, ihre Prüderie jedoch nicht zu überbieten! Und dann bist du auch noch jünger als sie … Vielleicht solltest du dir eine Andere suchen.«

Für mein Alter kann ich doch nichts, oder? Sie ist gerade sechzehn geworden, ich bin fünfzehn. Tut mir leid, dass ich nicht früher zur Welt gekommen bin.

»Mal schauen«, murmele ich unverbindlich und beiße zögerlich auf meinem Lippenpiercing herum. »Vielleicht wird das ja noch. Immerhin ist sie nicht an einem Herzinfarkt gestorben, als der Freund meines Vaters sich mal wieder aufgedrängt hat …« Gegen Ende des Satzes werde ich ganz leise – wahrscheinlich wissen ohnehin so gut wie alle auf diesem Gymnasium, dass mein Vater einen Lebensgefährten hat. Ich bekomme es ja oft genug zu spüren. Dass ich darüber rede, muss trotzdem nicht jeder mitbekommen.

»Oh, ich weiß wirklich nicht, wieso du dich immer über ihn beschwerst.« Etienne verzieht die Lippen, als er mir – mit dem Stuhl kippelnd – einen kurzen Blick zuwirft. »Phil ist ziemlich cool.«

Das würde er nicht sagen, wenn er ihn seit seiner Geburt ertragen müsste … Egal, ich will nicht drüber diskutieren. Es reicht, wenn ich jeden Tag erneut daran erinnert werde, dass die Gesellschaft nicht nur schwulenfeindlich, sondern auch Kinder-von-Schwulen-feindlich ist. Manchmal bemitleide ich mich ganz schön deswegen … Mit schwulen Eltern aufzuwachsen, ist wirklich kein Zuckerschlecken.

Ich zucke mit den Schultern, werfe mit einer ruckartigen Kopfbewegung eine Locke meines blonden Haares aus dem Gesicht und stütze dann den Kopf auf die linke Faust.

Mann, was für ein blöder Tag. Was für eine blöde Situation. Langweiliger Religionsunterricht, ein bester Freund, der die Zweifel schürt und eine Freundin, die einen nicht ranlassen will. Normalerweise wäre es nicht schlimm, mit fünfzehn noch Jungfrau zu sein, aber in meinem Fall ist das eindeutig etwas, worüber sich alle lustig machen. Und ich habe es wirklich satt, mir anhören zu müssen, ich wäre ebenfalls so.

Mal davon abgesehen war mein Vater – laut dessen bestem Freund Falco – ein absoluter Aufreißer, als er in meinem Alter war.

»Heute ist Training, oder?«, fragt Etienne neben mir und wirkt nicht gerade glücklich. Ich schüttele grinsend den Kopf. »Wieso trittst du nicht endlich aus der Fußballmannschaft aus? Dich kann da doch eh keiner gebrauchen, so unsportlich wie du bist.«

So ganz stimmt das nicht, allerdings muss ich es ihm ja nicht auf die Nase binden.

Etienne ist sogar ziemlich sportlich: Schlank, muskulös – ja, schon fast durchtrainiert. Seit einigen Monaten hat ihn jedoch die chronische Unlust gepackt und er und ich wissen, er spielt nur weiter in der Schulmannschaft mit, um Mädchen zu beeindrucken. Dabei hat er das wirklich nicht nötig. Mit den dunklen Haaren und den tiefgründigen, braunen Augen, der großgewachsenen Statur und seinem ziemlich coolen Klamottenstil hat er eigentlich immer mindestens ein halbes Dutzend Mädels gleichzeitig, die auf ihn stehen.

Okay, das war gerade ganz schön schwul. Notiz an mich: Nie wieder Loblieder über meinen besten Freund singen.

Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin zu geprägt von meinem Vater, der – seines Zeichens Schriftsteller – sehr viel Wert auf gepflegte Sprache legt und ziemlich oft ausschweifende Reden hält. Kein Wunder, dass mich alle für einen komischen Freak halten.

Etienne schnaubt abfällig, mit seinem Stuhl kippelt er sich noch ein wenig weiter in die Schräge, ehe er schnippisch hinzufügt: »Ich muss mich fit halten. Klar, du hast es nötiger, du betreibst ja keinen Bettsport, du kleine Jungfrau, aber …«

Sein Satz endet mit einem erschrockenen Aufschrei, dann kracht es laut und mit einem schmerzhaften Stöhnen liegt er auf dem Boden. Für einen winzigen Moment sorgt das laute Poltern für Stille, dann ertönt von allen Seiten schallendes Gelächter – und ausnahmsweise gilt das mal nicht mir.

Auch ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, als Etienne schwerfällig wieder auf die Beine kommt und seinen Stuhl aufhebt. Das hat er mehr als verdient. Blödarsch.

Herr Deppenbrock sagt nichts, nein, er guckt nicht einmal böse. Er sieht lediglich verzweifelt aus und wirft einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr. Armer kleiner Fettsack mit Halbglatze. Ich hoffe, ich werde niemals so jämmerlich wie er.

»Oh, wieso gebe ich mich eigentlich mit dir ab?«, grinse ich Etienne boshaft zu. Nebenbei werfe ich einen schnellen und eigentlich nicht erlaubten Blick auf mein Handy – noch zehn Minuten, herrlich – und stichele dann genüsslich über seinen roten Kopf hinweg: »Du bist ja noch viel peinlicher als ich kleine Jungfrau. Das macht mich dann wohl noch mehr zum Gespött, wenn ich mit dir rumhänge, findest du nicht auch? Ich sollte mir dringend einen neuen besten Freund suchen.«

»Halt die Klappe, Milo«, zischelt Etienne.

Seine kleine Störung hat die Atmosphäre in der Klasse noch ausgelassener und lernunwilliger werden lassen. Der Geräuschpegel ist gerade erträglich, ohne einen Gehörschaden zu verursachen und der Deppenbrock sieht wohl ein, dass das Ganze absolut keinen Sinn mehr hat.

Mit unglücklicher Miene packt er sein Zeug zusammen, wobei er versucht, gegen den Lärm anzuschreien: »Bis zum nächsten Mal füllt ihr bitte das Arbeitsblatt aus, das ich ausgeteilt habe!«

Klar, kein Ding. Hab' nichts Besseres zu tun, als sinnlose Arbeitsblätter zur Bibel auszufüllen. Weil ich ja auch so gläubig bin. Sicher.

Ich packe meine Sachen unordentlich wieder in meine schwarze Umhängetasche, ohne auch nur einmal Stift oder Blatt benutzt zu haben. Im Grunde genommen bin ich kein schlechter Schüler und faul eigentlich auch nicht. Doch sobald es um Religion geht, ist der Lerneifer irgendwo auf Hawaii oder so, nur nicht da, wo er sein sollte.

Etiennes Miene drückt ebenfalls Lustlosigkeit aus. Dass ihm ein paar Kumpel und Klassenkameraden im Vorbeigehen noch spöttisch und lachend auf die Schulter klopfen, oder ihm für den verfrühten Unterrichtsschluss danken, macht es nicht besser. Seine sonst leicht sonnengebräunte Haut nimmt jetzt einen zarten Korallton an, über den ich mich schieflachen könnte, denn diese Farbe ist grauenvoll und leider Gottes genauso in Mode wie Senfgelb. Scheußlich.

Ich bevorzuge auch auffällige Farben wie leuchtendes Grün oder Blau bei meinen T-Shirts, oft bunt gemischt. Irgendwo hat das allerdings eine Grenze und die ist mit Senfgelb deutlich überschritten.

»Weißt du«, knurrt Etienne beleidigt, als er seine Tasche schultert und den Stuhl unsanft an den Tisch heranschiebt, »du bist manchmal wirklich nicht sehr hilfreich. Anstatt für mich einzustehen und mein Ritter mit leuchtender Rüstung in der Abendsonne zu sein, lachst du mich aus. Ich mache mich ja auch nicht lustig über dich, obwohl ich genug Grund dazu hätte, nicht? Fünfzehn und Jungfrau, dabei war dein Dad laut Phil in dem Alter ein absoluter Mädchenschwarm …«

»Du machst dich doch lustig über mich, du Vollidiot«, entgegne ich murrend und boxe ihm unsanft gegen die Schulter. »Elefantensackhaar«, sagt er ungerührt.

»Pavianarsch.«

»Du bist so homoerotisch, Emilio …«

»Fresse, du Evolutionsbremse.«

Etienne grinst und auch ich muss schmunzeln. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir uns jemals ernsthaft gestritten haben. Die Beleidigungen dienen meistens mehr der Belustigung.

»Okay, schon gut. Du musst aber gestehen, du warst schon einfallsreicher. Pavianarsch … Na ja«, bemängelt er näselnd. Lachend schlendern wir aus dem Klassenraum und begeben uns in Richtung Sporthalle. Manchmal empfinde ich das Fußballtraining nach der achten Stunde schon als ätzend und vollkommen fehl am Platz, im Endeffekt macht es meistens dennoch Spaß. Die Truppe ist lustig und bis auf ein paar Ausnahmen auch recht nett. Gut, die Ausnahmen sind wirkliche Härtefälle, wenn ich da so an einen gewissen Jemand denke. Allerdings kann man diese ja auch ignorieren, so einfach ist das.

»Homoerotisch«, wiederhole ich und lasse mir das Wort auf der Zunge zergehen. »Nicht übel, das merke ich mir.«

»Siehst du, Milo, ich bin dein Meister. Mit deinem zarten Alter bist du noch zu dumm und unerfahren, um dich vernünftig zu duellieren. Bei mir lernst du noch was.«

»Und du hast mit deinen sechzehn Jahren die Weisheit mit dem Löffel gefressen, was?«

Lachend drischt Etienne mir auf die Schulter und entgegnet: »Jeden Morgen mit dem Frühstück!«

Manchmal bin ich wirklich froh, ihn zu haben. Was wäre das Leben ohne einen so toleranten und treuen besten Kumpel? Ich kann mich nur selbst beglückwünschen und meinem Vater stumm dafür danken, dass er dem Drängen der Erzieherinnen damals nachgegeben und mich mit fünf Jahren eingeschult hat, statt mich noch ein Jahr im Kindergarten schmoren zu lassen. Trotz Phils Bedenken, ob ich die Kurve kriege – ich hatte mit zwölf einen richtigen Durchhänger in der Schule – hat mein Vater an mich geglaubt und mich nicht zurückstufen lassen. Ich gebe mir Mühe, ihn nicht zu enttäuschen, denn obwohl mir durch seine Orientierung viel Unmut und Feindseligkeit entgegenschlägt, ist er ein toller Vater und ich bin irgendwie stolz auf ihn. Wie auch immer.

»Wie sieht dein Plan aus?«, dringt Etiennes Stimme durch meine sentimentalen Gedanken.

»Plan?«, entgegne ich verwirrt. Im Laufen ziehe ich mir die Jeans ein wenig höher, nutzt aber nichts. Im nächsten Moment ist sie wieder über dem Hintern. Egal, sieht ja ganz cool aus.

Gemeinsam schlurfen wir über den recht leeren Schulhof zur Sporthalle und genießen die spätsommerliche Wärme noch ein wenig. Das Schuljahr hat gerade angefangen und der Herbst rückt näher, nicht gerade zu meiner Freude. Sommer gefällt mir besser.

»Plan in Sachen Sophie. Wie willst du sie rumkriegen?«

Mh, tja. Ich weiß auch nicht so recht. Es ist nicht so, als wäre ich nur für den Sex mit ihr zusammen, ich bin wirklich ziemlich verknallt, würde ich behaupten. Trotzdem ist mir diese Entjungferungssache doch ziemlich wichtig. »Kein Plan, Mann«, seufze ich. »Wie kriegt man eine Frau rum?«

Sie ist meine erste Freundin und ich glaube, ich bin schon glücklich, wenn ich einen Zungenkuss auf die Reihe kriege. Unerfahren zu sein ist echt eine total peinliche Angelegenheit.

»Oh, das ist eigentlich nicht schwer. Bei deiner Freundin dürfte das ewig dauern. Versuchs mal mit Küssen und sentimentalem Geschwätz, vielleicht klappt es dann.«

Etienne hat leicht reden, er hat das Ganze ja auch schon hinter sich. Küssen … Verflucht, ich habe echt keine Ahnung wie! Dieses eine Mal war ganz flüchtig an und nicht wie ein echter Kuss. Ich meine, was macht man denn mit seiner Zunge? Was, wenn ich sabbere? Oder alles falsch mache? Ich werde das niemals auf die Reihe kriegen, niemals …

Nachdenklich betrete ich die Sporthalle, er folgt mir auf dem Fuße. »Mach dir keine Gedanken, du kriegst das schon hin«, lautet Etiennes lascher Aufmunterungsversuch. Er klopft mir unsicher auf die Schulter, als wir in die Umkleidekabine gehen. Noch keiner da, gut.

Seufzend werfe ich meine Tasche auf die Bank und lasse mich daneben fallen, beginne langsam die Schnürsenkel meiner ausgelatschten Schuhe zu lockern.

»Ich habe ’ne Heidenangst davor, was falsch zu machen«, gestehe ich leise und kann nicht verhindern, rot zu werden.

»Mensch, Milo …«, entgegnet er unbeholfen und kratzt sich ratlos am Kopf. Dann beschließt er wohl, dass es besser ist, sich erst mal umzuziehen und sich so eine kurze Denkpause zu verschaffen. Bis auf das Rascheln seines T-Shirts, das jetzt achtlos zu Boden fällt, ist es still in der Umkleide. Aus seiner Tasche fischt er ein ausgewaschenes Sporttrikot, das er von seiner Ex-Ex-Freundin vor einem Jahr zum Geburtstag geschenkt bekommen hat und so oft trägt, dass ich mich manchmal frage, ob er wohl immer noch an sie denkt. Das wäre ziemlich lächerlich, schließlich hat er sie verlassen und nicht andersherum.

Während er schon aus seiner Jeans schlüpft, ziehe ich mir gerade die Schuhe von den Füßen. Es ist doch zum Haare ausraufen, mit welchen Dingen man sich herumschlagen muss. Mir ist durchaus bewusst, dass ich bedingt durch mein Alter ein laufendes Hormonbündel bin. Als wäre das nicht schon schlimm genug, muss ich auch noch schwule Eltern, einen unfähigen besten Freund, eine prüde Freundin und absolut null Erfahrung mit Frauen haben. So ein blöder Mist.

Erst, als Etienne in seine luftigen Trainingsshorts geschlüpft ist und auf der Bank sitzt, um seine Sportschuhe anzuziehen, lässt er sich dazu herab »Mh« zu murmeln. Hilfreich.

Grummelnd ziehe ich mir mein T-Shirt über den Kopf und nestele umständlich meine Jeans auf. »Du bist mir echt keine Hilfe, Mann«, knurre ich düster und greife nach meiner Sporthose. »Ich werde versagen! Wahrscheinlich sterbe ich als Jungfrau.«

»Würde mich nicht wundern«, ertönt es plötzlich von der Tür her. Ich zucke zusammen und kann gerade so dem Drang widerstehen, mir die Hose schützend vor die unbedeckte Brust zu halten.

»Dich hat keiner gefragt«, schnauze ich den Neuankömmling unfreundlich an, schlüpfe im Höchsttempo in meine Hose und ziehe mir das T-Shirt so schnell über den Kopf, dass ich mich beinahe darin verheddere.

Da ist er, der arroganteste Blödmann überhaupt, der eingebildetste Schnösel der gesamten Schulmannschaft, ja, sogar der ganzen Schule und der Dorn in meinem Auge: Nicholas. Das schlimmste am Fußballtraining, wenn ich das so sagen darf.

Ich weiß, Phil glaubt, er sei mir besagter Dorn im Auge. Der da ist jedoch eindeutig schlimmer.

»Solltest du aber vielleicht mal, kleine Jungfrau«, höhnt Nick, wie er von allen genannt wird, mit seiner dunklen, stimmbruchfreien Stimme. Allein dafür hätte er einen Schlag in die Fresse verdient.

Allerdings reicht das nicht, nein. Er sieht viel zu gut aus für seinen Arschloch-Charakter, ist älter (zwölfte Klasse, soweit ich weiß) und obendrein auch noch geouteter Schwuler, was ihm bei mir besondere Minuspunkte einbringt.

Nicht nur, dass man ihn somit automatisch mit mir in Verbindung bringt, nein, er sieht angeblich auch weniger schwul aus als ich. Himmel, ich wachse eben noch und meine Schultern werden sicherlich auch mal so breit. Ich bin fünfzehn, verdammt!

»Und wenn wir schon dabei sind, dir würde ein bisschen Muskeltraining nicht schaden. Du bist dürr und schmächtig, das ist wirklich nicht schön.«

Oh, ich sollte ihm … »Du musst ja nicht glotzen, du Scheißkerl!«, fauche ich ungehalten und würde ihm meine Fußballschuhe am liebsten an den Kopf werfen, statt sie anzuziehen.

Der feine Herr bequemt sich mit missfälliger Miene in die Umkleidekabine und setzt sich auf die Bank mir gegenüber, wo er sich obercool die teuren Markenschuhe von den Füßen zieht. Blöder Schnösel! Wir haben auch nicht gerade wenig Geld, trotzdem gebe ich nicht so damit an wie der.

Wie er da sitzt mit seinem pickelfreien Scheißgesicht und seine blöden scheißglatten Haare mit einer lässigen Kopfbewegung zur Seite wirft und dann einfach gut aussieht, das ist … so unfair. Gott! Ja! Ich bin neidisch, ich geb’s ja zu! Nicht nur, dass der Arsch gut in der Schule ist, er sieht so toll aus, dass ihm die Weiber scharenweise verfallen! Obwohl sie alle wissen, dass er auf Männer steht! Ich wette, sogar Sophie findet ihn attraktiv. Das ist wirklich nicht fair! Wieso kann ich keine immer gut liegenden, glatten Haare haben? Oder breite Schultern und reine Haut? Unfair, unfair, unfair!

Nicks spöttisches Lachen dringt irgendwie durch meine aggressiven Mordgedanken hindurch, dann höre ich ihn stichelnd sagen: »Wer glotzt hier?« Dadurch wird mir erst bewusst, dass ich ihn die ganze Zeit über angestarrt habe, ohne es zu merken. Peinlich.

Ich kann nicht verhindern, dass mir die Zornesröte ins Gesicht schießt und leider fällt mir außer »Fresse!« nichts zum Kontern ein. Etienne ist da auch keine Hilfe, er steht nur unbeholfen da und weiß nicht so recht, was er tun soll, denn er versteht sich aus unerfindlichen Gründen gut mit diesem Schnösel.

Mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch ziehe ich mir die Fußballschuhe an. Dabei rupfe ich fast die Schnürsenkel aus, weil ich sie so ruppig zubinde und rausche mit einem »Etienne, wir gehen!« aus der Umkleidekabine. Nicks höhnisches Lachen verfolgt mich dabei und treibt mir die Hitze nur noch mehr in die Wangen.

Ich wünschte, ich könnte ihm was entgegensetzen! Am liebsten würde ich ihm Schwuchtel ins Gesicht schreien. Das würde ich allerdings niemals über die Lippen bringen. Wegen Dad und Phil und weil ich weiß, dass schwul sein nicht gleich ekelhaft oder pervers oder scheiße sein bedeutet.

Auch Dads bester Freund Falco ist schwul und eigentlich fand ich immer, dass alle drei sehr verständnisvoll und auch einfühlsam sind – wobei Phil öfter mal aus dem Rahmen fällt. Jedenfalls tausendmal besser als ein ganz normaler Vater, der einem den Gürtel um die Ohren schlägt, wenn man eine schlechte Note mit nach Hause bringt. Ich für meinen Teil kenne genügend Scheißväter, Etiennes ist da ein ziemlich gutes Beispiel.

Plötzlich taucht dann so ein blöder Mistkerl wie dieser Nicholas auf, der schwul und scheiße und bestimmt auch pervers ist und das alles zusammen. Den macht niemand fertig, im Gegensatz zu mir, obwohl ich hetero und supertoll bin. Oh, ich könnte ihm ins Gesicht kotzen …

»Milo, jetzt mach doch mal langsam!«, höre ich meinen besten Freund hinter mir rufen, der mir hastig die Treppen hinunter folgt. »Reg dich doch nicht so auf, bitte!«

Mich nicht so aufregen? Pah … Der hat leicht reden, der wird ja auch nicht dauernd wegen oder von Nicholas fertiggemacht!

»Ich rege mich auf, wie ich will!«, knurre ich unfreundlich und betrete mit einem merkwürdig kribbeligen Gefühl der Wut im Bauch die große, leere Sporthalle. Am besten ist wohl, ich laufe mich warm und versuche, mich einzukriegen. Einfach den Kerl ignorieren. Alles ist gut.

Schritte neben mir, dann spüre ich, wie sich Etiennes Hand fest um meinen Oberarm legt. »Ich verstehe nicht, wieso ihr euch immer zoffen müsst. Wieso lässt du dich denn so leicht von ihm provozieren? Er meint es sicher nicht böse.«

Tja, ich glaube, das wüsste ich selbst gerne. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass Nicholas es sehr wohl böse meint, wenn er mit spitzer Zunge solche Kommentare durch die Gegend wirft.

Unwillig betrachte ich Etiennes Hand, dann seine verständnislose Miene. »Er ist ein Arsch«, murre ich schließlich und schaue weg, weil ich seinen vorwurfsvollen Blick nicht ertragen kann. Toll, jetzt kriege ich ein schlechtes Gewissen, weil ich so ausgeflippt bin, dabei trifft mich doch wohl keine Schuld, oder?

»Außerdem hättest du ruhig mal auf meiner Seite stehen können! Wie war das mit dem Ritter und der scheiß Rüstung, die in der Abendsonne glänzt?«

Das entlockt ihm ein Grinsen, schließlich lässt er mich zögernd los. »Tut mir leid. Du weißt, ich hab nichts gegen ihn. Außerdem …« Seine Stimme wird zu einem Flüstern, mit nachdenklicher Miene beugt er sich zu mir herab. »… Außerdem hat er irgendwas Autoritäres an sich. Ich kenne niemanden außer dir, der so respektlos mit ihm redet. Er ist immerhin Schulsprecher und so ziemlich der beliebteste Schüler dieser ganzen Schule.«

Wobei ich wirklich nicht verstehen kann, wieso er das ist. Was soll’s.

»Laufen wir uns warm?«

»Wie du willst.«

 

Nicholas

 

Ich beobachte ihn von der Tribüne aus. Dieser kleine Hosenscheißer, der meint, er müsse sich immer und überall mit mir anlegen. Ob es daran liegt, dass ich schwul bin? Er ist noch so jung, sicherlich ekelt es ihn oder zumindest ist er angewidert und fühlt sich cool, wenn er sich mir in den Weg stellt. Er wird schon noch sehen, was er davon hat. Ich lasse mich doch nicht von so einem unwissenden kleinen Idioten fertigmachen! Seit meinem Coming-out im letzten Schuljahr haben schon genügend Leute zu spüren bekommen, dass ich kein williges Opfer bin. Wenn er es darauf anlegt, bitte. Einer mehr oder weniger belastet mein Gewissen nicht.
»Penisprothese!«, höre ich ihn lachend seinen besten Freund beleidigen und dieser ruft ihm »Flohdompteur« hinterher. Kindisch. Selbst für einen Zehntklässler benimmt sich der kleine Lockenkopf lächerlich unreif.
Ich will mich gerade kopfschüttelnd abwenden und ebenfalls hinunter begeben, um mich warm zu laufen, als sich Schritte von hinten nähern. »Nick?«, ertönt eine mir allzu bekannte Stimme.
Langsam und bedacht drehe ich mich um, die Arme vor der Brust verschränkt. »Chris, hey. Was gibt’s?«
Chris, Teammitglied, süßer Elftklässler und höchstwahrscheinlich noch nicht sicher, ob er nun bisexuell oder schwul ist, kommt unsicher ein paar Schritte näher und lächelt mich süß an. Der wäre was für mich, eindeutig.
»Nichts. Ich hab dich nur hier stehen sehen und mich gefragt, was du machst«, erklärt er fröhlich und wirft einen Blick an mir vorbei hinunter in die Halle. Das Lächeln weicht aus seinem Gesicht und macht einer unzufriedenen Grimasse Platz, die so gar nicht zu seinem Engelsgesicht passen will. »Beobachtest du die beiden? Oh Gott, du stehst doch nicht auf den da, oder?«
»Wer ist den da?«, frage ich desinteressiert, obwohl das eigentlich überflüssig ist. Ich kann mir denken, wen er meint.
»Emilio«, entgegnet Chris und stellt sich neben mich, beobachtet den Lockenkopf und seinen Kumpel ebenfalls beim Laufen. »Er ist ein Kotzbrocken. Ich hab gehört, er flippt aus, sobald man das Wort schwul nur in den Mund nimmt. Ätzendes Balg.«
Ach, also ist doch meine Sexualität das Problem, wie bereits vermutet.
»Als ob ich auf solch unreife kleine Kinder stehen würde«, entgegne ich kühl und wende mich ab. Dem werde ich zeigen, was es heißt, sich mit mir anzulegen.

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Nicholas

 

Ich passe den Ball rüber zu Chris, umgehe mit einer leichten Drehung Etiennes halbherzige Deckung und laufe weiter, Chris auf der anderen Seite des Spielfeldes auf gleicher Höhe wissend. Er ist der Einzige, mit dem ich halbwegs gerne zusammenspiele – wenn ich überhaupt sagen kann, dass ich gerne Fußball spiele. Ich tue es, wie so viele Dinge, einfach weil es notwendig ist.

Hinter mir höre ich einen der anderen Jungs rufen, man solle mich doch »verdammt noch mal decken«, aber niemand kommt mit. Natürlich nicht, denn ich bin zu gut. Schnell, wendig, treffsicher.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Chris mir zupasst, als einer der Gegner sich ihm in den Weg stellt. Als hätten wir es abgemessen, landet der Ball direkt vor meinen Füßen, perfekt platziert, sodass ich ihn ohne Unterbrechung meines Laufs annehmen und weiterlaufen kann, den Ball vor mir her spielend.

Das Tor ist nahe, der Einzige, der noch zwischen mir und Dave, dem Torwart steht, ist der kleine Lockenkopf – und er sieht nicht so aus, als habe er vor, es mir so leicht zu machen wie sein

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Elena Losian / MAIN Verlag
Bildmaterialien: Casandra Krammer
Lektorat: Chris McKay / Melanie Stolz / MAIN Verlag
Tag der Veröffentlichung: 06.10.2015
ISBN: 978-3-7396-6806-2

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